Für Petrina: Möge sie mich eines Tages verstehen, mir ... - BookRix
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<strong>Für</strong> <strong>Petrina</strong>: <strong>Möge</strong> <strong>sie</strong> <strong>mich</strong> <strong>eines</strong> <strong>Tages</strong> <strong>verstehen</strong>, <strong>mir</strong> verzeihen und<br />
wieder vertrauen!<br />
Pascalandra<br />
13.01.2008, 19.30 Uhr:<br />
Er war weg, mitsamt seinem zusätzlichen „e“ verschwunden. Das Gefühl der Geborgenheit<br />
hatte jetzt der Traurigkeit allein das Wohnrecht in seinem Herzen überlassen. Die Augen<br />
Pascal Halbweins füllten sich mit Tränen. Erst gestern hatte ihm Pascale Lishnevska<br />
eröffnet, dass er sich in den nächsten Wochen oder gar Monaten um einen<br />
schwererziehbaren Jugendlichen kümmern wolle, der auf einen Platz in einer betreuten<br />
Wohngruppe vorzubereiten sei. Zu diesem Zweck zöge er mit diesem in eine eigens dafür<br />
vorgesehene Wohnung. Der Rollstuhlfahrer ärgerte sich über seine eigene Unzulänglichkeit:<br />
Wie hatte er in Bezug auf seinen Helfer je den Pfad der Professionalität verlassen können;<br />
obwohl seine diesbezüglich schlechten Erfahrungen nun schon fast ein Jahrzehnt<br />
zurücklagen, hätten diese ihm immer noch eine Warnung sein müssen. Zu dem dumpfen<br />
Gefühl in der Magengegend gesellten sich zu den Erinnerungen alsbald Gedanken und<br />
Phanta<strong>sie</strong>n hinsichtlich des für ihn in nächster Zeit unerreichbaren Medizinstudenten.<br />
22.10.2007, 20.35 Uhr:<br />
Als das Telefon klingelte, war die Werbung bereits den Programmtrailern gewichen.<br />
Dennoch nahm der gelernte Sozialpädagoge den Anruf entgegen: „Mein Name ist Pascale<br />
Lishnevska.“, verriet eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung, „Ich bin am<br />
Mittwoch bei Ihnen eingeteilt und würde <strong>mich</strong> daher morgen gerne kurz vorstellen.“ „Dann<br />
kommen Sie doch gleich um 10.00 Uhr bei <strong>mir</strong> vorbei!“, schlug Pascal Halbwein vor!“<br />
„Morgens bin ich immer in der Universität. Ich studiere Medizin!“, der bis dato unbekannte<br />
Gesprächspartner zeigte sich von dem Vorschlag wenig begeistert. „Wie wäre es dann um<br />
17.00 Uhr?“ „O. k., dann bis morgen!“ Zwischenzeitlich hatte Günther Jauch das Geheimnis<br />
gelüftet, welcher der vier Schlagersänger (Howard Carpendale, Udo Jürgens, Roland Kaiser<br />
oder Roberto Blanco) südafrikanischer Herkunft war und sich einer höherwertigen und<br />
seltsamerweise auch viel einfacheren Frage zugewandt; die Frage der Abstammung würde<br />
für den Rollstuhlfahrer durch den Störenfried für immer unbeantwortet bleiben.<br />
23.10.2007 16.55 Uhr:<br />
Heute war eigentlich schon genug los gewesen, der unmittelbar anstehende Termin fast so<br />
lästig wie ein Blindarmdurchbruch. Nach seinem wöchentlichen Doppeltermin bei seiner<br />
langjährigen Physiotherapeutin hatte er zum Kaffeetrinken Besuch von zwei Freunden<br />
erhalten. Mit Josef Schwarz und Ulla Nachtigall verband ihn eine lose Freundschaft. Den<br />
jetzigen Filialleiter der Regensburger Sparkasse hatte er schon zu Beginn s<strong>eines</strong><br />
fünfjährigen Verbleibs im Ludwig-Thoma-Heim kennengelernt, doch hatte der Student der<br />
Betriebswirtschaft damals noch eine Mitbewohnerin besucht. Der Kontakt zwischen ihnen<br />
war erst enger geworden, als Josefs bester Freund, Olaf Klagbein, für vier Wochen zur<br />
Untermiete auf sein Stockwerk zog, welches <strong>sie</strong> aufgrund der Semesterferien an der<br />
Universität für sich allein hatten. Nach dem Umzug in seine jetzige Wohnung hatte Josef<br />
Schwarz anlässlich <strong>eines</strong> Champions-League-Spiels von Borussia Dortmund seine<br />
Arbeitskollegin Ulla mitgebracht; der Gastgeber und die stellvertretende Chefin der<br />
Devisenabteilung verstanden sogleich sich auf Anhieb. Zwar ging die Sympathie Ullas<br />
ebenso wenig die ihres Kollegen so weit, Pascal zu ihrer Hochzeit einzuladen, doch<br />
wenigstens meldete <strong>sie</strong> sich regelmäßig und hatte dem Behinderten anlässlich des<br />
feierlichen Anlasses zum Essen eingeladen. Doch jetzt würde es wieder mindestens einen<br />
Monat dauern, bis <strong>sie</strong> sich wieder sahen. Wenigstens war sein neuer Helfer, den er auch im
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Falle der größtmöglichen Antipathie aus Gründen der Fairness sowieso nicht ohne jegliche<br />
Arbeitsprobe ablehnen konnte, pünktlich. Der Ankömmling entpuppte sich als<br />
durchschnittlich aussehender Mann; nur sein eckiges Kinn verbaute ihn wahrscheinlich<br />
jegliche Erfolgsaussichten bei einem Schönheitswettbewerb mit normalen Auswahlkriterien.<br />
Im Übrigen schien er auch nicht von der Notwendigkeit der anberaumten Zusammenkunft<br />
restlos überzeugt zu sein: „Mein Name ist Pascale Lishnevska! Ich soll morgen hier arbeiten.<br />
Ich bin dann auch schon wieder weg!“<br />
24.10.2007,17.30 Uhr:<br />
Etwas mehr als 24 Stunden später erschien der neue Assistent ohne erkennbaren Stress,<br />
dafür aber mit einem immerwährenden lausbubenhaften Lachen auf dem Gesicht. Voller<br />
Tatendrang und Elan stürzte er sich auf die Zubereitung des von Pascal Halbweins<br />
ausgesuchten Gerichts, lediglich von dem Anruf einer gewissen Edeltraud oder Trägerin<br />
<strong>eines</strong> ähnlich altmodisch klingenden Namens kurz abgelenkt, deren Identität er nach dem<br />
kurzen Gespräch als Mutter seiner Freundin offen legte. „Sandra und ich sind gerade erst<br />
zusammengezogen.“, erzählte Pascale fröhlich; die anhaltende Freude über dieses Ereignis<br />
war ihm deutlich anzusehen! Dennoch zeigte der Medizinstudent offenkundig Interesse an<br />
seinem neuen Klienten: „Pascal, wie alt bist Du eigentlich?“ „Leider schon 38!“, der<br />
Rollstuhlfahrer sah durch das rasante Fortschreiten der Jahre die Chancen auf Erfüllung<br />
seiner Lebensträume – beruflich und privat – im Gleichschritt mit der Lichtgeschwindigkeit<br />
schrumpfen. „Oh!“, gab sich Pascale Lishnevska überrascht, „Das hätte ich nicht gedacht.<br />
Dachte, Du wärst ungefähr in meinem Alter; ich werde am 28.12. Dreißig! Hast Dich gut<br />
gehalten!“ „Danke! Gleichfalls!“, die aufkeimende schlechte Laune versandete noch vor dem<br />
vor dem Anflug, „Vielleicht liegt es am Vornamen, aber ich finde, wir arbeiten unheimlich gut<br />
zusammen.“ „Wobei ich <strong>mich</strong> anders schreibe – nämlich mit ‚e`. Ich bin nämlich in<br />
Tschechien geboren und erst im Alter von vier Jahren mit meinen Eltern und meiner<br />
Schwester Doris nach Deutschland geflohen.“ Oh Nein! Wie bei Manuel! Von diesem kurzen<br />
Moment des Schreckens abgesehen verliefen die üblichen zwei Stunden ungewöhnlich<br />
fröhlich und heiter; am Ende sagte Pascal zu Pascale: „Es würde <strong>mich</strong> freuen, wenn Du mal<br />
wiederkommst!“ „Gern!“, der Angesprochene zeigte sein herzlichstes Lächeln, „Dann gehen<br />
wir aber mal raus an die frische Luft!“<br />
26.11.2007, 17.30 Uhr:<br />
Seine Fröhlichkeit war auch nach über einen Monat nicht verflogen. Pascal Halbwein hatte<br />
schon befürchtet, dass der Einsatz s<strong>eines</strong> Namensvetters mit „e“ eine einzige Ausnahme<br />
bleiben würde, doch heute stand selbiger wieder vor der Tür. Zum Glück war er von Daisy,<br />
der Pflegedienstleiterin von Phönix e. V. „vorgewarnt“ worden, so hatte er den eigentlich für<br />
den nächsten Tag geplanten Wocheneinkauf vorverlegt, um den bei der letzten Begegnung<br />
von Pascale geäußerten Wunsch nachzukommen. Der zukünftige Arzt zeigte sich von der<br />
Programmplanung begeistert: „Toll, ich musste heute den ganzen Tag lernen. Dank Dir<br />
komme ich wenigstens einmal nach draußen!“ „Wie gestaltet sich das Zusammenleben mit<br />
Deiner Freundin?“, die mitreißende Art s<strong>eines</strong> Helfers verführte den Klienten zu einem<br />
Vorstoß in dessen Privatsphäre. „Super Gedächtnis!“, lobte Pascale Lishnevska, „Es ist zwar<br />
manchmal etwas anstrengend, vor allem, wenn ich lernen muss, aber in erster Linie<br />
wunderschön! Zum Glück nimmt Sandra viel Rücksicht auf meinen Studienstress und die<br />
Prüfungstermine; <strong>sie</strong> hat in letzter Zeit den Hauptteil der Hausarbeit übernommen; das<br />
rechne ich ihr hoch an. Allerdings lebt und arbeitet <strong>sie</strong> den halben Monat als<br />
Krankenschwester in Linz; somit verbringt <strong>sie</strong> immer zwei Wochen am Stück in Österreich.“<br />
Inzwischen waren <strong>sie</strong> in der Filiale des Lebensmittelgeschäftes angelangt. Beim Ansteuern<br />
der Fleischtheke konnte Pascale seine Neugier nicht mehr zügeln: „Pascal, was kaufen wir<br />
jetzt ein? Ich persönlich habe heute großen Appetit auf knusprig gebratene Ente mit<br />
Röstkartoffeln!“ Gemeinheit! Muss er <strong>mir</strong> so den Mund wässerig machen? „Dazu ist die Zeit zu<br />
knapp!“, trat der gelernte Sozialpädagoge auf die Euphoriebremse. Obwohl es Pascal heute<br />
nahezu unmöglich war, einen Schnitzel mit Pommes auch nur einen Hauch von<br />
Schmackhaftigkeit abzugewinnen, freute er sich auf den übernächsten Tag.
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28.11.2007, 17.30 Uhr:<br />
Der Kühlschrank hielt der kritischen Untersuchung des zukünftigen Arztes nicht stand! „So<br />
kann ich nicht kochen!“, Pascale Lishnevska zeigte gespielte Entrüstung, „Besonders Dein<br />
Majoran hat das Verfallsdatum weit überschritten! Ich gehe jetzt schnell los, um Neuen und<br />
Schlagsahne einzukaufen. Dann gibt es Geschnetzeltes, Du musst ja schließlich nicht<br />
immer das Gleiche essen! Hast Du mal Geld?“ Ich bin Hartz-IV-Empfänger!!! Die<br />
mitreißende Tonart der Frage ließ bei Pascal Widerstand gar nicht erst aufkommen;<br />
Ähnliches galt für die Prinzipien von Phönix e. V., welche hinsichtlich der zu erledigten<br />
Aufgaben allein das Recht und auch die Pflicht der Entscheidung zusprachen. Aber heute<br />
war alles anders, es fühlte sich an, als hätte er einen engen Freund zu Gast. Nur: Konnte<br />
das gut gehen? Pascale Lishnevska erwies sich als Läufer schnellen Schrittes, so dass er<br />
alsbald mit der Zubereitung der Mahlzeit beginnen konnte. Von absoluter Zufriedenheit<br />
konnte bei ihm jedoch nicht die Rede sein: „Ich habe leider vergessen, Äpfel mitzubringen.<br />
Diese sind für eine wirklich exzellente Soße einfach unentbehrlich!“ Der stellt ja ganz schön<br />
Ansprüche! Zum Glück bekam der Rollstuhlfahrer aus demselben Mund auch Lob zu hören:<br />
„Also Pascal, eine so saubere Wohnung wie die Deinige habe ich selten gesehen, nicht bei<br />
den anderen Klienten und auch nicht in den eigenen vier Wänden! Können wir nicht mal<br />
tauschen?“ Nach einer kurzen Pause kam Pascale auf sein Studium zu sprechen: „Zur Zeit<br />
bereite ich eifrig auf ein Praktikum vor, welches ich im Rahmen <strong>eines</strong> eigenen Projekts in<br />
Afrika abzuleisten gedenke. Sandra und ein Großteil meiner Freunde werden <strong>mich</strong> zum<br />
Zwecke der Unterstützung begleiten.“ Meint er damit assistieren oder gar unter ihm arbeiten? Egal:<br />
Nimm <strong>mich</strong> mit!!! Der heimlich Angeflehte hatte jedoch bereits das Thema gewechselt:<br />
„Pascal, ich habe eben durch Zufall gesehen, dass Du genau wie ich bei googlemail.com<br />
angemeldet bist. Ich war so frei, Dir meine E-Mail-Adresse zu notieren. Schreib doch mal!“<br />
07.12.2007, 17.45 Uhr:<br />
Die tagelange Vorahnung war zur Gewissheit, eine alltägliche Begebenheit zur Peinigerin<br />
s<strong>eines</strong> Herzens geworden: Pascale Lishnevska würde an diesem Wochenende nicht bei ihm<br />
arbeiten, wurde kurzfristig anderweitig eingesetzt! Pascal Halbwein verspürte den Wunsch,<br />
laut aufzuschreien und irgendetwas kaputtzuschlagen; allein das Wissen um die hieraus<br />
resultierenden Konsequenzen gab ihm die Kraft, sich diesem zu versagen. Diese Art der<br />
Gefühle hatte auch nach über einen Vierteljahrhundert nicht an Stärke verloren und suchte<br />
ihn in unregelmäßigen Abständen heim! Doch war ihre wirkliche Beschaffenheit von ihm und<br />
seiner Umwelt je richtig erkannt und eingeschätzt worden? Im Alter von zwölf Jahren hatte<br />
der frischgebackene Internatsschüler das erste Mal dieses Übermaß an Sympathie gespürt;<br />
ein gleichaltriger Mitschüler war das Objekt seiner Begierde gewesen. Lautstark hatte er<br />
seine Empfindungen Allen und Jedem mitgeteilt und war damit für immer gezeichnet. Der<br />
anfängliche Freund war mit der Situation schnell überfordert und begann, den Rollstuhlfahrer<br />
unentwegt und in verletzender Weise zu peinigen. Auch im Internat hatte der weltfremde<br />
Pubertierende einen schweren Stand; das wurde auch nach seinem Wechsel von der<br />
Förderstufe auf die Realschule nicht besser. Sein Zimmernachbar ließ es sich nicht nehmen,<br />
Pascals neue Mitschüler persönlich über dessen Neigungen zu informieren. Diverse<br />
Eigenarten des Gebrandmarkten trugen nicht gerade zur Verbesserung des Verhältnisses<br />
bei: Von einer liebevollen aber fürsorglichen Mutter ins Internat zu kommen, hatte bei ihm zu<br />
einem Kulturschock geführt. Fortan lebte er in zwei Welten. Verlangten Erzieher und<br />
Heimleitung, dass er so viel wie möglich selbständig erledigte, erwartete seine Mutter, dass<br />
er sich weiterhin von ihr verhätscheln und verwöhnen ließ; mit der Erdduldung dieses<br />
Vorhabens degradierte er <strong>sie</strong> den Ausführungen seiner Erzieherinnen zufolge zur<br />
Dienstbotin! Dieser Widerspruch zerriss ihn innerlich; es kam zu jahrelangen Spannungen<br />
zwischen Annemarie Halbwein und ihren Sohn. In der Konsequenz vernachlässigte der<br />
Heranwachsende sein Äußeres zusehends, die Notwendigkeit hygienischer Grundpflege war<br />
ihm einfach nicht ersichtlich, was sich auch am Zustand s<strong>eines</strong> Zimmers zeigte. Pascal<br />
Halbwein sah einfach keinen Sinn darin, sich in irgendeiner Weise zu verändern, fühlte er<br />
sich sowieso schon von vornherein und endgültig als Homosexueller abgestempelt! Der<br />
Frust wurde mit den Jahren zur Aggression, die sich in Beleidigungen gegenüber den
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anderen Bewohnern äußerte! Gegenseitige Beleidigungen nahmen ein immer größeres<br />
Ausmaß an; Diffamierungen anderer Personen aufgrund Alter, besuchter Schulform und gar<br />
Nationalität kamen im Extremfall aus dem Mund des Unglücklichen. Nicht selten tanzte<br />
irgendein gut aussehender Jüngling in diesem Teufelskreis herum, welcher dem alten Spott<br />
neuen Auftrieb bescherte. Die Problematik erreichte mehrere Siedepunkte, u. al als er sich<br />
mit 17 in einen Klassenkameraden namens Tilman verliebte und sich nach dessen brüsker<br />
Ablehnung zu Aktionen verleiten ließ, die man heute, zwanzig Jahre später, als „Stalking“<br />
bezeichnen würde. Nur der Besonnenheit und Nachsicht von Tilmans Eltern, den ersten<br />
beiden Menschen, die ihm mit „Herr Halbwein“ und Sie“ anredeten, hatte er es zu verdanken,<br />
dass er heute nicht vorbestraft war. Dennoch erschwerte die Angst vor einem Rückfall auch<br />
Jahrzehnte danach die soziale Kontaktaufnahme zu Geschlechtsgenossen s<strong>eines</strong> Alters,<br />
gerade wenn <strong>sie</strong> ihm besonders sympathisch waren. Der Rollstuhlfahrer flüchtete schließlich<br />
in einschlägige Szenekneipen der nahe gelegenen Stadt Kassel, nur um dort meistens<br />
Ablehnung aufgrund s<strong>eines</strong> allgegenwärtigen vierräderigen Begleiters wegen zu erfahren.<br />
Einzig Curd bildete eine Ausnahme. Zwar hatte sich der Student der Pädagogik zunächst<br />
auch durch das selbstbewusste Auftreten des Ungestümen bedrängt gefühlt und<br />
dementsprechend ablehnend reagiert; doch war es Pascal Halbwein zum ersten Mal in<br />
seinem Leben gelungen, Verständnis für die Haltung <strong>eines</strong> von ihm verehrten Subjekts der<br />
Begierde zu demonstrieren! Dieser Umstand erweichte im Zusammenklang mit den<br />
ausgewählten Formulierungen <strong>eines</strong> Briefes schließlich doch das Herz Curd Stanglers; eine<br />
platonische Freundschaft erwuchs! Über ein Jahr lang trafen <strong>sie</strong> sich regelmäßig; Pascal<br />
genoss diese Zeit sehr, wohl wissend, dass es im Leben Curds immer noch Personen gab,<br />
die ihm näher standen. Doch mit dem bestandenen Abitur kam die räumliche Trennung:<br />
Erzieher und Heimleitung überzeugten seine Mutter davon, dass allein Regensburg als<br />
Studienort in Frage käme; nur dort existiere ein Studentenwohnheim mit integriertem<br />
Pflegedienst für Schwerbehinderte. Mit Händen und Füßen hatte er seinen Wunsch<br />
verteidigt, nach Kassel zu ziehen, diesen aber dann doch angesichts der Übermacht seiner<br />
Gegner aufgeben müssen. Als Curd dem zukünftigen Sozialpädagogen dann schließlich<br />
noch in aller Deutlichkeit darlegte, dass er ihre Freundschaft zwar stark genug halte, trotz<br />
einer großen Entfernung weiter zu bestehen, diese aber im Falle s<strong>eines</strong> Verbleibs am<br />
bisherigen Wohnort auf keinem Fall noch enger werde, rang der Rollstuhlfahrer sich am<br />
Ende doch zu einem Umzug nach Bayern durch. Letztendlich war es für ihn ja auch die<br />
schon lange ersehnte Chance <strong>eines</strong> totalen Neuanfangs!<br />
Die Hoffnungen des frischgebackenen Studenten erfüllten sich nur zum Teil: Zwar bekam er<br />
hier nicht gleich einen seine sexuelle Orientierung preisgebenden Stempel aufgedrückt;<br />
doch legten seine neuen Mitbewohner ihm gegenüber weitgehend freundliche Zurückhaltung<br />
an den Tag! Zudem war die Situation im Studentenwohnheim dem Leben im Internat<br />
ähnlicher als vermutet. Auf Pascal Halbweins Etage wurden alle wesentlichen Dinge von<br />
einem Kleeblatt entschieden, welches aus drei jungen Frauen und einem gleichaltrigen<br />
jungen Mann bestand; diese Konstellation war auch die häufigste Mitarbeiterbesetzung auf<br />
den jeweiligen Gruppen in Hessisch Lichtenau gewesen. Julia, Leni, Kerstin und Bob waren<br />
eine verschworene Gemeinschaft, die ihn zwar als Mitbewohner akzeptierte, jedoch nicht in<br />
ihren elitären Kreis eindringen ließ. Aber dennoch entpuppte sich der Hauch von Gewohnheit<br />
<strong>eines</strong> <strong>Tages</strong> als lebensrettende Sauerstoffzufuhr! Von allzu starken Emotionen gegenüber<br />
einem drei Jahre jüngeren Zivildienstleistenden übermannt, rang er sich schließlich dazu<br />
durch, diesem per Brief an dessen Heimatadresse seine Gefühle zu gestehen. Leider kam<br />
es nach Abfassung und Speicherung des dreiseitigen Schreibens zu einem Fehldruck,<br />
welcher von seinem Urheber leichtsinnigerweise in den Altpapierkarton des gesamten<br />
Stockwerks befördert wurde. Anschließend unmittelbar in die Semesterferien fahrend, konnte<br />
er sich nach seiner Rückkehr den Eindruck nicht erwehren, zumindest einige seiner<br />
Mitbewohner wüssten Bescheid. Besonders Uwe, ein aus dem Osten stammender BWL-<br />
Student, mit dem er früher zumindest ganz gut ausgekommen war, zeigte ihm auf einmal<br />
offen und unverhohlen seine Antipathie! Während <strong>eines</strong> heftigen Streits fiel auf einmal der<br />
Satz „Wir wissen hier alles über Dich!“, woraufhin Pascal sich aus Unsicherheit und Angst<br />
dazu verleiten ließ, sein Gegenüber als „Schwein“ zu bezeichnen. Die durch die Lautstärke<br />
auf die Auseinandersetzung aufmerksam gewordene Julia eilte in die Küche und sah sich
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aufgrund ihrer Funktion als Stockwerkssprecherin dazu gezwungen, den Studenten der<br />
Sozialpädagogik zu rügen, so etwas sage man einfach nicht! Doch am nächsten Tag klopfte<br />
<strong>sie</strong> ihn bei einer zufälligen Begegnung auf die Schulter und fragte: „Hast Du Dich nach<br />
Deiner Verbalattacke gestern wenigstens besser gefühlt? Meistens fühlt man sich nach so<br />
etwas wie von einer Last befreit!“ Diese Geste gab Pascal Halbwein die Kraft, sich von<br />
weiteren Angriffen Uwes nicht provozieren zu lassen. Er konnte nicht mit absoluter<br />
Gewissheit sagen, was in den letzten vierundzwanzig Stunden pas<strong>sie</strong>rt war, doch lag<br />
folgende Vermutung nahe: Uwe hatte Julia besagtes Geheimnis, wahrscheinlich seine<br />
Affinität zu Männern, offenbart. Daraufhin war diese über die Intoleranz des von ihr zunächst<br />
Verteidigten schockiert gewesen und hatte diesem unmissverständlich klar gemacht, dass<br />
eine homosexuelle Neigung kein Grund für Demütigungen jeglicher Art sei. Obwohl <strong>sie</strong> die<br />
Wortwahl des Rollstuhlfahrers nach wie vor nicht guthieß, entwickelte <strong>sie</strong> nun Verständnis<br />
dafür. Und Pascal Halbwein wusste, dass ihm nichts pas<strong>sie</strong>ren konnte, solange nur das<br />
Kleeblatt auf der Etage das Sagen hatte. Auch konnte sein Angebeteter die Gefühle nicht<br />
erwidern, doch erklärte er dies seinem Schutzbefohlenen in einem sehr netten Gespräch, an<br />
dessen Ende der Behinderte die Haltung des Anderen voll und ganz akzeptieren konnte,<br />
ohne sich herabgesetzt zu fühlen. Auch hatte er manchmal das Gefühl, dass Marcel Hufl,<br />
Kollege und bester Freund Svens, ihn manchmal trösten wollte; vor dem Gefühlsausbruch<br />
hatte er sich von diesem oftmals malträtieren lassen müssen; nun verhielt sich der<br />
Kriegsdienstverweigerer ihm gegenüber zunehmend freundlich. Nach Beendigung des<br />
Zivildienstes verschwanden Sven und er schließlich ebenso aus Pascals Gesichtsfeld wie<br />
Julia, Leni, Kerstin und Bob, die nach und nach das Wohnheim verließen. Das Leben und<br />
das Studium plätscherten ruhig, wenn auch mit mancher Sturmwelle, vor sich hin, bis<br />
schließlich etwas pas<strong>sie</strong>rte, womit der zukünftige Sozialpädagoge überhaupt nicht mehr<br />
gerechnet hatte: Da die Fachhochschule sich weniger Semesterferien als die Universität<br />
leistete, war er schon im Oktober nach Regensburg zurückgekehrt. Das Stockwerk war so<br />
gut wie leergefegt, doch hatte am selbigen Tag Olaf Klagbein für die Dauer von einem Monat<br />
ein Zimmer zur Untermiete bezogen. In diesen vier Wochen waren <strong>sie</strong> beide die einzigen<br />
Benutzer der Stockwerksküche gewesen, und da der wissenschaftliche Mitarbeiter seine<br />
flüchtige Bekanntschaft vom heimeigenen Barabend zu mögen schien, entwickelte sich eine<br />
freundschaftliche Beziehung, in die auch Kerstin Nikolaus, die Freundin Olafs, schnell mit<br />
eingebunden wurde. Es war beinahe so, wie die Heile-Welt-Serien der Achtziger Jahre, die<br />
dem Internatsschüler öfter als gut für ihn war Trost gespendet hatten, verheißen hatten:<br />
Gemeinsames Essen und Fußballabende waren ohne vorherige Terminabsprache an der<br />
<strong>Tages</strong>ordnung; das Ansehen <strong>eines</strong> Boxkampfes in einer großen Runde und die<br />
Geburtstagsfeier des Wirtschaftswissenschaftlers, welche zufällig mit dessen erfolgreichem<br />
Studienabschluss zusammenfiel, waren die Höhepunkte dieser unbeschwerten Tage<br />
gewesen. Auch entpuppte sich Josef Schwarz, der zuvor ausschließlich Leni besucht hatte,<br />
als bester Freund Olafs; die Bekanntschaft mit dem Betriebswirt wurde stark intensiviert.<br />
Bemerkenswerterweise entwickelte er keine homoerotischen Gefühle gegen seinen<br />
Kurzzeitmitbewohner und seinen Kumpel, sondern stellte sich im Gegenteil manchmal vor,<br />
Kerstin sei die Schwester Olafs. Trotz der Gewissheit, dass diese Wunschvorstellung nie zur<br />
Wahrheit werden würde, erlebte Pascal Halbwein die schönste Zeit s<strong>eines</strong> Studiums, wenn<br />
nicht gar s<strong>eines</strong> Lebens! Doch an Allerheiligen zeigte die Medaille erbarmungslos ihre<br />
Kehrseite. Die Studenten der Universität kehrten zurück; Olaf Klagbein musste dem<br />
eigentlichen Mieter des von ihm benutzten Wohnraums weichen. Der Zurückgelassene<br />
befand sich nun unversehens wieder in der alten und seit Jahren vertrauten Situation – kam<br />
aber nun nicht mehr mit dieser zurecht! Es war, als wäre er durch Blutlecken zum Vampir<br />
geworden und könnte nun das Sonnenlicht nicht mehr ertragen. Die anderen<br />
Küchenbenutzer bekamen die Probleme des Rollstuhlfahrers in gesteigerter Form am<br />
eigenen Leib zu spüren und reagierten sowohl irritiert als auch verärgert. Besonders<br />
beängstigend war für den Unglücklichen, dass er erneut mit einer Dreiergang im Dauerclinch<br />
lag; diese Kombination hatte sich in seinem Leben zu oft wiederholt, als dass die Schuld<br />
immer und ausschließlich bei den Anderen liegen konnte. Erst nach dem Studium, den vielen<br />
Monaten der Arbeitslosigkeit, kam Pascal beim Nachdenken über die Auseinandersetzungen
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zu der verwirrenden Erkenntnis, dass die betroffenen Studenten ihm doch ein wenig<br />
gemocht haben mussten.<br />
Die heutige Situation war schon mehr als einmal da gewesen; es war ein kurzfristiger<br />
Dienstplanwechsel vorgenommen worden. Doch dieses Mal verursachte der Verzehr des<br />
gewohnten Schnellgerichtes Magenkrämpfe und Blähungen! Zudem war er das erste Mal<br />
seit fast 7 Jahren richtig auf Juliane sauer, bei Licht betrachtet wohl wissend, dass diese nur<br />
die Botin der Unglücksnachricht war. Aber am meisten ärgerte sich Pascal Halbwein über<br />
sich selbst; wie hatte er nur bezüglich des Medizinstudenten vom Pfad des professionellen<br />
Umgangs abweichen können? Aber die unerschütterliche Frohnatur Pascale Lishnevskas<br />
hatte vergessen lassen, dass dieser hauptsächlich zum Zwecke des Geldverdienens bei ihm<br />
einkehrte. Bei den Zivis hatte zuletzt schon der Altersunterschied von zuletzt fast zwanzig<br />
Jahren für eine gewisse Distanz gesorgt, auch wenn gerade die letzte Generation sich durch<br />
ein hohes Maß an geistiger Reife ausgezeichnet hatte. Aber je älter die Menschen wurden,<br />
umso geringer wurde die Bedeutung der Differenz ihrer Lebensjahre. Pascal und Pascale<br />
waren zwei gestandene Männer, die so manchem Geschlechtsgenossen und auch einer<br />
nicht gerade geringen Anzahl weiblicher Wesen an Schönheit und Intelligenz weit überlegen<br />
waren! Der Medizinstudent strahlte unentwegt eine gesunde Mischung aus Geborgenheit<br />
und Abenteuerlust aus, welcher man sich beim besten Willen nicht entziehen konnte. Diese<br />
während der zwei üblichen Stunden in vollen Zügen genießend, entwickelte <strong>sie</strong> bei Pascal<br />
kurz nach dem jeweiligen Abschied einen bitteren Nachgeschmack: Die unerfüllten Träume<br />
seiner Jugend wurden ihm mehr und mehr bewusst! Heute, nach der Absage des<br />
gemeinsamen Wochenendes konnte Pascal Halbwein die starke Sehnsucht nach Pascale<br />
Lishnevska nicht mehr vor sich selbst verleugnen. Alles wäre viel einfacher gewesen, hätten<br />
<strong>sie</strong> sich unter privaten Umständen oder auch nur als Arbeitskollegen kennengelernt. Warum<br />
konnte er nicht zu der Gruppe der Auserwählten gehören, die das Afrikaprojekt des<br />
Engagierten unterstützten. Eine Reise auf dem schwarzen Kontinent kam bei ihm allein<br />
schon aus behinderungsbedingten Gründen nicht in Frage, aber vielleicht konnte der Student<br />
noch einen Mittelsmann zwischen den Erdteilen gut gebrauchen. Der Kontakt würde trotz der<br />
großen Distanz zwangsläufig weiter bestehen; ferner ergäbe sich hier bestimmt mehr als<br />
eine Gelegenheit, die eigenen Qualitäten erfolgreich unter Beweis zu stellen. Ganz nebenbei<br />
täte er hier auch noch Gutes für die Dritte Welt, was in jedem Fall sinnvoller wäre, als<br />
weiterhin ein Dasein als Hartz-IV-Empfänger zu fristen. Aber in erster Linie dürstete ihn nach<br />
der Nähe Pascales, nach dessen Lachen und Motivationskünsten. Sollte er es doch noch<br />
einmal versuchen, sein Glück auf einschlägigen Internetseiten oder gar Szenekneipen zu<br />
finden; eine Welt, die befremdlicherweise fast ausschließlich auf Äußerlichkeiten fixiert war.<br />
Zumindest im World Wide Web wimmelte es seiner Meinung nach viel so sehr von Bildern<br />
höchst erregter Geschlechtsorgane, was ihm, der sich selbst auf einer öffentlichen Toilette<br />
oder auch in der Dusche <strong>eines</strong> Schwimmbades, die von mehreren Männern zeitgleich<br />
benutzt wurde, vor Abscheu schüttelte, den Ekel ins Gesicht trieb; wie konnte man so etwas<br />
nur buchstäblich in den Mund nehmen? Dem Rollstuhlfahrer verlangte es vielmehr nach der<br />
Erfüllung seiner Jugendträume, Angehöriger einer unerschütterlichen und verschworenen<br />
Gemeinschaft zu sein, eine funktionierende Partnerschaft mit der richtigen Person führen<br />
und beruflich eine verantwortungsvolle Tätigkeit dauerhaft ausüben zu können. Doch es war<br />
leider sehr unwahrscheinlich, dass ausgerechnet Pascale Lishnevska ihn aus der<br />
Trostlosigkeit s<strong>eines</strong> Daseins erlöste. Vielmehr galt es nun, der beginnenden Fixierung auf<br />
diesen in den Anfängen Einhalt zu gebieten! Hoffentlich würde seine Traurigkeit im Verlauf<br />
des Wochenendes Linderung erfahren!<br />
09.12.2007, 23.45 Uhr:<br />
Die beiden Kneipenbummler waren wieder in der Wohnung angelangt. „Tut <strong>mir</strong> leid, dass wir schon wieder<br />
fast 90 Minuten überzogen haben.“, entschuldigte sich der weibliche Teil des Duos, „Aber bei diesem<br />
Wetter muss ich einmal am Tag raus; sonst werde ich depressiv!“ „Schon in Ordnung!“, ließ ihr<br />
männlicher Begleiter vernehmen, „Mit dem angebrochenen Abend hätte ich sowieso nichts mehr anfangen<br />
können. Außerdem macht es unheimlich viel Spaß, mit Dir um die Häuser zu ziehen!“ Pascale<br />
Lishnevska küsste Ute Windpocken zum Abschied auf die Wange.
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10.12.2007, 17.30 Uhr:<br />
Die Angst vor einer abermaligen Enttäuschung hatte den ganzen Tag geprägt; erst mit den<br />
Türklingeln war <strong>sie</strong> erloschen. Dabei stand ein unverhältnismäßig wichtigeres Ereignis vor<br />
der Tür: Übermorgen hatte Pascal Halbwein das erste Vorstellungsgespräch seit nahezu<br />
zwei Jahren. Aber die unzähligen Enttäuschungen ließen dem verzweifelt Arbeitssuchenden<br />
diesen Termin wie eine Fata Morgana in der Wüste erscheinen; eine nicht gerade leise<br />
Vorahnung verhinderte das Aufkeimen jeglicher Hoffnung. Der Rollstuhlfahrer war jedoch<br />
insgeheim froh, wenigstens einen plausiblen Grund für seine Nervosität zu haben. Pascale<br />
dagegen hatte beim Eintreten bereits sein scheinbar immerwährendes Lausbubenlächeln<br />
aufgesetzt: „Am Wochenende bin ich ja leider abberufen worden, meine Wenigkeit wurde für<br />
eine 30-Stundenschicht gebraucht. Ich musste für Knut vegetarisch kochen! Und ich kann<br />
nicht vegetarisch kochen!!!“ „Ein saftiges Stück Fleisch hält Leib und Seele zusammen!“,<br />
pflichtete sein Schutzbefohlener ihm bei, „Übrigens musst Du <strong>mir</strong> Mittwoch die Daumen<br />
drücken. Dann spreche ich im Bezirkskrankenhaus Parsberg für die Stelle <strong>eines</strong> Pförtners<br />
vor.“ Wider Erwarten hielt sich der Medizinstudent mit Euphorie versprühenden Floskeln<br />
zurück: „Pascal, sei aber nicht enttäuscht, wenn es nicht klappt. In Parsberg wohnt ein ganz<br />
komischer Menschenschlag respektive extrem schwierige Leute.“ Nach einer kurzen Pause<br />
fügte er hinzu: „Meine Freundin kommt auch aus Parsberg, ihre Eltern haben dort noch ein<br />
Haus. Ich bin <strong>mir</strong> aber nicht hundertprozentig sicher, ob ihnen das überhaupt noch gehört!“<br />
Stehen die beiden Aussagen in einem Zusammenhang? Später entschloss sich Pascale jedoch zu<br />
aufmunternden Worten: „Pascal, Du musst am Mittwoch den Augenkontakt zu Deinem<br />
Gesprächspartner unter allen Umständen aufrechterhalten! Aber wem erzähle ich das!<br />
Immerhin bist Du ein paar Jahre älter als ich!“ Trotz dieses verbalen Wermutstropfens<br />
genoss Pascal Halbwein die viel zu seltene Zweisamkeit, die jedoch durch unerwarteten<br />
Besuch jäh unterbrochen wurde. Vor lauter Aufregung über Nichtkommen und Anwesenheit<br />
des vertrauten Helfers hatte der Bewerber tatsächlich den Friseurtermin verschwitzt, den er<br />
eigens zur Verbesserung seiner Chancen beim Vorstellungsgespräch vereinbart hatte.<br />
Zudem hielt sich die von ihm bestellte Friseurin, Simone, zum wiederholten Male nicht an die<br />
ausgemachte Uhrzeit; er hatte ihr klipp und klar gesagt, dass ihr Kommen am Abend erst um<br />
19.30 Uhr möglich war. Zwar war dies zugegebenermaßen relativ spät, aber da musste ja<br />
schließlich jede Supermarktkas<strong>sie</strong>rerin bis zu sechsmal in der Woche durch. Pascale<br />
dagegen sah in der frühen Ankunft Simones eine willkommene Gelegenheit, Zeit für die<br />
Vorbereitung zu gewinnen. Seinem Klienten gelang es nicht, die Enttäuschung über das<br />
abrupte Ende des Diensteinsatzes zu verbergen. Die Abschiedsworte Pascales hätten daher<br />
Balsam für die Seele des Sozialpädagogen sein können, wäre dessen lebensbejahende<br />
Mimik hierbei nicht für den Bruchteil einer Sekunde einem leicht gequälten Gesichtsausdruck<br />
gewichen: „Meine Stundenzettel müssen noch unterschrieben werden. Ich komme nächste<br />
Woche einfach noch mal vorbei!“ Oh Nein! Wiederholt sich jetzt die Geschichte mit Manuel? Es<br />
war nun schon über neun Jahre her, dass Manuel Banker in sein Leben getreten war und<br />
dieses im negativen Sinn völlig auf den Kopf gestellt hatte. Anfangs war der damals<br />
Neunzehnjährige als normaler Zivi zu ihm gekommen, war dann aber schnell dazu<br />
übergegangen, offensiv seine Sympathie für seinen Klienten zu bekunden. „Endlich mal<br />
wieder bei Dir!“ bekam Pascal Halbwein unerwartet während des gemeinsamen Einkaufs zu<br />
hören, „Die Anderen sind alle bescheuert!“ Dieses nicht im ironischen Tonfall geäußerte<br />
Kompliment erfreute den Rollstuhlfahrer ungemein; es war der Startschuss zur Privati<strong>sie</strong>rung<br />
der dienstlichen Beziehung gewesen. Monatelang umschmeichelte der Bodybuilder seinen<br />
Klienten, der sich im Gegenzug jedes Mal von den neuesten Streitigkeiten des<br />
Zivildienstleistenden mit Dauerfreundin Regina erzählen ließ; das Paar lebte ständig<br />
zwischen Trennung und Versöhnung. Zudem hielt Manuel Banker nicht mit den neuesten<br />
Ereignissen in seiner Familie hinterm Berg; diese hätten diversen Kultserien der 80er Jahre<br />
durchaus das Wasser reichen können: mal stand sein Vater wegen fahrlässiger<br />
Körperverletzung vor Gericht; dann hatte sich seine Schwester Eva nach einer Affäre mit<br />
einem Vierzigjährigen in ihren Nachbarn verliebt. Trotzdem schaffte es der selbsternannte<br />
Freund immer, die Dienstzeiten strikt einzuhalten; eine Zusammenkunft der beiden Männer<br />
außerhalb derselben fand trotz anderslautender Versprechungen des Nichtbehinderten nie
statt. Manuel Banker trainierte zudem emsig für einen Wettbewerb, für dessen erfolgreiche<br />
Absolvierung eine sechsmonatige Putenschnitzeldiät vonnöten war; etwas anderes durfte<br />
der Sportler nach eigenen Angaben nicht essen! Pascal sah es als Selbstverständlichkeit an,<br />
Manuel nach Kräften zu unterstützen, akzeptierte die Verlegung des Abenddienstes auf den<br />
späten Nachmittag und verschob auszuführende Tätigkeiten in die Morgenstunden. Bereits<br />
Monate vor dem Ereignis wurde fest verabredet, dass Pascal der heiß erwarteten<br />
Sportveranstaltung als Zuschauer beiwohnte; doch eine Woche vorher, das Ticket für die<br />
damals schon stolze Summe von 45,- DM war bereits gebucht, verlangte der Zivi urplötzlich<br />
von seinem Schutzbefohlenen: „Pascal, Du musst die Karte wieder stornieren; ich wünsche<br />
nicht, dass Du am Veranstaltungsort auftauchst. Ich bin viel zu nervös, um Familie, Freunde<br />
und Bekannte als Zuschauer ertragen zu können!“ Diese Forderung war der erste Knacks in<br />
der im Nachhinein betrachtet sehr einseitigen Bekanntschaft gewesen; dennoch gelang es<br />
dem Schönredner seinem vorgeblichen und total auf ihn fixierten Freund erneut einzulullen.<br />
Manuel Banker besaß die Ausstrahlung <strong>eines</strong> Sektengurus; nicht nur Pascal, sondern auch<br />
zwei weitere Mädchen aus seinem Freundeskreis, eine davon die beste Freundin Reginas,<br />
schmachteten ihn an. Es war schwer zu sagen, ob er dies aus Kalkül oder nur aufgrund<br />
<strong>eines</strong> extrem positiven Selbstbildnisses geschehen ließ; in jedem Fall fand er an der<br />
Hörigkeit mancher Mitmenschen großen Gefallen! Je näher das Ende s<strong>eines</strong> Zivildienstes<br />
rückte, desto mehr schwand allerdings die Herzlichkeit aus den immer noch fast täglichen<br />
Sympathiebekundungen. Aber selbst diese entpuppten sich nach ihrem offiziellen Abschied<br />
als leere Worthülsen; diese Erkenntnis hielt langsam und schmerzhaft im Bewusstsein des<br />
Rollstuhlfahrers Einzug. Zuvor musste er sich gar von seinen ehemaligen Weggefährten<br />
verbieten lassen, ihn auf seiner neuen Arbeitsstelle anzurufen; auch die Telefonnummer<br />
Sandras, mit welcher der einstige Zivildienstleistende zwischenzeitlich zusammengezogen<br />
war, wurde ihm mit Hinweis auf deren Schlafbedürftigkeit verweigert; die Verbannung aus<br />
dem Leben des Bodybuilders war jetzt mehr als offensichtlich. Doch ein kleiner Rest<br />
Hoffnung probte von Zeit zu Zeit noch den erbitterten Widerstand und beschwor wildeste und<br />
abwegigste Phanta<strong>sie</strong>n herauf, die das Fernbleiben Manuels in einem anderen Licht<br />
erschienen ließen. Ihm fiel die sonderbare Reaktion des Zivis ein, als er diesem erzählt<br />
hatte, dass seine Mutter seit über zwanzig Jahre verwitwet sei; in der Erinnerung war dessen<br />
Erschrecken über das normale Maß hinausgegangen. Noch seltsamer erschien ihm die<br />
Gleichheit schicksalhafter Daten: Manuels Schwester Eva hatte am Nikolaustag Geburtstag,<br />
Pascals Vater war am 6. Dezember 1975 unter mysteriösen Umständen bei einem Autounfall<br />
ums Leben gekommen! Ein elender Quacksalber, der geistig nicht in der Lage gewesen war,<br />
eine Blutprobe von der anderen zu unterscheiden, hatte bei Walter Halbwein die vorherige<br />
exzessive Aufnahme von Alkohol diagnostiziert und sich trotz anderslautender Beweise und<br />
Zeugenaussagen wie das Geständnis des im Wagen mitgenommenen Lehrlings, selbst auf<br />
dem Operationstisch noch getanzt zu haben, aus purer Faulheit geweigert, die<br />
entsprechenden Tests zu wiederholen. 1 Die ganze Geschichte gehörte eigentlich schon<br />
damals einer lang zurückliegenden Vergangenheit an, doch das mysteriöse Verhalten<br />
Manuels eröffnete Pascals Gedankengängen neue Richtungsmöglichkeiten. Als sich der<br />
Todestag s<strong>eines</strong> Vaters zum dreißigsten Mal jährte, hatte er sich nach vorheriger Recherche<br />
im Internet ein Herz gefasst, und bei Freunden und Bekannten Evas telefonisch erfragt,<br />
welche Überraschungen zu deren runden Geburtstag geplant seien. Nach einigen<br />
Fehlschlägen hatte ihm schließlich eine Arbeitskollegin mit dem ulkigen Namen Nanni<br />
Autsch offenbart, dass die Jubilarin bereits 31 Lenze zählte. Von diesem Tage an konnte<br />
Pascal den Verrat und das falsche Spiel Manuels nicht mehr verleugnen. Drohte ihm nun<br />
durch Pascale eine ähnliche Enttäuschung?<br />
14.12.2007, 12.00 Uhr<br />
Obwohl man ihm bezüglich der Wahl seiner Worte im Schriftverkehr schon mehr als einmal<br />
ein außerordentliches Talent bescheinigt hatte, ließ es Pascal Halbwein bei der Formulierung<br />
seiner Weihnachtspost nicht an Sorgfalt fehlen. Früher hatte er sich für diese des Postwegs<br />
bedient, war aber zwischenzeitlich aus Kostengründen zur Verwendung von E-Cards<br />
1 Ähnlichkeiten mit fragwürdigen Arbeitsmethoden <strong>eines</strong> gewissen Dr. Hahn am besagten Datum im Kreis Höxter sind weder<br />
zufällig noch beabsichtigt, sondern unvermeidlich!<br />
8
9<br />
übergegangen. Nur besondere Leute wie Wolfgang Ziege fanden das jährliche Ritual noch<br />
im Briefkasten vor. Zudem galt es heuer für den Klienten, seinem lieb gewonnenen Helfer mit<br />
einem Geburtstagsgruß zu überraschen. Relativ <strong>eines</strong> passenden Postkartenmotivs fündig<br />
geworden, verfasste er folgenden Text:<br />
Hallo Pascal,<br />
alles Liebe und Gute zu deinem 30. Geburtstag wünscht Dir von Herzen Pascal Halbwein.<br />
<strong>Möge</strong>st Du die Dich nun für lange Zeit begleitende „3“ mit Würde durchs Leben tragen und Dir<br />
trotzdem noch die für Deine Mitmenschen erfrischende und mitreißende Art erhalten!<br />
14.12.2007, 17,45 Uhr<br />
Alex Ruhrpöttl meldete sich nicht! Der Architekturstudent war von jeher ein viel beschäftigter<br />
junger Mann gewesen, hatte bis dato trotzdem immer noch Zeit für seine Freunde gehabt.<br />
Sogar während s<strong>eines</strong> Auslandssemesters in Neuseeland waren mehrmals in der Woche E-<br />
Mails über den Ozean hin- und hergeschickt worden. Und damals hatte Pascal Halbwein den<br />
gebürtigen Münchner nicht halb so sehr gebraucht wie am heutigen Tag! Der Rollstuhlfahrer<br />
hätte sich nie träumen lassen, dass die zwölf Jahre jüngere Fußballkneipenbekanntschaft zu<br />
einem so guten Freund werden würde. Die Initiative war zu jener Zeit von Alex<br />
ausgegangen; aus unerklärlichen Gründen hatte der damalige Abiturient einen Narren an<br />
den gelernten Sozialpädagogen gefressen und selbigen bis zum heutigen Tage nicht wieder<br />
ausgespuckt! Anfangs war noch Clemens Ahl aus Deuerling mit von der Partie gewesen;<br />
leider hatte dieser im Laufe der Jahre den Kontakt zu seinem vormals besten Freund<br />
verloren, während der zwischen Pascal und Alex sich durch ungeahnt starke Reißfestigkeit<br />
auswies. Doch heuer war sich der nach einem Treffen Lechzende nicht einmal sicher, ob <strong>sie</strong><br />
sich in dem zu Ende gehenden Jahr überhaupt schon gesehen hatten! Von der Fixierung auf<br />
seinem Namensvetter mit „e“ und der Angst vor einer erneuten Enttäuschung gequält, hatte<br />
ihn zusätzlich die Sehnsucht nach Alex gepackt; dieser kam mit seiner unbeschwerten Art<br />
Pascale am nächsten. Aber mehrere über den Zeitraum von zwei Tagen verschickte SMS<br />
hatten keine Antwort zufolge, die Mailbox kündete von der Unerreichbarkeit des<br />
gewünschten Gesprächspartners. Genervt hatte sich der Ungeduldige schließlich an den<br />
Rechner gesetzt und seinen Frust via E-Mail freien Lauf gelassen:<br />
Hallo Alex,<br />
warum rufst Du nicht zurück? Weißt Du eigentlich, wie lange schon wir uns nicht mehr gesehen<br />
haben? Hat es überhaupt noch Sinn, die Verbindung zwischen uns krampfhaft am Leben zu erhalten?<br />
Mit traurigem Gruß,<br />
Pascal<br />
Wenige Sekunden später bereute der Schreiber die Versendung s<strong>eines</strong> Machwerks. Waren<br />
die gewählten Worte eventuell zu bedrängend gewesen? Vor Jahren hatte er des Öfteren in<br />
derartigen Situationen die Fassung verloren, ein leichtes pflanzliches Beruhigungsmittel<br />
hatte schließlich geholfen, dieses Problem weitgehend in den Griff zu bekommen. Aber in<br />
Extremfällen wie diesen war sein Temperament nach wie vor kaum zu zügeln! Alexander<br />
Ruhrpöttl war bereits in früheren Zeiten Augenzeuge von Pascals stürmischer Art gewesen,<br />
doch hatte er diese Charakterschwäche schlichtweg toleriert, zumal diese später mehr und<br />
mehr ausgebügelt wurde. Zu seinem Glück hatte auch die Mutter Alexanders viel<br />
Verständnis für die Probleme des Behinderten, den <strong>sie</strong> nicht persönlich kannte und legte<br />
offenbar das ein oder anderes Mal ein gutes Wort für diesen ein. Trotz dieser positiven<br />
Erfahrung war Pascal Halbwein sehr erleichtert, als die Antwort auf seine Mail relativ schnell<br />
eintraf:<br />
Hallo Pascal,<br />
es tut <strong>mir</strong> sehr leid, dass wir uns so lange nicht sehen konnten. Aber ich arbeite momentan an einem<br />
sehr aufwendigen Projekt, dass meine ganze Zeit in Anspruch genommen hat und auch zukünftig noch<br />
nehmen wird. Im kommenden Frühjahr werde ich gar auf meine Semesterferien verzichten müssen.<br />
Das heißt aber nicht, dass ich den Kontakt zu Dir abbrechen will. Unsere Freundschaft besteht schon<br />
so lange, dass eine längere Pause ihr nichts anhaben kann. Vielleicht sollten wir öfter miteinander<br />
telefonieren.<br />
Ciao,<br />
Alex
10<br />
Der Inhalt der Nachricht spendete dem Empfänger Trost.<br />
18.12.2007, 19.30 Uhr<br />
Das Weihnachtsessen fand traditionell im Dezember statt; sogar Anna und Ben, die<br />
Ehepartner von Josef und Ulla, nahmen an diesem teil. Noch nie hatte Pascal Halbwein den<br />
jährlichen Termin so herbeigesehnt wie heuer, doch die erhoffte Ablenkung wollte sich nicht<br />
im gewünschten Ausmaß zu der vertrauten Runde gesellen. Er wusste sehr wohl, dass<br />
Pascale Lishnevska noch zwei Tage Zeit hatte, sein Versprechen einzulösen, doch die<br />
Sehnsucht nach dem Medizinstudenten hatte seinen Geduldsfaden entzwei geschnitten.<br />
Geradezu zwanghaft lauschte er den Erzählungen seiner Freunde, um sich selbst auf andere<br />
Gedanken zu bringen. Der Motor von Josefs Auto hatte beim Einparken den Geist<br />
aufgegeben, und so fiel die Schweigsamkeit des Traurigen keinen der Anderen auf. Warum<br />
half das bewährte Mittel der Beschäftigung nicht bei diesem akuten Kummer? Dennoch<br />
waren die Pizzen viel zu schnell verzehrt und der Unglückliche wieder in seine momentan<br />
nicht ganz so heimischen vier Wände verfrachtet.<br />
19.12.2007, 14.00 Uhr<br />
Die Qual des Wartens war über Nacht weiter gewachsen und mittlerweile unerträglich<br />
geworden! Nachdem Juliane gegangen war, konnte der Rollstuhlfahrer sich nicht mehr<br />
zügeln und tippte hektisch folgende SMS:<br />
Pascale, ich verstehe, dass Dein Studium, das Afrikaprojekt und vor allem Sandra<br />
wichtiger sind, aber ich hasse es, wenn jemand ein gegebenes Versprechen nicht<br />
hält. Deshalb wäre es schön, wenn Du diese Woche noch vorbeischauen könntest; ich<br />
bin allerdings nur noch heute und morgen in Regensburg! Bitte melde Dich, Pascal<br />
Das Abschicken der Kurzmitteilung erhöhte wie befürchtet den Druck auf sein Herz; nach<br />
drei Stunden unternahm er den Versuch, selbigem mit einem Anruf zuleibe zu rücken.<br />
„Pascal, ich bin gerade im Gespräch!“, seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich in<br />
diesem ersten Satz bereits zu bestätigen, „In einer halben Stunde o. k.? Übrigens hatte ich<br />
heute sowieso vor, bei Dir rumzukommen.“ Hat <strong>mich</strong> die Erinnerung an Manuel dazu verleitet,<br />
wertvolles Porzellan zu zerschlagen? Die Angst vor einer eventuellen Verärgerung Pascale<br />
Lishnevskas ließ die nächste Stunde im Schneckentempo verrinnen; das Läuten der<br />
Türglocke verwandelte jedoch seine Angst unverzüglich in Euphorie, zumal der Ankömmling<br />
ihm zugleich wie gewohnt ein Lächeln schenkte. „Gern!“ nahm der zukünftige Arzt das<br />
Angebot einer Tasse Kaffee an, „Sag Bescheid, wenn ich Dir helfen soll!“ Dem Gastgeber<br />
gelang es jedoch, die hauswirtschaftliche Tätigkeit allein auszuführen. „Ich war bis gestern in<br />
Linz.“, begann Pascale Lishnevska schlagartig zu erklären, „Mein Vorhaben, Dir von dort aus<br />
eine E-Mail zu senden, scheiterte am Ausbleiben einer dementsprechenden Nachricht<br />
Deinerseits!“ Ich wollte, dass die erste Mail etwas ganz Besonderes, wie jetzt Dein<br />
Geburtstag ist. Und: Willst Du <strong>mir</strong> damit sagen, dass meine SMS überflüssig war? „Ist Deine<br />
Freundin mit nach Regensburg gekommen?“, setzte Pascal Halbwein das Gespräch fort.<br />
„Ja!“, das Objekt seiner Begierde strahlte, „Sandra hat ebenso wie ich bereits<br />
Weihnachtsurlaub. Übrigens habe ich zuerst überlegt, <strong>sie</strong> heute mitzubringen, war <strong>mir</strong> dann<br />
aber doch nicht sicher, ob Dir das recht wäre!“ Der Angesprochene jubilierte innerlich. Was<br />
konnte ihm Besseres pas<strong>sie</strong>ren, als die Herzensdame s<strong>eines</strong> Schwarms persönlich kennen<br />
zu lernen? Wenn Sandra ihn sympathisch fand, war dies ein weiterer Grund, den Kontakt zu<br />
Pascale aufrechtzuerhalten. ♫♪ Ich tu al – les für Dich, denn ich lie – be nur Dich, Pas – ca – lan<br />
– dra.♪♫ „Ich hätte <strong>mich</strong> sehr gefreut, ihre Bekanntschaft zu machen. Bring Sie ruhig mal mit!“<br />
„Oh, ich weiß nicht, ob wir das in diesem Jahr noch schaffen!“, räumte der Student ein, „Wir<br />
verreisen am Sonntag!“ „Das hätte ich auch gar nicht erwartet. Im nächsten Jahr gibt es<br />
hierzu bestimmt die passende Gelegenheit. ♫♪ Und mit Dir ganz al – lein will ich nur glück –<br />
lich sein, Pas – ca – lan – dra.♪♫ Welches Reiseziel habt Ihr für die Weihnachtszeit erkoren?“<br />
Dieses Jahr werden wir meine Großmutter in Tschechien besuchen, da der Rest meiner<br />
Familie dieses Jahr anderweitige Verpflichtungen hat. Meine Schwester ist über die<br />
Feiertage mit ihrem englischen Freund in Rom, Beim Papst? meine Eltern haben sich für drei<br />
Monate nach Guatemala verabschiedet.“, gab der Gast bereitwillig detailliert Auskunft.<br />
„Hauptsache, Du bleibst in Regensburg!“, platzte es aus Pascal Halbwein heraus! „Das habe
11<br />
ich schon vor!“, die Stimme Pascales hatte urplötzlich einen ernsten Unterton, „Allerdings<br />
benötige ich dringend einen zweiten Job. Wie Du weißt plane ich seit längerem, für einige<br />
Wochen nach Afrika zu gehen; diesbezüglich habe ich heute einen Dämpfer bekommen.<br />
Wahrscheinlich läuft es auf ein Praktikum hinaus, dessen Kosten in Höhe von ca. 2000,- €<br />
ich selber tragen muss. Bei Phönix verdiene ich einfach nicht genug!“ „Du hörst aber nicht<br />
ganz auf? Bei <strong>mir</strong> sind es ja sowieso immer nur 2 Stunden!“, das Herz des Gastgebers<br />
verkrampfte sich. „Das habe ich nicht vor!“, beruhigte ihn der Andere. Danach aßen die<br />
beiden Männer den aus dem Restaurant mitgebrachten Kuchen, welcher sich ihnen als<br />
Folge des Transports etwas zerquetscht präsentierte.<br />
Eines hoffentlich nicht mehr allzu weit entfernten <strong>Tages</strong><br />
Da Sandra Engelhardt vor lauter Glücksseligkeit keinen Bissen mehr runter bekam, entschloss <strong>sie</strong> sich<br />
kurzerhand, ihren beiden Mitbewohnern, welche gerade den von ihr selbst gemachten Schokoladenpudding<br />
aßen, gleichzeitig den Nacken zu kraulen. „Pascal ich kann Dir nicht sagen, wie sehr ich <strong>mich</strong> über<br />
Deinen Einzug freue!“, gab die Krankenschwester preis, „Ich hätte <strong>mir</strong> nie träumen lassen, mit zwei so<br />
tollen Männern wie Euch zusammenzuleben. Sämtliche Wünsche m<strong>eines</strong> Lebens sind damit auf einem<br />
Schlag in Erfüllung gegangen.“ „Ich habe zu danken, dass ich bei Euch einziehen durfte.“, gestand der<br />
neue Mieter, „Ich hoffe, <strong>mich</strong> dieser Ehre würdig zu erweisen. Zwar kann ich bezüglich der Erledigung<br />
der häuslichen Pflichten aus gesundheitlichen Gründen leider nur das Kommando übernehmen, werde dies aber<br />
als Ausgleich für Eure Mehrarbeit mit besonders viel Nachdruck tun!“ Pascalandra nickte zustimmend.<br />
19.12.2007, 19.45 Uhr:<br />
Das abendliche Hochgefühl ließ ihm ebenso wenig wie die Frühdienstserin Nervosität zur<br />
Ruhe kommen. Wollte er in dieser Nacht Schlaf finden, musste er sich dem Menschen<br />
anvertrauen, der im Gegensatz zu seinem aktuellen Freundes- und Bekanntenkreis sein<br />
intimstes Geheimnis kannte: Curd Stangler! Fast 18 Jahre waren seit jenem Tag, dem 24.<br />
März 1990, vergangen, an dem der Internatsschüler von Einsamkeit getrieben in eine<br />
Kasseler Schwulenkneipe geflüchtet war. Doch auch dort waren Traummänner rar gewesen,<br />
und wenn wider den gesunden Menschenverstand doch anwesend, zeigten <strong>sie</strong> keinerlei<br />
Verständnis für den körperlich Gezeichneten. Dennoch hatte Pascal allen Mut<br />
zusammengenommen und einem schwarzhaarigen Man mit hervorstehender Locke nach<br />
Erkundung von Namen und Berufsstand gefragt, ob dieser die große Liebe s<strong>eines</strong> Lebens<br />
schon gefunden habe. Zu überrumpelt, um jegliche Auskunft zu verweigern, verneinte Curd<br />
spontan, wonach der Neugierige jubelnd ausrief: „Super, ich auch noch nicht! Dann passen<br />
wir gut zusammen!“ Die Kontaktaufnahme war an Aufdringlichkeit und Plumpheit nicht zu<br />
überbieten gewesen; dennoch setzte Pascal Halbwein bei einem absichtlich herbeigeführten<br />
Wiedersehen beim Treffen einer Studentengruppe noch einem drauf, indem er dem Objekt<br />
seiner Begierde einen Zettel mit seiner Adresse in die Hand drückte und sein Vorgehen mit<br />
dem Wunsch, selbiges näher kennenlernen zu wollen, kommentierte. Dieser aufdringlichen<br />
Vorgehensweise folgte ein Antwortschreiben Curds, in welchem dieser offenbarte, sich von<br />
dem Rollstuhlfahrer total bedrängt zu fühlen; allein deshalb sei an eine Freundschaft, der<br />
auch zeitliche Probleme entgegenstünden, nicht zu denken. Die ehrliche und nicht<br />
verletzende Wortwahl des Verschmähenden ließ dem Adressaten die Ruhe bewahren, allein<br />
eine große Traurigkeit belastete sein Herz. Überraschenderweise imponierte Curd die<br />
Einsicht s<strong>eines</strong> Fans; schließlich entwickelte er doch freundschaftliche Gefühle für Pascal.<br />
Neben zahlreichen Briefen waren regelmäßige Treffen an der <strong>Tages</strong>ordnung, deren<br />
Höhepunkt ein <strong>Tages</strong>ausflug in ein nahe gelegenes Kloster bildete. Die Freundschaft zu<br />
Curd Stangler wurde für den Internatsschüler immer wichtiger; als sein Umzug nach<br />
Regensburg feststand, plagten ihm Verlustängste, die sein Freund jedoch zu lindern<br />
verstand, in dem er ihn versicherte, wie wichtig Pascal für ihm sei. Doch leider verlief die<br />
Entwicklung zwar langsam aber stetig in eine andere Richtung. Dass Curd kurz nach<br />
seinem Wegzug die große Liebe s<strong>eines</strong> Lebens, Mohammed, traf, verschmerzte der<br />
Rollstuhlfahrer relativ schnell; doch packte ihm eine rasende Eifersucht auf Marvin, den der<br />
Pädagogikstudent bei einem Seminar über Franz Kafka kennen lernte. Damals noch nicht
12<br />
mit Mohammed bekannt, verliebte sich der zukünftige Pädagoge in den verheirateten Mann<br />
und schaffte es nach einigen Kämpfen, dessen Vorurteile zu entkräften und eine normale<br />
Männerfreundschaft aufzubauen; am Ende wurde er gar Patenonkel von Marvins erstem<br />
Kind. Curd ließ Pascals Schimpfattacken mehr oder weniger verständnisvoll über sich<br />
ergehen, als er zufälligerweise mit einem ehemaligen Zivi aus dem Internat in eine<br />
Wohngemeinschaft zog, nahmen diese immer größere Ausmaße an. Obwohl der<br />
Aufbrausende im Laufe der Jahre immer ruhiger wurde, blieb es bei zwei Treffen, eins in<br />
Regensburg, Curd war anlässlich der Probleme mit Sven in die Hauptstadt der Oberpfalz<br />
gereist, und eins auf dem Kasseler Bahnhof. Inzwischen hatten <strong>sie</strong> sich über zehn Jahre<br />
lang nicht gesehen; zudem hatte der heutige Universitätsprofessor seinem Versprechen,<br />
Marvin könne ihm niemals wichtiger sein als Pascal, den Stempel der Verjährung<br />
aufgedrückt und erklärt, dass er jetzt vorwiegend Freundschaften aus seiner unmittelbaren<br />
Umgebung pflegte. Dennoch brachte es der Zurückgesetzte nicht übers Herz, den Kontakt<br />
vollends abzubrechen; mindestens alle zwei Monate musste er mit dem ehemaligen<br />
Weggefährten telefonieren. Wenigstens schien sich Curd selbst auch ein wenig über die<br />
Treue Pascals zu freuen; auch jetzt wünschte er der einst wichtigen Person in seinem Leben<br />
viel Glück beim weiteren Verlauf seiner Bekanntschaft mit Pascale.<br />
Eines hoffentlich nicht mehr allzu weit entfernten <strong>Tages</strong> später<br />
Die Regensburger Altstadtwohnung bekam dank des Dritten im Bunde nun endlich ein Festnetztelefon<br />
nebst Anrufbeantworter, welchem folgender Ansagetext zuteil wurde: „Dies ist der Anschluss von der<br />
bezaubernden Sandra und (Schönheit + Intelligenz)² sprich Pascal & Pascale. Bitte sprechen Sie nach<br />
dem Piepton!“<br />
22.12.2007, 17.00 Uhr<br />
Nach drei Tagen war der prall mit Glückshormonen gefüllte Luftballon geplatzt; das Gefühl<br />
der beklemmenden Unsicherheit hatte mit einer spitzen Nadel seinen alten Platz<br />
zurückerobert. Bereits gestern hatte er Regensburg ca. 500 km hinter sich gelassen; warum<br />
konnte Pascal Halbwein nicht entspannen? Und dabei verbrachte in diesem Jahr zu seiner<br />
besonderen Freude die ganze Familie das Weihnachtsfest bei seiner Mutter; sogar sein<br />
Bruder Ralf war mit seiner Frau Muriel und der vierjährigen Tochter Riviera angereist;<br />
zusammen mit Ole, dem mittleren Sohn Annemarie Halbweins waren <strong>sie</strong> zu sechst. Der<br />
Rollstuhlfahrer genoss die Zeit mit seinen engsten Angehörigen. Es war nicht die Sehnsucht<br />
nach einer anderen Familie, die ihn quälte; es war die Sehnsucht nach einer zweiten Familie.<br />
Die Begegnung mit Pascale hatte friedlich schlummernde Wünsche und Bedürfnisse<br />
aufgeweckt und selbigen neues Leben eingehaucht. Von den drei Brüdern war es allein Ralf<br />
gelungen eine Gemahlin zu finden und dem Stammbaum der Familie zu einem neuen Ast zu<br />
verhelfen; in der frühen Kindheit wahrscheinlich durch den Tod des Vaters traumati<strong>sie</strong>rt,<br />
waren Pascal und Ole im entscheidenden Lebensalter offenbar nicht in der Lage gewesen,<br />
diesbezügliche Kontakte zu knüpfen oder diese gar zu erhalten. Inzwischen zeigte seine<br />
biologische Uhr fast 40 Lebensjahre an, war die Zeit, das Glück zu finden, ohne jeglichen<br />
Erfolg abgelaufen? In seinem Innersten hatte sich unlängst ein mysteriöser Wandel<br />
vollzogen: Hatte er es früher aufgrund einer Hundephobie vermieden, sich längere Zeit im<br />
Freien aufzuhalten, lechzte er momentan geradezu nach frischer Luft. So hatte Pascal<br />
Halbwein z. B. beim heutigen Besuch auf dem Holzmindener Weihnachtsmarkt innere Ruhe<br />
und Zufriedenheit empfunden; zurück in dem seit Jahrzehnten vertrauten Zuhause hatte er<br />
Mühe, das wieder aufkeimende nackte Elend vor den Anderen zu verbergen.<br />
24.12.2007, 22.00 Uhr<br />
Seiner zusätzlichen Belastung als Dolmetscher zwischen zwei Sprachen und Generationen zum Trotz<br />
hatte Pascale Lishnevska noch Zeit zum Kochen gefunden; das wohlschmeckende Ergebnis seiner<br />
Bemühungen hatte die Dauer des Abendessens länger und länger werden lassen. Dem einfühlsamen Enkel<br />
entging es nicht, dass seine Großmutter müde war sich schlafen legen wollte. „Einen Moment noch Oma!“<br />
bat er <strong>sie</strong> in seiner Muttersprache. Dann holte der Medizinstudent ein Kästchen aus seiner Jackentasche<br />
und kniete nach dessen Öffnung vor seiner Freundin nieder: „Sandra Engelhardt, ich liebe Dich! Hiermit
13<br />
frage ich Dich in Angesicht Gottes und meiner ältesten noch liebenden Ahnin: Willst Du <strong>mich</strong> heiraten?“<br />
Ausdruck und Intensität von Sandras Lächeln machten jegliche verbale Antwort geschweige denn eine<br />
sonstige Übersetzung unnötig.<br />
28.12.2007, 17.30 Uhr<br />
Das Geburtstagskind hatte die zugedachte Karte noch nicht erhalten; die Abrufbestätigung<br />
blieb aus! Pascals Enttäuschung hielt sich allerdings in Grenzen, wähnte er doch seinem<br />
Angebeteten mitsamt Freundin in Tschechien. Die Weihnachtsfeiertage waren im Großen<br />
und Ganzen in familiärer Feststimmung abgehalten worden, waren aber teilweise von dem<br />
schwelenden Generationskonflikt zwischen Schwiegermutter Annemarie und<br />
Schwiegertochter Muriel überschattet worden. Die Ältere hatte bereits mit 28 Jahren ihren<br />
Ehemann verloren und infolgedessen ihre drei Söhne jahrzehntelang allein erziehen<br />
müssen; durch Pascals vermutlich aus Sauerstoffmangel bei der Geburt resultierenden<br />
körperlichen Behinderung wurde diese Aufgabe auch nicht gerade einfacher und war nur<br />
mittels <strong>eines</strong> strengen Regiments und Kommandos zu bewältigen! Diese straffe Art der<br />
Familienführung ging Annemarie Halbwein so sehr in Fleisch und Blut über, dass <strong>sie</strong> sich<br />
selbige auch lange nach dem Erwachsenwerden ihrer Kinder nicht abgewöhnen konnte. Ihr<br />
Erziehungsstil beruhte vor allem auf dem Prinzip der doppelten Übertreibung; auf jegliche<br />
Kleinigkeit wurde entweder mit Lob oder Tadel reagiert. Annemarie Halbwein kannte jedoch<br />
den großen Wert ihrer Lebensleistung selbst nicht an und pochte auf die Rechte Anderer,<br />
welche <strong>sie</strong> der eigenen Person absprach. Familie, Freunde und Nachbarn kannten um die<br />
besondere Familiengeschichte der Halbweins und wussten das resolute Auftreten ihres<br />
Oberhaupts richtig einzuschätzen. Doch Muriel war erst dazu gekommen, als der jüngste<br />
Sohn Ralf ins heiratsfähige Alter gekommen war. Die jüngere von zwei Töchtern <strong>eines</strong><br />
Münchner Journalisten konnte so manche Eigenart ihrer Schwiegermutter nicht<br />
nachvollziehen und versuchte gegen diese zu rebellieren. Besonders die Angewohnheit der<br />
stolzen Großmutter, Riviera im Verlauf der gegenseitigen seltenen Besuche mit Geschenken<br />
geradezu zu überschütten, sorgte für eine permanente Missstimmung zwischen den beiden<br />
Frauen; Ralf saß unentwegt zwischen zwei Stühlen. Neben pädagogischen Gegensätzen<br />
traten auch unterschiedliche Auffassungen über die richtige Ernährung zutage. Das junge<br />
Ehepaar setzte hierbei fast ausschließlich auf Biokost und ließ nichts unversucht, auch die<br />
anderen Familienmitglieder von der Einzigartigkeit und Ausschließlichkeit dieser Produkte zu<br />
überzeugen. Doch seine Gastgeberin traf schon seit Jahrzehnten sämtliche Entscheidung<br />
allein und in Eigenverantwortung und war somit nicht gewillt, sich andere Lebensweisen<br />
aufzwingen zu lassen. Nüchtern betrachtet handelte es sich bei den ständigen Streitereien<br />
um einen ganz normalen Generationskonflikt; doch derartige Kommunikationsformen hatten<br />
während der Alleinherrschaft Annemarie Halbweins zuvor nie im Hause Einzug gehalten!<br />
28.12.2007, 19.45 Uhr<br />
Die Verwandten waren gegangen, die Freunde würden in Kürze eintreffen. „Alle wichtigen Leute feiern<br />
mit <strong>mir</strong>!“, stellte Pascale Lishnevska zufrieden fest und küsste Sandra auf den Mund, „Da muss ich<br />
bezüglich des neuen Lebensjahrzehnts keine Sorgen zu machen.“ Die Krankenschwester löste sich aus den<br />
Armen ihres Liebsten und sah ihn feierlich an: „Ich will Dir heute schon den ganzen Tag etwas sagen,<br />
aber ständig verhindert die gut funktionierende Türklinge respektive Dein stets eingeschaltetes Handy mein<br />
Vorhaben! Bevor in wenigen Minuten hier wieder die wildeste Party des auslaufenden Jahres jegliche<br />
Ruhe in die ewigen Jagdgründe befördert, gebe ich Dir unter Dein hoffentlich schönstes Geschenk: Ich<br />
bin schwanger! Du wirst Vater!“<br />
31.12.2007, 19.30 Uhr<br />
Pascal Halbwein hasste Silvester! Dieses Datum erinnerte ihn regelmäßig an nicht erfüllte<br />
Lebensträume; wieder war ein Jahr vergangen, in welchem er weder geheiratet noch seine<br />
Karriere in irgendeiner Form vorangetrieben hatte. Selbst die Heilige Katholische Kirche, an<br />
den anderen 364 Tagen des Jahres Balsam für seine geschundenen Nerven, stimmte zum<br />
Entsetzen des gläubigen Christen in den allgemeinen Chor der Zurückblickenden und<br />
Vorsätze Fassenden mit ein und feierte das Fest, welches <strong>sie</strong> streng genommen am 1.
14<br />
Advent respektive dessen Vorabend begehen sollte. Heuer gesellte sich die Sehnsucht nach<br />
Pascale Lishnevska zu dem alljährlichen Trübsal blasen hinzu; zusammen bildeten die<br />
beiden Seelenpeiniger ein unschlagbares Doppel. Selbiges bekam zu allem Überfluss in<br />
Gestalt von Pascals Cousine Veronika auch noch Verstärkung; diese lud die gesamte<br />
Familie Halbwein zur Feier anlässlich ihres dreißigsten Geburtstages ein! Die drückende<br />
Zentnerlast schickte sich an, 5 mm über seinem Herzen zu schweben: Zählte er schon aus<br />
welchen Gründen auch immer nicht zum erlesenen Gästekreis von Pascales Wiegenfest, so<br />
wurde ihm diese Ehre wenigstens bei Veronikas Pendant zuteil! Leider konnte Annemarie<br />
Halbwein die Begeisterung ihres Sohnes nicht teilen und brachte zahlreiche Gründe vor, die<br />
gegen eine Teilnahme an dem freudigen Ereignis sprachen. Besonders der Zeitpunkt der<br />
Feierlichkeit, Pascal fuhr bereits am nächsten Tag mit dem Zug zurück nach Regensburg<br />
und der Kostenfaktor, ihre Nichte feierte mit ihrem auf den Tag genau gleichaltrigen<br />
Schwager Claudius, schienen ihr Kopfzerbrechen zu bereiten. Doch wer <strong>sie</strong> besser kannte<br />
wusste, dass ihre Bedenken Jahrzehnte zurück in der Vergangenheit wurzelten. Veronika<br />
war die älteste Tochter von Egon Halbwein, dem Bruder ihres verstorbenen Mannes. Das<br />
Verhältnis zur angeheirateten Verwandtschaft war bereits am Tag ihrer Verlobung belastet<br />
worden, da die zukünftigen Schwiegereltern die Erteilung des Segens für eine baldige<br />
Vermählung von der erfolgreichen Absolvierung <strong>eines</strong> Hauswirtschaftsintensivkurses seitens<br />
der Braut abhängig machten. Zwar meisterte die damals 22-jährige die ihr gestellte Aufgabe<br />
mit Bravour, sah sich jedoch noch lange nach ihrer Hochzeit Zweifeln und Skepsis<br />
ausgesetzt! Walters damals achtzehnjährige Schwester Hulda warf ihr unumwunden an den<br />
Kopf, dass ihr Bruder etwas Besseres verdient habe. Diese Äußerung rührte zwar von<br />
spätpubertärer Flapsigkeit her, wurde aber trotz des im Laufe der Jahre immer besser<br />
werdenden Verhältnisses nie vollends vergessen. Im Alter von sechs Monaten stellten Ärzte<br />
bei Pascal, dem Erstgeboren, eine halbseitige spastische Lähmung fest, was unzählige<br />
Therapien und auch so manchen Krankenhausaufenthalt zur Folge hatten. Der Betroffene<br />
selbst hatte das „Glück“, dass sein Großvater väterlicherseits im letzten Weltkrieg beide<br />
Beine verloren hatte und ebenfalls auf einen Rollstuhl angewiesen war, so kam er sich bei<br />
der Erduldung s<strong>eines</strong> Schicksals nicht ganz so einsam vor! Aber Egon Halbwein senior starb<br />
drei Monate vor dem tödlichen Autounfall s<strong>eines</strong> jüngeren Sohnes. Seine verwitwete<br />
Schwiegertochter hatte letztendlich keine andere Wahl, als das gerade erst bezogene<br />
Eigenheim zusammen mit dem erst seit kurzem schwarze Zahlen schreibenden<br />
Familienbetrieb ihren Schwager zu überlassen und mit ihren drei Kindern in eine<br />
Neubau<strong>sie</strong>dlung mitten im Dorf zu ziehen. Obwohl das kleinere Haus schnell zu einer<br />
Schutzburg für ein harmonisches Familienleben wurde, trauerte Annemarie Halbwein bis<br />
zum heutigen Tag ihrem einstigen Domizil hinterher, an dessen Erbauung <strong>sie</strong> selbst<br />
maßgeblich beteiligt gewesen war. Ihr fiel es mit den Jahren immer schwerer, selbiges als<br />
Gast zu betreten, wodurch der Kontakt zu diesem Zweig der Verwandtschaft immer geringer<br />
wurde bis er quasi nicht mehr vorhanden war!<br />
Pascal Halbwein quälten in der Pubertät ähnliche Probleme; allerdings kreisten dessen<br />
Gedanken um die verlorene Firma. Seine Gefühle wurden fatalerweise durch die in den<br />
Achtziger Jahren zuhauf vom Fernsehen gesendeten Familienepen verstärkt, in deren<br />
Verlauf der Vater in der Regel eine Firma gründete, aus denen die Kinder dann den<br />
Weltkonzern formten. Der Internatsschüler wurde geradezu süchtig nach TV-Highlights<br />
dieser Art und steigerte sich in die Probleme fiktiver Öldynastien geradezu hinein,<br />
betrachtete sich selbst gar als um sein Erbe betrogenes Opfer! Zwar sah er im Verlauf des<br />
Älterwerdens die Realität wieder etwas klarer vor Augen, seine Phanta<strong>sie</strong>n erreichten jedoch<br />
einen Höhepunkt, als zwei Jahre vor dem Abitur Hendrik Schuhlöffler aufs Internat kam und<br />
der selben Gruppe wie Pascal zugeteilt wurde. Der gebürtige Braunschweiger war nach<br />
einem Badeunfall querschnittsgelähmt, sprühte aber nichtsdestotrotz ungebremst vor<br />
Lebensfreude. Dieser Elan schien Bestandteil der DNA seiner Familie zu sein, denn auch<br />
Hendriks Eltern informierten sich bereits eine Woche nach dem tragischem Ereignis über<br />
Fördermöglichkeiten für Behinderte, die älteren Söhne Jens und Steffen brachten sich aktiv<br />
in die Planung ein. Doch was Pascal Halbwein am meisten an seinem neuen Mitschüler<br />
faszinierte, war der Umstand, dass dieser offensichtlich das Leben führte, dass ihm aller<br />
Voraussicht nach im Falle des Weiterlebens s<strong>eines</strong> Vaters vergönnt gewesen wäre; selbst
15<br />
die Konstellation der Familie Schuhlöffler entsprach exakt der ursprünglichen<br />
Zusammensetzung der Halbweins. Der immer noch als homosexuell abgestempelte<br />
Abiturient scheiterte kläglich mit seinen Versuchen, zu Hendrik eine freundschaftliche<br />
Beziehung aufzubauen. Er wurde von diesem freundlich aber bestimmt in die Schranken<br />
gewiesen, jedoch seltsamerweise trotzdem in die intimsten Familiengeheimnisse der<br />
Schuhlöfflers eingeweiht. Pascal Halbwein spürte hautnah die Angst des Anderen vor einer<br />
Überflutung der Gefühle. Diese waren zwar zugegebenermaßen im Grundsatz vorhanden,<br />
reichten aber bei weitem nicht über seine beiden Ohren hinaus. Obwohl <strong>sie</strong> beide nach der<br />
bestandenen Reifeprüfung in das gleiche Studentenwohnheim gezogen waren, war jegliche<br />
Verbindung zwischen ihnen bereits vor Jahrzehnten abgebrochen!<br />
01.01.2008, 18.30 Uhr<br />
Die beiden Nachrichten waren bereits am letzten Tag des zur Geschichte gewordenen<br />
Jahres innerhalb von 10 Minuten eingetroffen. Der Empfänger jubilierte innerlich, hatte<br />
Pascale Lishnevska den ihm zugedachten Gruß offenbar direkt nach Erhalt beantwortet:<br />
Pascal, ich danke Dir ganz herzlich für Deine Karte, das war eine sehr liebe Geste von Dir! Ich<br />
wünsche Dir im Gegenzug, dass alle Deine Wünsche in Erfüllung gehen und Du nie der Versuchung<br />
erlegen wirst, aufzugeben.<br />
We will stay in contact,<br />
Pascale<br />
Obwohl die E-Mail die normalerweise ausführlichere Erzählweise des Absenders vermissen<br />
ließ, überwiegte bei Pascal Halbwein doch die Freude über ihren Erhalt. Motiviert von der<br />
freundlichen Wortwahl des Medizinstudenten schrieb er sogleich folgendes zurück:<br />
Hallo Pascale,<br />
danke für Deine Mail und vor allem ein frohes neues Jahr. Ich hoffe, Du nutzt die Zeit zwischen den<br />
Jahren, um Dich intensiv um Sandra zu kümmern und lässt Dich nicht wieder anderweitig vor<br />
irgendeinem Karren spannen. Vergiss nicht: Du kannst es nicht der ganzen Welt Recht machen!<br />
Auf Wiedersehen in Regensburg,<br />
Pascal<br />
05.01.2008, 21.00 Uhr<br />
Der (angeheiratete) Cousin der Geburtstagskinder genoss das Fest in vollen Zügen.<br />
Nachdem seine Mutter eine Nacht darüber geschlafen hatte, war ihr der Besuch der<br />
Feierlichkeit nicht mehr ganz so abwegig vorgekommen und so verbrachte <strong>sie</strong> den Abend<br />
zusammen mit ihrem Sohn den Abend auf dem Ehrenfest Veronikas. <strong>Für</strong> ihren Sohn war<br />
diese Ablenkung zur Wiedergewinnung seiner inneren Ruhe auch unabdingbar, war doch in<br />
den letzten Tagen keine zweite Nachricht von Pascale, dafür aber eine Einladung zum<br />
Vorstellungsgespräch eingetroffen: Die Regierung der Oberpfalz bat den gelernten<br />
Sozialpädagogen zu sich. Leider hatte der Arbeitssuchende schon zu viele Enttäuschungen<br />
erlebt, um angesichts dieses Termins in Jubel zu verfallen. Durch Fehler in der<br />
Vergangenheit schien ihm ein neuer Job unwahrscheinlicher als ein großer Lottogewinn zu<br />
sein. Zudem war mit Pascales Auftauchen sein zweiter Lebenswunsch wieder in den<br />
Vordergrund getreten: ein Partner oder meinetwegen auch eine Partnerin, mit der er alt<br />
werden konnte. Aber nicht zuletzt durch seinen vierräderigen ständigen Begleiter würde er<br />
wohl bis zum Ende seiner Tage mit der Familie vorlieb nehmen müssen, die er besaß.<br />
Deshalb freute er sich auch unbändig, seinem Onkel mitsamt dessen Familie wieder zu<br />
sehen. Denn man konnte über Egon Halbwein als Geschäftsmann sagen was man wollte: Er<br />
schien deutschlandweitweit der Einzige zu sein, dem es gelungen war, erheblichen<br />
Wohlstand mit einer anständigen und guten Kindererziehung zu vereinbaren!<br />
06.01.2008, 16.50 Uhr<br />
„Halt! Stopp!“ Ich übernehme!!!“ Helfer und Klient sahen erschrocken auf, als ein schwarzhaariger<br />
vielleicht etwas zu klein geratener junger Mann kurz vorm Erreichen der Bushaltestelle schreiend auf <strong>sie</strong> zu<br />
rannte; die Freude des Letzteren war jedoch nicht zu übersehen. Pascale Lishnevska riss Leopold Schäfer<br />
den Rollstuhl aus beiden Händen und befahl den irritierten Lehramtsstudenten: „Du kannst nach Hause
gehen und die Stunden so aufschreiben. Ich kümmere <strong>mich</strong> jetzt um Pascal!“ Dann legte er den<br />
Weitgereisten die Hand auf die Schulter und verriet: „Mach dich auf eine lange Nacht gefasst! Ich<br />
habe heute noch viel mit Dir vor!“<br />
06.01.2008, 17.45 Uhr<br />
In der realen Welt gab es niemanden, der <strong>sie</strong> aufhielt; Pascal und Leopold erreichten die<br />
Regensburger Wohnung ohne jegliche Komplikation. Der Rollstuhlfahrer war trotz der<br />
Nichterfüllung s<strong>eines</strong> Wunschtraums froh, dass der zukünftige Gymnasiallehrer ihn abgeholt<br />
hatte, erinnerte ihm wenigstens noch dieser noch an die gute alte Zeit, als Phönix e. V. noch<br />
Zivis eingestellt hatte. Leopold Schäfer kam aus einem gut- vielleicht sogar<br />
spießbürgerlichen Elternhaus, was er zumindest unbewusst seine Umwelt auch spüren ließ.<br />
Er schien seinen seinem jetzigen Schutzbefohlenen zwar zu mögen, aber Selbiger wollte<br />
nicht wissen, was pas<strong>sie</strong>ren würde, dauerte etwa der Einkauf aufgrund irgend<strong>eines</strong><br />
Problems etwas länger oder er sich eventuell fünf Minuten vor Dienstschluss erbrach.<br />
07.01.2008, 10.00 Uhr<br />
Die Zeit hatte sich offenbar selbst ein Schneckentempo auferlegt; bereits am Montag konnte<br />
er das kommende Wochenende kaum erwarten. Pascals Gehirn suchte fieberhaft nach<br />
lindernden Mitteln der Ablenkung. Die Vorstellung, sein restliches Leben einsam und allein<br />
zu fristen, wurde zur ständigen Qual! So plötzlich wie ein Blitz tauchte ein möglicher Ausweg<br />
aus dem Dilemma vor seinem geistigen Auge auf: die Schaltung einer Kontaktanzeige! In<br />
früheren Zeiten hatte Pascal Halbwein zwei- oder dreimal auf Inserate geantwortet, mit<br />
welchen Männer andere Männer finden wollten, dann aber frustriert feststellen müssen, dass<br />
die Suchenden von potentiellen Antwortenden etwas abverlangten, was <strong>sie</strong> selbst nicht<br />
besaßen: Perfektion! In der aktuellen Situation entschied sich der Verzweifelte bewusst für<br />
die Rubrik „Er sucht Sie“. Sein Glaube an die seligmachende Liebe auf den ersten Blick war<br />
schon längst zerronnen; er vertrat vielmehr schon seit längeren die Auffassung, dass bei<br />
zwei Menschen zwar eine gewisses Maß an Sympathie im Anfangsstadium vorhanden sein<br />
musste, diese aber ein Nichts gegen das Gefühl war, welches man nach Jahren<br />
gemeinsamer Erlebnisse und des Zusammenhalts empfand! Wenn Pascal seine<br />
Behinderung sofort offenbarte, war er auch gegen eine diesbezügliche Ablehnung<br />
gewappnet. Schließlich nahm die zuständige Redakteurin der <strong>Tages</strong>zeitung folgenden Text<br />
entgegen:<br />
Sozialpädagoge, Mitte 30, sucht liebevolle Partnerin, die auch vor<br />
einer Behinderung (Rollstuhlfahrer) nicht zurückschreckt.<br />
08.01.2008, 14.45 Uhr<br />
Trotz anders lautender Betreffzeile (Rundbrief) hatte die versandte Mail nur einen<br />
Adressaten:<br />
Hallo Leute,<br />
habe morgen um 11 Uhr ein Vorstellungsgespräch bei der Regierung der Oberpfalz. Wenn das klappt,<br />
kann ich endlich in meinem eigentlichen Beruf als Sozialpädagoge arbeiten. Drückt <strong>mir</strong> die Daumen!<br />
Servus, Pascal<br />
08.01.2008, 15.20 Uhr<br />
Drücke ab 10 Uhr 30 beide Daumen!<br />
Viel Glück, Pascale<br />
Hatte der Student morgen eine exakt um halb elf beendete wichtige Prüfung?<br />
16<br />
09.01.2008, 14.00 Uhr<br />
Dr. Sabine Meir zeigte sich durch die Auswahl des Themas irritiert, nahm aber trotzdem zu<br />
diesem Stellung: „Eigentlich wollen wir ja heute die erfolgreiche Behandlung ihrer<br />
Hundephobie mit einem Gespräch abschließen, ich möchte Ihnen nur kurz aufzeigen, dass<br />
Sie absolut keinen Grund haben, sich minderwertig zu fühlen. Immerhin haben Sie ein<br />
Studium abgeschlossen; das hat dieser Student im stolzen Alter von 30 Jahren noch nicht<br />
vollbracht.“ Pascal Halbwein überlegte, ob seine Therapeutin die unausgesprochene
17<br />
Wahrheit erriet; zudem schien er innerhalb von Minuten erheblich in ihrer Achtung gesunken<br />
zu sein. Natürlich war der Rollstuhlfahrer stolz, das erste Mal in seinem Leben eine<br />
Schäferhündin gestreichelt zu haben, doch war er hier monatelang vor dem Durchbruch<br />
schrittweise an besagtes, bis zuletzt angeleintes, Tier herangeführt worden und konnte sich<br />
im tiefsten Innern nicht vorstellen, das aufgebaute Vertrauen auf andere Vierbeiner zu<br />
übertragen. Auch hatte ihm damals nach der Rückkehr in seine Wohnung niemand erwartet,<br />
der ihm entgegenlief umarmte und auch nur ansatzweise die Freude über den Erfolg teilte.<br />
Die Einsamkeit hatte den Triumph in Rekordzeit im Zweikampf be<strong>sie</strong>gt; vor der Begegnung<br />
mit Pascale Lishnevska hatte <strong>sie</strong> jahrelang keinen Einlass in seine vier Wände begehrt.<br />
Heute hatte Pascal Halbwein gehofft, mithilfe <strong>eines</strong> professionellen Rats den Pfad zur<br />
Zufriedenheit wieder finden zu können; doch tröstete ihn Dr. Meir dagegen mit Worten,<br />
welche bereits in ähnlicher Form in Jugendtagen anlässlich seiner zahlreichen Konflikte im<br />
Internat von seiner Cousine Cordula ausgesprochen waren, damals wie heute war die<br />
Wirkung der schmeichelnden Formulierungen sehr schnell verpufft! Als die Psychologin sich<br />
heuer mit dem Wunsch verabschiedete, ihn niemals wieder sehen zu wollen,<br />
verabschiedete, wusste der ehemalige Patient vom Verstand her, wie es gemeint war; sein<br />
durch den negativen Verlauf des Vorstellungsgespräches angegriffenes Herz verspürte<br />
jedoch einen schmerzhaften Stich!<br />
10.01.2008, 19.50 Uhr<br />
Wie war es Manuel Banker in den letzten Jahren ergangen? Wahrscheinlich hatte sich der<br />
ehemalige Zivi mit der Zeit weiterentwickelt, so dass jetzt wenigstens ein flüchtiger Kontakt<br />
möglich war. „Ich kenne keinen Pascal Halbwein!“, zerstörte Manuel die diesbezüglichen<br />
Hoffnungen des Anrufers und legte akustisch energisch den Hörer auf. Dieser hatte die ihn<br />
betreuenden Personen in den letzten Jahrzehnten zwar öfters verärgert; diese waren aber<br />
nie so extrem gewesen, dass es zur Verleugnung ihrer Bekanntschaft gekommen war. Auch<br />
hatten diese ihrem Schützling nicht permanent, wohlgemerkt im nicht ironischen Ton, erzählt,<br />
wie toll er sei; dazu hätte es ehrlich gesagt auch mehr als selten Anlass gegeben! Wenn sein<br />
ehemaliger Helfer die mutmaßliche Freundschaft nicht erneut aufleben lassen wollte war<br />
dies zu akzeptieren, aber es war wirklich nicht die feine englische Art, ihre bloße<br />
Bekanntschaft abzustreiten. Vollends vergessen hatte ihn noch keiner seiner Betreuer;<br />
warum sollte dies ausgerechnet denjenigen gelingen, welcher ihn eine Ewigkeit zuvor in den<br />
Himmel gelobt hatte. Nachdem mehrere Versuche des erneuten Anrufens kläglich<br />
gescheitert waren, sandte der vorgeblich Vergessene folgende SMS an den gewünschten<br />
Gesprächspartner:<br />
Hallo Manuel, ich bin der Rollstuhlfahrer, den Du während D<strong>eines</strong> Zivildienstes<br />
angeblich so gern hattest. Ich akzeptiere es voll und ganz, wenn Du nichts mehr mit<br />
<strong>mir</strong> zu tun haben willst, aber dass Du so tust, als würden wir uns gar nicht kennen,<br />
verletzt <strong>mich</strong>. Bitte melde Dich, Pascal<br />
Schnell wurde die Ahnung zur Gewissheit, dass auch diese Form der Kontaktaufnahme<br />
keine Antwort nach sich ziehen würde. Aber dem Gedemütigten drängte sich in<br />
unerträglicher Stärke die Frage auf, was damals genau pas<strong>sie</strong>rt war. Nachdem Manuels<br />
Vater, ihm während des Telefonats deutlich spürend lassend, dass er genau wusste, wer<br />
Pascal war, jegliche erklärende Auskunft verweigert hatte, entschloss er sich, bei Frank<br />
Erdmann nachzufragen. Dieser war zu Zivildienstzeiten schon ewig mit dem Bodybuilder<br />
befreundet gewesen. Wenn jemand überhaupt mehr wusste, dann er! Da ausschließlich die<br />
Handynummer des Gesuchten im Telefonbuch zu finden war, entschloss sich Pascal<br />
Halbwein abermals zur Versendung einer Kurznachricht:<br />
Servus Frank, Du wirst nicht mehr wissen, wer ich bin; wir haben uns während Deiner<br />
Zeit bei Phönix kennengelernt. Wie Du damals sicherlich mitbekommen hast, hat sich<br />
damals eine Freundschaft zwischen Manuel Banker und <strong>mir</strong> entwickelt; nur nach dem<br />
Ende seiner Dienstzeit wollte er auf einmal nichts mehr von <strong>mir</strong> wissen. Was ist<br />
damals pas<strong>sie</strong>rt? Hattet ihr eventuell bezüglich meiner Person eine Wette laufen? Es<br />
geht <strong>mir</strong> wirklich nicht darum, nach all den Jahren jemanden in die Pfanne zu hauen;<br />
ich muss nur aus aktuellen Anlass in Erfahrung bringen, was damals wirklich<br />
pas<strong>sie</strong>rt ist. Bitte ruf <strong>mich</strong> zurück, Pascal<br />
Auch dieses Mal erhielt der Unglückliche nicht der Mühen Lohn.
18<br />
11.01.2008, 16.55 Uhr<br />
Immer wenn Brunhilde Bereitschaftsdienst hatte, wurden sämtliche Mitarbeiter krank; dieses<br />
ungeschriebene Gesetz schien sich am heutigen Tag mal wieder zu bestätigen. „Heinrich<br />
Schmidt ist krank, er hat Grippe!“, schallte es aus dem Telefonhörer in Pascals Ohr, „Ich bin<br />
gerade dabei zu überprüfen, wer kurzfristig einspringen könnte. Hast Du eventuell eine<br />
Idee?“ „Pascale Lishnevska!“, rutschte es dem Gefragten heraus, leise vorahnend, dass<br />
dieser Vorschlag seinen Kummer nähren würde. „Den habe ich bereits kontaktiert!“, in der<br />
Stimme der gestressten Altersgenossin Julianes schwang Verständnislosigkeit mit, „Er hat<br />
sich aber darauf berufen, dass er schon am Wochenende bei Dir eingesetzt ist. Daher sei es<br />
ihm unmöglich, heute ebenfalls zu arbeiten.“ Der Akademiker verstand den Zusammenhang<br />
nicht: „Was hat das denn damit zu tun?“ „Das habe ich auch unbedingt wissen wollen!“, die<br />
Gefragte teilte offenkundig seine Unwissenheit, „Er setze <strong>mich</strong> davon in Kenntnis, dass er<br />
gerade an einer Hausarbeit abschließend feile, die unbedingt noch heute fertig zu stellen<br />
sei.“ Pascale hat keine Sehnsucht nach <strong>mir</strong>!!! „Hast Du es schon bei Georg probiert?“, fügte sich<br />
der Klient in das Unvermeidliche, „Ich gebe Dir gerne die Nummer.“ Georg, nicht nur<br />
lustigerweise mit Nachnamen Pascal heißend, sondern sich obendrein als Onkel von Bob<br />
entpuppend, war ein älterer Herr, der vor einigen Jahren regelmäßig an mehreren<br />
Wochenenden im Monat bei Pascal gearbeitet hatte. Leider musste er diesen Job <strong>eines</strong><br />
<strong>Tages</strong> aufgeben, um seine Mutter zu pflegen, was ausgerechnet zu der Zeit geschah, als<br />
sein Klient sich Manuel Bankers wegen in einem seelischen Tief befand. Georg, der nichts<br />
von der besonderen Beziehung zwischen Behindertem und Zivildienstleistendem ahnte,<br />
wunderte sich stark über die Aufgeregtheit Pascals hinsichtlich dieses alljährlichen<br />
Ereignisses und traute sich zunächst nicht, seinem Schutzbefohlenen zu gestehen, dass<br />
diesem ein weiterer Abschied bevorstand. Es war letztendlich in der Konsequenz keiner für<br />
immer; denn der Helfer bot an, quasi als letzter Notnagel weiter zur Verfügung zu stehen. So<br />
sahen <strong>sie</strong> sich wenigstens ab und zu und gingen einmal sogar zusammen essen.<br />
Leider verlief ihr Wiedersehen an diesem Tag extrem unharmonisch! Zu groß war die<br />
Aufregung um das unmittelbare Wiedersehen mit dem bewunderten Medizinstudenten, um<br />
sich über selbiges mit dem früheren Weggefährten zu freuen. Zudem befand er sich<br />
bezüglich seiner Abendplanung in Verzug, was ihn in ungeheure Hektik verfallen ließ. Auch<br />
enttäuschte es ihm doch ein wenig, dass Georg viele Kleinigkeiten aus ihrer gemeinsamen<br />
Zeit schlichtweg vergessen zu haben schien. Sie trennten sich in einem nicht verbali<strong>sie</strong>rten<br />
Streit.<br />
12.01.2008, 09.50 Uhr<br />
Nach einer schlaflosen Nacht schien er doch noch in den zweifelhaften Genuss <strong>eines</strong><br />
Alptraums zu kommen: Das Telefon klingelte, und eine bekannte Handynummer blinkte auf<br />
dem Display. „Ich habe verschlafen!“, nahm Pascale Pascals schlimmsten Befürchtungen<br />
den Wind aus den Segeln, „In zwanzig Minuten bin ich bei Dir und bleibe selbstverständlich<br />
entsprechend länger.“ Die folgende halbe Stunde hatte für den Wartenden die Dauer einer<br />
doppelten Ewigkeit; erst als der so lang Entbehrte lächelnd im Hausflur stand, löste sich<br />
dessen innere Verkrampfung. „Sorry, Pascal!“, entschuldigte sich der zu spät Gekommene,<br />
„Ich bin einfach zu lange versumpft – mit Maxl! Hausarbeit? Wir hatten in letzter Zeit nie die<br />
Gelegenheit, etwas zusammen zu unternehmen. Gestern hat es endlich mal wieder<br />
geklappt.“ Pascal schluckte. Der Student hatte bei seinem ersten Arbeitseinsatz zwar schon<br />
mal nebenbei erwähnt, dass er durch den neuen stellvertretenden Pflegedienstleiter zu<br />
seinem Job bei Phönix e. V. gekommen, diesem Umstand hatte er damals nur nebenbei zur<br />
Kenntnis genommen und nicht bewusst in seinem Gedächtnis gespeichert. Doch nun, da<br />
Pascale Halbwein der Mittelpunkt all s<strong>eines</strong> Denkens und Fühlens war, schmerzte sein Auge<br />
durch den eingedrungenen Dorn dieser offenbar sehr innigen Männerfreundschaft. Zudem<br />
waren seine Empfindungen gegenüber Maximilian Sommer sehr gespalten, hatte doch sein<br />
Vorgänger allein aufgrund ständiger Querelen mit dem Geschäftsführer des Vereins das<br />
Handtuch geworfen und als medizinischer Fußpfleger selbständig gemacht. Sein Nachfolger<br />
zeichnete sich durch forsches Auftreten auf; der Rollstuhlfahrer bekam dies zu spüren, als er<br />
sich im letzten Sommer eine hartnäckige Entzündung am rechten Fuß zugezogen hatte und<br />
Juliane diese Erkrankung pflichtgemäß ihren Vorgesetzten meldete. Daisy hatte sich damals
19<br />
im Urlaub, und so hatte sich Max der Sache angenommen. Obwohl er gegenüber dem<br />
ehemaligen Internatsschüler auf direkte Befehle verzichtete, fühlte sich dieser<br />
nichtsdestotrotz in seine Jugendzeit zurückversetzt. Das Hauptproblem des Erkrankten<br />
bestand jedoch darin, das erste Mal in seinem Leben Anweisungen von jemandem<br />
entgegennehmen zu müssen, der jünger war als er selbst. Auch fühlte sich Pascal Halbwein<br />
durch die Gegebenheit brüskiert, dass Juliane, die ihn nun schon seit sechseinhalb Jahren<br />
kannte, sich bei der gegenwärtigen Pflege sich nach den Vorstellungen und Wünschen<br />
<strong>eines</strong> rein formal höhergestellten Vorgesetzten richten musste, der ihren Klienten zuvor nur<br />
einmal flüchtig gesehen hatte. Dies konnte nicht im Sinne des Erfinders respektive des<br />
Gesetzgebers sein! Auf jedem Fall gab sich der Behinderte nicht der Illusion hin, damals<br />
einen guten Eindruck auf den leitenden Angestellten hinterlassen zu haben; selbiger hatte<br />
absolut keine Veranlassung, einen privaten Kontakt zwischen seinem Freund und dem<br />
Subjekt ihrer gemeinsamen Arbeit gutzuheißen. Und Pascale Lishnevska würde sich<br />
zwangsläufig im Extremfall immer für Max entscheiden! „Wir haben auch von Dir geredet!“,<br />
der Helfer schien die Zweifel s<strong>eines</strong> Schutzbefohlenen zu erahnen, „Ich habe ihn erzählt, wie<br />
angenehm es ist, bei Dir zu arbeiten. Im Übrigen bereitet Maxl ein Projekt vor, bei dessen<br />
Verwirklichung er besonders auf Deine Mitwirkung setzt. Es trägt den Namen<br />
`Perspektivwechsel`; mehr kann ich Dir auch nicht sagen. Du bist ja m<strong>eines</strong> Wissens für<br />
nächsten Donnerstag im Büro zum Kaffee eingeladen; dann will er mit Dir darüber reden.“<br />
Der Gelobte war geschmeichelt, wechselte aber aus lauter Verlegenheit das Thema: „Ich<br />
dachte, Du hast gestern noch unbedingt eine Arbeit für die Uni schreiben müssen?“ „Musste<br />
ich!“, erklärte sein Gesprächspartner, „Um 22 Uhr hatte ich diese Aufgabe erledigt und<br />
konnte um die Häuser ziehen. Aber es war <strong>mir</strong> gestern wirklich nicht möglich, bei Dir<br />
einzuspringen.“ „Vielleicht klappt es ja diesen Monat noch ein Andermal!“ äußerte sich der<br />
Klient hoffnungsvoll, eine Sekunde später einen kräftigen und schmerzhaften Schlag in die<br />
Magengrube verspürend! „Nein! Auf keinen Fall!“, wehrte Pascale äußerst entschieden ab,<br />
„Der Dienst bei Dir ist mein vorerst letzter Einsatz für Phönix. Ab übermorgen übernehme ich<br />
die 24-Stunden-Betreuung <strong>eines</strong> schwererziehbaren Jugendlichen in Neumarkt!“ Der<br />
entsetzte Gesichtsausdruck s<strong>eines</strong> Gegenüber veranlasste den Studenten zu<br />
weitergehenden Erläuterungen: „Wie Du ja weißt plane ich, im Rahmen m<strong>eines</strong> Studiums<br />
nach Afrika zu gehen. Eigentlich wollte ich ein eigenes Projekt aufziehen, aber davon wurde<br />
<strong>mir</strong> zwischenzeitlich energisch abgeraten, so dass es am Ende nur ein Praktikum werden<br />
wird. Die hierbei anfallenden Kosten muss ich in voller Höhe selbst tragen, <strong>sie</strong> übersteigen<br />
bei weitem mein Gehalt bei Phönix. Daher habe ich Mitte Dezember bei meinen alten<br />
Arbeitgeber nachgefragt; jetzt hat sich relativ schnell eine Gelegenheit ergeben.<br />
Lustigerweise handelt es sich bei meinem Schutzbefohlenen um den allerersten<br />
Jugendlichen, der <strong>mir</strong> überhaupt anvertraut wurde. Allerdings habe ich es sträflicherweise<br />
versäumt, gleich von Anfang an eine professionelle Distanz zwischen Kevin und <strong>mir</strong><br />
aufzubauen. Er ist wie ein kleiner Bruder für <strong>mich</strong>.“ Derartige Probleme scheint er öfter<br />
heraufzubeschwören! „Das ist <strong>mir</strong> bei Dir auch nicht gelungen!“, Pascal sah sich zum schnellen<br />
Handeln gezwungen, sah er doch seinen Plan, es wider den Rat Dr. Meirs langsam angehen<br />
zu lassen und auf einen günstigen Moment zu warten, aufgrund mangelnder Gelegenheiten<br />
scheitern, „Ich habe es von Anfang nicht fertig gebracht, Dich als Helfer von Phönix zu sehen<br />
und wünschte, Dich auf andere Art und Weise kennengelernt zu haben, z. B. als<br />
Kommilitone oder Arbeitskollege!“ „Als Kumpel halt!“, obwohl der innerlich Flehende relativ<br />
neutrale Begriffe gewählt hatte, schien Pascale dessen eigentliches Ansinnen zu erraten,<br />
„Wir müssen abwarten, welche Möglichkeiten sich ergeben. Immerhin sind wir beide voll<br />
eingespannt und haben dementsprechend wenig Zeit. Auf jedem Fall kannst Du aber mal zu<br />
uns zum Kaffeetrinken kommen, wenn Du zufällig in der Stadt bist. „Habt Ihr denn keine<br />
Treppe?“, der Rollstuhlfahrer wollte falsche Hoffnungen gar nicht erst aufkommen lassen.<br />
„Eine!“ beruhigte ihn Pascale Lishnevska, „Eine Stufe! Da kriegen wir Dich schon hoch.“ Im<br />
weiteren Verlauf s<strong>eines</strong> Einsatzes trat zum wiederholten Male die Neigung des Studenten<br />
zutage, immer und überall das Kommando zu übernehmen: „Pascal, höre auf zu lachen und<br />
presse Deine Lippen aufeinander; dann kann ich Dich besser ra<strong>sie</strong>ren. Oh, Ich sehe gerade<br />
auf Deinen äußeren Zähnen ist noch etwas Belag; da musst Du noch mal drüber. Das soll<br />
keine Kritik sein; ich als Raucher kenne dieses Problem zur Genüge.“ Das hat <strong>mir</strong> bisher nur
meine Mutter gesagt! Will er jetzt an <strong>mir</strong> für seinen Jugendlichen üben? „Ja Papa!“, erwiderte der<br />
Gerügte lachend, „Könnte es sein, dass ich väterliche Gefühle in Dir wecke?“ „Nein wirklich<br />
nicht!“ Das ist einfach nur meine ganz eigene Art. „Was sollen wir an diesem Wochenende<br />
kochen?“, der Helfer befasste sich bereits schon wieder mit der Planung der zwei nächsten<br />
Abende, „Ich schlage vor, es gibt heute Leber und morgen Chinesisch. Die notwendigen<br />
Zutaten kaufe ich heute selbst ein!“ „Dann musst Du aber selbst mitessen!“, lud der Klient<br />
entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten ein. „O. k.“, der zukünftige Arzt hatte scheinbar<br />
gegen diese Idee nichts einzuwenden, „Sandra isst auch so etwas für ihr Leben gern. Die<br />
Kosten teilen wir uns dann natürlich.“ Der Nichtbehinderte bestand darauf, seinem<br />
morgendlichen Dienst mit einem ausgedehnten Spaziergang ausklingen zu lassen. Pascal<br />
Halbwein genoss diese ungewohnte Unternehmung sehr, wenngleich der Schiebende diese<br />
auch zur wiederholten Frage nach seinem Alter nutzte. „Rate mal!“, versuchte der 38jährige<br />
sich aus der Affäre zu ziehen. „33!“, tippte Pascale. „Plus ein paar Monate!“, kaschierte der<br />
Ältere die Wahrheit. Die Angabe `plus ein paar Monate` ist relativ! Als die Zeiger der Uhr auf<br />
halb eins standen, bekam Pascal Halbwein noch eine Entschuldigung zu hören: „Ich habe<br />
Sandra gestern Abend extra daran erinnert, dass ich heute früh aufstehen muss. Aber <strong>sie</strong><br />
hat <strong>mich</strong> nicht geweckt.“<br />
12.01.2008, 18.00 Uhr<br />
Der Hungrige wollte es sich dieses Mal nicht nehmen lassen, bei der Zubereitung des<br />
Mahles selbst Hand anzulegen, der eigentlich Zuständige ließ ihn jedoch nur Pilze umrühren.<br />
„Vielleicht fahren Sandra und ich heute noch nach Neumarkt.“, weihte der Hobbykoch den<br />
interes<strong>sie</strong>rten Zuhörer in seine abendlichen Pläne sein, „Wir müssen noch den Großteil<br />
meiner Sachen transportieren.“ „Wie regelst Du das in der nächsten Zeit eigentlich mit der<br />
Uni?“, warf Pascal ein. „Morgens ist Kevin ja in der Schule.“, prognostizierte der zukünftige<br />
Onkel Doktor, „Allerdings müsste ich schon immer um 07.20 Uhr mit dem Zug nach<br />
Regensburg fahren; ich weiß wirklich nicht, ob ich <strong>mir</strong> das antue. Wahrscheinlich lade ich die<br />
entsprechenden Folien aus dem Internet herunter. Bei offenen Fragen kann ich <strong>mich</strong> zwar<br />
nicht an meinem Arzt oder Apotheker, dafür aber an meinem Kommilitonen Marcel wenden.“<br />
„Kann ein einziger Jugendlicher wirklich so viel Arbeit machen?“, wunderte sich der gelernte<br />
Diplomsozialpädagoge. „Oh Gott! Ja!“, Pascale Lishnevska schien gedanklich bereits per<br />
Zeitmaschine in die nächste Woche gereist zu sein, „Gerade Kevin ist in gewisser Hinsicht<br />
ständig aktiv und äußerst befleißigt, einen Unsinn nach dem anderen zu verzapfen. So<br />
stöbert er z. B. gerne auf Flohmärkten herum, um die erworbene Ware dann für teures Geld<br />
bei Ebay zu verkaufen. Gar keine so schlechte Idee! Derzeitig hat er sich ein zweites BMX-Rad<br />
in den Kopf gesetzt, dabei steht momentan der Führerschein an. Ich habe doch auch Keinen!<br />
Bei nächster Gelegenheit werde ich ihm eine Kosten-Nutzen-Rechnung vorlegen, die ihn<br />
dann hoffentlich zur Besinnung bringt. Bisher konnte ich nur mit dem hilflosen Hinweis, in<br />
Afrika haben die Leute auch kein BMX-Rad, aufwarten.“ In Afrika haben die meisten Leute auch<br />
kein Auto! „Was sagt denn die Mutter dazu?“, wollte Pascal Halbwein wissen. „Sie duldet es<br />
stillschweigend und erlaubt es ihm somit indirekt. In drei Wochen wird er sowieso volljährig.“,<br />
seufzte Pascale. „Und was ist mit dem Vater?“, der neugierige Klient wollte jetzt alles ganz<br />
genau wissen. Leider öffnete diese Nachfrage keinen licht freigebendem Spalt. „Der sitzt im<br />
Gefängnis!“, erklärte der sichtlich nervöse Student. Die Spannung legte sich jedoch, als die<br />
Leber einen verzehrfähigen Zustand erreicht hatte. Allerdings war der Genuss Pascals,<br />
zusammen mit seinem Herzbuben zu essen nur von wenigen Sekunden Dauer, denn<br />
Pascale Lishnevska verschlang die ihm zugedachte Portion förmlich. Allerdings ließ er den<br />
langsamer Essenden nicht alleine, sondern holte vielmehr dessen WWM 2 -Lexikon aus dem<br />
Wohnzimmerschrank und begann Fragen daraus vorzulesen, welche sein Gegenüber<br />
beantworten sollte. Dabei betonte er die richtige der vier Antwortmöglichkeiten so sehr, dass<br />
der Ratende <strong>sie</strong> in den meisten Fällen problemlos heraushören konnte und praktisch in<br />
Rekordzeit die fiktive Million gewann. Darüber zeigte sich der selbsternannte Quizmaster<br />
stark beeindruckt. Dies hinderte ihm jedoch nicht daran, seinem Klienten ein Geständnis zu<br />
machen: „Ich habe übrigens in der Dokumentationsmappe nachgeschlagen. Du zählst ja<br />
2 Wer wird Millionär<br />
20
21<br />
schon 38 Lenze!“ Warum hat er <strong>mir</strong> nicht geglaubt? Bin ich jetzt in seinen Augen zu alt, um sein<br />
Freund zu sein?<br />
13.01.2008, 10.00 Uhr<br />
Die Türglocke erklang dieses Mal pünktlich. „Sandra und ich sind gestern noch nach<br />
Neumarkt gefahren. Anschließend haben wir uns noch im Fernsehen einen Thriller<br />
angesehen – der war spannend!“, der Tonfall des Ankömmlings entsprach dem <strong>eines</strong><br />
Achtjährigen, der unmittelbar zuvor das erste Mal in seinem Leben Disneyland besucht hatte.<br />
Heute stand zunächst Duschen auf dem Programm; Pascale Lishnevska zog es jedoch vor,<br />
seinen Klienten zunächst zu ra<strong>sie</strong>ren: „Pascal, ich weiß, es ist schwierig für Dich, ein ernstes<br />
Gesicht zu machen, während ich dich unentwegt anlache, aber irgendwie müssen wir<br />
vorankommen.“ Nachdem er Pascal auf dem Duschstuhl gesetzt hatte, trug er diesem eine<br />
Bitte vor: „Wäre es Dir recht, wenn ich das chinesische Essen heute schon daheim<br />
vorbereite und dafür eine halbe Stunde früher gerne. Sandra fährt heute noch nach Linz<br />
zurück, und ab morgen muss ich <strong>mich</strong> rund um die Uhr um Kevin kümmern. Wir würden so<br />
gerne heute noch ein Glas Wein trinken gehen.“ „O. k.“, der Gefragte war natürlich nicht<br />
begeistert, sich nun sogar eine halbe Stunde früher als geplant von seinem Traummann<br />
verabschieden zu müssen, behielt seine Enttäuschung jedoch für sich: „Ich kann ja sowieso<br />
froh sein, dass Du am vorerst letzten gemeinsamen Tag mit Sandra zusätzlich bei <strong>mir</strong><br />
arbeitest.“ „Das ist das Leben.“, war die lapidare Antwort des Gelobten. Obwohl ein sich<br />
zwischen beiden Beinen befindliches männliches Körperteil glücklicherweise keine Reaktion<br />
zeigte, als Pascale Lishnevskas Hände andere Regionen einseifte, schien es doch das<br />
(berufliche?) Interesse des Medizinstudenten zu erregen: „Pascal, wurdest Du irgendwann<br />
einmal beschnitten?“<br />
13.01.2008, 18.00 Uhr<br />
Der Student zeigte sich des unmittelbar bevorstehenden Abschieds unbeeindruckt und<br />
kündigte seine Ankunft mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen an. „Hier ist Ihr ganz<br />
persönliches Chinarestaurant mit dem von Ihnen gewünschten Essen, Herr Halbwein!“,<br />
Pascale Lishnevskas Fröhlichkeit schien ungebrochen. Das wie immer mitreißende Lachen<br />
regte den Appetit des Bedachten an und ließ diesen sich über die doppelte Portion freuen.<br />
„Es gefällt <strong>mir</strong>, wenn Du singst!“, lobte der mit Genus Essende zwischen zwei Bissen. „Da<br />
bist Du der Einzige.“. gestand Pascale, „Normalerweise nehmen die Leute scharenweise<br />
Reißaus, wenn ich loslege. Erst unlängst belegte ich bei einem Karaoke anlässlich <strong>eines</strong><br />
Junggesellenabschieds den letzten Platz. Einer meiner Freunde schenkte <strong>mir</strong> kürzlich ein<br />
Buch mit sämtlichen Texten Herbert Grönemeyers, damit ich wenigstens in dieser Hinsicht<br />
weniger Fehler mache.“ Hat er doch seinen 30. Geburtstag gefeiert? Na ja, eine Einladung konnte ich<br />
wirklich nicht erwarten! Der bekennende schlechte Sänger war bereits mit seinen Gedanken<br />
beim morgigen Tag: „Pascal, hoffentlich gelingt es <strong>mir</strong>, Kevin irgendwie zufrieden zu stellen.<br />
Ich muss <strong>mich</strong> nämlich zusätzlich noch auf drei wichtige Prüfungen vorbereiten; die erste<br />
absolviere ich bereits kommenden Samstag. Den größten Bammel habe ich aber vor einer<br />
drei Fächer, unter anderem organische Chemie, umfassenden Klausur, welche Ende<br />
Februar terminiert ist. Mein Schützling wirft beim Lernen oft nur allzu früh die Flinte ins Korn,<br />
da er unter einer Lese- und Rechtschreibschwäche leidet; dabei steht er kurz davor, den<br />
qualifizierten Hauptschulabschluss zu erwerben. Ich will die nächsten Wochen dazu nutzen,<br />
mit gutem Beispiel voran zu gehen und ihm zu demonstrieren, dass man wirklich 5 Stunden<br />
am Stück konzentriert arbeiten kann.“ Nun schien Pascale die Hektik zu bemerken, mit<br />
welchem sein Zuhörer die zubereitete Mahlzeit verschlang: „Pascal, es gibt keinen Grund,<br />
sich zu beeilen. Wir müssen heute sowieso noch Sandras Koffer packen, ehe wir ein<br />
Weinlokal aufsuchen können. Dann hat er doch noch weniger Zeit! Übrigens musst Du noch<br />
überprüfen, ob ich die Wäsche richtig zusammengelegt habe. Diese Tätigkeit führte ich<br />
nämlich heute zum ersten Mal aus!“ Blödsinn! Dafür ist Sandra viel zu emanzipiert! Trotz der<br />
begrenzten Zeit ließ sich der Rollstuhlfahrer einen zumindest vorerst letzten Spaziergang mit<br />
seinem Traummann nicht nehmen. Es war bereits dunkel, als <strong>sie</strong> aufbrachen. „Hast Du<br />
eigentlich meine zweite E-Mail bekommen?“, die Ungewissheit über die Gründe der
22<br />
ausgebliebenen Antwort ließ Pascal Halbwein keine Ruhe. „Ein Neujahrsgruß ist ja nun<br />
wirklich nichts Besonderes!“, antwortete der Medizinstudent vielsagend, „Über Deine<br />
Geburtstagsglückwünsche habe ich <strong>mich</strong> sehr gefreut! Im Umkehrschluss heißt das: Meine<br />
Nachricht zu Jahresbeginn hat ihn nicht erfreut und eventuell sogar verärgert! Sandra hat<br />
neben <strong>mir</strong> gesessen als ich <strong>sie</strong> abgerufen und gemeint, dass ich einen großen Eindruck<br />
hinterlassen haben müsse. Du schienst <strong>mich</strong> gut zu kennen!“. Hoffentlich hat <strong>sie</strong> das nicht<br />
ironisch gemeint! „Gestern haben Du und ich gemeinsam gegessen, aber Sandra alleine!“,<br />
versuchte der Traurige zwanghaft, eine heitere Stimmung heraufzubeschwören, „Heute habt<br />
Ihr zwei gemeinsam gegessen und ich alleine. Beim dritten Mal müssen dann Sandra und<br />
ich zusammen dinieren, während Du allein die entsprechende Mahlzeit einnimmst.“ „Und<br />
dann zieht <strong>sie</strong> bei Dir ein!“, lachte Pascale auf; Pascal konnte bei dieser Reaktion<br />
Galgenhumor nicht vollends ausschließen. „Lebst Du eigentlich schon lange in<br />
Deutschland?“, wechselte er schnell das Thema. „Seit 1982!“, gab der Gefragte Auskunft<br />
„Warum hast Du eigentlich erst eine Ausbildung zum Krankenpfleger absolviert, bevor Du<br />
Medizin studiert hast?“, vollzog der unter Zeitdruck stehende Neugierige einen schnellen<br />
Themenwechsel. „Ich musste mein Abitur auf dem 2. Bildungsweg nachholen, da ich<br />
aufgrund zweimaligen Sitzenbleibens vom Gymnasium geflogen bin.“, gab der nach außen<br />
stets fröhlich Wirkende preis, „Ich habe erst spät begriffen, was ich im Leben erreichen kann<br />
und auch will!“ „Ich wüsste zu gerne, wie Du als Jugendlicher warst!“, gestand Pascal. „Oh<br />
Nein! Lieber nicht!“, allein durch den Tonfall, welchen Pascale Lishnevskas aufwies, verbot<br />
sich jede weitere Nachfrage. „Im Juni beginnt ja die Fußball-EM“, der von Verlustangst<br />
Geplagte brauchte jetzt dringend etwas, auf das er sich freuen konnte. „Gute Idee!“, war die<br />
kurze aber schmerzlindernde Antwort s<strong>eines</strong> Gesprächspartners, die den Hoffnungsvollen<br />
gedanklich in die Zukunft, speziell an dem Tag des Endspiels katapultierte; Er sah Pascale<br />
und sich nach dem Titelgewinn der deutschen Mannschaft vom Bier beschwipst singend<br />
nach Hause torkeln. ♫♪ Ei – nen Stern, der un – sern Na – men trägt, al – le Zei – ten ü – ber –<br />
lebt, den wün – schen wir uns von Dir [Sandra]. ♪♫. Vielleicht gelang es ihm sogar, die<br />
gemeinsame Aktion per MP3-Player heimlich aufzunehmen und für die Ewigkeit auf CD zu<br />
brennen! „Du wirkst immer so fröhlich! Ich wüsste zu gern, ob Du auch manchmal so richtig<br />
wütend werden kannst.“, versuchte Pascal Halbwein den zukünftigen Arzt aus der Reserve<br />
zu locken. „Oh, das kann ich schon!“, gab Pascale unumwunden zu, „Sandra und einige der<br />
von <strong>mir</strong> betreuten Jugendlichen wüssten ein Lied davon zu singen. Wichtig ist aber, dass<br />
man im Streit immer fair bleibt. Und es gibt keinen vernünftigen Grund, warum Du und ich<br />
uns zoffen sollten.“ „Wann kommen eigentlich Deine Eltern aus Guatemala zurück?“, die<br />
Palette der noch zu behandelnden Themen wurden vom Rollstuhlfahrer in Rekordzeit<br />
abgearbeitet. „Am 14. Februar!“, dem liebenden Sohn schien dieses Datum Terminprobleme<br />
zu bereiten, „Bis dahin sind <strong>sie</strong> noch im Dienste der SOS-Kinderdörfer unterwegs. Könnte ich<br />
bei diesem Projekt oder ähnlichen Aktionen nicht mitarbeiten? Wenn ich ihn nur besser und auf privater<br />
Ebene kennen würde! Ihre Ankunft erfolgt ca. eine Woche vor dieser wichtigen Prüfung; ich hoffe,<br />
von <strong>mir</strong> wird dann nicht die Quadratur des Kreises abverlangt.“ Das Gespräch wurde durch<br />
das Handy des Schiebenden unterbrochen, der energische Tonfall der Anrufer klang bis an<br />
die Ohren des Behinderten; Sandra Engelhardt saß offensichtlich auf heißen Kohlen!“ „Wir<br />
sind kurz raus gefahren und bereits auf dem Rückweg!“, beruhigte <strong>sie</strong> der Mann, dessen<br />
Liebe <strong>sie</strong> sich beneidenswerterweise gewiss sein durfte. Die Gute scheint ja ganz schön viele<br />
Haare auf den Zähnen zu haben! Und überhaupt: Warum guckt die nicht wie alle Frauen um diese Zeit<br />
die „Lindenstraße“? Ist <strong>sie</strong> sauer, weil ihr Freund ausgerechnet an diesem Wochenende arbeiten muss?<br />
Schneller als zumindest von einem der beiden Spaziergänger erhofft waren <strong>sie</strong> <strong>sie</strong> wieder<br />
am Ausgangspunkt der Unternehmung angelangt. „Ich werde Dich per E-Mail über die<br />
Ereignisse bei Phönix auf den Laufenden halten.“, schlug Pascal Halbwein den Anderen vor.<br />
„Vielleicht kannst Du <strong>mir</strong> das Ergebnis D<strong>eines</strong> Vorstellungsgesprächs mitteilen. Würde <strong>mich</strong><br />
interes<strong>sie</strong>ren!“, schränkte der Medizinstudent ein, „Übrigens brauchst Du kein so trauriges<br />
Gesicht zu machen. Ich kehre auf jedem Fall zu Phönix zurück; wir sehen uns also garantiert<br />
wieder!“ Zum Abschied schenkte er seinem Schützling sein strahlendstes Lächeln; für den<br />
Bruchteil einer Sekunde schien zwischen ihnen ein Zauber zu entstehen, der Pascal fast
23<br />
dazu verleitete, Pascale wie zufällig über die Lenden zu streicheln. Aber die innere Stimme<br />
der Vernunft hielt ihn davon zurück.<br />
13.01.2008, 20.30 Uhr<br />
Der letzte Teil der spannenden Neuverfilmung von „Krieg und Frieden“ vermochte keine<br />
Abhilfe zu schaffen; bereits nach einer Stunde kam es dem Traurigen so vor, der Gegangene<br />
sei schon seit einer Ewigkeit fort! Dieses Gefühl konnte er unmöglich <strong>sie</strong>ben Wochen lang<br />
ertragen, zumal ihn die nicht gerade leise Ahnung beschlich, besagter Zeitraum könnte noch<br />
eine erhebliche Verlängerung erfahren! Schließlich fiel ihm in seiner Verzweiflung ein Name<br />
ein: Nina Pfefferkorn! Die Bedachte war früher jahrelang stellvertretende Pflegedienstleiterin<br />
von Phönix e. V. gewesen, bevor der medizinische Dienst ihr abgeschlossenes Studium zur<br />
Diplomsozialpädagogin als sachfremd bezeichnet und auf einer Umbesetzung ihrer Stelle<br />
bestanden hatte; <strong>sie</strong> blieb dem Verein jedoch weiterhin als Mitglied eng verbunden. Nina<br />
konnte ihm bestimmt darüber Auskunft geben, wie die Rechtslage hinsichtlich <strong>eines</strong><br />
weitergehenden Kontakts zwischen ihm und Pascale aussah und ob und wie Maxl eventuell<br />
Einspruch erheben konnte. Gleichzeitig war sich Pascal Halbwein sicher, dass Nina ihm<br />
niemals bei der Pflegedienstleitung anschwärzen würde, sollte <strong>sie</strong> seinen Fragen nur mit<br />
negativen Antworten begegnen können.<br />
Leider ließ sich sein Plan aufgrund der Nichtexistenz <strong>eines</strong> Telefonbucheintrages zumindest<br />
nicht umgehend in die Tat umsetzen!<br />
14.01.2008, 12.00 Uhr<br />
Nur eine neue Idee hatte ihm in dieser Nacht wenigstens ein paar Stunden Schlaf beschert:<br />
Curd Stangler! Dieser war immer noch der Einzige, der seine diesbezügliche Vergangenheit<br />
kannte und den er infolgedessen ins Vertrauen ziehen konnte. Zwar hatte er zwischenzeitlich<br />
versucht, Nina über die vier wahrscheinlichsten Adressen bei GMX zu erreichen, eine<br />
Nachricht hatte keine Unzustellbarkeitsmeldung nach sich gezogen, zusätzlich hatte er Jack<br />
aus dem Büro gebeten, seine eigene Telefonnummer an die Gesuchte weiterzuleiten. Doch<br />
das Bedürfnis, sich jemanden mitzuteilen, ließ keine Geduld zu. Einst waren Curd und er<br />
sich durch einen intensiven Briefwechsel überhaupt erst näher gekommen; vielleicht ließ sich<br />
der Geist ihrer Verbundenheit wieder in alter Stärke beschwören.<br />
Hallo Curd,<br />
ich war beim Schreiben <strong>eines</strong> Briefes lange nicht mehr so aufgeregt, stammt diese<br />
Tradition aus der Anfangszeit unserer wunderbaren Freundschaft, die dann nach<br />
meinem Weggang nach Regensburg bis auf den Wert <strong>eines</strong> losen seltenen Kontakts<br />
zerbröselte. Ehrlich Curd, Du fehlst <strong>mir</strong> in Zeiten wie diesen wirklich sehr in<br />
meinem Leben. Und dazu habe ich jetzt auch noch ein altbekanntes großes Problem!<br />
Wie ich bereits während unseres letzten Telefonats in einem Anfall von Euphorie<br />
andeutete, habe ich wieder begonnen, romantische Gefühle für einen jungen Mann<br />
zu entwickeln. Dieser ist ein dreißigjähriger Medizinstudent namens Pascale<br />
Lishnevska, inzwischen ist <strong>mir</strong> klar, dass ich <strong>mich</strong> rettungslos in diesem Traummann<br />
verliebt habe. Leider packt er heute seine Sachen und zieht bis Ende<br />
Februar/Mitte März in die Neumarkter Wohnung <strong>eines</strong> schwererziehbaren<br />
Jugendlichen, um diesen den Wechsel in das betreute Wohnen zu ermöglichen.<br />
Aber von vorn:<br />
Nach dem von <strong>mir</strong> oben beschriebenen Hochgefühls begann ich während der<br />
Weihnachtsfeiertage, ihm wieder schmerzlich zu vermissen; dieses Gefühl schien<br />
24 Stunden am Tag präsent zu sein, sonst übliche wenigstens mittellange Pausen<br />
traten nicht auf. Da er am 28.12. Geburtstag hatte, bestellte ich für dieses<br />
Datum eine Geburtstagsglückwunschkarte und forderte ihm in dem dazugehörigen<br />
Text auf, die ihm nun für lange Zeit begleitende „3“ mit Würde zu tragen und sich
24<br />
trotzdem die für seine Mitmenschen erfrischende und mitreißende Art erhalten.<br />
<strong>Für</strong> diese Zustellung bedankte er sich am Silvestertag mit den Worten „sehr lieb<br />
von dir“ und wünschte <strong>mir</strong> im Gegenzug ein fröhliches neues Jahr, ich solle <strong>mich</strong> bei<br />
der Durchsetzung meiner Probleme nicht demotivieren lassen. Voller Freude<br />
wünschte ich ihm postwendend ebenfalls einen guten Rutsch und ließ <strong>mich</strong> dazu<br />
hinreißen, ihm ungestörte Zeit mit seiner Freundin (Diese, Sandra, arbeitet den<br />
halben Monat in einem Linzer Krankenhaus als Stationsleitung und befindet sich in<br />
dieser Zeitphase zwangsläufig nicht in der gemeinsamen Wohnung.) auch solle er<br />
daran denken, dass er es nicht der ganzen Welt recht machen könne. Diese Zeilen<br />
waren eigentlich mehr für <strong>mich</strong> als für ihn, sollten diese doch verhindern, dass er<br />
sich von <strong>mir</strong> eingeengt fühlte. Auch bezog ich Sandra durch die Schwärmereien<br />
ihres Herzbuben längst in meine Phanta<strong>sie</strong>n von einer Freundschaft à la<br />
Curd/Marvin mit ein, in einer Sequenz streichelte <strong>sie</strong> Pascale und <strong>mir</strong> mit jeweils<br />
einer Hand den Nacken, während wir Schokoladenpudding oder etwas ähnlich<br />
Leckeres aßen. Zwischenzeitlich bekam ich glücklicherweise die Einladung zu einem<br />
Vorstellungsgespräch, hierauf musste ich <strong>mich</strong> vorbereiten. Die per Internet an ihn<br />
gerichtete Bitte, <strong>mir</strong> die Daumen zu drücken, erfüllte er <strong>mir</strong> postwendend (Dieser<br />
Termin ist relativ gut verlaufen, ich habe aber trotzdem ein gemischtes Gefühl!)<br />
Am Wochenende war es endlich soweit: Er hatte offiziell bei <strong>mir</strong> Dienst, nichts<br />
war dazwischen gekommen. Es war sogar kurzfristig ein Einsatz am Freitagabend im<br />
Gespräch, diesem verweigerte er jedoch mit der Begründung einer einen Abschluss<br />
bedürfenden Hausarbeit. Am Samstagmorgen kam er eine halbe Stunde zu spät<br />
und offenbarte, dass er nach Fertigstellung derselben um ca. 22 Uhr noch mit<br />
einem guten Freund, den stellvertretenden Pflegedienstleiter von Phönix, die Nacht<br />
zum Tag gemacht zu haben. Von dieser Verbindung wusste ich zwar, jedoch nichts<br />
von ihrer Intensivität; durch diese sah ich die Chancen auf Erfüllung meiner<br />
Träume drastisch schwinden. Doch er begann unumwunden zu berichten, dass <strong>sie</strong><br />
auch über <strong>mich</strong> und die angenehme Arbeit gesprochen habe. Ferner deutete Pascale<br />
an, dass ich für die Mitarbeit an einem neuen Vereinsprojekt in Erwägung gezogen<br />
zu werden; hierüber sollten ich jedoch noch Stillschweigen bewahren.<br />
Relativ schnell erzählte er <strong>mir</strong> auch, dass er nun zum vorerst letzten Mal bei <strong>mir</strong><br />
sei. Am Montag ziehe er nach Neumarkt, um bis Ende Februar/Mitte März einen<br />
schwererziehbaren Jugendlichen die Aufnahme in das betreute Wohnen zu<br />
ermöglichen. Durch diesen Job könnte er im Gegensatz zu seiner Arbeit bei Phönix<br />
genug Geld für die Teilnahme an einem Afrikaprojekt verdienen. Außerdem sei der<br />
Betroffene sein erster im Rahmen der Abenteuerpädagogik zu betreuende Proband<br />
gewesen, hier habe er entgegen jeglicher Vernunft keine professionelle Distanz<br />
aufgebaut, dieser sei inzwischen „ein kleiner Bruder“ für ihn. Daraufhin platzte es<br />
aus <strong>mir</strong> heraus, dass <strong>mir</strong> selbiges bei ihm auch nicht gelungen war und ich viel<br />
lieber sein Kommilitone oder Arbeitskollege wäre. Daraufhin brachte er das Wort<br />
„Kumpel“ ins Spiel und meinte, man müsse mal sehen, wir seien beide sehr<br />
gestresst. Ich könnte ruhig mal zu ihnen zum Kaffeetrinken kommen, nur in den<br />
nächsten Wochen [eigentlich Monate] sei dies aufgrund s<strong>eines</strong> neuen Jobs schwer<br />
möglich. Später brachte er noch eine SMS ins Spiel, die ich ihm vor Jahresfrist<br />
bezüglich der Unterschrift auf seinem Stundenziel geschickt hatte; diesbezüglich
25<br />
beklagte er sich über mangelndes Vertrauen. Ich entschuldigte <strong>mich</strong> und erklärte,<br />
ich sei in diesen Dingen „etwas“ melodramatisch.<br />
Die zwei Tage waren insgesamt sehr schön. Er kochte sowohl für <strong>mich</strong>, sich und<br />
seine Freundin (leider nicht anwesend) Leber mit Reis respektive Chinesisch, die<br />
Kosten teilten wir uns redlich. Während des Essens spielte er mit <strong>mir</strong> „Wer wird<br />
Millionär“ und äußerte sich anerkennend über mein Wissen, er selbst habe oft<br />
schon mit der 200-€Euro-Frage Probleme. Auch wies er <strong>mich</strong> beim Ra<strong>sie</strong>ren<br />
freundlicherweise auf gelbe Flecken an meinen Zähnen hin, vergaß jedoch nicht,<br />
seine eigenen durch Nikotingenuss entstandenen Exemplare zu erwähnen. Allerdings<br />
hatte ich schon den Eindruck, er übe an <strong>mir</strong> schon seinen Einsatz beim besagten<br />
Jugendlichen; man merkte auch schon bei seinen früheren Einsätzen, dass er<br />
eigentlich darauf getrimmt ist, Teenagern mit Nullbockmentalität die Freude am<br />
aktiven Schaffen nahe zu bringen.<br />
Samstagmorgen/Sonntagabend unternahmen wir entgegen meiner sonstigen<br />
Gewohnheit einen Spaziergang; beim zweiten war ich schon traurig gestimmt. Ich<br />
machte den Vorschlag, Während der Fußball-EM ein Spiel gemeinsam anzuschauen,<br />
was er als „gute Idee“ bezeichnete. Allerdings meinte er, „Dann trinke ich aber ein<br />
Bier, worauf meine Erwiderung „Ich auch!“ lautete. Wir Beide lachten und stellten<br />
uns vor, wie wir beide nach dem Ereignis volltrunken nach Hause torkeln.<br />
Allerdings gab es bei unserer Fahrt durch Regensburg auch eine von <strong>mir</strong> negativ<br />
empfundene Komponente. Auf die nie beantwortete Neujahrsmail angesprochen,<br />
druckste er rum, dass er sich über die Geburtstagsgrüße mehr gefreut habe.<br />
Sandra sei beim Öffnen der Nachricht zugegen gewesen und habe gemeint: „Du<br />
scheinst einen großen Eindruck hinterlassen zu haben. Der scheint Dich gut zu<br />
kennen.“ Diese Mail sei im positiven Sinne persönlich gewesen. Im Umkehrschluss<br />
heißt das für <strong>mich</strong>, dass er die Neujahrsbotschaft als Eindringen in seine<br />
Intimsphäre empfunden hat. Ich würde <strong>mich</strong> heute noch gern dafür entschuldigen,<br />
habe aber hier die Befürchtung, wieder etwas aufzuwärmen oder auch nur<br />
melodramatisch zu wirken. Da Pascale <strong>mich</strong> während der beiden Tage fast immer<br />
angelacht hat, nehme ich an, dass er <strong>mir</strong> nicht (mehr?) böse ist. Auf eine weitere<br />
Bemerkung reagierte er meiner Meinung nach etwas übertrieben. Als ich sagte:<br />
„Einmal haben Du und ich zusammen gegessen & Sandra allein, dann Sandra und Du<br />
und ich allein, das nächste Mal musst Du allein essen und Sandra und ich<br />
zusammen!“, lachte er laut auf und sagte: „Und dann zieht <strong>sie</strong> bei Dir ein!“ War<br />
diese heftige Reaktion Galgenhumor? Auf meine Ankündigung, ihm per E-Mail über<br />
aktuelle Regensburger Ereignisse zu unterrichten, meinte er nur: „Zumindest über<br />
das Ergebnis D<strong>eines</strong> Vorstellungsgespräches, das interes<strong>sie</strong>rt <strong>mich</strong>.“<br />
Als er gegangen war, brach ich in Tränen aus. Ich habe Angst, ihm ganz zu<br />
verlieren. Mehr als Mailen kann ich nicht, und er hat <strong>mir</strong> zwar seine diesbezügliche<br />
Adresse einst ohne Aufforderung und ohne vorherigen Anlass gegeben, hat aber<br />
inzwischen eingeräumt, Telefonate und elektronische Post immer schnell abwickelt,<br />
<strong>sie</strong> also mit anderen Worten als lästig empfindet. Er <strong>sie</strong>ht <strong>mich</strong> trotz aller<br />
Sympathie offenbar immer noch hauptsächlich als Teil seiner Arbeit an. Und in<br />
Neumarkt muss er sich noch neben seinen zwischen BMX-Rad und Führerschein<br />
schwankenden Schützling um den Weitergang s<strong>eines</strong> anspruchsvollen Studiums<br />
kümmern Er will entweder jedem Tag mit dem Zug nach Regensburg fahren oder
26<br />
die Skripte aus dem Internet ziehen; ich würde also nur seine Zeit stehlen! Wie<br />
kann ich <strong>mich</strong> unauffällig in sein Gedächtnis rufen, ohne als schwul oder gar als<br />
Stalker dazustehen?<br />
Irgendwie kam <strong>mir</strong> heute der Gedanke, dass Pascale respektive seine Familie Dich<br />
sogar kennen könnten (Familienname: Lishnevska). Immerhin stammen <strong>sie</strong> aus einem<br />
Deiner Lieblingsländer (Tschechien); Ihr habt Beide Erfahrung im pädagogischen<br />
Bereich und seine Eltern sind ständig im Sinn der guten Sache (Dritte Welt)<br />
unterwegs. Wie <strong>sie</strong>hst Du eigentlich das Problem mit der fehlenden Distanz zum<br />
Jugendlichen („kleiner Bruder“)<br />
Natürlich würde ich <strong>mich</strong> über eine auf dem altmodischem Weg versandte Antwort<br />
auf meinen über vier Stunden (Pause nicht mitgerechnet) lang geschriebenen Brief<br />
sehr freuen, bin auch mit einer E-Mail zufrieden. Auf jedem Fall möchte ich eine<br />
Festigung unseres Kontakts (Treffen!) anregen, obwohl die einstige Intensivität<br />
allein aufgrund der großen Entfernung nicht möglich ist. Aber wie gesagt: Du fehlst<br />
<strong>mir</strong> Curd!<br />
Herzliche Grüße an Mohammed & Servus,<br />
Pascal<br />
Das Schreiben des Briefes dauerte, von einer einstündigen Kaffeepause unterbrochen, bis<br />
ca. 17.20 Uhr; zehn Minuten später klingelte Jack an der Haustür. Der Verfasser ließ es sich<br />
nicht nehmen, seine Botschaft eigenhändig in den Briefkasten zu werfen. War dies der<br />
Beginn einer neuen Ära sprich wundervollen wieder belebten Freundschaft mit Curd<br />
Stangler?<br />
17.01.2008, 11.30 Uhr<br />
Dieses Mal brachte der außerhäusliche Termin nicht die gewohnte Ablenkung mit sich. Im<br />
Gegenteil: Seine seit dreieinhalb Tagen allgegenwärtigen Gedanken hatten sich am<br />
Tassenrand festgekrallt und ließen sich partout nicht vom Kaffee wegspülen. Vielleicht wäre<br />
das auch etwas zuviel verlangt gewesen; immerhin hatten sich Pascal und Pascale durch<br />
Phönix e. V. überhaupt erst kennengelernt. Zudem stemmte Daisy unbewusst ein weiteres<br />
Gewicht auf das Herz ihres langjährigen Klienten, indem <strong>sie</strong> verriet, der von ihm favori<strong>sie</strong>rte<br />
Helfer falle für die nächsten Monate aus; diese Zeitspanne dauerte zumindest gefühlt länger<br />
als die vom Betroffenen selbst Genannte. Hatte der Nichtbehinderte ihn mit einer<br />
abgeschwächten Version der Wahrheit schonen wollen?<br />
Zudem entpuppte sich eine potentielle Mitarbeit an dem verheißenen Projekt noch als<br />
Zukunftsmusik. Zwar existierte in München bereits eine Gruppe junger Körperbehinderter,<br />
die zusammen mit ihren Betreuern darauf hinarbeiteten, gezielt durch den Besuch in Schulen<br />
bei Heranwachsenden Verständnis für ihre besondere Lebenssituation zu wecken, praktisch<br />
einen „Perspektivwechsel“ herbeizuführen; doch war es noch gar nicht endgültig geklärt, ob<br />
die Projektgründer dem Regensburger Verein diesbezüglich das Gebiet der Oberpfalz<br />
überlassen würden; dies musste erst bei einem noch nicht terminierten Treffen geklärt<br />
werden. <strong>Für</strong> die unmittelbare Zukunft schied für den Unglücklichen das Vorhaben Maxls als<br />
mögliche Ablenkung aus.<br />
17.01.2008, 17.00 Uhr<br />
Nina Pfefferkorn erschien zum Tee und nahm in der Küche Platz. Ihr Gastgeber hatte sich<br />
zwischenzeitlich dazu entschlossen, die Problematik der Geschichte mit Pascale Lishnevska<br />
zwar offen darzulegen, den erotischen Aspekt seiner Gefühle aber zu verschweigen. Die<br />
Eingeladene, kurz vor dem erfolgreichen Abschluss einer Ausbildung zur Logopädin<br />
stehend, wusste ihn zu beruhigen: „Was Du mit Deinen Helfern privat unternimmst ist allein<br />
Deine Sache. <strong>Für</strong> solche Unternehmungen hat sich die Pflegedienstleitung nicht zu<br />
interes<strong>sie</strong>ren!“ Aber es gibt doch beispielsweise das Verbot für Diensthabende, die Klienten<br />
in ihrem Privatauto zu kutschieren, oder?“, hakte der noch Zweifelnde nach. „Das gilt
27<br />
ausschließlich für Zivildienstleistende“, wurde Pascal umgehend aufgeklärt, „und auch für die<br />
nur während ihrer offiziellen Arbeitszeit!“ „Wie Du ja weißt, wurde ich vor Jahren schon<br />
einmal bitter enttäuscht.“, erinnerte der gelernte Sozialpädagoge, „Ich habe einfach Angst,<br />
dass sich die damaligen Geschehnisse wiederholen.“ „So wie Du <strong>mir</strong> Pascale geschildert<br />
hast, glaube ich nicht, dass er Schindluder mit Dir treibt.“, mutmaßte Nina, „Teile ihm doch<br />
einfach per E-Mail mit, wie schade Du es findest, dass ihr Euch nun längere Zeit nicht sehen<br />
werdet, und schlage ihm vor, über das Internet die Verbindung aufrechtzuerhalten. Vielleicht<br />
freut er sich sogar über Deinen Vorstoß.“ Obwohl Pascal Halbwein diesen Ratschlag<br />
guthieß, wusste er nichtsdestotrotz mit einer von Ungeduld bedrohten Gewissheit, dass<br />
dieser nur mit Bedacht und äußerst akribischer Planung in die Tat umzusetzen war.<br />
17.01.2008, 20.00 Uhr<br />
Der Versuch, durch einen Spaziergang mit Heinrich den Flair des vergangenen Sonntags<br />
wiederherzustellen, war größtenteils gescheitert; die frische Luft hatte jedoch einen weiteren<br />
Namen aus der Vergangenheit zurück in sein Gedächtnis geweht: Caspar Speis. Einst hatte<br />
er den blondgelockten Chemiestudenten beim Barabend im Ludwig-Thoma-Heim<br />
kennengelernt. Diese wöchentliche Veranstaltung besuchte der Studierende damals<br />
regelmäßig, wurde fast süchtig nach diesem Ritual. Es war nicht der Alkohol, der ihm hinzog,<br />
sondern vielmehr die Freiheit, ohne fremde Hilfe kommen und gehen zu können, wann er<br />
wollte! Zugleich fand er hier meistens in so manch feuchtfröhlicher Runde Platz, konnte auf<br />
diese Weise die Sorgen und Nöte des einstweilen eintönigen Alltags manchmal sogar bis<br />
zum Freitagnachmittag verdrängen. Allerdings beging er den fatalen Fehler, dort<br />
stattfindenden Begegnungen zuviel Bedeutung beizumessen. Der Wenigtrinker, auch bei<br />
dieser Gelegenheit bewusst oder unbewusst nach dem Menschen Ausschau haltend, mit<br />
dem er den Rest s<strong>eines</strong> Lebens verbringen konnte und wollte, übersah, dass die meisten<br />
anderen Gäste aus trivialeren Gründen gekommen waren und verwechselte durch<br />
vorherigen Biergenuss besonders herzliche Sympathiebekundungen mit ernsthaften<br />
Freundschaftsbestrebungen; so war die eine oder andere Enttäuschung bereits<br />
vorprogrammiert. Zwar gelang es ihm wenigstens ab und zu, die Kontakte z. B. durch<br />
Verabredungen oder Einladungen zum Kaffeetrinken zu festigen, doch war die Verbindung,<br />
von Josef und Olaf abgesehen, mit der Zeit immer abgebrochen. Eine dieser etwas engeren<br />
Bekanntschaften war Caspar gewesen.<br />
Caspar Speis stammte wie Pascal aus Ostwestfalen, genauer gesagt aus Paderborn, hatte<br />
seine Liebe zu Regensburg bei einer deutschlandweiten Fahrradtour entdeckt und sich<br />
spontan entschlossen, in der ostbayerischen Metropole zu studieren. Zu allem Überfluss<br />
s<strong>eines</strong> Glückes traf er in der Universitätscafeteria Tina, die Liebe s<strong>eines</strong> Lebens. Leider<br />
waren mögliche Treffen seinerzeit an den zahlreichen Verpflichtungen Caspars gescheitert,<br />
aber vielleicht war ja heute Ruhe in das Leben des zwischenzeitlich garantiert zum<br />
Familienvater Mutierten eingekehrt.<br />
Der Anrufbeantworter wurde bereits nach Pascals ersten Worten von seinem Besitzer<br />
abgelöst: „Pascal, das ist eine Überraschung. Von Dir habe ich ja seit über zehn Jahren<br />
nichts mehr gehört!“ „Deshalb dachte ich auch, es wäre mal wieder Zeit, sich zu melden.“,<br />
erklärte der Nervöse am anderen Ende der Leitung, „Wie ist es Dir während dieser großen<br />
Zeitspanne ergangen?“ „Eigentlich ganz gut!“, gab der Angerufene preis, „Tina und ich sind<br />
schon seit einigen Jahren verheiratet, unsere beiden Töchter unser ganzes Glück! Beruflich<br />
war ich lange Zeit in den Diensten von Siemens, bin jedoch kürzlich aufgrund drohender<br />
Personalkürzungen zu Continental gewechselt. Aber wie geht es Dir so?“ Diese Frage hatte<br />
Pascal Halbwein befürchtet, sich aber bereits im Vorfeld mit der Zwangsläufigkeit, dass diese<br />
Bestandteil des Gesprächs sein würde, arrangiert: „Leider bin ich zum wiederholten Male<br />
arbeitslos. Zuletzt war ich eigentlich recht erfolgreich im Sudetendeutschen Musikinstitut<br />
Regensburg tätig; dort habe ich das künstlerische Erbe entsprechender Komponisten für die<br />
Veröffentlichung vorbereitet und einem größeren Interessentenkreis zugänglich gemacht.<br />
Aber lass uns von etwas anderem reden: Wollen wir uns nicht mal wieder treffen?“ „Im<br />
Prinzip gern!“, in Caspars Stimme schwang Freude über diese Idee mit, „Allerdings bin ich<br />
nächste Woche auf Geschäftsreise; anschließend stehen ein paar Tage Urlaub an. Daher<br />
wäre es günstig, wenn wir unser Wiedersehen auf Februar verschieben könnten. Vielleicht
kann ich sogar den einen oder anderen Kumpel von damals kontaktieren, der dann unter<br />
Umständen mitkäme.“ Noch besser! Dann habe ich etwas, worauf ich <strong>mich</strong> freuen kann.<br />
Außerdem kann ich dann eventuell die Tage bis zu Pascales Rückkehr an einer Hand<br />
abzählen! Der positiv Überraschte beendete hoffnungsvoll das Gespräch.<br />
18.01.2008, 22.45 Uhr<br />
Endlich lieferte der Terminplan einen guten Grund, Pascale Lishnevska eine Nachricht<br />
zukommen zu lassen: dessen Prüfung am morgigen Samstag! Folgende Kurzmitteilung<br />
erschien auf dem Display des Mobiltelefons:<br />
Hallo Pascale, alles Gute für die bevorstehende Klausur! <strong>Möge</strong>st Du als Belohnung<br />
für Deinen Stress die Note 1 erhalten! Servus, Pascal Halbwein<br />
Das Handy wurde nach dem Versand der SMS sofort von seinem Eigentümer abgeschaltet,<br />
um sich der Gefahr <strong>eines</strong> qualvollen Wartens gar nicht erst auszusetzen.<br />
19.01.2008, 15.10 Uhr<br />
Wolfgang Ziege war der Beste! Es musste mittlerweile über 15 Jahre her sein, dass er auf<br />
eine Annonce geantwortet hatte, deren Texter trotz der Aussage, dringend jemanden zu<br />
brauchen, der ihm streichle, keinen Zweifel an seinen rein platonischen Absichten hatte<br />
aufkommen lassen; damals hatte Pascal dieser Begegnung zu wenig Bedeutung<br />
beigemessen, um sich ihr genaues Datum zu merken. In diesem Fall war es ausnahmsweise<br />
der Andere gewesen, der die Entstehung einer Freundschaft angestrebt hatte. Inzwischen<br />
trafen <strong>sie</strong> sich in der Regel mindestens einmal im Monat; zudem schien Wolfgang, obwohl<br />
aus einem gutbürgerlichen Nittenauer Elternhaus stammend und Einzelkind, der die hohe<br />
psychische Belastung nachvollziehen konnte, die seine nun schon wieder jahrelang<br />
andauernde Arbeitslosigkeit mit sich brachte. Seine anderen Freunde, allen voran Ulla,<br />
zeigten natürlich auch Anteilnahme und Mitgefühl für die unschöne Situation, beschränkten<br />
ihren Trost jedoch zumeist auf sporadische Fußballabende oder gemeinsames<br />
Kaffeetrinken; diese Zusammentreffen fanden in letzter Zeit ausschließlich in Pascals<br />
Wohnung statt. Der gelernte Maschinenbauer dagegen motivierte ihn stets, Geldmangel und<br />
Hundephobie zum Trotz bei schönem Wetter nach draußen zu gehen und dort z. B. die<br />
Terrasse <strong>eines</strong> Eiscafés aufzusuchen. Je nach Gefühlslage ging Pascal mal mehr, mal<br />
weniger auf die Vorschläge Wolfgangs ein, der ihm zeitweise sogar mit gutbezahlter<br />
Schreibarbeit versorgte. Leider übertrieb er es diesbezüglich später so stark, dass sich der<br />
Bedachte letztendlich zum Almosenempfänger herabgesetzt fühlte; dem Auftraggeber schien<br />
es einzig und allein darum zu gehen, dem Behinderten möglichst viel Geld zukommen zu<br />
lassen, dabei aber gewisse erzieherische Aspekte nicht außer Acht lassen wollte. Am Ende<br />
sah sich Pascal Halbwein dazu gezwungen, der bis zu dreimal in der Woche erfolgenden<br />
Lieferung neuen Materials einen Riegel vorzuschieben, da er stets das Gefühl hatte, den<br />
Freund auszunutzen. Dennoch wurde die Beziehung zu Wolfgang Ziege immer wichtiger,<br />
obwohl der Sozialpädagoge nie Gefahr lief, sich in das rein äußerliche Mauerblümchen zu<br />
verlieben, auch sah er davon ab, dieses über seine sexuellen Vorlieben zu unterrichten,<br />
dafür legte Wolfgang einfach zuviel Spießigkeit an den Tag. Er selbst war zehn Jahre lang<br />
mit einer geschieden Frau und Mutter drei Kindern zusammen gewesen; diese Beziehung<br />
konnte leider aufgrund deren Anstellung als Lehrerin für katholische Religion nie legali<strong>sie</strong>rt<br />
werden. Unlängst war es zur Trennung gekommen; der Verlassene schwieg sich über die<br />
Gründe weitgehend aus und stand mit seinen nunmehr 40 Jahren privat wieder am Anfang.<br />
Pascal nahm es der ihm nur flüchtig bekannten Jennifer schon allein aufgrund des<br />
Schicksals seiner Mutter übel, dass <strong>sie</strong> seinem treuesten Freund verlassen hatte, verlor aber<br />
nie ein Wort darüber.<br />
Heute war ein Besuch in einem nahe gelegenen Café angesagt. Das Piepen s<strong>eines</strong> Handys<br />
half dem Wartenden, diesen zu genießen, obwohl Pascale Halbwein seine Nachricht<br />
offenbar schon am Vorabend und nicht wie geplant erst am Morgen der Prüfung erhalten<br />
hatte.<br />
Cool, danke! Ich wäre allerdings schon mit einer „3“ zufrieden. Schönes Wochenende,<br />
Pascale<br />
23.01.2008, 12.00 Uhr<br />
28
29<br />
Der Gang nach Canossa verlief online. Dem Empfänger ließ der Gedanke keine Ruhe, dass<br />
die anderen Teilnehmer seine geistige Abwesenheit während des Weihnachtsessens<br />
bemerkt und über selbige verärgert sein konnte. Sicherheitshalber verfasste er zum Zwecke<br />
der Entschuldigung folgende Rundmail:<br />
Hallo Ulla & Josef,<br />
es tut <strong>mir</strong> leid, falls ich bei unserem gemeinsamen Essen im Dezember einen undankbaren Eindruck<br />
gemacht haben sollte. Aber meine nun wieder jahrelange Suche nach einem neuen Job macht <strong>mir</strong><br />
derzeit sehr zu schaffen; ich bin mittlerweile auf jeden eifersüchtig, der Arbeit hat. Auch ist mein<br />
Singledasein momentan kaum noch auszuhalten. Ich hoffe, Ihr seid <strong>mir</strong> nicht böse, und wir sehen uns<br />
bald wieder!<br />
Servus,<br />
Pascal<br />
Interpretierten seine Freunde diesen Hilferuf nach mehr Zuwendung richtig?<br />
24.01.2008, 20.00 Uhr<br />
Der Briefkasten war leer geblieben oder wies wenn überhaupt den falschen Inhalt auf. Weder<br />
Caspar noch Curd geschweige denn potentielle Heiratskandidatinnen hatten sich bei dem<br />
Ungeduldigen gemeldet. Nach zehn Tagen blieb Pascal Halbwein nichts anderes übrig, als<br />
sich wieder der einzigen Art der Kontaktaufnahme zu befleißigen, von der in der Regel nichts<br />
Bleibendes zurück blieb: dem Telefonieren! Wenigstens lachte Curd Stangler hörbar auf, als<br />
er die Stimme s<strong>eines</strong> einstigen Weggefährten vernahm: „Pascal, wie schön, dass Du Dich<br />
mal wieder auf diese Weise meldest. Dein Brief war so lang; ich habe eine Ewigkeit<br />
gebraucht, ihn zu lesen.“ „Curd, ich weiß nicht, was ich tun soll!“, kam der enttäuschte<br />
Anrufer ohne Umschweife zur Sache, „Pascale ist schon seit zehn Tagen weg, und die<br />
mutmaßlich alle Wunden heilende Zeit hat meine Sehnsucht nach ihm nicht gelindert!“ „Das<br />
ist eine schwierige Situation.“, gab sich der um Hilfe Gebetene ratlos, „Früher warst Du ja<br />
des Öfteren mal verliebt; nur in den letzten Jahren hast Du derartige Gefühle nie entwickelt.<br />
Dieser Student scheint aber ein netter Typ zu sein; ich glaube nicht, dass er etwas dagegen<br />
hat, wenn Du ihm ab und zu eine Mail schickst. Du darfst nur nicht den Fehler begehen,<br />
Pascale zu bedrängen.“ „Davor habe ich am meisten Angst!“, gab der an so manch früheren<br />
Fauxpas Erinnerte zu, „Aber ich fürchte <strong>mich</strong> genauso sehr davor, ihm vollends zu verlieren.“<br />
„Nach Deinem Brief zu urteilen hast Du ihn zumindest bis jetzt noch nicht genervt. Im<br />
Gegenteil: Deine Zeilen über Euren sonntäglichen Spaziergang haben <strong>mich</strong> in gewisser<br />
Weise an den Ursprung meiner Freundschaft mit Marvin erinnert. Damals habe ich mit ihm<br />
allein eine große Fahrradtour unternommen. Allerdings wusste er damals noch nichts von<br />
meinen romantischen Gefühlen!“, schwelgte der schreibfaule Angerufene in Erinnerungen.<br />
„Ich dachte, Marvin hätte Deine Neigung von Anfang an akzeptiert.“, der Mann am anderen<br />
Ende der Leitung war irritiert. „Oh nein!“, klärte Curd Stangler den Überraschten auf,<br />
„Zunächst gab es einen lauten, Funkstille hervorrufenden Knall. Erst einige Zeit später kam<br />
er von sich aus auf <strong>mich</strong> zu und unsere Beziehung in ihrer heutigen Form erwuchs.“ „Ich<br />
glaube nicht, dass Pascale nach einem Streit je wieder auf <strong>mich</strong> zu kommen würde.“, gab<br />
sich Pascal Halbwein pessimistisch, „Und offensichtlich hat er sich über meine zweite Mail<br />
nicht gefreut. Auch fürchte ich, dass seine Freundin meine Empfindungen eher erahnt als er<br />
selbst oder vielleicht schon aufgrund der in Anspruch zu nehmenden Zeit seinen potentiellen<br />
privaten Umgang mit <strong>mir</strong> ablehnt. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass Sandra mit allen<br />
einverstanden ist, was er tut.“ Aber würde <strong>sie</strong> ihm genauso lieben, wenn er auch nur ein<br />
Deut anders wäre? „Das könnte schon sein.“, pflichtete der Hochschulprofessor ihn bei,<br />
„Aber das hat ja erst einmal nichts mit Dir zu tun. Er ist Dir offenbar nicht böse, sondern<br />
wollte Dir mit seinem Schweigen nur demonstrieren, dass er Ratschläge hinsichtlich seiner<br />
Lebensführung schlicht und einfach nicht braucht! Und die Reaktion auf Deinen Scherz mit<br />
dem dritten Essen zeigt, dass er Dich offenbar für einen Heterosexuellen hält, der ihm die<br />
Freundin ausspannen könnte.“ „Ich denke sowieso schon darüber nach, wie ich ihre<br />
Freundschaft ebenfalls gewinnen könnte.“, verriet Pascal, „Dann könnte ich, wenn Pascale<br />
wieder bei <strong>mir</strong> arbeitet, zu ihm sagen: Gib ihr einen Kuss von <strong>mir</strong>! Vielleicht antwortet <strong>sie</strong><br />
dann: Gib ihm einen Kuss von MIR! Dann käme ich in den Genuss, seine Lippen auf meiner<br />
Haut zu spüren!“ Schallendes Lachen war die Antwort auf de Offenbarung dieses Plans:
30<br />
„Gute Idee! Aber lass es trotzdem bleiben!“ Der humorvolle Ausgang des Telefonats ließ<br />
den Regensburger Teilnehmer ruhiger schlafen.<br />
30.01.2008, 12.00 Uhr<br />
Seit ca. einem Vierteljahr surfte Pascal Halbwein grundsätzlich Mittwochs im Internet, da er<br />
an diesem Tag in der Regel mit seiner Mutter telefonierte und sich einbildete, der Betrag auf<br />
der Rechnung werde geringer ausfallen, wenn man alle gebührenpflichtigen Dienste<br />
innerhalb von 24 Stunden in Anspruch nahm. Im Jahr 2006 war er noch vier- bis fünfmal<br />
online gewesen; bekam er doch damals fast täglich einen Stelleangebote enthaltenden<br />
Newsletter der Zentralen Arbeitsvermittlung für schwerbehinderte Fach- und Führungskräfte<br />
aus Bonn. Seine Einstellung zu diesem Service war seinerzeit sehr gespalten gewesen:<br />
Einerseits war es natürlich sehr aufbauend, dass wenigstens eine Person in Deutschland<br />
sich auf bemerkbare Weise für die Belange körperbehinderter Arbeitssuchender einsetzte,<br />
doch war es andererseits frustrierend, fast täglich feststellen zu müssen, dass wieder nur<br />
Psychologen oder, wenn überhaupt, Sozialpädagogen mit Berufserfahrung in der<br />
Drogenberatung gesucht worden. Einmal erst online fiel es dem Beschäftigungslosen<br />
schwer, das World Wide Web umgehend zu verlassen, der Besuch unzähliger Internetseiten<br />
war die Folge. Obwohl die hierbei entstehenden Kosten sich wider Erwarten in Grenzen<br />
hielten, ärgerte sich der Surfende über die eigene Charakterschwäche. Dennoch war es ein<br />
Schock, als man ihn pünktlich zum Osterfest 2007 auf elektronischem Wege mitteilte, dass<br />
die für ihn so wichtige Abteilung zum 1. Mai aufgelöst werde. Erfreulicherweise wurde der<br />
Versand der für ihn so wichtigen Jobofferten nicht gestoppt; diese suchten jetzt sogar in<br />
einem vertretbaren Umfang ein- bis zweimal die Woche seinen Computer heim, lediglich die<br />
verschiedenen Berufsgruppen wurden jetzt in einem einzigen Schreiben zusammengefasst.<br />
Doch Ende Juni wurde auch diese Post eingestellt, da die einst zuständigen Mitarbeiterinnen<br />
längst in anderen Bereichen tätig waren. Pascals Kampfgeist wurde durch die Streichung<br />
dieser Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit geweckt, geriet er schließlich hierdurch<br />
gegenüber nichtbehinderten Jobsuchenden ins Hintertreffen; hier lag seiner Meinung nach<br />
eindeutig ein Verstoß gegen das neu geschaffene Antidiskriminierungsgesetz vor! Leider<br />
teilte die Beauftragte der Bundesregierung diese Auffassung nicht, klagte dagegen über die<br />
Unrentabilität der geschassten Anlaufstelle und berief auf die Ergebnisse einer<br />
Untersuchung des Bundesrechnungshofes, der eine dezentrale Vermittlung der Betroffenen<br />
dringend empfohlen habe. Allein die Tatsachen, dass Pascal Halbwein seine<br />
Sachbearbeiterin von der Arbeitsgemeinschaft Regensburg-Stadt noch nie zu Gesicht<br />
bekommen hatte und Hartz-IV-Empfänger durch den völlig unnötigen Einsatz von<br />
Sicherheitskräften bereits im Vorfeld kriminali<strong>sie</strong>rt wurden, ließen ihn an der Richtigkeit der<br />
erzielten Resultate zweifeln. Außerdem handelte es sich hier um drei läppische Angestellte,<br />
die für die gesamte Bundesrepublik zuständig wären und diese Aufgabe trotz des riesigen<br />
Einzugsgebietes mit Bravour meisterten. Verwies nicht allein diese Leistung jeglichen<br />
Verdacht der fehlenden Wirtschaftlichkeit ins Reich der Fabeln und Märchen? Aber vielleicht<br />
hatten die zuständigen Kontrolleure sich einfach nur von den monatlichen positiv-satirischen<br />
Ausführungen des begnadeten Redners Weise blenden lassen.<br />
Sein Wunsch, endlich eine ausführliche Nachricht von Pascale zu erhalten, hatte ihm dieser<br />
im Verlauf der letzten Woche nicht erfüllt; dafür enthielt das elektronische Postfach eine E-<br />
Mail von Josef Schwarz.<br />
Hallo Pascal,<br />
natürlich ist <strong>mir</strong> durchaus bewusst, wie frustrierend es sein kann jahrelang arbeitslos und ohne<br />
jeglichen Erfolg fortwährend auf Jobsuche zu sein. Aber dieses Schicksal teilen Millionen von<br />
Menschen in unserem Land miteinander; Du darfst einfach nicht aufgeben. Außerdem hat die Medaille<br />
auch eine Kehrseite: Der Großteil der in Lohn und Brot stehenden Bevölkerung weiß oft vor lauter<br />
Arbeit weder ein noch aus; unter anderem geht es <strong>mir</strong> so! Eine Familie zu haben ist gut und schön,<br />
stellt aber gerade in der oben beschriebenen Situation eine Belastung dar. Ich habe in der Regel sehr<br />
wenig Zeit für Andrea und Mario. So gesehen könne ich einstweilen auch eifersüchtig auf Dich sein!<br />
Wenn jetzt im Februar die K.o.-Runden der Champions League eingeläutet werden, können wir uns ja<br />
mal wieder ein Spiel gemeinsam ansehen. Diesbezüglich rufe ich Dich noch mal an.<br />
Mach’s so lange gut
31<br />
Josef<br />
Sein erziehungsbedingter Mangel an Verständnis für Pseudoprobleme von Kleinfamilien mit<br />
zwei Elternteilen erstickte jegliche Freude des Empfängers über die an ihm gerichteten<br />
Worte im Keim. Der Verlust ihres Mannes hatte Annemarie Halbwein wie ein Blitz aus<br />
heiterem Himmel getroffen; ihre drei Söhne waren damals sechs, vier und ein halbes Jahr alt<br />
gewesen. Anstatt Anderen etwas vorzujammern oder gar dem Staat auf der Tasche zu<br />
liegen hatte <strong>sie</strong> die Ärmel hochgekrempelt und ihr Leben selbst in die Hand genommen;<br />
lediglich das Rauchen gewöhnte <strong>sie</strong> sich mit 28 Jahren an. Später kam zur Pflege ihres<br />
ältesten, von Geburt an halbseitig gelähmten, Sohnes, noch die ihrer eigenen Mutter hinzu,<br />
welche in den letzten acht Jahren ihres Daseins nicht mehr alleine leben konnte und einer<br />
fast 24-stündigen Betreuung bedurfte. Ungehindert dessen heimste die junge Witwe in<br />
Ausübung ihrer Tätigkeit als Posthalterin einen Preis nach dem anderen ein. Nüchtern<br />
betrachtet raubte Annemarie Halbwein zusammen mit der immer größeren Anzahl<br />
alleinstehender und berufstätiger Mütter dem Evergreen „Das bisschen Haushalt“ jegliche<br />
Ironie! Insbesondere die letzten Zeilen waren jetzt von jeder halbwegs intelligenten,<br />
verheirateten und freiwillig arbeitslosen Nurhausfrau mit 0 bis zwei nicht chronisch kranken<br />
Kindern wörtlich zu nehmen; ein gesundes Maß an Schamröte stände den Betroffenen<br />
hierbei nicht schlecht zu Gesicht! Leider wurden ihnen aufgrund beileibe nicht mehr<br />
zeitgemäßer Artikel des Grundgesetzes gewisse finanzielle Zuwendungen anerkannt. Es war<br />
zu hoffen, dass wenigstens im Neumarkter Fall Kevins Kindergeld zur Bezahlung der über<br />
Gebühr erfolgenden Betreuung verwendet und nicht dessen Mutter zu deren<br />
Privatvergnügen überlassen wurde!<br />
Hallo Josef,<br />
Also, ich wäre froh, wenn ich Frau und Kind hätte. Mit dem richtigem Menschen an der Seite kann<br />
man doch schlichtweg jede Situation meistern. Aber vielleicht kannst Du es als nicht Betroffener<br />
einfach nicht nachvollziehen, was es bedeutet, arbeitslos zu sein. Also: Schwamm drüber!<br />
Nichtsdestotrotz würde ich <strong>mich</strong> freuen, wenn wir uns bald wieder sehen.<br />
Grüße an Anna & Mario und Servus,<br />
Pascal<br />
Da Pascal Halbwein nun schon seit zehn Tagen vergeblich auf ein Lebenszeichen des<br />
abtrünnigen Studenten wartete, entschloss er sich, diesem ein Selbiges online zu<br />
übermitteln.<br />
Hallo Pascale,<br />
das Daumendrücken hat nicht geholfen; heute war eine Absage seitens der Regierung der Oberpfalz in<br />
der Post. Zum wiederholten Male wurde eine Hoffnung zunichte gemacht. Jetzt geht der ganze Stress<br />
mit Bewerbung schreiben, abschicken und warten, wieder von vorne los. Aber was soll man machen?<br />
Ich hoffe, Dir geht es gut. Wie ich Dich kenne, hast Du mittlerweile alles im Griff, und der „kleine<br />
Bruder“ hört inzwischen aufs Wort! Schließlich kann er froh sein, dass er Dich hat; allein beim bloßen<br />
Gedanken an Deine Kochkünste läuft <strong>mir</strong> das Wasser im Mund zusammen.<br />
Es ist wirklich schade, dass ich Kevin nicht persönlich kenne. Aber wer weiß, vielleicht leben und<br />
arbeiten wir in ca. zehn Jahren alle zusammen in Afrika: Du als Chefarzt, Sandra als<br />
Verwaltungsdirektorin, ich als Leiter des noch aufzubauenden Sozialdienstes und Kevin nach mit<br />
Summa cum Laude bestandenen Ausbildung als Krankenpfleger.<br />
Wenn Du keine Zeit hast, ausführlich zu antworten, sende <strong>mir</strong> einfach per E-Mail oder SMS ein<br />
„Piep“; dann weiß ich, dass Du noch lebst.<br />
Bis dahin alles Gute,<br />
Pascal<br />
02.02.2008, 19.00 Uhr<br />
Pascale Lishnevska hatte sich extra beeilt, die notwendigen Einkäufe für die morgige Geburtstagsfeier<br />
Kevins zu besorgen, hatte jedoch bereits zwei Sekunden nach Ankunft das Gefühl, zu spät gekommen zu<br />
sein. Sein Schützling dagegen war sich keiner Schuld bewusst: „Ich weiß gar nicht, was Du hast! Ich<br />
darf jetzt bei `9live` anrufen und kann so eine Menge Geld gewinnen. Außerdem glauben weder Tina<br />
Kaiser noch Thomas Schürmann, dass überhaupt jemand eine Lösung hat. Diesbezüglich kann ich <strong>sie</strong><br />
nach garantiert wenigen Anrufen mit dem von <strong>mir</strong> gefundenen Wort „Blut“ <strong>eines</strong> Besseren belehren.“
32<br />
„Also wirklich Geldverschwendung!“, begehrte sein auf den Bildschirm schauender Betreuer auf, „Blut hat<br />
nämlich ebenso wie der bereits genannte Baum ein U an dritter Stelle.“ „Dann nehme ich eben „Burg“,<br />
zeigte sich des einen Irrtums Überführte uneinsichtig, „Schließlich bin ich ab heute volljährig und kann<br />
machen, was ich will!“ „Wenn Du das so <strong>sie</strong>hst, kannst Du mit meiner Hilfe nicht mehr rechnen!“,<br />
resignierte Pascale, „Ich kehre mit sofortiger Wirkung zu Pascal Halbwein zurück!“<br />
11.02.2008, 15.00 Uhr<br />
Die einstige Karrierefrau Ulla Nachtigall hatte erst mit 37 Jahren den Direktor der Bank, in<br />
der <strong>sie</strong> arbeitete, geheiratet und ging nun vollends in der Betreuung und Erziehung ihrer<br />
Tochter Franziska Mathilde auf. Im frühen Stadium ihrer Freundschaft hatte Pascal auf einen<br />
in eine Ehe mündenden Verlauf gehofft, aber nie einen entsprechenden Vorstoß gewagt.<br />
Wenigstes machte es dieses Versäumnis möglich, weiterhin miteinander zu plaudern und<br />
Kaffee zu trinken. Vor der Geburt des Kindes hatten <strong>sie</strong> sich diesbezüglich meistens außer<br />
Haus begeben, nun leisteten <strong>sie</strong> stets der fast Zweijährigen beim Spielen in der Küche<br />
Gesellschaft. Doch manchmal wurden dem Mieter durch den allgegenwärtigen Wunsch,<br />
Pascale Lishnevska endlich wieder zu sehen, die eigenen vier Wände zu eng, so dass der<br />
Besuch aufgrund der mehr als vertrauten Umgebung nicht das erhoffte Maß an Zerstreuung<br />
brachte. Dennoch war der Gastgeber für jeden sozialen Kontakt dankbar, der weder auf<br />
familiäre Bindungen noch auf eine allmonatliche moralische Anerkennung auf dem<br />
Kontoauszug zurückzuführen war.<br />
12.02.2008, 13.30 Uhr<br />
Die Zeit machte ihren Ruf keine Ehre und linderte geschweige denn heilte die Wunde nicht!<br />
Über ein Jahrzehnt hatte er in seiner Wohnung gelebt, ohne von der Existenz des Anderen<br />
auch nur zu wissen; doch gegenwärtig kam Pascal ohne Pascale mit seinem Leben nicht<br />
mehr zurecht. Besonders der Gang in das vertraute Lebensmittelgeschäft führte oft durch<br />
das Tal der raren Erinnerungen an die Kochkünste des Medizinstudenten; die Zunge des<br />
Klienten lechzte nach den exklusiven Geschmack der von dem Hobbykoch zubereiteten<br />
Gerichte. Pascale Lishnevska hatte den All- zu einem Festtag gemacht und den ersten in<br />
eine Ecke der Tristesse verbannt, aus der man ohne speziellen Schlüssel nicht wieder<br />
herauskommen konnte. Das Gewohnte war zur Qual geworden, einem Gefängnis, aus dem<br />
man fliehen sollte. Als Kind war der Rollstuhlfahrer mehrmals aus dem Internat abgehauen;<br />
heute war er schon lange aus dem Alter raus, in dem ein derartiges Verhalten verzeihlich<br />
gewesen werde. Darum setzte sich Pascal Halbwein nun an seinem Computer und<br />
beantragte per Fax eine Kur.<br />
14.02.2008, 14.00 Uhr<br />
Als Clemens Ahl geboren wurde, war der 14. Februar noch ein ganz normales Datum<br />
gewesen; erst in der Teenagerwelt spielende US-Serien und die Profit witternde<br />
Blumenindustrie hatten daraus innerhalb weniger Jahre auch in Deutschland den<br />
Valentinstag gemacht. Nach mehreren feuchtfröhlichen Abenden war der gebürtige<br />
Deuerlinger wieder aus seinem Leben verschwunden, hatte jedoch zum Glück seinem<br />
besten Freund, Alexander Ruhrpöttl, in selbigen zurückgelassen. Pascal beschlich<br />
manchmal der leise Verdacht, Clemens verschreckt und vergrault zu haben, als dieser sich<br />
bei ihrer ersten offiziellen Verabredung zu dritt verspätet und so bei seinem wartenden<br />
Kumpel eine Spastik ausgelöst hatte. Die damit verbundenen Körperzuckungen mussten<br />
einfach auf jeden Unkundigen befremdend wirken! Natürlich wäre es ihm lieber gewesen, der<br />
Andere hätte ihm die Möglichkeit zur Erklärung bzw. Verteidigung gegeben, hatte dessen<br />
Rückzug am Ende doch akzeptiert. Alex hingegen schien weniger entsetzt gewesen und<br />
hatte den Kontakt zu dem Älteren weiter aufrechterhalten. Leider nahm ihm sein<br />
Architekturstudium in München derart in Anspruch, dass <strong>sie</strong> sich noch ein- bis zweimal im<br />
Jahr sahen. Aber der Unglückliche lechzte momentan geradezu nach Freunden zum<br />
Anfassen und hatte den anstehenden Ehrentag zum Anlass genommen, sich per traditionell<br />
versandter Glückwunschkarte bei dem Mittzwanziger wieder in Erinnerung zu bringen. Leider<br />
stellte er beim Blick in sein Postfach schnell fest, dass dessen Trauer über ihre zu Grabe
33<br />
getragenen Freundschaft zumindest nicht so tief war wie bei seiner Person; auch Pascale<br />
Lishnevska hatte ihm während der letzten Tage nicht geschrieben. Ihm seinerseits zu<br />
schreiben könnte heute, an diesem den Verliebten vorbehaltenen Tag, einen Eklat auslösen.<br />
Doch von Traurigkeit geradezu übermannt, ignorierte Pascal die Gefahr und tippte folgende<br />
SMS:<br />
Hallo Pascale, hast Du meine E-Mail bekommen; ich hatte Dich doch nur um ein „Piep“<br />
gewesen. Geht es Dir gut; hört der „kleine Bruder“ inzwischen aufs Wort? Mache <strong>mir</strong><br />
Sorgen, Pascal<br />
Dieses Mal ließ die Antwort keine fünf Minuten auf sich warten:<br />
Alles in Ordnung, nur Stress ohne Ende. Habe morgen eine wichtige Prüfung! CU,<br />
Pascale<br />
Das schlechte Gewissen verlieh ihm Flügel:<br />
Tut <strong>mir</strong> leid! Ich hoffe, Du bist nicht verärgert. Alles Gute für die Prüfung, Pascal<br />
Unmittelbar nach dem Versand dieser Nachricht griff Pascal zum Telefon, um Curd Stangler<br />
auf altmodische Art und Weise zu erreichen: „Curd, ich glaube, ich habe Mist gebaut. Weil<br />
wieder keine Mail von Pascale angekommen ist, habe ich ihm gerade eine SMS geschickt.<br />
Darauf hat er sofort geantwortet, total gestresst zu sein. Hoffentlich habe ich ihn jetzt nicht<br />
allzu sehr bedrängt!“ „Das glaube ich jetzt nicht!“ beschwichtigte der Freund aus fernen<br />
Tagen, „Es ist ja wirklich nicht so, dass Du ihm ständig mit Nachrichten bombardierst;<br />
diesbezüglich bin ich ja von früher ganz andere Kaliber Deinerseits gewohnt!“ „Aber Dich<br />
habe ich auf rein privater Ebene kennengelernt!“, nannte Pascal den Hauptgrund seiner<br />
Verunsicherung beim Namen. „Pascale ist in mein Leben getreten, weil er dafür bezahlt<br />
wurde. Ich bin auch nicht davon überzeugt, ob die Pflegedienstleitung von Phönix,<br />
insbesondere sein Busenfreund Maxl einen privaten Kontakt zwischen uns guthieße.“ Die<br />
Ankündigung einer SMS unterbrach das Telefonat:<br />
Alles o. k.! Lass Dir keine grauen Haare wachsen! Habe am 22.02. noch die bereits<br />
erwähnte Dreifachprüfung. Melde <strong>mich</strong> demnächst! CU, Pascale<br />
„Na also, Du brauchst Dir wirklich keine Sorgen zu machen. Das scheint einfach ein netter<br />
Typ zu sein.“, Curd Stangler lachte, „Jetzt muss ich aber Schluss machen. Ich habe noch<br />
eine Unmenge an Materialien für die morgige Vorlesung aufzubereiten.“<br />
21.02.2008, 22.00 Uhr<br />
Mit bewährten Traditionen sollte man nicht brechen:<br />
Hallo Pascale, viel Erfolg für die morgige Dreifachprüfung! <strong>Möge</strong> ihre erfolgreiche<br />
Absolvierung (Vielleicht klappt es ja dieses Mal mit der „1“.) für Dich der<br />
Startschuss in eine weitgehend stressfreie Zukunft sein! Servus, Pascal Halbwein<br />
22.02.2008, 13.45 Uhr<br />
Am frühen Nachmittag konnte der Handybesitzer die innere Spannung nicht mehr aushalten<br />
und schaltete das Gerät ein. Wenige später kündigte ein Klingelton eine bereits am späten<br />
Vorabend versandte Kurznachricht an:<br />
Danke, sehr nett! Bin aber trotzdem eher skeptisch. CU, Pascale<br />
Die SMS verwirrte den Leser ein wenig. Bezogen sich die Zweifel des Verfassers auf die<br />
Prüfung oder auf die Betreuung in Neumarkt? Wurde dieses unselige Projekt, dass ein<br />
Dreamteam wie Pascal und Pascale trennte, nun doch nicht Ende Februar beendet?<br />
25.02.2008, 14.30 Uhr<br />
In den Abendstunden hatte der Anrufbeantworter immer seinen Dienst versehen; darum<br />
unternahm Pascal heuer am Nachmittag den Versuch, Caspar persönlich zu erreichen.<br />
Wenigstens drang dieses Mal eine menschliche Stimme an sein Ohr: „Hallo Pascal, hier ist<br />
Tina. Wir haben uns früher mal auf dem Barabend getroffen. Caspar ist noch bei der Arbeit.“<br />
„Das habe ich <strong>mir</strong> gedacht.“, klärte der Anrufer auf, „Ich wollte auch eigentlich nur einen<br />
Termin für unser Treffen vereinbaren. Abends habe ich ihn nie erreicht!“ „Nach Dienstschluss<br />
ist er meistens sehr müde und abgespannt und will sich nur noch ausschließlich um unsere<br />
beiden Töchter kümmern. Deshalb schalten wir zu dieser späten Stunde grundsätzlich den<br />
AB ein! Bist Du eigentlich auch berufstätig?“ „Leider nicht!“, sinnierte Pascal über das<br />
unliebsame Thema, „Zuletzt war ich sehr erfolgreich ich im wissenschaftlichen Sekretariat<br />
des Sudetendeutschen Musikinstituts Regensburg tätig. Leider handelte es sich hier um eine
34<br />
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die nach zwei Jahren aus rein juristischen Gründen und<br />
trotz der vollsten Zufriedenheit m<strong>eines</strong> Vorgesetzten und m<strong>eines</strong> Chefs mit den von <strong>mir</strong><br />
erzielten Ergebnissen nach zwei Jahren nicht verlängert werden konnte. Nun bin ich bereits<br />
wieder fast vier Jahre auf der Suche nach einem neuen Job.“ „Oh nein, das ist bestimmt<br />
unheimlich frustrierend!“, zeigte sich Caspars Ehefrau ehrlich mitfühlend, „Nach meiner<br />
Babypause habe ich begonnen, durch eine Tätigkeit in einer Apotheke etwas zu unserem<br />
Haushalt beizusteuern; schließlich soll mein Pharmaziestudium ja nicht umsonst gewesen<br />
sein! Aber mein Chef hat ständig mit ebenfalls hochqualifizierter und wachsender<br />
Konkurrenz zu kämpfen; in der Konsequenz kann er seinen Angestellten nur befristete<br />
Arbeitsverträge anbieten. Auch mein Beschäftigungsverhältnis ist somit unentwegt von<br />
Auflösung bedroht.“ Sie unterhielten sich noch eine Viertelstunde angeregt, bevor Tinas<br />
Mutterpflichten ihren Tribut forderten. Nachdem das Gespräch beendet war beschlich Pascal<br />
das wohltuende Gefühl, eine eigentlich vollkommen Fremde habe unaufgefordert die Last<br />
von seinem Herzen genommen und <strong>sie</strong> in eine schmerzfreie Zone s<strong>eines</strong> Körpers geräumt.<br />
Ungewohnt beschwingt verlebte Pascal Halbwein den Nachmittag.<br />
25.02.2008, 18.30 Uhr<br />
Das Telefon klingelte in der Sekunde ihrer Rückkehr. Das Display wies Caspar Speis als<br />
Anrufer aus: „Pascal, Du hast heute Nachmittag bei uns angerufen. Was ist los?“ „Wir<br />
wollten uns doch mal treffen.“, erinnerte der bereits Unheil Ahnende, „Wie <strong>sie</strong>ht es in der<br />
nächsten Zeit bei Dir aus?“ „Schlecht!“, kam der Familienvater gleich zur Sache, „Ich<br />
durchlebe derzeitig einen beruflichen Umbruch, bin von `Siemens` zu `Continental`<br />
gewechselt. Dies bringt mehr Arbeit mit sich als <strong>mir</strong> lieb ist. Glaube <strong>mir</strong>, ich würde Dich auch<br />
gerne mal wieder sehen. Aber meine momentane Situation lässt dies leider nicht zu. Aber<br />
Aufgeschoben ist ja schließlich nicht Aufgehoben!“ Aufgrund andersartiger Erfahrungen<br />
zweifelte der Enttäuschung stark an der Gültigkeit dieser Phrase: „Schade!“ „Hast Du<br />
eigentlich auch eine E-Mail-Adresse?“, versuchte der Anrufer das gerade erst restaurierte<br />
Schiff vor dem erneuten Untergang zu bewahren, „Dann könnten wir wenigstens auf diese<br />
Weise den Kontakt erhalten.“ Trotz Bejahung dieser Frage bereute der Sozialpädagoge, den<br />
kurz zuvor begegneten Vierbeiner nicht ausgewichen respektive einen Umweg genommen<br />
zu haben. Innerhalb weniger Stunden hatte der liebende Gatte die Umräumaktion seiner<br />
Angetrauten rückgängig gemacht und egali<strong>sie</strong>rt!<br />
02.03.2008, 13.00 Uhr<br />
War Kevin Zimmermann nach <strong>sie</strong>ben Wochen Intensivbetreuung bereit, in eine Wohngruppe<br />
mit gleichaltrigen Leidensgenossen zu ziehen? Seine Ungewissheit schrie förmlich nach<br />
Klärung der Sachlage, deshalb setzte sich Pascal an diesem Sonntag an seinem Computer:<br />
Hallo Pascale,<br />
die stressige Zeit ist vorbei; das Neumarkter Projekt läuft aus. Ich wünsche und gönne es Dir von<br />
Herzen, dass Du endlich wieder mehr Zeit mit Sandra verbringen kannst. Kleiner Verwöhnvorschlag:<br />
Kocht doch ein gemeinsames Lieblingsessen und füttert euch anschließend gegenseitig mit dem<br />
Selbigen. Auch schwillt mein Herz vor Wonne bei der Vorstellung über, dass Sie Dir gerade in dem<br />
Moment den Rücken mas<strong>sie</strong>rt, in welchem Du diese Mail liest.<br />
Wie geht es mit Kevin weiter; hat er bezüglich seiner Zukunft schon Pläne geschmiedet? Vielleicht<br />
hätte er ja Lust, bei Phönix seinen Zivildienst abzuleisten. Zwar gäbe es bei Klienten und vielleicht<br />
auch der Pflegedienstleitung hinsichtlich seiner Familiengeschichte Bedenken, aber diese müsste man<br />
ja nicht allen Leuten auf die Nase binden. Ich persönlich wäre schon bereit, Kevin eine Chance zu<br />
geben, denn für seine Vergangenheit kann er ja schließlich wirklich nicht verantwortlich gemacht<br />
werden!<br />
Über ein Lebenszeichen von Dir würde ich <strong>mich</strong> sehr freuen. Keine Angst, ich erwarte nicht, dass wir<br />
uns sehen. Die Zeit zwischen Neumarkt und Afrika gehört einzig und allein Sandra! Hoppla, das<br />
reimt sich ja! Aber ich freue <strong>mich</strong> wirklich, dass für Dich der große Stress endlich vorbei ist!<br />
CU, wie Du zu schreiben pflegst,<br />
Pascal<br />
♪♫ Pas – ca – lan – dra – Pas – ca – lan – dra, wenn wir uns ein – mal wie – der sehn, Pas – ca – lan<br />
– dra, dann wird es wie – der schön! Daaann wiiiird eees wiiieee – deer – schööön!♪♫
05.03.2008, 12.00 Uhr<br />
Zu Studienzeiten hatte Pascal Halbwein eine gute Bekanntschaft mit dem belgischen<br />
Austauschstudenten Philippe Leraux gepflegt; diesen hatte er so viele andere Leute beim<br />
wöchentlichen Barabend kennengelernt. Treffen außerhalb dieser Veranstaltung fanden<br />
zwar selten statt, kamen aber in Form von Besuchen Philippes wenigstens in der Realität<br />
vor. Trotzdem war ihre Freundschaft eher oberflächlich gewesen, doch beim letzten Treffen<br />
vor seiner Abreise hatte der Belgier den Rollstuhlfahrer unerwartet in die Arme genommen<br />
und gestreichelt; damit hatte er bis zum gemeinsamen Verlassen des Barraums nicht<br />
aufgehört! Pascal empfand die zärtliche Berührung damals als durchaus angenehm, wusste<br />
selbige aber nicht einzuordnen, zumal Philippe ihm nebenbei offenbarte, dass in seiner<br />
Heimat eine junge Frau seine Rückkehr bereits sehnsüchtig erwartete. Zudem war ihm der<br />
Belgier zwar durchaus nicht unsympathisch, seine Gefühle jedoch k<strong>eines</strong>wegs romantischer<br />
Natur. Damals hatte Pascal die Notbremse gezogen und sich relativ schnell von dem<br />
Anderen verabschiedet. Später bereute er, dem kurzen Anflug einer Panikattacke<br />
nachgegeben zu haben; aber dann war es schon zu spät gewesen. Heute noch, 16 Jahre<br />
später fragte Pascal sich, was pas<strong>sie</strong>rt wäre, hätte er die Zärtlichkeiten des Mitstudenten<br />
weiter über sich ergehen lassen und es eventuell sogar zu einer Erwiderung seinerseits<br />
gekommen wäre. Würde er dann heute vielleicht heute sogar auf einen belgischen<br />
Bauernhof leben und eine glückliche Partnerschaft führen. In einem alten Gästebuch fand er<br />
noch Philippes Adresse, wodurch es dem leidenschaftlichen Briefschreiber möglich war,<br />
seinem einstigen Trinkkumpan einige Zeilen zu senden:<br />
Hallo Philippe,<br />
ich bin <strong>mir</strong> nicht sicher, ob Du überhaupt noch weißt, wer ich bin! Wir haben uns<br />
1992 beim Barabend im Ludwig-Thoma-Heim kennengelernt und uns leider aus den<br />
Augen verloren, nachdem Du nach Belgien zurückgegangen bist. Irgendwie musste<br />
ich in letzter Zeit öfter an Dich denken und habe <strong>mich</strong> gefragt, was wohl aus Dir<br />
geworden ist. Bestimmt bist Du glücklich verheiratet, Vater einer teilweise bereits<br />
pubertierenden Kinderschar und hast beruflich eine leitende Position inne.<br />
Ich bin zurzeit leider schon zum wiederholten Male arbeitslos und wieder mal auf<br />
der Suche nach einem neuen Job. Zuletzt habe ich im Sudetendeutschen<br />
Musikinstitut Regensburg gearbeitet und dort die Nachlässe von Komponisten<br />
gesichtet, geordnet und für die Menschheit nachbereitet. Obwohl ich diese<br />
Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit meiner Vorgesetzten erledigt habe, konnte<br />
mein Vertrag nach zwei Jahren (aus rein juristischen Gründen!) nicht verlängert<br />
werden, da es sich um eine so genannte Arbeitsbeschaffungsmassnahme handelt.<br />
Auch nervt es <strong>mich</strong> derzeit extrem, dass ich immer noch nicht den Menschen<br />
gefunden habe, mit dem ich den Rest m<strong>eines</strong> Lebens verbringen will. Meine<br />
momentane Lebenssituation zerrt so sehr an meinen Nerven, dass ich <strong>mich</strong> gar<br />
gezwungen sah, erstmalig eine Kur zu beantragen.<br />
Hast Du eigentlich noch Kontakt zu alten Bekannten aus Regensburg? Auf jedem<br />
Fall würde ich <strong>mich</strong> freuen, nach so langer Zeit mal wieder von Dir zu hören. Zu<br />
diesem Zweck habe ich oben neben meiner Anschrift auch meine Telefonnummer<br />
nebst E-Mail-Adresse (einer der praktischsten Erfindungen der letzten 16 Jahre)<br />
aufgeführt. Mit dieser Bitte möchte ich vorerst verbleiben.<br />
Servus,<br />
Pascal Halbwein<br />
Der Verfasser warf dieses Schreiben persönlich in den Briefkasten. So etwas brachte<br />
bestimmt Glück!<br />
09.03.2008, 13.30 Uhr<br />
35
36<br />
Das Surren der extrem langsamen Internetverbindung beschleunigte seinen Herzschlag in<br />
einem so großen Ausmaß, wie es bisher einzig und allein das laute Bellen <strong>eines</strong> Hundes<br />
vermocht hatte. Blieb vielleicht auch die genau vor einer Woche versandte E-Mail<br />
unbeantwortet. Pascal wusste, dass er sich ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt hatte,<br />
indem er seinen ehemaligen Helfer Liebestipps gab. Aber erstens erteilte dieser selbst gern<br />
ungefragte Ratschläge und schritt somit auf väterliche Art und Weise über sein eigentliches<br />
Aufgabenfeld hinaus, und zweitens waren derartige Formulierungen eher an sich selbst als<br />
an den Empfänger gerichtet; er selbst musste akzeptieren und verinnerlichen, dass Pascales<br />
Liebe immer und ausschließlich Sandra gehörte und seine Person bestenfalls ein Freund für<br />
den zukünftigen Arzt werden konnte. Endlich offenbarte der Monitor den Inhalt des<br />
Postfachs; die mit schmerzvoller Sehnsucht erwartete Nachricht war bereits vor <strong>sie</strong>ben<br />
Tagen eingetroffen:<br />
Hallo Pascal,<br />
endlich finde ich Zeit und Muße, Deine zahlreichen Mails zu beantworten. Entschuldige bitte, dass Du<br />
so lange warten musstest, das lag nicht an Dir persönlich, sondern einzig und allein am Stress der<br />
letzten Wochen. Der unter meiner Fittiche stehende Jugendliche Kevin ist zwar lieb und nett, aber<br />
auch weitgehend orientierungslos und unselbständig. Es ist äußerst schwierig für <strong>mich</strong>, den richtigen<br />
pädagogischen Ansatz zu finden. Diesem Problem werde ich <strong>mich</strong> in den kommenden sechs Wochen<br />
intensiv widmen; danach muss man weitersehen. Es ist schier unmöglich, parallel zu dieser äußerst<br />
zeitaufwändigen Betreuung zu studieren.<br />
Der von Dir angesprochene Afrikaaufenthalt war als studienbegleitendes Praktikum gedacht, aber die<br />
entsprechende Klinik noch nicht gemeldet. So steht es derzeitig noch in den Sternen, ob ich dieses<br />
Vorhaben überhaupt in die Tat umsetzen kann.<br />
Danke für Deine Sorge um Sandra; es geht uns beiden recht gut. So, das muss an Information für heute<br />
reichen.<br />
Au revoir,<br />
Pascale<br />
Die Alarmglocken stimmten in das Paukenkonzert der Freude mit ein; der Empfänger sah die<br />
Notwendigkeit einer sofortigen Antwort gegeben:<br />
Hallo Pascale,<br />
so sehr ich <strong>mich</strong> auch darüber freue, endlich ein Lebenszeichen von Dir erhalten zu haben, Deine E-<br />
Mail bereitet <strong>mir</strong> trotzdem auch Sorgen. Denn offenbar ziehst Du in Betracht, Dein Medizinstudium<br />
abzubrechen! Ein derartiger Schritt wäre aber mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit der größte<br />
Fehler D<strong>eines</strong> Lebens; dafür hast Du schon viel zu lange auf dieses Ziel hingearbeitet. Deshalb<br />
appelliere ich jetzt an Dich:<br />
Lass Dir von einem durchgeknallten Teenie nicht Deine ganze Zukunft kaputtmachen!<br />
Wenn Du wirklich erwägst, Dein Studium ad acta zu legen, schnappe ich <strong>mir</strong> Sandra & Maxl und<br />
fahre mit ihnen nach Neumarkt, um Dir persönlich die Leviten zu lesen. Denn ich werde nicht<br />
zulassen, dass Du Dein Leben ruinierst.<br />
CU,<br />
Pascal<br />
09.03.2008, 20.00 Uhr<br />
Curd Stangler war zwar zu Hause, zeigte sich aber beunruhigt: „Du scheinst wirklich total auf<br />
diesem Pascale frustriert zu sein! Das ist nicht gut für Dich!“ „Ich muss wirklich nur<br />
manchmal an ihn denken.“, flunkerte der Ertappte, „Und Du bist der Einzige, der meine<br />
Vergangenheit kennt und mit dem ich über meine starken Emotionen Männern gegenüber<br />
reden kann. Außerdem befürchte ich, dass er daran denkt, sein Medizinstudium<br />
abzubrechen. So etwas darf man nicht zulassen.“ „Ich fürchte, das geht Dich nichts an!“, fuhr<br />
ihm der Andere in die Parade, „Es ist seine alleinige ureigene Entscheidung! Vielleicht will er<br />
auch einfach nur einige Sachen verschieben.“ „Ich habe ihm bereits gedroht, ihm persönlich<br />
mit seiner Freundin und dem stellvertretenden Pflegedienstleiter in Neumarkt zur<br />
Rechenschaft zu ziehen, falls er seine Ausbildung wirklich abbrechen sollte.“, gestand<br />
Pascal. „Damit würdest Du eindeutig zu weit gehen!“, lautete Curd Stanglers unbarmherzige<br />
Antwort. Typischer Fall von Doppelmoral! Von Behinderten erwartet man, dass <strong>sie</strong> jegliches<br />
Hilfeangebot, und sei es noch zu nutzlos oder gar belästigend, annahmen; die Nichtbehinderten, oft nicht
37<br />
einmal mit der Hälfte an Lebenserfahrung ausgestattet, dürfen sich anmaßen, diese abzulehnen und sparen<br />
oft nicht mit Vorwürfen bezüglich einer ungebetenen Einmischung. Dennoch schaffte es der heutige<br />
Hochschulprofessor, den Klienten von der positiven Bedeutung der erhaltenen Nachricht zu<br />
überzeugen.<br />
Eines zweiten hoffentlich nicht mehr allzu weit entfernten <strong>Tages</strong><br />
Sandra Engelhardt ergriff beim gemeinsamen Abendessen das Wort: „Da ich seit einigen Wochen vor<br />
lauter Glück, mit zwei Traummännern wie Euch zusammenleben zu dürfen, weder essen noch schlafen<br />
kann, habe ich <strong>mir</strong> jetzt Gedanken gemacht, wie ich die gewonnene Zeit am besten nutzen. Neben der<br />
festen Absicht, Euch auch weiterhin lästige Haushaltspflichten und sonstigen Kleinkram vom Leibe zu<br />
halten, ist in <strong>mir</strong> der Entschluss gereift, <strong>mich</strong> für die längst fällige Übertragung der Weltherrschaft auf<br />
Euch Beide einzusetzen. Ferner werde ich dem Papst kontaktieren, damit dieser die anderen Oberhäupter<br />
der großen Religionen davon überzeugt, das Schicksal sämtlicher Gläubigen in Eure Hände zu legen. Ist<br />
dies alles vollbracht, geht es der Menschheit im Nu besser!“ Die Stimme der schönen Frau klang leicht<br />
ironisch.<br />
30.03.2008, 13.00 Uhr<br />
Die seelische Pein hatte Auswirkungen auf sein körperliches Wohlbefinden. Nur wenige Male<br />
von den kulinarischen Künsten Pascale Lishnevskas verwöhnt worden, war der Verzehr von<br />
anderen Personen zubereiteter Speisen zur reinen Routine verkommen; einzig und allein<br />
seine Mutter schien Essen noch schmackhaft zubereiten zu können. Aber auch sonst fehlte<br />
ihm das Lachen des Medizinstudenten, die flapsigen aber nichtsdestotrotz auch<br />
tiefgründigen Gespräche während <strong>eines</strong> ausführlichen Sparzierganges. Die Enttäuschung<br />
über die Verlängerung des trennenden Projekts saß trotz seiner diesbezüglichen Vorahnung<br />
tief; seine Traurigkeit verwandelte sich, manchmal nur für einige Minuten, in blanke Wut!<br />
Pascal Halbwein hatte gehofft, durch den zweiwöchigen Osterurlaub Linderung oder gar<br />
Heilung zu erfahren, doch noch weniger als an Weihnachten ließ sich Pascale aus seinen<br />
Gedanken verbannen. In schlaflosen Nächten schrie er den Namen des schmerzlich<br />
Vermissten an die Wand; zudem hatte Pascal in den letzten Monaten stark abgenommen.<br />
Früher hatte es ihm immer geholfen, das Objekt seiner Begierde nicht mehr zu sehen, doch<br />
dieses Mal verfehlte das vermeintliche Allheilmittel nicht nur seine Wirkung, sondern<br />
verstärkte obendrein die quälenden Symptome! Er konnte den Grund, warum Pascale<br />
Lishnevska aus seinem Gesichtsfeld verschwunden war, einfach nicht akzeptieren. Von ihm<br />
hatte man im Alter von sechs Jahren verlangt, ohne Vater im Leben klar zu kommen (Ole<br />
war damals erst vier Jahre, Ralf gar nur sechs Monate alt gewesen.); nach dem<br />
erfolgreichen Abschluss der vierten Klasse wurde Mutter und Sohn der Wechsel von der<br />
Sonder- in eine Regelschule dringend empfohlen; zur Befolgung dieses Ratschlags war der<br />
Umzug des Zwölfjährigen in ein Internat zwingend erforderlich. Es wäre eine totale<br />
Verklärung der damaligen Zeit, den sich über zehn Jahre erstreckenden Aufenthalt als<br />
Zuckerschlecken zu bezeichnen; doch hatte sich das Ergreifen dieser drastischen<br />
Maßnahme im Nachhinein mehr als einmal als richtig erwiesen. Es gab also keinen<br />
einleuchtenden Grund, warum dem zumindest formal erwachsenen Kevin nicht ein<br />
spannungsgeladenes Zusammenleben mit Gleichaltrigen und wechselnden, auch für andere<br />
problematische Jugendliche zuständige, Bezugspersonen zugemutet werden konnte.<br />
Neben diesen neuen Sorgen verschaffte sich eine tief in seinem Unterbewusstsein<br />
innewohnende Urangst lautstark Gehör: <strong>eines</strong> <strong>Tages</strong> nicht mehr selbständig leben zu<br />
können und die eigenen vier Wände gegen einen Heimplatz austauschen zu müssen!<br />
Annemarie Halbwein wünschte sich insgeheim nichts sehnlicher, als ihren Sohn ganz bei<br />
sich zu haben; doch hatte dieser bislang unzählige Überredungsversuche erfolgreich<br />
abgewehrt. Nicht nur die Gewissheit, im Falle einer Rückkehr jegliches eigenverantwortliche<br />
Denken und Handeln für immer aufzugeben, auch das Schicksal <strong>eines</strong> viel zu früh<br />
verstorbenen Bruders seiner Mutter, ließ ihm den eigenen Tod gegenüber einer derartigen<br />
Entscheidung als geringeres Übel erscheinen. Besagter Onkel Fritz hatte einst mit seiner<br />
Frau Irmgard und vier Kindern ein ruhiges beschauliches Leben in demselben Ort geführt, in<br />
dem auch Annemarie Halbwein mit ihren Söhnen lebte. Berufsbedingt war der LKW-Fahrer
38<br />
viel unterwegs gewesen; <strong>eines</strong> <strong>Tages</strong> war er in Ausübung s<strong>eines</strong> Berufes in einen Unfall<br />
verwickelt worden, infolgedessen sein rechter Arm die Funktionsfähigkeit einbüßte. Von<br />
dieser Behinderung gezeichnet verlor der Familienvater ausgerechnet zu der Zeit seinen<br />
Arbeitsplatz, zu welcher seine Gattin ihr fünftes Kind erwartete. Die Ausweglosigkeit der<br />
Situation und die Monotonie des Alltags trieben den Leidgeprüften in die nächste Kneipe;<br />
wenig später wurden erste Stimmen bezüglich einer Alkoholabhängigkeit laut. Diese<br />
Gerüchte nahmen schließlich einen so großen Umfang an, dass ein normales Leben für die<br />
Familie nicht mehr möglich war. Letztendlich hatte Pascals Onkel keine andere Möglichkeit<br />
mehr gesehen, als das beheimatete Dorf zu verlassen und zu seiner Mutter zurückzukehren.<br />
Dort erlag Onkel Fritz erst endgültig den Alkohol und wenig später einem Leberschaden.<br />
Auch wenn das Leben s<strong>eines</strong> Neffen fast gar keine Parallelen zu dem Seinigen aufwies,<br />
behaftete beide der Makel der Arbeitslosigkeit; für den Älteren war <strong>sie</strong> der Startschuss für<br />
einen qualvollen Wettlauf in den Tod gewesen!<br />
31.03.2008, 09.30 Uhr<br />
Erwartungsgemäß hatte Maximilian Sommer sich der Trompeten von Jericho bedient und die<br />
mühsam errichtete Schutzmauer zum Einstürzen gebracht: „Schöne Grüße von Pascale, ich<br />
habe ihn am Wochenende auf einer Geburtstagsfete getroffen.“ Der stellvertretende<br />
Pflegedienstleiter hatte am heutigen Morgen höchstpersönlich die Vertretung von Juliane<br />
übernommen, die – obwohl die am meisten qualifizierte Helferin in über einem<br />
Vierteljahrhundert Fremdbetreuung – an einem Lehrgang teilnahm. Erst einmal an den<br />
Fernbleibenden erinnert, packte Pascal Halbwein nun die Neugier: „Wie geht’s ihm? Gibt’s<br />
was Neues?“ „Seine Afrikapläne haben sich konkreti<strong>sie</strong>rt.“, gab der beneidenswerte Freund<br />
des Reiselustigen arglos Auskunft, „Anfang August fliegt er für sechs Wochen nach Ghana<br />
und absolviert dort ein Praktikum in einem Buschkrankenhaus. Es ist noch unklar, wie lange<br />
dieser Jugendliche noch betreut werden muss. Pascale wird aber auf jedem Fall wieder bei<br />
Phönix arbeiten.“ „Oh gut! Ich vermisse ihm nämlich schon sehr!“, rutschte es dem<br />
Trennungsschmerzgeplagten unbedacht und ungewollt heraus. Der irritierte<br />
Gesichtsausdruck s<strong>eines</strong> Gegenübers bestrafte diese Unachtsamkeit sofort. „Ich weiß, es ist<br />
manchmal sehr schwierig, sich immer an neue Gesichter zu gewöhnen.“, lautete jedoch die<br />
harmlos erscheinende verbale Reaktion Maxls.<br />
31.03.2008, 11.30 Uhr<br />
Das starke Gefühl der Beklemmung trieb ihm in die virtuellen Weiten des World Wide Web:<br />
Hallo Pascale,<br />
danke für die bestellten Grüße! Ich fühle <strong>mich</strong> geschmeichelt, dass Du trotz Deiner momentanen<br />
stressigen Verpflichtungen noch an <strong>mich</strong> denkst. Wie ich von Maxl erfahren habe, hat es mit Afrika<br />
doch noch geklappt. Ich freue <strong>mich</strong> für Dich und wünsche Dir eine schöne Zeit auf dem schwarzen<br />
Kontinent.<br />
Dagegen bereitet <strong>mir</strong> jedoch die ungeklärte Länge des Neumarkter Projektes große Sorgen; es ist<br />
offenbar noch völlig unklar, wann Selbiges beendet wird. Du hast selbst geschrieben, dass sich diese<br />
Aufgabe nicht mit einem Medizinstudium vereinbaren lässt. Ich habe zwar in der Zwischenzeit von<br />
dem Plan Abstand genommen, persönlich nach Neumarkt zu fahren und Dir die Leviten zu lesen; aber<br />
ich appelliere hiermit inständig an Dich, auf keinen Fall zu exmatrikulieren!<br />
Unbekannte aber bestimmt wunderschöne Sandra: Hilf <strong>mir</strong> und unterstütze <strong>mich</strong>! Lass<br />
nicht zu, dass Pascale seine Zukunftspläne aufgibt und sein Leben wegwirft!<br />
Was <strong>mich</strong> betrifft, so bin ich nach wie vor auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. Unlängst<br />
hatte mein alter Arbeitgeber eine Stelle zu vergeben; der betreffende Aufgabenbereich umfasste exakt<br />
die Tätigkeiten, die ich zwei Jahre lang zur vollsten Zufriedenheit m<strong>eines</strong> Vorgesetzten und m<strong>eines</strong><br />
Chefs ausgeführt habe. Leider bestand die Personalabteilung auf den formalen Abschluss <strong>eines</strong><br />
Diplom-Bibliothekars, welchem ich nicht vorweisen konnte. Es ist zum …!<br />
CU,<br />
Pascal<br />
PS: Übrigens ist es immer ein komisches Gefühl, mit Maxl über Dich zu reden; immerhin ist er der<br />
stellvertretende Pflegedienstleiter von Phönix. Ich habe <strong>mich</strong> zwar vor meiner ersten E-Mail bei einer<br />
seiner Vorgängerinnen erkundigt, ob und inwieweit ich Dich mit einer solchen Aktivität in
39<br />
Schwierigkeiten bringe (Frage wurde verneint!), aber trotzdem habe ich Angst, dass er Einwände<br />
gegen unseren privaten Kontakt erheben könnte.<br />
31.03.2008, 19.30 Uhr<br />
Das Herzklopfen ließ nun gar ein Telefon im Ausland klingeln und vibrieren; wenige<br />
Sekunden später verifizierte eine männliche Kinderstimme die längst vermutete Vaterschaft<br />
Philippes. Erfreulicherweise schien der Familienvater nicht unangenehm überrascht zu sein:<br />
„Pascal, wie schön! Meine Eltern haben <strong>mir</strong> Ostern Deinen Brief mitgebracht. Du hast<br />
übrigens mit Deinen Vermutungen total ins Schwarze getroffen. Ich bin wirklich und<br />
wahrhaftig seit nunmehr 15 Jahren verheiratet und wurde zwischenzeitlich stolzer Vater von<br />
drei Kindern.“ „Dann hast Du ja bereits ein Jahr nach Deinem Deutschlandaufenthalt den<br />
Bund fürs Leben geschlossen.“, schlussfolgerte der Anrufer, „Waren auch Gäste aus<br />
Regensburg zur Hochzeit eingeladen?“ „Nein!“, Philippes Stimme klang neutral, „Ich habe zu<br />
meinen damaligen Mitbewohnern und sonstigen Weggefährten absolut keinen Kontakt<br />
mehr.“ „Welcher Beschäftigung gehst Du eigentlich beruflich nach?“, wechselte Pascal<br />
schnell das Thema, um die Telefonkosten nicht in allzu astronomische Höhen steigen zu<br />
lassen. „Ich bin Vertreter!“, lautete die enttäuschende Antwort des Belgiers; dieser hätte in<br />
den Augen die Qualifikation für einen Posten im Management innegehabt. Am Ende des<br />
Gespräches kamen die Teilnehmer überein, die den wieder hergestellten Kontakt über das<br />
Internet zu erhalten. Pascal Leraux versprach Pascal Halbwein, ihm innerhalb weniger<br />
Stunden Fotos von seiner Familie zukommen zu lassen.<br />
09.04.2008, 12.30 Uhr<br />
Nach neun Tagen erbitterten Kampfes hatte die Neugier die Angst be<strong>sie</strong>gt; Pascals Postfach<br />
wurde geöffnet. Dieses Mal war es zu seiner großen Überraschung der Nichtbehinderte, der<br />
relativ schnell zurück geschrieben hatte und nun schon sage und schreibe eine Woche auf<br />
eine Antwort wartete:<br />
Tagchen Pascal,<br />
nun zerbrich Dir nicht unnötig den Kopf über mein Studium; ich hatte nie vor, dieses abzubrechen; ich<br />
freue <strong>mich</strong> sogar auf den unmittelbar bevorstehenden Beginn des neuen Semesters. Am Anfang<br />
denken meine Kommilitonen und ich immer, der aktuell zu bewältigende Lehrstoff gehe runter wie<br />
Öl; doch am Ende werden wir stets <strong>eines</strong> Besseren belehrt.<br />
Das einzige Problem der Vereinbarkeit von Studium und Job bildet die täglich zu erfolgende<br />
Hausaufgabenbetreuung. Diesbezüglich bin ich momentan auf der Suche nach einer hierfür geeigneten<br />
Person. Außerdem zeichnen bei Kevin erste Erfolge in puncto Selbständigkeit und Sozialverhalten ab;<br />
diese beflügeln <strong>mich</strong> geradezu, weiterhin dreimal in der Woche nach Neumarkt zu fahren und ihm mit<br />
Rat und Tat zur Verfügung zu stehen.<br />
Ja, mit Afrika hat es zu guter Letzt doch noch geklappt. Anfang August geht es los; Sandra und ich<br />
freuen uns schon riesig auf unsere gemeinsame Zeit in Ghana. Ein für den Sommer geplanter<br />
Jobwechsel von Linz nach Regensburg macht unser Glück vollkommen!<br />
Genug von <strong>mir</strong> geredet! Ein Kumpel von <strong>mir</strong>, Karl-Otto, arbeitet ehrenamtlich beim a.a.a.<br />
(Arbeitskreis ausländischer Arbeitnehmer); dieser Verein bietet während der Schulzeit Hausaufgaben-<br />
und Freizeitbetreuung für ausländische Kinder und Jugendliche an. Wäre dies nicht auch eine reizvolle<br />
Aufgabe für Dich? Er will <strong>mich</strong> heiraten! Ich meine, es spricht nichts dagegen, dass Du Dich parallel<br />
zu Deiner Jobsuche sozial engagierst. Unlängst ist der langjährige Chef und Gründervater der<br />
Regensburger Institution überraschend verstorben, wodurch sich zwangsläufig die Notwendigkeit<br />
<strong>eines</strong> Neuanfangs und speziell für Dich der ideale Zeitpunkt für einen Einstieg ergibt. Meiner<br />
Meinung nach wäre es optimal, übernähmest Du neben den üblichen Nachmittagsaktivitäten auch<br />
Aufgaben der Sozialleitung. Allerdings gäbe es im Falle D<strong>eines</strong> Interesses Probleme mit der Fahrerei.<br />
Ich habe bereits mit Maxl gesprochen, dieser <strong>sie</strong>ht leider keine Möglichkeit, Deine eventuelle<br />
Tätigkeit mit Phönix zu verbinden. Aber es müsste meiner Meinung nach möglich sein, Deine<br />
Abholung respektive Heimbringung zu organi<strong>sie</strong>ren. Also bitte gib <strong>mir</strong> Bescheid, wenn ich meinem<br />
Kumpel kontaktieren soll!<br />
Ich denke, bezüglich unseres privaten Kontakts musst Du Dir keine Sorgen machen. Der ist schon o.<br />
k., ganz egal, wie Phönix offiziell darüber denkt.<br />
So jetzt muss ich aber wirklich für heute Schluss machen.
40<br />
Alles Gute, Wo ist die fremdsprachige Abschiedsformel?<br />
Pascale<br />
Obwohl die Freude über die offensichtlich hohe Meinung des Absenders bezüglich seiner<br />
Person überwiegte, blieb in dem Herzen des Empfängers dennoch genug Platz, um Hans-<br />
Hubert Öztürks Tod innerlich zu beweinen; immerhin war dieser sein erster Chef gewesen!<br />
Nahezu sechzehn lange Jahre waren ins Land gegangen, seit er unter der Obhut des<br />
späteren Berufskollegen sein erstes 48-Stunden-Praktikum angetreten hatte; damals hatte<br />
Pascal Halbwein noch ein weitgehend sorgenfreies Leben geführt und war in<br />
Kommilitonenkreisen noch voll integriert gewesen. Doch dann wurde der Behinderte<br />
unangekündigt mit der ersten Bewährungsprobe seiner beruflichen Laufbahn konfrontiert.<br />
Zwei Stammbesucherinnen der Einrichtung plauderten aus, dass ihnen von einem flüchtigen<br />
Bekannten weißes Pulver angeboten war, welchem <strong>sie</strong> alles andere als ablehnend<br />
gegenüber gestanden hatten. Hans-Hubert hatte sich damals zu kategorischem Eingreifen<br />
veranlasst gewesen und den ständigen Verbleib der mutmaßlich Gefährdeten in den<br />
Räumlichkeiten der Einrichtung angeordnet; zumindest während der Öffnungszeiten hatte<br />
diese Dienstanweisung den Status <strong>eines</strong> Dogmas inne! Es war nun die ständige Aufgabe<br />
des körperlich beeinträchtigten Praktikanten, sich vor die Tür zu stellen und eine Flucht der<br />
beiden uneinsichtigen Mädchen zu verhindern. Die lautstarken Proteste der Betroffenen<br />
zerrten mindestens ebenso stark wie die physische Belastung an seinen Nerven, zudem<br />
verbat sein Chef jegliche Diskussion über das heikle Thema. Schließlich hatte Pascal den<br />
Druck nicht mehr standgehalten und sich sowohl seiner Mutter als auch einer heute in<br />
Herdecke lebenden Cousine vertraut; beide Frauen wohnten damals schon mehrere hundert<br />
Kilometer von seinem Arbeitsplatz entfernt. Während die Ältere sich dafür aussprach, den<br />
zwei Jugendlichen eine zweite Chance zu geben, plädierte die Jüngere für einen rigorosen<br />
Ausschluss der beiden Heranwachsenden. Letztendlich spielten jedoch beide Meinungen<br />
mehr, denn vom Zeitpunkt des Gespräches an erhielt der zwischenzeitlich ehrenamtlich<br />
Wirkende keine Einladung zu den vierzehntägigen Teamtreffen mehr! Mit dem offenbar<br />
Geschmähten wurde kein Kontakt aufgenommen geschweige denn ein Grund für die<br />
ablehnende Haltung seiner Person gegenüber genannt. Der Rollstuhlfahrer wurde zum<br />
wiederholten Male von der Horrorvision heimgesucht, zusammen mit allen anderen<br />
Behinderten Deutschlands unter heimlicher Dauerbeobachtung zu stehen; jegliches hierbei<br />
entdeckte Detail, und sei es noch so privat oder gar intim, wurde sämtlichen Personen in<br />
seinem Umfeld mitgeteilt; die ausführende Organisation oder Person ging hier sogar noch<br />
penibler und raffinierter als früher die Staatssicherheit in der DDR vor. Besonders stark hatte<br />
ihn dieses Gefühl nach der herben Enttäuschung mit Manuel gequält. War es möglich, dass<br />
der damalige Zivi um seiner weit zurück in der Pubertät liegenden Seriensucht gewusst hatte<br />
und ihm mittels dem Ausplaudern von „Familiengeheimnissen“ eine private Freundschaft<br />
vorgeheuchelt hatte, nur um von seinem Klienten diverse Annehmlichkeiten hinsichtlich<br />
s<strong>eines</strong> Arbeitsalltags zu erhalten? Waren z. B. die Geschichten über die Liebesbeziehungen<br />
von Manuels Schwester oder gar den aufgrund des Vorwurfs der fahrlässigen<br />
Körperverletzung geführten Prozess gegen Jaruslav Banker wirklich aus purer Berechnung<br />
erzählt worden? Natürlich war ihm bezüglich seiner Tätigkeit beim a.a.a. bewusst, dass er<br />
mit besagten Telefonaten nicht nur streng genommen seine Schweigepflicht verletzt hatte,<br />
doch war er sich relativ sicher, dass keine seiner beiden Schutzbefohlenen jemals mit seinen<br />
zwei Beichtmüttern in Berührung kommen würde, wodurch sich die eigentlich gesetzwidrigen<br />
Aussprachen egali<strong>sie</strong>rten. Dennoch wurde sein Herz einen letzten Rest von schlechtem<br />
Gewissen nie verlustig.<br />
Während s<strong>eines</strong> Jahrespraktikums bei der Regensburger „Lebenshilfe e. V.“ hatte Pascal<br />
Halbwein fatalerweise von Beginn an mit der berühmten Axt im Walde blind um sich<br />
geschlagen und damit bei weitem nicht nur Bäume gefällt. Er hatte damals einfach nicht<br />
anders gekonnt; nur allzu frisch waren nach noch nicht einmal drei Jahren die Erinnerung an<br />
die Internatszeit und das starre Regelwerk, welches das mehr oder weniger freiwillige<br />
Zusammenleben unzähliger verschiedener Charaktere überhaupt erst möglich machte und<br />
sich somit längst als absolut notwendige Begleiterscheinung entpuppt hatte. Das manchmal<br />
autoritäre Auftreten der Pflegedienstleitung des Ludwig-Thoma-Heims hielt indirekt die<br />
Erinnerung an dieses Jahrzehnt s<strong>eines</strong> Lebens stetig wach. Nun auf der anderen Seite <strong>eines</strong>
41<br />
ähnlich straffen Systems stehend, hatte es der Student als sein gottgegebenes Recht<br />
angesehen, die Heimbewohner in gehobener Lautstärke mit Befehlen und Strafandrohungen<br />
zu traktieren; gleichzeitig fürchtete er ständig, aufgrund s<strong>eines</strong> Rollstuhls mit diesen<br />
gleichgesetzt und auf eine Stufe gestellt zu werden. Durch den mangelnden inneren Abstand<br />
zur eigenen Vergangenheit schwächte er eigenhändig seine Position; nicht selten mussten<br />
Kollegen eingreifen, wenn der Praktikant sich aufgrund der unverhohlenen Respektlosigkeit<br />
etwas pfiffigerer Schutzbefohlener zu unbedachten Worten und Taten provozieren ließ. In<br />
dieser Zeit kamen Pascal erste Zweifel, ob er wirklich das richtige Studienfach gewählt hatte;<br />
zumindest für den Gruppendienst war seine Person denkbar ungeeignet!<br />
Probleme anderer Art traten zutage, als er nach sechzehnmonatiger erfolgloser Jobsuche<br />
eine erste Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in der Verwaltung des Amtes für kommunale<br />
Jugendarbeit durchlief. Zwar hieß man den Sozialpädagogen hier herzlich willkommen, doch<br />
stellte sich schnell heraus, dass moderne Errungenschaften des Schriftverkehrs wie z. B. der<br />
Blocksatz offenbar unentdeckt an dem neuen Mitarbeiter vorbeigegangen waren. Da die<br />
während der Studienzeit abgelegten Prüfungen allein nach Inhalt und nicht nach äußerer<br />
Form beurteilt worden waren, war das diesbezügliche Wissen Pascals auf den Stand vom<br />
Beginn des sich nun zum Ende neigenden Jahrzehnts verharrt. In der Konsequenz<br />
unterliefen dem Übereifrigen besonders in den ersten Tagen und Wochen, die von seiner<br />
mütterlichen aber gestrengen Vorgesetzten nicht hingenommen werden konnte. Im Endeffekt<br />
lief es drauf hinaus, dass der Endzwanziger jegliche Anfertigung etwaiger Briefe oder<br />
sonstiger Texte zur Kontrolle vorlegen musste, ein Übergang zu selbständigeren Arbeiten<br />
fand während der gesamten 24 Monate s<strong>eines</strong> Schaffens nicht statt. Paradoxerweise<br />
brachten seine Kolleginnen ihm als Privatperson ein hohes Maß an Sympathie entgegen und<br />
bestanden geradezu darauf, dass er an Feierlichkeiten und sonstigen Unternehmungen<br />
immer und überall teilnahm. Dabei schreckten <strong>sie</strong> auch nicht vor körperlichen Anstrengungen<br />
zurück, was <strong>sie</strong> anlässlich von Betriebsausflügen zu den nicht gerade behindertengerechten<br />
hauseigenen Ferienanlagen tatkräftig unter Beweis stellten. Dies wusste Pascal Halbwein<br />
erst zu schätzen, als ihm Jahre später im Rahmen <strong>eines</strong> weiteren Ausflugs ins Berufsleben<br />
die exakt spiegelverkehrte Situation widerfuhr.<br />
Dieses Mal hatte es zwei Jahre und acht Monate gedauert, bis Pascal Halbwein erneut die<br />
Chance bekam, seinem Nutzen für die Arbeitswelt unter Beweis zu stellen. Die Aufnahme<br />
der Tätigkeit im Sudetendeutschen Musikinstitut war für den diesbezüglich wie ein Sprung<br />
ins kalte Wasser, welchem er jedoch mit Bravour meisterte. Anders als im Amt für<br />
kommunale Jugendarbeit übernahm er hier von Beginn an Eigenverantwortung, ordnete und<br />
bearbeitete die Nachlässe von entsprechenden Komponisten, um diese für die Öffentlichkeit<br />
zugänglich und verständlich darstellen zu können. Abgesehen von der energischen aber<br />
trotzdem freundlichen Bibliothekarin, welche ihm in regelmäßigen Abständen ohne<br />
besonderen Anlass ermahnte, stets gründlich und penibel zu arbeiten, überschlugen sich<br />
Chef und Vorgesetzter geradezu mit Lob, welches ihm manchmal sogar für<br />
selbstverständliche Kleinigkeiten zuteil wurde. Seltsamerweise erstreckte sich die der<br />
Arbeitskraft entgegengebrachte Sympathie nicht auf den Menschen. Zeigte der<br />
Rollstuhlfahrer z. B. Interesse an dem jährlichen Betriebsausflug des Bezirks Oberpfalz, so<br />
teilte man ihm mit, dass eine Teilnahme seiner Person aufgrund zu überwindenden<br />
Treppenstufen, sowohl im Reisebus als auch am Ausflugsziel, nicht möglich sei. Selbst seine<br />
Klassenkameraden aus der lange vergangenen Realschulzeit, denen Pascal Halbwein<br />
objektiv gesehen nie einen Grund lieferte, ihm wohl gesonnen gegenüberzustehen, hatten<br />
tatkräftig Hand gelegt, um ihren Mitschüler solchen oder ähnlichen Hindernissen zum Trotz<br />
die Teilnahme an Wandertagen bzw. sonstigen Schulaktivitäten zu ermöglichen; damals war<br />
dies aus der Sicht des Hilfebedürftigen noch sein verbrieftes Recht gewesen! Inzwischen<br />
hatte er seine diesbezüglichen Ansprüche deutlich zurückgeschraubt, wunderte sich jedoch<br />
mehr als einmal darüber, dass er ausgerechnet von den Mitmenschen die meiste Hilfe<br />
bekam, die ihn in anderen Situation kriti<strong>sie</strong>rt oder gar einen Streit riskiert hatten; dieses rote<br />
Wollknäuel war bis heute in seinem Leben allgegenwärtig. Trotz dieser verwirrenden<br />
Erkenntnisse war Pascal froh, als sein Arbeitsvertrag nach einem Jahr um ein weiteres<br />
verlängert wurde. Dieses Mal übernahm gar das Arbeitsamt Regensburg die Kosten; zuvor<br />
hatte die ZAV aus Bonn diese getragen und überhaupt den Kontakt zwischen Arbeitnehmer
und Wirkungsstätte überhaupt erst hergestellt. Wenig später kam es doch zum Eklat, als<br />
dem Institut Briefe zugespielt wurden, welche der Schriftsteller Hans Watzlik einst an Grete,<br />
die spätere Ehefrau des Komponisten Walther Hensel schrieb. Pascal hatte sich schon<br />
gewundert, den Namen des Briefeschreibers nicht im Lexikon zu finden; sein direkter<br />
Vorgesetzter, Dr. Theo Dachs hatte nach entsprechender Anfrage erklärt, dass diesem eine<br />
starke Affinität zum Nationalsozialismus nachgesagt werde. Sein Mitarbeiter stieß bei<br />
Durchsicht und Bearbeitung der Dokumente auf Textstellen, die diese in Institutskreisen<br />
offenbar unliebsame These eindeutig untermauerten. Zwar verzichtete Hans Watzlik darauf,<br />
andere Länder, Kulturen und Menschen zu diffamieren, vertrat aber energisch und<br />
kompromisslos die Auffassung, dass Deutschland weit oben über Allem und Jedem stand,<br />
was einer Abwertung vom Rest der Welt ohne jeglichen Interpretationsspielraum<br />
zwangsläufig gleichkam. Der zwischenzeitlich wissenschaftlich Ver<strong>sie</strong>rte bediente sich dem<br />
Stilmittel der eckigen Klammern, um sich von der Auffassung des Autors abzugrenzen;<br />
schließlich waren dessen Aussagen zumindest teilweise verwerflicher, als z. B. „vielleicht“<br />
nur mit einem „l“ zu schreiben. Leider missfiel seinem Vorgesetzten diese eigentlich für<br />
jedem halbwegs demokratischen Menschen selbstverständliche Aussagen; Dr. Dachs<br />
verlangte umgehend deren Löschung aus dem bearbeiteten Dokument! Dies war<br />
ausgerechnet zu der Zeit geschehen, als der Fall Markus Homann 3 durch die Medien<br />
öffentlich gemacht wurde, die Entdeckung unglücklich formulierter Briefe <strong>eines</strong> ranghohen<br />
Bundeswehrangehörigen betonte die Dringlichkeit der geführten Diskussion. Sich davor<br />
fürchtend, ebenfalls in diese politische Ecke gedrängt zu werden, tauschte Pascal lediglich<br />
die eckigen Klammern gegen Fußnoten auszutauschen. Diese Abmilderung seiner<br />
dienstlichen Anweisung kommentierte Dr. Theo Dachs mit keinem einzigen Wort, behandelte<br />
seinen Untergebenen aber fortan so, als habe ihn dieser persönlich beleidigt. Wie ein Blitz<br />
traf den verwirrten Arbeitnehmer der Vorwurf, sein Fahrdienst parke beim Bringen und<br />
Abholen verkehrswidrig; diese jeweils nur wenige Minuten dauernden Aktionen wurden von<br />
den Verantwortlichen seit Jahr und Tag immer auf dieselbe Weise und immer an gleicher<br />
Stelle durchgeführt. Pascal Halbwein fühlte sich beiden Seiten verpflichtet und kam erst aus<br />
der Bredouille, als er, genervt von den gegenseitigen Vorwürfen, beim Fahrdienstleiter anrief<br />
und diesem mit dem neuerdings ungnädigen Vorgesetzten verband; nach Beendigung des<br />
Gesprächs wurde besagtes Thema nie mehr berührt. Unglücklicherweise wurde der<br />
schwelende Konflikt auch nicht angesprochen und aus der Welt geschafft, denn <strong>eines</strong><br />
<strong>Tages</strong> wurde Dr. Dachs ins Krankenhaus eingeliefert; die Ärzte stellten Darmkrebs fest.<br />
Kurze Zeit nach Beendigung seiner Arbeitsbeschaffungsmaßnahme erhielt der nun wieder<br />
Erwerbslose eine Todesanzeige. Aber schon zu Zeiten seiner Beschäftigung fragte sich der<br />
Verunsicherte, ob der Streit anders verlaufen wäre, wenn er von den gesundheitlichen<br />
Problemen des Universitätsprofessors gewusst und in der Konsequenz auf Selbige hätte<br />
Rücksicht nehmen können. Aber trotz dieser negativen Episode trauerte Pascal noch diesen<br />
zwei Jahren nach, in dem er seinen individuellen Fähigkeiten entsprechend erstklassige<br />
Arbeit abgeliefert hatte und sogar im Gegensatz zu seinen sonstigen Einsätzen mit einem<br />
sehr gutem und exzellenten Zeugnis belohnt worden war.<br />
09.04.2008, 14.00 Uhr<br />
Hallo Pascale,<br />
schön, dass Du <strong>mir</strong> soviel zutraust. Natürlich würde ich <strong>mich</strong> freuen, wenn Du mit Deinem Kumpel<br />
reden könntest.<br />
Danke,<br />
Pascal<br />
10.04.2008, 13.00 Uhr<br />
Hallo Pascal,<br />
also gut, werde mit Karl-Otto quatschen!<br />
Ich melde <strong>mich</strong>,<br />
Pascale<br />
3 Markus Homann erdreistete sich während einer Rede, die Juden als „Tätervolk“(II. Weltkrieg) zu bezeichnen.<br />
42
43<br />
Die Abschiedsworte interpretierte der glückselige Empfänger als Bitte zu warten, bis der<br />
Absender oder der Arbeitskreis ausländischer Arbeitnehmer von sich aus den Kontakt<br />
(wieder) aufnahmen.<br />
22.04.2008, 11.00 Uhr<br />
Der Akademiker wusste, dass es falsch war; trotzdem verschmolzen in seiner Phanta<strong>sie</strong><br />
Pascale Lishnevska und Alexander Ruhrpöttl mindestens einmal täglich zu einer Person.<br />
Immerhin verband ihn mit beiden Männern der Luxus <strong>eines</strong> fröhlichen und unbeschwerten<br />
Zeitvertreibs, während z. B. bei Wolfgang Ziege das Problem seiner Arbeitslosigkeit oder bei<br />
Josef Schwarz Fußball das Thema war. Doch in den letzten Wochen hatte keiner der zwei<br />
Studenten Zeit für den Vernachlässigten gehabt, da <strong>sie</strong> jeweils mit einem arbeitsintensiven<br />
Projekt beschäftigt waren. Bezüglich Alex hatte Pascal dafür sogar noch großes Verständnis,<br />
war doch der Bau <strong>eines</strong> neumodischen Autos Bestandteil s<strong>eines</strong> Studiums der Architektur,<br />
welches er angesichts der aktuellen Wirtschaftslage und einer gesunden Portion Ehrgeiz<br />
verständlicherweise so gut wie möglich abschließen wollte. Außerdem war der Kontakt mit<br />
dem heute Sechsundzwanzigjährigen immer auf rein privater Ebene erfolgt; der dienstliche<br />
Charakter der Bekanntschaft mit dem Medizinstudenten wurmte den Klienten nach wie vor,<br />
zumal die Pläne B bis T, die Wiederbelebung alter Bekanntschaften, kläglich gescheitert<br />
waren. Zu der Sehnsucht nach Pascale gesellte sich nun die Angst, auch noch Alex zu<br />
verlieren; die Beziehungen zu Curd und Olaf hatten durch die räumliche Trennung ja<br />
schließlich auch einen derartigen Schaden erlitten, dessen Ausmaß zuvor von den<br />
Betroffenen ins Reich der Fabeln verwiesen worden war. Die Ähnlichkeit der zwei<br />
Charaktere verleitete beinahe dazu, die fehlende Nähe des Einen durch ein Treffen mit dem<br />
Anderen zu kompen<strong>sie</strong>ren; dabei hatte er für Alex zu keiner Zeit romantische Gefühle<br />
gehegt. Doch zwischenzeitlich war seit ihrem letzten Wiedersehen mindestens ein<br />
Dreivierteljahr ins Land gegangen.<br />
Hallo Alex, ist Dir bewusst, dass wir uns nun schon fast ein Jahr lang nicht<br />
gesehen haben. Wenn Dir unsere Freundschaft noch etwas bedeutet, dann komme bitte<br />
über den Feiertag (1.Mai) nach Regensburg! Es ist wirklich sehr wichtig für <strong>mich</strong>!<br />
Servus, Pascal<br />
24.04.2008, 15.00 Uhr<br />
Pascal Halbwein hatte auf der ganzen Linie versagt. Obwohl sein Problem dieses Mal<br />
hauptsächlich zweibeiniger Natur war, hatte die längst überwunden geglaubte Hundephobie<br />
wieder mal die Oberhand gewonnen und während des gesamten Termins sein Wohlbefinden<br />
empfindlich gestört. Dabei war es von Anfang an klar gewesen, dass Maximilian Sommer die<br />
selbst initiierte Übernahme des Münchner Projekts eigenhändig überwachte und begleitete.<br />
Vielleicht erinnerte dem ehemaligen Internatsschüler die ganze Situation einfach nur an die<br />
nicht immer unproblematische Jugendzeit. Während des gesamten Treffens wurde deutlich,<br />
dass die Urheber des „Perspektivwechsels“ von den beiwohnenden Mitarbeitern erzogen<br />
und nicht nur gepflegt wurden. Besonders großes Unbehagen bereitete ihm der mitgereiste<br />
Busfahrer, dessen Aktivitäten offensichtlich weit über seine Pflichten hinausgingen und der<br />
auch an den Teamsitzungen und sonstigen Aktionen des Vereins teilnahm. Dieser führte<br />
immer einen kleinen weißen Hund mit, welchen er offenbar stets frei herumlaufen lief. Von<br />
Pascal gebeten, diesen nicht aus dem Gebäude zu bringen sondern lediglich an die Leine zu<br />
nehmen, herrschte er diesen in unverschämter und mittels unangebrachten Gebrauchs des<br />
Wortes „Du“ vorgebrachten Weise an, nicht so laut zu reden. Dieser Zusammenstoß schürte<br />
zusätzlich die Nervosität des subjektiv gesehen zu Unrecht Kriti<strong>sie</strong>rten und trug wohl kaum<br />
dazu bei, Ruhe zu bewahren, wenn das besagte Tier unvermittelt und überraschend neben<br />
ihm auftauchte oder gar durch seine Beine hindurch lief.<br />
Maxl Sommer nahm ihm das offensichtliche Wiederaufflammen seiner Hundephobie nicht<br />
übel; dennoch empfand der Klient seine Gegenwart als beklemmend und unbehaglich.<br />
Dabei hatte der stellvertretende Pflegedienstleiter dem Anderen bereits auf der Hinfahrt<br />
gefragt, ob dieser mal wieder etwas von Pascale gehört habe und ihm dahin indirekt zu<br />
<strong>verstehen</strong> habe, dass er von dem privaten Kontakt zwischen den beiden Männern wusste<br />
und selbigen nichts entgegenzusetzen hatte. Aber nichtsdestotrotz verstärkte sein Anblick
44<br />
sowohl die Sehnsucht nach dem Medizinstudenten als auch den Drang, die Aufrichtigkeit<br />
und Uneigennützigkeit seiner freundschaftlichen Bestrebungen unter Beweis zu stellen.<br />
30.04.2008, 16.30 Uhr<br />
Nach drei Wochen zerriss der Geduldsfaden nach mehrtägiger Vorwarnung seinerseits mit<br />
einem lauten Knall! Zudem regte sich Pascals sozialpädagogisch beschwertes Gewissen,<br />
weil er nicht bereits selbst beim Arbeitskreis ausländischer Arbeitskreis ausländischer<br />
Arbeitnehmer angerufen hatte. Aber die Formulierungen in der letzten E-Mail Pascales<br />
hatten ihn zum Warten verdammt. Doch bald begannen die Pfingstferien, und es wäre<br />
sinnvoll, den ominösen Karl-Otto vorher noch zu kontaktieren. Leider ließ es der immer<br />
stärker werdende Wunsch nach einem Wiedersehen nicht zu, sich bei Abfassung der<br />
obligatorischen E-Mail allein und ausschließlich mit diesem Thema zu befassen:<br />
Hallo Pascale,<br />
ich wollte nur mal nachfragen, ob Du zwischenzeitlich mit Deinen Freund über eine eventuelle<br />
Beschäftigung meiner Person beim a.a.a. gesprochen hast. Ich wäre an einer dortigen Tätigkeit<br />
interes<strong>sie</strong>rt; das ewige Herumsitzen bringt <strong>mich</strong> noch um! Übrigens kenne ich den Verein schon sehr<br />
lange; dort habe ich vor 16 Jahren unter Hans-Hubert mein erstes 48-Stunden-Praktikum absolviert.<br />
Allerdings handelt es sich bei der anstehenden Entscheidung auch um eine Kostenfrage; ich kann <strong>mir</strong><br />
regelmäßige Taxifahrten auf eigene Rechnung schlichtweg nicht leisten.<br />
Jetzt dauert es ja nicht mehr lange, bis die Fußball-EM beginnt. Es würde <strong>mich</strong> wirklich, wenn wir uns<br />
wie verabredet ein Spiel gemeinsam anschauen uns bei dieser Gelegenheit gleichzeitig auch wieder<br />
sehen könnten. Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen enttäuscht, dass Du die Betreuung von Kevin nicht<br />
wie angekündigt im März hast auslaufen lassen und anschließend zu Phönix zurückgekehrt bist. Damit<br />
hast Du gewissermaßen den schnöden Mammon über ein gegebenes Wort respektive Versprechen<br />
gestellt. Ich hatte wirklich fest damit gerechnet, dass Du ab dem Frühlingsanfang wieder bei <strong>mir</strong><br />
arbeitest. Aber ich verstehe natürlich auch, dass die Arbeit mit schwierigen Jugendlichen Dich mehr<br />
ausfüllt.<br />
Nix für ungut,<br />
Pascal<br />
Unmittelbar nach der raschen Entsorgung des vermeintlich unbrauchbar gewordenen Garns<br />
meldete sich eine altvertraute Nähnadel per Handy zu Wort; der selten gehörte Klingelton<br />
überraschte und erfreute den Traurigen zugleich. „Grüß Gott Pascal!“, frohlockte Alex<br />
Ruhrpöttls Stimme, „Ich befinde <strong>mich</strong> gerade auf einer Stippvisite in Bad Abbach und wollte<br />
fragen, ob ich morgen bei Dir kurz vorbeikommen könnte.“ „Natürlich!“, der Angerufene<br />
konnte froh sein, dass die Luftsprünge s<strong>eines</strong> Herzens nicht seine Stimme übertönten, „Soll<br />
ich Kaffeekochen, oder wollen wir morgen etwas zusammen unternehmen?“ „Leider soll es<br />
ja morgen den ganzen Tag regnen.“, zeigte sich der Architekturstudent eher skeptisch, „Aber<br />
wir werden sehen.“ Nach Abschwellung des anfänglichen Wohlbefindens schlich sich auch<br />
ein negativer Gedanke in das Gefühl der freudigen Erwartung mit ein: Hatte Alex sich durch<br />
die empfangene SMS zu einem Besuch in Regensburg genötigt oder, härter formuliert, gar<br />
erpresst gefühlt?<br />
01.05.2008, 15.00 Uhr<br />
Trotz strahlenden Sonnenscheins wurde die Kaffeemaschine in Betrieb genommen; der<br />
erwartete Gast klingelte pünktlich an der Tür. „Schön, dass es endlich mal wieder geklappt<br />
hat!“, der Ankömmling trug dem manchmal etwas hektisch wirkenden Kumpel offensichtlich<br />
nichts nach, „Aber dieses Projekt lässt <strong>mir</strong> wirklich kaum Zeit für Familie und Freunde.<br />
Wahrscheinlich werde ich im Sommer zum zweiten Mal in Folge meine Semesterferien<br />
opfern müssen!“ „Du Armer!“, zeigte der Gastgeber ehrliches Mitgefühl, „Und dann zwinge<br />
ich Dich mittels zahlreicher Telefonate und SMS, <strong>mich</strong> zu besuchen.“ „Du hast <strong>mich</strong> zu<br />
überhaupt nichts gezwungen!“, wiegelte Alexander Ruhrpöttl im ehrlichen und<br />
überzeugenden Ton ab, „Ich freue <strong>mich</strong> immer, wenn Du anrufst. Meinetwegen können wir<br />
jeden Tag miteinander telefonieren!“ Das wäre mit der Zeit garantiert für ihn zu nervig und für<br />
<strong>mich</strong> zu teuer! „Übrigens hatte unsere Gruppe kürzlich Besuch vom Deutschen<br />
Sportfernsehen.“, schwärmte der zukünftige Architekt nach einer sekundenlangen Pause,<br />
„Sie haben einen Beitrag über die Entstehung unseres Autos gedreht. Über den Sendetermin
45<br />
ist allerdings noch nicht entschieden!“ Wenn der feststeht, muss ich den Film unbedingt auf<br />
DVD brennen! „Bildet dieses Unterfangen auch gleichzeitig den Abschluss D<strong>eines</strong><br />
Studiums?“, hakte Pascal nicht ohne Sorge nach. „Gott bewahre!“, Alex lachte auf, „Ich<br />
werde die Universität noch einige Zeit mein zweites Zuhause nennen. Vor allem steht im<br />
nächsten Jahr die Diplomarbeit an. Bei der gedanklichen Durchsicht infrage kommender<br />
Themen kam <strong>mir</strong> übrigens die Idee, selbst einen Rollstuhl zu entwerfen. In diesem Fall<br />
könnte ich eventuell Deine Hilfe brauchen.“ Dieser Satz tröstete Pascal Halbwein nicht nur<br />
über die Kürze des Besuches hinweg, sondern ließ ihm auch einen Silberstreifen am<br />
Horizont seiner Zukunft erkennen. In welcher Beziehung würde er heute zu Pascale<br />
Lishnevska stehen, wäre er dem Medizinstudenten z. B. in der privaten Atmosphäre einer<br />
Fußballkneipe begegnet? Hätten <strong>sie</strong> dann eine wirklich eine unbelastete Freundschaft<br />
aufbauen können, oder wüsste der Eine allein schon aus Mangel an Zeit und Gelegenheit<br />
nicht mehr, wie der Andere hieß?<br />
02.05.2008, 13.45 Uhr<br />
Die Spastik hatte wie üblich seine Gefühle verraten; allein <strong>sie</strong> verhinderte auch immer eine<br />
Bewerbung bei WWM. Den Stuhl in der Mitte würde er relativ schadlos überstehen; der<br />
Verbleib in der ursprünglich zehnköpfigen Runde stellte den Kern des Problems dar.<br />
Aufgrund verlangsamter Motorik nur dann eine Chance auf die Million zu haben, wenn man<br />
als Einziger die richtige Reihenfolge zustande bekam, war das kleinere und weniger<br />
peinliche Übel, doch es konnte objektiv gesehen von Sender und Zuschauern unmöglich<br />
hingenommen und akzeptiert werden, wenn ein Kandidat bei der Beantwortung der Fragen<br />
von Geräuschen und sichtbaren Zuckungen <strong>eines</strong> Konkurrenten belästigt wurde, die<br />
eindeutig auf Antipathie zurückzuführen waren. Dem 78jährigen Studenten oder auch der<br />
älteren ehemaligen Haremsdame hätte er stundenlang ruhig zuhören können (500.000-,-€-<br />
Gewinner waren quer durch die Bank sowieso ausnahmslos die sympathischsten<br />
Quizteilnehmer!); doch wenn jemand sich nicht schämte, „Privatier“ als Beruf anzugeben und<br />
somit der Gesellschaft freiwillig auf der Tasche lag, für diese Dreistigkeit auch noch vom<br />
Moderator gelobt wurde und von diesem eine Frage mit vierstelligem Wert ohne Joker<br />
beantwortet bekam anstatt, wie es sich gehören würde, mit Schimpf und Schande aus dem<br />
Studio gejagt zu werden, hörte der Spaß wirklich auf!<br />
Heute hatte ihn allerdings nicht Günther Jauch, sondern die Aushilfe Tim Ostermann ein<br />
wenig erregt. Dieser hatte bereits am gestrigen Himmelfahrtstag bei ihm gearbeitet und dem<br />
ihm bis dato unbekannten Klienten unmittelbar nach der Begrüßung quasi angemeckert, weil<br />
dieser am besagten Datum keinen Kirchgang geplant hatte. Ganz abgesehen davon, dass<br />
Pascal Halbwein sich der Römisch-Katholischen Kirche seit dem Tag seiner Geburt stark<br />
verwurzelt fühlte, lehnte er es ab, mit einem völlig Fremden über dieses intime Thema zu<br />
diskutieren. Zudem war Tim auch durch die Bekanntschaft mit Maxl Sommer zu Phönix<br />
gekommen und war obendrein bereits in der Jugendarbeit tätig gewesen. Pascal<br />
erschauderte bei dem Gedanken, dass der Andere eventuell bei sozialpädagogischen<br />
Experimenten mitgewirkt hatte, die er aufgrund seiner eigenen Biographie, seiner Ausbildung<br />
und last but not least der Lebensleistung seiner Mutter schlichtweg beim besten Willen nicht<br />
gutheißen konnte. Allerdings würden ihm weitere Zusammenkünfte zukünftig wohl erspart<br />
bleiben, denn der Student schickte sich bereits an, eine besser bezahlte Stelle anzutreten. In<br />
über fünfundzwanzig Jahren Fremdbetreuung hatte Pascal keinem Mitarbeiter über die<br />
finanzielle Perspektivlosigkeit des Jobs klagen hören und handeln sehen; seit Maxl die<br />
stellvertretende Pflegedienstleitung übernommen hatte, war ihm eine derartige<br />
Argumentation bereits dreimal zu Ohren gekommen. Tim Ostermann wartete das Ende<br />
s<strong>eines</strong> Arbeitsvertrages gar nicht ab, sondern meldete sich zum nächstmöglichen Zeitpunkt<br />
krank. Beruhte diese Entscheidung auf tatsächlichem Unwohlsein oder auf einer tiefen<br />
Abneigung gegen den gelernten Sozialpädagogen?<br />
05.05.08, 10.30 Uhr<br />
Der Baldrian erhöhte entgegen seiner sonstigen Angewohnheit den Blutdruck. Zu ungewohnt<br />
früher Zeit und Stunde kontrollierte Pascal Halbwein seine E-Mails, die erhoffte Nachricht<br />
wartete bereits seit drei Tagen darauf, von ihm gelesen zu werden:
Grüß Dich Pascal,<br />
zunächst einmal: ich habe mit Karl-Otto geplaudert, und er ist der Meinung, dass Du Dich am besten<br />
selbst bei ihm meldest. Die E-Mail-Adresse des a.a.a. findest Du im Anhang.<br />
Deinem Vorwurf bezüglich des von <strong>mir</strong> mutmaßlich nicht gehaltenen Versprechens empfinde ich<br />
ehrlich gesagt als etwas ungerecht; immerhin bemühe ich <strong>mich</strong> momentan trotz meiner anderweitigen<br />
Verpflichtungen, Dir eine Beschäftigung zu verschaffen. Dabei stehe ich momentan unmittelbar davor,<br />
mit meiner Doktorarbeit zu beginnen! So früh schon? Verfügt er denn jetzt schon über das hierfür<br />
notwendige Fachwissen? Es war auch nie die Rede davon, die Betreuung Kevins im Februar auslaufen<br />
zu lassen geschweige denn zu beenden. Es wird vielmehr angestrebt, auf bisher erzielte Erfolge<br />
aufzubauen! Auch gibt es für meine Weiterbeschäftigung einen Grund, den Du selbst bei einer<br />
oberflächlichen Betrachtung der Realität auf Anhieb erkennen solltest: Geld! Immerhin muss ich<br />
irgendwie meinen Lebensunterhalt finanzieren. Unzählige Studenten vor ihm haben diesem Plan durch<br />
die Arbeit bei Phönix in die Tat umgesetzt! Als ob diese Belastung allein nicht schon groß wäre, hat<br />
<strong>mich</strong> Vater Staat obendrein zur Zahlung von Steuern verpflichtet. Ich möchte Dir also dringend<br />
empfehlen, Dich baldmöglichst an der Wirklichkeit zu orientieren. Und steigere Dich bitte nicht so<br />
stark in etwas hinein! Vielleicht hilft Dir die Tätigkeit beim a.a.a. dabei. Die dort betreuten Kinder<br />
haben ein so sonniges Gemüt; wenn <strong>sie</strong> Dich anlächeln, erübrigt sich jede Kur!<br />
Viele Grüße<br />
Pascale<br />
Der Leser schluckte. Derartige Vorhaltungen waren ihm zuletzt gegen Ende seiner<br />
zugegeben spät auslaufenden Pubertät gemacht worden. Damals war der oft unglückliche<br />
Internatsschüler in die Traumwelt der Schönen und Reichen geflohen, deren Ölfirmen<br />
Weingüter etc. er sowieso besser als die jeweiligen Erben leiten könnte. Allein die<br />
Fiktionalität der handelnden Charaktere machte natürlich die Annahme <strong>eines</strong> potentiellen<br />
Jobangebots unmöglich. So konzentrierten sich Pascals Gedanken notgedrungen auf real<br />
existierende Chefetagen oder auch politisch relevante Ämter in der damaligen Hauptstadt<br />
Bonn. Es war ein langer und mühseliger Prozess gewesen, behinderungsbedingte Grenzen<br />
zu erkennen und zu akzeptieren; Erzieher, Heimleitung, seine Cousine Cordula und natürlich<br />
auch seine Mutter hatten bis zu dessen Vollendung mentale Schwerstarbeit geleistet. In<br />
seiner heutigen Lebenssituation wäre er froh, in einem Büro halbtags Briefe tippen zu<br />
können. Aber manchmal sehnte sich der nun fast Vierzigjährige nach der Unbeschwertheit<br />
der Tage, als z. B. die Position des Bundeskanzlers noch in Reichweite zu sein schien.<br />
Derartige Phanta<strong>sie</strong>n wären zwar dem Beenden seiner Arbeitslosigkeit bestimmt nicht<br />
förderlich; mit denselben würde es ihm aber unter Umständen wenigstens fünf Minuten am<br />
Tag besser gehen. Doch akut wurmte Pascal Halbwein der Gedanke, dass all die Jahre des<br />
Arbeitens an der eigenen Person vergeblich gewesen sein konnten. Ungeachtet der<br />
morgendlichen Stunde nahm er sein Handy und wählte zum ersten Mal in diesem Jahr die<br />
Nummer Pascales. „Hallo Pascale, ich habe erst heute Deine E-Mail bekommen.“, hielt der<br />
Anrufer gar nicht erst mit Vorreden auf, „Mir ist bei einigen Passagen unklar, wie <strong>sie</strong> gemeint<br />
sind. Können wir darüber reden?“ „Pascal, ich sitze gerade in der Vorlesung.“, die Tonfall<br />
des Gesprächspartners war freundlich, beinhaltete aber auch die Vermutung, dass der<br />
Andere um die Besonderheit dieser <strong>Tages</strong>zeit hätte wissen müssen, „Ich bin heute noch bis<br />
17.00 an der Uni. Können wir anschließend darüber reden?“ Warum schaltet er während den<br />
Vorlesungen nicht sein Handy aus? Dieser Bitte hatte der Ungeduldige nichts<br />
entgegenzusetzen. Doch sein Gemütszustand ließ keinerlei Beruhigung zu. Wie beurteilten<br />
die beiden (teilweise) Eingeweihten den Stand der Dinge? Dem an Curd Stangler und Nina<br />
Pfefferkorn weitergeleiteten Text steuerte er folgende Gedankengänge bei:<br />
Hallo,<br />
ich habe heute folgende Mail von Pascale bekommen und bin dementsprechend beruhigt. Habe ich<br />
ihm verschreckt und folglich verloren? Was meinst Du?<br />
Servus,<br />
Pascal<br />
Zum Glück vergaß er nicht, Karl-Otto auf gleichem Wege aber natürlich mit<br />
unterschiedlichem Inhalt um ein Gespräch zu bitten.<br />
05.05.2008, 16.00 Uhr<br />
46
47<br />
Den ersten Kontakt mit Sandra Engelhardt hatte sich Pascal Halbwein stets in den<br />
schillerndsten Farben ausgemalt; doch letztendlich wurde das Bild ausschließlich mit Bleistift<br />
gezeichnet. Beim nochmaligen Lesen der Mail hatte er voller Freude festgestellt, dass<br />
Pascalandra inzwischen über einen Kosten sparenden Festnetzanschluss verfügte. In der<br />
Hoffnung, dass einige spätere Lehrveranstaltungen des Fachbereichs Medizin irgendeinen<br />
unvorhergesehenen Anlass zum Opfer gefallen waren, ließ er das dazugehörige Gerät<br />
klingeln. Doch statt des erwarteten Anrufbeantworters war die allzu menschliche<br />
Herzensdame des Medizinstudenten zu hören. „Pascale schläft gerade.“, der Klang kam<br />
dem Anrufer ferner ohne Worte zu <strong>verstehen</strong>, dass die Krankenschwester ganz genau<br />
wusste, wer er war? Kann <strong>sie</strong> ihn denn nicht wach küssen? Doch eine geheime in Sandras<br />
Stimme mitschwingende Zutat verbat unausgesprochen die Verbali<strong>sie</strong>rung dieses<br />
Gedankens und jeglichen sonstigen Widerspruchs. Ursprünglich hatte Pascal geplant, die<br />
Krankenschwester beim ersten Zusammentreffen mit seinem Wissen über ihre Parsberger<br />
Herkunft und sonstige private Details zu verblüffen, nun hatte er nach einem kurzen<br />
Abschiedsgruss wieder aufgelegt. Hoffentlich hielt ihn die mutmaßlich zukünftige Frau<br />
Lishnevskowa nicht für allzu unfreundlich. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass eine<br />
Zusammenkunft seiner Person mit dem jungen Paar erfolgte.<br />
05.05.2008, 19.30 Uhr<br />
Der Abenddienst hatte sich am heutigen Tag wirklich über Gebühr hingezogen, nun hatte der<br />
Alleingelassene endlich wieder die Möglichkeit zu telefonieren. Doch sowohl Fest- als auch<br />
Mobilfunknetz hielten jeweils nur das Freizeichen für ihn parat; mit jedem Ton steigerte sich<br />
sein aufflammender Zorn. Waren Pascale und er nicht fest zum Gespräch verabredet<br />
gewesen? Warum meldete sich dieser dann nicht? In seiner Not versuchte der<br />
Rollstuhlfahrer den Gesuchten bei dessen Eltern respektive in den Räumlichkeiten in der<br />
Jugendwohngruppe von „Betreutes Wohnen Neumarkt“ zu erreichen, erzielte bei diesen<br />
Versuchen aber kein anderes Ergebnis. Zu dem Wunsch, endlich mal wieder mit Pascale<br />
Lishnevska spazieren zu gehen oder auch nur unbekümmert zu flachsen, kam die Angst<br />
dazu, dass die langwierige Arbeit an der Reduzierung und Ausmerzung seiner<br />
Charakterschwächen vergebens sein könnten. Hatte er nach Jahren der Zurückhaltung<br />
wieder einen lieb gewonnenen Bekannten allzu sehr bedrängt? Von dieser Ungewissheit<br />
gequält, rief er schließlich Maxl Sommer an, nicht in dessen Funktion als stellvertretender<br />
Pflegedienstleiter sondern aufgrund des beneidenswerten Privilegs, sich als guter Freund<br />
des zukünftigen Arztes bezeichnen zu dürfen. „Hier ist er nicht!“, war jedoch die lapidare<br />
Antwort des Angerufenen; der Klang der Stimme ließ eine eventuelle Verärgerung nicht<br />
zwangsläufig vermuten. Der Gedanke, dass jetzt sowieso alles egal sei, verleitete den<br />
Verärgerten anschließend zu folgender SMS:<br />
Hallo Pascale, wo bist Du? Wir waren doch verabredet. Muss ich erst mit einem<br />
teuren Taxi zu Deiner Wohnung fahren und dort auf Dich warten, damit ich mit Dir<br />
reden kann? Bitte melde Dich, Pascal<br />
„Ich habe Deinen Anruf schon erwartet.“, verriet Curd Stangler freundlich aber bestimmt,<br />
„Allerdings glaube ich, dass Du mal wieder aus einer Mücke einen Elefanten machst!“ „Ich<br />
habe Dir doch heute Pascales E-Mail geschickt.“, widersprach der Anrufer mit äußerster<br />
Skepsis, „Ich glaube, zwischen den Zeilen zu lesen, dass er keine Lust mehr hat, die<br />
Verbindung zwischen uns weiter aufrechtzuerhalten. Auch scheint er <strong>mir</strong> die Beantragung<br />
meiner Kur übel zu nehmen.“ „Den diesbezüglichen Satz habe ich auch nicht verstanden.“,<br />
räumte Curd ein, „Allerdings habe ich insgesamt nicht den Eindruck gewonnen, dass er<br />
jeden weiteren Kontakt von vornherein ablehnt. Du musst nur endlich akzeptieren, dass er<br />
mit einer Vielzahl toller Projekte beschäftigt und somit zeitlich stark eingeschränkt ist.“ Wenn<br />
er momentan in Afrika wäre, hätte ich weniger Probleme!“, erläuterte Pascal Halbwein sein<br />
Gefühlsleben, „Mein größtes Problem liegt darin, dass er für einen achtzehnjährigen<br />
Rotzlöffel den Hofnarr spielt. Immerhin wurde von <strong>mir</strong> ab Vollendung m<strong>eines</strong> zwölften<br />
Lebensjahres verlangt, mit wechselnden Bezugspersonen zurecht zu kommen und <strong>mir</strong> deren<br />
Aufmerksamkeit mit bis zu zehn Gleichaltrigen zu teilen. „Ich kann <strong>mir</strong> vorstellen, dass dieser<br />
Umstand aus Deiner Lebensperspektive betrachtet schwer verständlich ist.“, gab der heutige<br />
Hochschulprofessor gegenüber den ehemaligen Internatsschüler zu, „Aber Pascale wird sich<br />
nichtsdestotrotz nicht in seine ureigenen Entscheidungen reinreden lassen. Wenn Du
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weiterhin ein gutes Verhältnis zu ihm haben willst, musst Du dies akzeptieren. So jetzt muss<br />
ich leider Schluss machen. Wir wollen nämlich Abendbrot essen -> Mohammed kommt<br />
schon fast um vor Hunger!“<br />
05.05.2008, 21.00 Uhr<br />
„Mir wurde heute eine große menschliche Enttäuschung zuteil. Kannst Du herkommen?“, in<br />
seiner Verzweiflung griff der Leidende mal wieder auf den zuverlässigsten seiner privaten<br />
zwischenmenschlichen Kontakte zurück; Wolfgang Ziege zögerte trotz der späten Stunde<br />
keine Sekunde, zu seinem traurigen Freund zu eilen. Allerdings hatte Pascal Halbwein den<br />
konservativ Denkenden nie in das schwerwiegendste Problem s<strong>eines</strong> Lebens eingeweiht;<br />
trotz wachsender Sympathie und Freundschaft war Wolfgang auch nie Bestandteil desselben<br />
gewesen. So beschrieb er den Ankömmling auch heute nur eine abgemilderte platonische<br />
Version s<strong>eines</strong> Konflikts mit Pascale, worauf sich dieser im Gegensatz zu Curd sofort<br />
hundertprozentig auf seine Seite schlug: „Der kann sich doch denken, dass Du darauf<br />
vertraust, dass er sein Versprechen hält! Wie kann er es wagen, Dir das Recht der<br />
Enttäuschung absprechen zu wollen? Obwohl der Spaziergang durch die dunkle<br />
Regensburger Nacht letztendlich eine beruhigende Wirkung mit sich brachte, konnte Pascal<br />
die Gedanken an den Medizinstudenten nicht vollends abschütteln. Daher verfasste er der<br />
immer näher rückenden Mitternachtsstunde zum Trotz folgende Bitte um Verzeihung:<br />
Hallo Pascale,<br />
es tut <strong>mir</strong> leid, dass ich heute den ganzen Tag lang etwas nervig war. Aber Dein Vorwurf bezüglich<br />
m<strong>eines</strong> mutmaßlich fehlenden Realitätssinns hat <strong>mich</strong> sehr getroffen; ich verspüre das dringende<br />
Bedürfnis, mit Dir darüber zu reden. Ich hoffe, Du weißt, dass Aufdringlichkeit sonst nicht meine Art<br />
ist.<br />
Also entschuldige bitte nochmals & Servus,<br />
Pascal<br />
06.05.2008, 10.15 Uhr<br />
Die Morgensonne hatte die Sorgenfalten der letzten Mondphase nicht zu liften vermocht. In<br />
seiner momentanen Verfassung war es ihm unmöglich, zur Krankengymnastik zu fahren; die<br />
Wichtigkeit dieses Termins zwang ihm wider alle Vernunft zum Handeln. Die leise Hoffnung,<br />
der gewünschte Gesprächspartner möge zur Stunde vorlesungsfrei haben, erfüllte sich<br />
jedoch nicht. „Pascal, ich bin heute wieder bis 16.00 Uhr an der Uni.“, die Stimme Pascale<br />
Lishnevskas klang trotz der erneuten Störung freundlich und herzlich, „Hast Du meine E-Mail<br />
von letzter Nacht noch nicht gelesen?“ Aufgeregt öffnete der Gerüffelte sein elektronisches<br />
Postfach:<br />
Hallo Pascal,<br />
nun bin ich wohl an der Reihe, <strong>mich</strong> zu entschuldigen. Ich bin gerade eben erst (um 23.30 Uhr) aus<br />
Neumarkt zurückgekommen; leider hatte ich bei diesem abendlichen Diensteinsatz mein Handy<br />
vergessen. So spät wollte ich Dich dann auch nicht mehr stören. Lass uns also morgen einen weiteren<br />
Versuch wagen!<br />
Was Deine E-Mails betrifft, so habe ich mit deren Inhalt beileibe keine Probleme. Im Gegenteil: Ich<br />
freue <strong>mich</strong>, dass wir inzwischen so ehrlich und ungezwungen miteinander umgehen können und hoffe<br />
auch zukünftig auf einen regen Gedankenaustausch.<br />
Ein mögliches Treffen bei der Fußball-EM sollten wir auf jedem Fall im Auge behalten. Auch werden<br />
wir bestimmt <strong>eines</strong> <strong>Tages</strong> mal wieder zusammen Kaffeetrinken. Aber bitte sei <strong>mir</strong> nicht böse, wenn<br />
das nicht jetzt und sofort klappt.<br />
So, jetzt muss ich aber wirklich Schluss machen, in wenigen Stunden beginnt wieder ein langer (bis<br />
16.00 Uhr) und anstrengender Studientag.<br />
Ciao,<br />
Pascale<br />
06.05.2008, 17.30 Uhr<br />
Endlich war wieder mal der richtige Zeitpunkt <strong>eines</strong> ihrer fruchtbaren Gespräche zu führen;<br />
der Anrufer empfand die Stimme des Anderen als Balsam für seine Seele. „Tut <strong>mir</strong> leid, falls<br />
ich Dich gestern oder heute allzu genervt haben sollte;“, begann Pascal Halbwein nicht ohne
49<br />
Angst, „aber ich muss wissen, was Du konkret mit der Bemerkung meintest, ich lebte nicht in<br />
der Realität.“ „Damit wollte ich Dich nur bitten, die Tatsache zu akzeptieren, dass ich einfach<br />
Geld verdienen muss!“, erklärte der Andere freundlich aber bestimmt, „Vielleicht habe ich<br />
<strong>mich</strong> damals falsch ausgedrückt, aber es war nie die Rede davon, die Betreuung im März<br />
auslaufen zu lassen. Sie wird vielmehr noch bis ca. September 2009 andauern, zu diesem<br />
Zeitpunkt wird Kevin hoffentlich sein zweites Ausbildungsjahr in einer Kfz-Werkstatt beginnen<br />
und spätestens dann eigenständig leben zu können. Ich hatte ja zunächst gehofft, nach der<br />
Reduzierung meiner Zeit in Neumarkt wieder einige Stunden bei Phönix arbeiten zu können,<br />
kann diesen Plan aber vorerst nicht in die Tat umsetzen; dazu müsste mein Schützling schon<br />
vom Dach springen.“ „War er eigentlich schon mal bei Dir in Regensburg?“, in den<br />
Fragenden erwachte wieder der Unmut über das große Ausmaß, dass der ihm unbekannte<br />
Achtzehnjährige im Leben Pascales einnahm. „Wenn ich zeitlich stark eingebunden bin, reist<br />
er manchmal schon an.“, wurden seine Befürchtungen bestätigt. „Oh nein!“, stöhnte der<br />
gelernte Sozialpädagoge, „Ich finde, Du lässt Dir von Kevin viel zu sehr auf der Nase<br />
herumtanzen. Er erpresst Dich!“ „Ich erpresse ihn!“, widersprach Pascale Lishnevska in<br />
einem plötzlich sehr sanften Ton, „Pascal, Du müsstest Kevin mal sehen!“ Hilfe, das klingt ja<br />
richtig schwärmerisch! „Gerne, wenn Du ihm <strong>mir</strong> mal vorstellst!“ lautete die verbal<br />
ausgesprochene Antwort. „Dazu muss ich aber Kevin erst fragen, ob er damit einverstanden<br />
ist!“, wurde das unterbreitete Angebot umgehend wieder eingeschränkt. An Kevins Stelle<br />
würde ich eine derartige Zurschaustellung nicht über <strong>mich</strong> ergehen lassen wollen.<br />
Andererseits: Hat man <strong>mich</strong> zu Internatszeiten in ähnlichen Situationen je nach meinem<br />
Einverständnis gefragt? „Übrigens habe ich an diesem Karl-Otto vom a.a.a. eine Mail<br />
geschickt.“, wechselte der Eifersüchtige aber tief im Innern doch Verständnisvolle das<br />
Thema. „Oh gut!“, freute sich Pascale, „Den wollte ich heute sowieso anrufen und fragen, ob<br />
er mit <strong>mir</strong> bei dem schönen Biergarten geht. Heute habe ich endlich mal wieder Zeit!<br />
Natürlich für seine Freunde! Bezüglich <strong>eines</strong> eventuellen Alkoholgenusses ist ferner heute<br />
keinerlei Zurückhaltung zwingend. Sandra hat heute das gemeinsame Auto zu Schrott<br />
gefahren; Typisch Frau am Steuer! ich muss sowieso den Bus nehmen.“ „Du hast<br />
geschrieben, dass Du in Kürze mit Deiner Doktorarbeit anfangen willst?“, Pascal hoffte<br />
immer noch auf einen Irrtum, „Ist es dafür nicht noch ein bisschen früh?“ „Weiß Gott nicht!“,<br />
gab sich der Student emsig und fleißig, „Gerade jetzt habe ich noch richtig Muße, <strong>mich</strong> in<br />
der gebotenen Intensität mit einem Thema zu beschäftigen Später nehmen die<br />
verschiedenen Abschlussprüfungen jegliche freie Stunde m<strong>eines</strong> Daseins in Beschlag.“ Das<br />
klingt leider einleuchtend! Wenn er nur dann nicht noch weniger Zeit für <strong>mich</strong> hätte! „Dann hast Du ja<br />
in absehbarer Zeit keine Gelegenheit mehr, bei <strong>mir</strong> zu arbeiten.“, zeigte Pascal nun offen<br />
seine Enttäuschung, „Und dabei warst Du <strong>mir</strong> auf Anhieb sympathisch.“ „Das beruhte auf<br />
Gegenseitigkeit!“, gestand Pascale zur überschwänglichen Freude s<strong>eines</strong><br />
Gesprächspartners, „Aber wir Zwei sind ja auch nicht auf Hilfe und Unterstützung von Phönix<br />
angewiesen, um uns zu verabreden!“ „Was schwebt Dir denn konkret vor?“, der Fragende<br />
spürte, wie sich der Inhalt einer geplatzten Tüte Glückshormone sich genüsslich in seinem<br />
ganzen Körper, besonders in der unmittelbaren Herzgegend, verteilte. „Es dauert ja jetzt<br />
nicht mehr lange bis zum Anpfiff der Fußball-EM. Das dort garantiert stattfindende<br />
Viertelfinale, vielleicht sogar zwischen Deutschland und Tschechien, stellt den perfekten<br />
Anlass für eine gemeinsame Unternehmung dar. Wenn es soweit ist, werde ich <strong>mir</strong> die<br />
betreffenden Stunden freischaufeln.“ Sofern sein immer größer werdendes Volumen an<br />
Verpflichtungen dies überhaupt zulässt! Die seligmachende Komponente des zwanzigminütigen<br />
Telefonats wirkte noch Tage nach. ♫♪ Das mit uns, das wird ganz gro – ßes Ki – no, das spü – re<br />
und füh – le ich ge – nau! Das mit uns, das wird ganz gro – ßes Ki – no, wir Zwei [o – der Drei] wer –<br />
den einst un – sterb – lich sein!♪♫<br />
07.05.2008, 12.00<br />
Hallo Pascal,<br />
ich weiß auch nicht so recht, wie ich Pascales E-Mail <strong>verstehen</strong> soll und ob nun wirklich alles aus ist.<br />
Meiner Meinung nach konnte man aber herauslesen, dass er zuvor von Dir enttäuscht wurde.<br />
Bitte nimm Dir nicht alles so zu Herzen,
50<br />
Nina<br />
Die Antwort erfolgte umgehend:<br />
Hallo Nina,<br />
es ist alles wieder in Ordnung. Pascale und ich haben uns wieder versöhnt. Er toleriert sogar meine<br />
Auffassung, dass Kevin ihn ein wenig erpresst.<br />
Servus,<br />
Pascal<br />
Curds Anrufbeantworter hatte am vorherigen Tag den gleichen Wortlaut abgespeichert.<br />
07.05.2008, 13.45 Uhr<br />
„Wir haben im Team schon über Dich geredet.“, gestand Karl-Otto den Angerufenen,<br />
„Theoretisch könntest Du schon bei uns arbeiten. Dazu müsstest Du aber Deinen eigenen<br />
Betreuer mitbringen!“ Diese Einschränkung machte eigentlich jede weitere Diskussion über<br />
seine Person zur unnötigen Zeitverschwendung. Doch die unbändige Angst, im Fall einer<br />
sofortigen Absage die Gunst Pascales zu verlieren, zwang ihm dazu, seine Teilnahme an der<br />
ersten Teambesprechung nach den Pfingstferien zu vereinbaren. Aber mit Wehmut dachte<br />
Pascal Halbwein an die unbeschwerte Zeit s<strong>eines</strong> Praktikums zurück, welches ihm Hans-<br />
Hubert seinerzeit ohne derartige Auflagen ermöglicht hatte. Dieser hatte ihn bezüglich<br />
behinderungsbedingten Problemen immer zur Seite gestanden. Sein, objektiv gesehen noch<br />
nicht vollständig für seine derzeitige Aufgabe qualifizierter Nachfolger wies offenbar ein<br />
derartiges Maß an Hilfebereitschaft nicht auf. Es war in den letzten Jahren kälter geworden<br />
in Regensburg.<br />
12.05.2008, 16.45 Uhr<br />
Im Regionalzug von Nürnberg nach Regensburg unterhielten sich zwei Personen, ein<br />
Ausländer und ein politisch rechts aktiver Jugendlicher in nicht für möglich gehaltener<br />
Harmonie. Letzterer war von dem Älteren aufgegabelt und in ein aufwühlendes Gespräch<br />
verwickelt worden, in dessen Verlauf er gebeten wurde, dem Anderen nur! seinem<br />
Vornamen (Marc) zu nennen. Handelte es sich bei dem ungewöhnlichen Paar um einen<br />
Journalisten, der sich von einem Informanten wichtige Fakten für seinen nächsten Artikel<br />
erhoffte? Zufällig stiegen beide Reisende am Bahnhof Neumarkt (Oberpfalz) aus, was<br />
Pascals Phanta<strong>sie</strong> noch einen zusätzlichen kreativen Schub versetzte. Gehörte Marc, der<br />
sich darüber ereiferte, in seinem eigenen Heimatland nicht unbehelligt Anzug und Krawatte<br />
tragen zu können, vielleicht gar zum Freundeskreis des ungefähr gleichaltrigen Kevin<br />
Zimmermann? Wenn ja, inwieweit lief dann Pascale Lishnevskas Schützling Gefahr, durch<br />
seinen Kumpanen in den braunen Sumpf hinuntergezogen zu werden? Im Endeffekt ließ die<br />
Abwegigkeit s<strong>eines</strong> Gedankens dessen Haltbarkeitsdatum gegen Null streben. Wenn der<br />
junge Nachwuchspolitiker wirklich bis in die Haarspitzen fremdenfeindlich gesinnt wäre, hätte<br />
es im Zug zwangsläufig zum Eklat kommen müssen. Folglich gab es für den<br />
Sozialpädagogen keinen objektiven Grund, nach dem ausgestiegenen Jugendlichen zu<br />
forschen und sich durch eine engere Bekanntschaft innerlich von Pascale zu lösen.<br />
21.05.2008, 12.30 Uhr<br />
Trotz der großen räumlichen Entfernung von Deutschland und Belgien waren <strong>sie</strong>ben<br />
Wochen in Zeiten de Internets eine sehr lange Wartezeit; daher hatte Pascal Halbwein<br />
bereits vor einigen Tagen per E-Mail bei Philippe Leraux bezüglich der versprochenen Fotos<br />
nachgefragt. Die geschriebene Reaktion war niederschmetternd:<br />
Hallo Pascal,<br />
anbei drei Fotos von meiner Familie. Tut <strong>mir</strong> leid, dass es so lange gedauert hat. Aber kurze Zeit nach<br />
unserem Telefongespräch ist meine Mutter im Krankenhaus verstorben. Wir alle sind nach wie vor<br />
untröstlich und wissen nicht, wie es weitergehen soll. Ich bitte Dich einfach um Verständnis.<br />
So weit, so gut,<br />
Phillippe<br />
Diese Neuigkeit ließ nur eine einzige Antwort zu:<br />
Herzliches Beileid!<br />
Jede weitere oder andersartige Kontaktaufnahme mit den Trauernden verbot sich bis<br />
Weihnachten von selbst!
51<br />
29.05.2008, 20.00 Uhr<br />
Die Räumlichkeiten der ehemaligen und eventuell zukünftigen Arbeitsstätte blieben dunkel;<br />
kein Vogel flatterte ins Nest. Pascals Nerven lagen blank, war es doch mit Karl-Otto fest<br />
verabredet gewesen, dass er heute an der Teambesprechung der Arbeitsgemeinschaft<br />
ausländischer Arbeitnehmer teilnahm. Ein Irrtum im Datum war aufgrund des exakt eine<br />
Woche zurückliegenden Feiertags mehr als unwahrscheinlich! Zum Glück wohnte Jack in<br />
seiner unmittelbaren Nachbarschaft, so dass dieser den Klienten auf dem eigenen Heimweg<br />
mitnehmen konnte. Trotzdem kochte Pascal innerlich und konnte sich nicht verkneifen, mit<br />
dem Diktieren einer Nachricht einen Beweis für sein Erscheinen zu erschaffen:<br />
Grüß Gott Karl-Otto,<br />
ich war da; wo waren Sie? Wir waren doch fest verabredet! Unser gemeinsamer<br />
Bekannter hat wirklich „sehr zuverlässige“ Freunde!<br />
Servus,<br />
Pascal Halbwein<br />
Die frühe Rückkehr in seine Wohnung wurde für den Enttäuschten zum Spießrutenlauf.<br />
Seine eigentlich erfolgreich therapierte Hundephobie fand kurzzeitig wieder zur alten Stärke<br />
zurück; die Nervosität machte es ihm heute unmöglich, den Anblick von Vierbeinern zu<br />
ertragen. Neben Wut und Traurigkeit war er zudem von der angstvollen Frage beseelt, wie<br />
wohl Pascal Halbwein auf das offensichtliche Scheitern der von ihm forcierten<br />
Zusammenarbeit reagierte.<br />
30.05.2008, 14.00 Uhr<br />
Die Einführung von R-Gesprächen in Deutschland machte es möglich, aufgrund eigener<br />
Initiative Telefonate zu führen, ohne später nicht selbstverschuldete Gebühren zu müssen.<br />
Der Angerufene betätigte sich jedoch leider auf seine Frage hin als Echo: „Wo waren Sie?“<br />
„Ich war pünktlich um 20.00 Uhr in der Ostengasse.“, klärte Pascal Halbwein dem Anderen<br />
auf, „Aber außer <strong>mir</strong> war niemand sonst da!“ „Weil die Teambesprechung immer um<br />
achtzehn und nicht um acht Uhr abends stattfindet!“, wurde er unmittelbar nach seiner<br />
Beschwerde informiert. „Also vor fünfzehn Jahren war dieser Termin immer um die von <strong>mir</strong><br />
gemerkte Zeit.“, verteidigte sich der verhinderte Mitarbeiter wohl wissend, dass sein<br />
Langzeitgedächtnis ihm einen Streich gespielt hatte. „So lange ich beim a. a. a. bin, finden<br />
die Besprechungen grundsätzlich um sechs statt.“, widersprach Hans-Hubert Öztürks noch<br />
in der Ausbildung befindlicher Nachfolger, „Dann müssen wir unser Kennenlernen eben<br />
verschieben. Allerdings findet unsere nächste Besprechung im Jugendzentrum Weingasse<br />
statt; die dortigen Treppen machen eine Teilnahme Ihrerseits unmöglich!“ Wehmütig dachte<br />
der Rollstuhlfahrer an seinen verstorbenen Ex-Chef; dieser hatte die erwähnten räumlichen<br />
Gegebenheiten einst durch Tatkraft egali<strong>sie</strong>rt. Aber von einem Studenten, der in viel zu<br />
jungen Jahren allein durch den Tod <strong>eines</strong> Menschen und zumindest ohne formale<br />
Qualifikation in eine leitende Position gehievt worden war, konnte dieses soziale<br />
Engagement vermutlich wirklich nicht erwartet werden! ♪♫ Ein Loch ist im Sys – tem [und nicht<br />
im Ei – mer], Karl – Ot – to, Karl – Ot – to, ein Loch ist im Sys – tem, Karl – Ot – to, im Sys –<br />
tem!♫♪<br />
30.05.2008, 17.30 Uhr<br />
Das Schicksal hatte entschieden, dass Pascal Halbwein Leopold Schäfers Herzensdame<br />
noch vor Sandra Engelhardt kennenlernen sollte. Die Halbchinesin sprang heute für Ihren<br />
Liebsten ein, der einen Freund in einer akuten Notlage beistehen musste; im Gegensatz zu<br />
Pascale Lishnevska waren derartige Auskünfte seitens des Lehramtsstudenten eher als<br />
spärlich zu bezeichnen. Der Klient nahm den Einsatz der Ersatzhelferin mit gemischten<br />
Gefühlen wahr. Einerseits konnte er sich endlich ein Bild über Leopolds wiedergefundene<br />
Jugendliebe machen (Diese war ihrer Abstammung zum Trotz blond!); andererseits wurde er<br />
ungefragt mit dem Privatleben des ihm unter anderen Umständen viel zu sympathischen<br />
Studenten konfrontiert. Wäre nicht so sehr auf Pascale fixiert, hätte der Blondschopf den<br />
Anderem gefühlsmäßig schon gefährlich werden können. Er war zwischenzeitlich sogar dazu
52<br />
übergegangen, mit Leopold Schach zu spielen anstatt Tee zu trinken, um wenigstens einen<br />
Hauch der Atmosphäre zurück zu gewinnen, die der Dienst des Medizinstudenten einst mit<br />
sich gebracht hatte. Als Pascal Halbwein nach zwei wortkargen Stunden wieder allein in<br />
seiner Wohnung war, diktierte ihm die Sehnsucht folgende SMS,<br />
Hallo Pascale, wollte <strong>mich</strong> gestern mit Karl-Otto treffen, bloß leider habe ich mit<br />
der Zeit vertan; die Teambesprechung war nicht um 20 (so wie vor fünfzehn Jahren!),<br />
sondern um achtzehn Uhr. Sorry war ein Fehler! Richte bitte Karl-Otto meine<br />
aufrichte Entschuldigung von <strong>mir</strong> aus; ich bin leider nicht im Besitz seiner Handy-<br />
Nummer. Ich freue <strong>mich</strong> schon auf unser gemeinsam zu erlebendes Spiel während der<br />
Fußball-EM. CU, Pascal<br />
31.05.2008, 12.15 Uhr<br />
Das Ausbleiben jeglicher Reaktion auf die Kurznachricht trieb Pascal Halbwein<br />
außerplanmäßig in die virtuelle Welt. Doch anstelle Pascale Lishnevska brachte sich Caspar<br />
Speis mal wieder in Erinnerung:<br />
Grüß Gott Pascal,<br />
endlich komme ich nach Pfingsturlaub und Arbeitsstress dazu, <strong>mich</strong> für Deine Geburtstagskarte zu<br />
bedanken. Ich bin ehrlich gesagt beeindruckt, dass Du nach all den Jahren immer noch das genaue<br />
Datum weißt. Wann hast Du eigentlich Geburtstag? Das muss ich unbedingt wissen!<br />
Zwischenzeitlich habe ich <strong>mich</strong> in der Firma erkundigt, inwiefern eine Möglichkeit der Beschäftigung<br />
Deiner Person bestehe. Leider konnte man <strong>mir</strong> diesbezüglich keinerlei Hoffnung machen; es sei<br />
vielmehr geplant, mittel- und langfristig Personal abzubauen.<br />
Jetzt muss ich leider Schluss machen. Meine Familie ist bereits heute Nachmittag zu einem 40.<br />
Geburtstag eingeladen, wodurch ich jetzt etwas vorarbeiten muss.<br />
Also mach’s gut, und lass Dich nicht unterkriegen,<br />
Caspar<br />
Der Empfang der überraschenden Nachricht wog die Enttäuschung über das Ausbleiben der<br />
erwarteten Botschaft fast auf. Nach dem Ausdrucken erfolgte daher umgehend die<br />
Beantwortung:<br />
Hallo Caspar,<br />
ich habe <strong>mich</strong> gefreut, endlich mal wieder von Dir zu hören. Ich hoffe, Ihr hattet einen schönen<br />
Urlaub. Mein Geburtstag ist übrigens am 2. Juli.<br />
Danke für Deine Unterstützung bei meiner Arbeitssuche. Der hier stets präsente Misserfolg belastet<br />
<strong>mich</strong> schon sehr, aber ich bleibe natürlich trotzdem am Ball.<br />
Wenigstens beginnt in wenigen Tagen die Fußball-Europameisterschaft; dann habe ich wenigstens ein<br />
wenig Abwechslung. Weißt Du schon, wo mit wem Du Dir die jeweiligen Spiele an<strong>sie</strong>hst. Vielleicht<br />
bietet sich ja hier die Möglichkeit, sich zu treffen!<br />
Gruß an Frau & Kinder & Servus,<br />
Pascal<br />
31.05.2008, 20.00 Uhr<br />
Heute hatte Leopold Schäfer wieder höchstpersönlich seinen Dienst versehen und Pascal<br />
eigenhändig zum jährlichen Stiftungsfest seiner Studentenverbindung gebracht. Wehmütig<br />
blickte der ehemalige Schriftwart in die Runde aus der Vergangenheit vertrauter Gesichter,<br />
die zu seinem jetzigen Leben aus welchen Gründen auch immer nicht mehr gehörten.<br />
Während der laufenden Semester hatte er sich mindestens einmal im Monat mit seinen<br />
Bundesbrüdern getroffen, Veranstaltungen aller Art geplant und dafür Lob und Tadel<br />
eingeheimst. Höhepunkt <strong>eines</strong> jeden Jahres war der Besuch des Weihnachtsmarktes in<br />
Nürnberg, der sich in der Regel über das gesamte dritte oder vierte Adventswochenende<br />
erstreckte. Leider war diese liebgewonnene Tradition vieler Burschenschaften im Laufe der<br />
Jahre eingeschlafen. Eigentlich war es das hehre Ziel schlagender und nicht schlagender<br />
Verbindungen, Arbeitslosigkeit ihrer Mitglieder vorzubeugen. Aber bedauerlicherweise war<br />
bis jetzt keiner der alten Herren auf die Idee gekommen, Pascal Halbwein einen Job<br />
anzubieten. Dennoch bereute der diesbezüglich Verschmähte nichts. Ironischerweise hatte<br />
er bei einer der sogenannten Kneipen einen absoluten Traummann getroffen, welcher gar<br />
seine Neigung zu Männern teilte. Leider handelte es sich bei Heinrich Maurer um den<br />
Freund des schwulen Mitbewohners des damaligen x, dem Chef der Verbindung Von
53<br />
romantischen Gefühlen heimgesucht hatte der Schmachtende es fest genommen, den Antritt<br />
des Zivildienstes beim Regensburger Blindeninstitut zum Anlass zu nehmen, dem<br />
Schwarzhaarigen seine besten Wünsche zu übermitteln. Doch am besagten Tag musste<br />
Pascal telefonisch erfahren, dass ein Unfall Heinrichs Lebensplanung durcheinander<br />
gebracht hatte. Da sich sein Liebhaber obendrein kurze Zeit später von ihm trennte, gab es<br />
zwischen dem Rollstuhlfahrer und dem Tierliebhaber keinerlei Berührungspunkte mehr. Erst<br />
fast zehn Jahre nach ihrem einzigen Zusammentreffen hatte Pascal den nie Vergessenen<br />
per Handy aufgespürt und dabei erfahren, dass dieser inzwischen glücklich mit einem<br />
anderen Mann in Stuttgart lebte. Obwohl es offenkundig wurde, dass Heinrich Maurer nicht<br />
wusste, wer der Mann am anderen Ende der Leitung eigentlich war, stellte er diesem ein<br />
baldiges Wiedersehen in Aussicht. Aber irgendetwas, eventuell die Erwähnung s<strong>eines</strong> Ex-<br />
Freundes, hielt den Wahl-Baden-Württemberger davon ab, diesen Plan in die Tat<br />
umzusetzen. Auf versandte Kurznachrichten wurde nicht geantwortet, bei Anwahl der<br />
Handynummer meldete sich ein Jugendlicher, dessen Name bestenfalls beim Schreiben<br />
<strong>eines</strong> Romans von Nutzen sein konnte. Würde Pascal Halbwein jemals aus dem<br />
Teufelskreis der Einsamkeit ausbrechen können?<br />
02.06.2008, 12.00 Uhr<br />
Fünf Tage vor Beginn des sportlichen Großereignisses stieg seine Ungeduld ins<br />
Unermessliche? Würde er Pascale Lishnevska im Laufe des Turniers wirklich wieder sehen?<br />
In der Vergangenheit hatte dieser eingehende SMS immer sofort beantwortet; von dieser<br />
Praxis schien er inzwischen Abstand genommen haben. Gerade weil Pascal um den<br />
zeitlichen Stress des Studenten wusste, hielt er es für angebracht, die geplante Verabredung<br />
möglichst früh zu terminieren:<br />
Hallo Pascale,<br />
ich wollte nur mal anfragen, wie es bei Dir bezüglich unseres Treffens bei der EM aus<strong>sie</strong>ht; bei<br />
Deinen zahlreichen Verpflichtungen müssen wir ja zwangsläufig langfristig planen. Ich bewundere<br />
wirklich, wie Du alles unter einem Hut kriegst und Dir immer mehr aufhalst. Ich würde Dir ja gerne<br />
bei der Bewältigung Deiner zahlreichen Aufgaben helfen, aber mehr, als Teile Deiner Doktorarbeit in<br />
den Computer einzugeben, kann ich Dir nicht anbieten. Und es kommt garantiert noch die eine oder<br />
andere Herausforderung hinzu: Wie ich Dich kenne, wirst Du bestimmt spätestens 2009 Vater!<br />
Ich habe Dir unten die verschiedenen Anstoßzeiten der deutschen und der tschechischen<br />
Nationalmannschaft aufgelistet. Es wäre schön, wenn Du <strong>mir</strong> bald mitteilen könntest, wann Du Zeit<br />
hast. Übrigens würde ich <strong>mich</strong> sehr freuen, bei dieser Gelegenheit endlich Sandra persönlich kennen<br />
zu lernen. Als ich unlängst mit ihr telefonierte, hat <strong>mir</strong> der Zauber ihrer Stimme schlichtweg die<br />
Sprache verschlagen.<br />
CU,<br />
Pascal<br />
03.06.2008, 20.00 Uhr<br />
Warum meldete sich Pascal Lishnevska nicht? Hatte er durch das Scheitern der<br />
Verhandlungen mit dem a.a.a. die Gunst des ehemaligen Helfers verloren? Wer nicht fragt,<br />
bleibt dumm:<br />
Warum meldest Du Dich nicht? Bist Du krank, oder hast Du nur Stress? Servus, Pascal<br />
Die Reaktion kam prompt, war aber wortkarg:<br />
Stress!<br />
<strong>Für</strong> Pascal Halbwein war es unerträglich, so kurz und nichtssagend abgefertigt zu werden;<br />
die Kosten <strong>eines</strong> Handygesprächs mussten wohl oder übel in Kauf genommen werden.<br />
„Pascal, ich absolviere zur Stunde mein Praktikum in einem Krankenhauslabor.“, der Student<br />
zeigte sich über die Störung wenig erfreut! „Aber wenn Du Dich momentan in einer Klinik<br />
aufhältst, müsste Dein Handy doch theoretisch ausgeschaltet sein.“, zeigte sich der<br />
Kriti<strong>sie</strong>rte irritiert aber kampflustig. „Richtig!“, Pascale ließ seinem Gesprächspartner die<br />
Erleichterung über dessen Erkenntnis hörbar spüren und honorierte dieselbe mit einem<br />
Zugeständnis: „Ich schicke Dir heute Abend noch eine E-Mail. Sollte ich dies wider Erwarten<br />
nicht mehr schaffen, erledige ich das gleich morgen!“ Das gegebene Versprechen sorgte für<br />
einen ruhigen und erholsamen Schlaf s<strong>eines</strong> Nutznießers.
54<br />
04.06.2008 20.00 Uhr<br />
War der Wert <strong>eines</strong> gegebenen Wortes zu Beginn des 21. Jahrhunderts einer heimlichen<br />
Inflation zum Opfer gefallen? Zur Vorbeugung einer eventuellen Enttäuschung war Pascal<br />
Halbwein erst am späten Nachmittag online gegangen – nur um festzustellen, dass das<br />
Eintreffen der sehnlich erwarteten Nachricht ausgeblieben war! Drückte sich der<br />
vielbeschäftigte Medizinstudent davor, das lang geplante Wiedersehen abzusagen? Die<br />
quälende Ungewissheit erstellte folgende SMS:<br />
Wo bleibt die versprochene E-Mail. Du wolltest Dich heute melden! Servus, Pascal<br />
Entgegen seiner früheren Gewohnheit zeigte Pascale keine schnelle Reaktion, woraufhin der<br />
Ungeduldige schließlich zum Telefonhörer griff. „Pascale ist heute wieder im Rahmen s<strong>eines</strong><br />
Praktikums in Bad Abbach.“, klärte Sandra Engelhardt den Anrufer auf, „Ich kann da leider<br />
nichts machen.“ „Hält er sich wenigstens am Wochenende in Regensburg auf?“, Pascal<br />
wurde von dem heftigen Wunsch getrieben, die Wahrwerdung des Versprechens möglichst<br />
frühzeitig stattfinden zu lassen. „Nein, dann ist das Ehemaligentreffen der ehrenamtlichen<br />
Helfer von Haiti in Bonn.“, zerstörte der weibliche Gesprächspartner seine diesbezüglichen<br />
Hoffnungen. „Hat er wenigstens seine Neumarkter Tätigkeit beendet?“, Pascal unternahm<br />
den verzweifelten Versuch, wenigstens noch eine für seine Person positive Information zu<br />
erhalten. „Neumarkt steht morgen wieder auf den Terminplan.“, Sandras Stimme klang<br />
seiner Meinung nach unangemessen unbekümmert, „Wir haben übrigens vor wenigen Tagen<br />
mit Kevin einen Wochenendausflug gemacht.“ Diese auf dem ersten Blick harmlose<br />
Auskunft versetzte Pascals Nerven endgültig den Todesstoß. Unzählige ältere Menschen<br />
waren aus nicht selbstverschuldeten Gründen gezwungen, in Seniorenheimen zu leben und<br />
mussten nicht selten aufgrund Personalmangels um den noch so kleinen Zipfel<br />
Menschenwürde bangen, während ein durch eigenes Verhalten gestrauchelter Jugendlicher<br />
es sich unverdient gut gehen ließ. Dieses Mal tippte die grüne Teufelin Eifersucht folgende<br />
Kurzmitteilung:<br />
Ich finde es ungeheuer verletzend, dass Du mit Kevin sogar am Wochenende wegfährst,<br />
aber in den letzen Monaten keine Zeit gefunden hast, mit <strong>mir</strong> wenigstens einen<br />
Kaffee zu trinken. CU, Pascal<br />
Die Untätigkeit des Studenten ließ ca. 120 Minuten vor Mitternacht dessen Handy klingeln.<br />
„Pascale, warum traf die versprochene E-Mail nicht ein?“, kam der Enttäuschte ohne<br />
Umschweife zur Sache, „Langsam werde ich richtig sauer!“ „Das macht absolut gar nichts!“,<br />
der Tonfall des Anderen war ungewohnt scharf und unfreundlich, „Ich bin es nämlich<br />
inzwischen ebenfalls! Ich verbringe aufgrund des aktuell von <strong>mir</strong> zu absolvierenden<br />
Arbeitspensums abwechselnd die halbe Nacht im Krankenhaus und in der Universität und<br />
habe demzufolge etwas Wichtigeres zu tun, als irgendwelche E-Mails zu schreiben. Nur weil<br />
wir Zwei miteinander privat in Verbindung stehen, hast Du noch lange nicht das Recht, hinter<br />
<strong>mir</strong> her zu telefonieren! Immer dieses Klammern! Das habe ich auch nie getan! Zwischen unserem<br />
Gespräch im Mai und meiner SMS vom letzten Freitag lagen exakt 3 Wochen und 3 Tage! Mir<br />
reicht`s! Hiermit breche ich den Kontakt zwischen uns ab! Aus! Exitus! Ende!“ „Nein! Bitte gib<br />
<strong>mir</strong> noch eine Chance!“, der Schock ließ die Stimme des Abgewiesenen lauter werden!<br />
„Nein!“, Pascale Lishnevskas Tonfall war in nie für möglich gehaltenem Ausmaß kalt und<br />
unerbittlich, „Wir beide sind schlicht und einfach zu verschieden! Du bist ganz anders als ich!<br />
Und auf Eifersüchteleien habe ich erst recht keinen Bock! Woher weißt Du überhaupt von<br />
unserem Ausflug mit Kevin?“ „Von Sandra!“, gab der Gescholtene kleinlaut zu, worauf der<br />
Freund der Auskunftfreudigen mit einem kurzen aber alles sagendem „Grrmpf“ reagierte.<br />
„Meinetwegen kannst Du jetzt auch wieder bei Phönix anrufen – das interes<strong>sie</strong>rt <strong>mich</strong> nicht!“,<br />
führte der zukünftige Arzt die Liste seiner nur teilweise berechtigten Vorwürfe fort, „Letztes<br />
Mal hast Du ja auch bei Maxl angerufen, obwohl ich dir klipp und klar gesagt habe, dass die<br />
derzeitige Form unseres Verhältnisses nichts mit meinem ehemaligen Arbeitgeber zu tun<br />
hat!“ Ich habe ihn auch nicht in seiner Funktion als stellvertretender Pflegedienstleiter, sondern aufgrund<br />
s<strong>eines</strong> beneidenswerten Vorrechts, sich als Freund von Dir bezeichnen zu dürfen, kontaktiert. Laut<br />
bettelte der Verzweifelte um eine zweite Chance, die jedoch abermals abgelehnt wurde, was<br />
ihm allerdings nur eine weitere Rüge von Pascale einbrachte, „Willst Du jetzt herumschreien<br />
oder zuhören?“ untermauerte der Ungnädige seinen Standpunkt, „Pascal, ich bin weder Dein
55<br />
Vater noch Dein Psychologe!“ Als solchen habe ich ihn auch nicht angesehen geschweige denn erträumt!<br />
Außerdem kommt es allein darauf an, was man sagt; die Lautstärke des geäußerten Inhalts ist dabei<br />
völlig unerheblich! Das Herz des Verschmähten drohte unter der Last des unglücklich<br />
verlaufenden Gesprächs zu zerbrechen; schließlich wurde das tiefste seiner Gefühle durch<br />
den nicht mehr auszuhaltenden Druck verbali<strong>sie</strong>rt: „Pascale, ich liebe Dich!“ Von diesem<br />
Gefühlsausbruch selbst erschrocken wartete Pascal Halbwein die Reaktion des Anderen gar<br />
nicht erst ab und legte auf – um eine Sekunde später die Nummer s<strong>eines</strong> ältesten Freundes<br />
zu wählen: „Curd, entschuldige bitte die späte Störung, aber ich weiß wirklich nicht, wem ich<br />
sonst anrufen könnte. Ich hatte gerade einen sehr heftigen Streit mit Pascale; er hat<br />
unserem Kontakt abgebrochen.“ „Hat er das wirklich so gemeint?“, Curd Stangler sah davon<br />
ab, Pascal aufgrund des spätabendlichen Anrufs zu rügen, zweifelte aber noch an der<br />
Endgültigkeit der vom für ihn Unbekannten getroffenen Entscheidung. „Ich wollte unsere<br />
Pläne bezüglich der Fußball-EM konkreti<strong>sie</strong>ren.“, klärte der gelernte Sozialpädagoge ihn auf,<br />
„Bei dieser Gelegenheit habe ich von seiner Freundin erfahren, dass er letztes Wochenende<br />
mit ihr und dem von ihm betreuten Jugendlichen weggefahren ist. Da ich inzwischen schon<br />
Monate darauf warte, ihn zu treffen, habe ich im Affekt per SMS vorgeworfen, dass er sich<br />
mehr um Kevin kümmert als um <strong>mich</strong>. Daraufhin hat er während <strong>eines</strong> späteren Telefonats<br />
<strong>mir</strong> sämtliche Sympathien aufgekündigt. Unglücklicherweise ist <strong>mir</strong> schließlich ein<br />
Liebesgeständnis gerutscht; seine Reaktion hierauf habe ich allerdings gar nicht erst<br />
abgewartet.“ „Dann weiß er jetzt wenigstens, was Du seit Monaten seinetwegen<br />
durchmachst!“, der Hochschulprofessor schien dem Lauf der Ereignisse nicht nur negative<br />
Aspekte abzugewinnen. Sag mal, was hältst Du davon, wenn ich mal versuche, mit Pascale<br />
zu reden und ihm Deine Situation zu schildern? Bar jeglichen logischen Gedankens willigte<br />
der Verzweifelte ein und gab seinem Gesprächspartner die E-Mail-Adresse des Studenten.<br />
Ferner rief er beim Bereitschaftsdienst von Phönix an und fragte, ob eventuell jemand über<br />
Nacht bei ihm bleiben konnte, falls seine Person in den nächsten Stunden durchzudrehen<br />
drohte. Zum Glück war Daisy selbst am Telefon, die sich ohne Kenntnis der Details bereit<br />
erklärte, am nächsten Morgen bei dem Klienten vorbei zu kommen. Abschließend wurde ein<br />
letzter Versuch des Verursachers unternommen, die aufbrausenden Wogen online zu<br />
glätten:<br />
Hallo Pascale,<br />
entschuldige bitte sämtliche Worte, die ich Dir heute an den Kopf geworfen habe. Es war wirklich nur<br />
meine Absicht, Dich vor Deiner Abreise nach Afrika wenigstens noch einmal zu sehen.<br />
Sandra: Du musst <strong>mir</strong> glauben, dass ich wirklich die Absicht hatte, Pascale Dir abspenstig zu machen.<br />
Inzwischen habe ich nur noch den Wunsch, dass wir <strong>eines</strong> <strong>Tages</strong> wieder normal miteinander umgehen<br />
können.<br />
Ein letzter trauriger Gruß mit einer letzten Bitte um Verzeihung,<br />
Pascal<br />
Exkurs: Der Fall Kevin Zimmermann 4<br />
Kevin Zimmermann wurde Ende Januar/Anfang Februar 1990 geboren -> er ist also heute 18<br />
Jahre alt. 1996 geriet sein Leben aus den Fugen, als sein Vater eine langjährige Haftstrafe<br />
antreten musste. Da dieser bis zum heutigen Tage im Gefängnis einsitzt, ist anzunehmen,<br />
dass ein Tötungsdelikt selbiger zugrunde liegt. Die Mutter führt gegenwärtig fernab ihres<br />
Sohnes ihr eigenes Leben in München. Kevin erfüllt alle Merkmale <strong>eines</strong> heute als<br />
schwererziehbar zu bezeichneten Jugendlichen und leidet zusätzlich an Legasthenie. Als<br />
Ausgleich hierfür ist dem Heranwachsenden ein stark ausgeprägtes kaufmännisches Talent<br />
zueigen, welches sich sowohl auf altmodisches Verhandlungsgeschick (Flohmarkt) als auch<br />
auf moderne Geschäftsbereiche (Onlinean- und verkauf) erstreckt. Der Klient lebt heute in<br />
einer Wohnung des Kap-Instituts Nittendorf/Regensburg zu seiner Betreuung wurde eigens<br />
ein Medizinstudent namens Pascale Lishnevska eingestellt, der in den ersten drei Monaten<br />
gar 24 Stunden am Tag ausschließlich ihm zur Verfügung stand und auch heute ca. dreimal<br />
die Woche vorbeischaut. Ganz abgesehen davon, dass man mit einer derartigen<br />
4 Der Name des Probanden wurde aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert. Die Institution des Geschehens, das Kap-<br />
Institut Nittendorf/Regensburg wird hier ohne jegliche Verfremdung genannt, um die dort Verantwortlichen direkt auf ihre aus<br />
sozialpädagogischer Sicht nicht akzeptable Vorgehensweise anzusprechen und diesbezüglich ein Umdenken zu fordern!
56<br />
Sozialleistung das Geld der Steuerzahler schlichtweg verschwendet (hat), sind allein das<br />
Volumen und die Exklusivität dieser Maßnahme aus sozialpädagogischer Sicht<br />
unverhältnismäßig und nicht zu verantworten. Denn es gibt zwei Möglichkeiten:<br />
a) Kevin Zimmermann hat bereits gelernt, sich in eine soziale Gruppe einzufügen -><br />
dann ist es absolut unnötig, ihm eine Wohnung für sich allein zuzugestehen; der<br />
Umzug in eine für seine Zielgruppe eigens eingerichtete Wohngruppe ist die bessere<br />
und billigere Lösung.<br />
b) Der Klient ist außerstande, sich in ein bestehendes Gefüge zu integrieren -> dann<br />
wird es höchste Zeit, dass er es lernt! Auch hier ist ein Wechsel in eine andere<br />
Lebensform, einem Zusammenleben mit Gleichaltrigen aber auch mit im<br />
Schichtdienst arbeitenden Erziehern, deren Aufmerksamkeit und Zeit er sich<br />
selbstverständlich mit seinen Mitbewohnern teilen muss, unumgänglich!<br />
An dieser Stelle wird mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass es keine<br />
Selbstverständlichkeit ist, seine Kindheit ausschließlich im eigenen Elternhaus zu verleben!<br />
Die Regensburger Domspatzen sind zum Beispiel weltbekannt; die Leistung ihrer Akteure<br />
hätte niemals so ein so phänomenales Ausmaß erreicht, hätten diese bzw. ihre<br />
Erziehungsberechtigten einer Unterbringung im Internat eine Absage erteilt. Aber nicht<br />
immer ist ein besonderes Talent der Grund für eine derartige Entscheidung. Besonders die<br />
Gruppe der Schwerbehinderten wird heute immer noch zu diesem Schritt quasi gezwungen,<br />
nur um den Weg einschlagen zu können, der für ihre nichtbehinderten Altersgenossen in der<br />
Regel selbstverständlich und vor allem kostenfrei ist: die Absolvierung einer normalen<br />
Schulausbildung. Vor Jahr und Tag mussten die ohne eigenes Zutun in diese Situation<br />
Geratenen gar Erbteile wie Häuser oder sonstiges Vermögen an den Kostenträger abtreten,<br />
nur um sich diesem profanen Ziel überhaupt nähern zu können. Von vielen von ihnen wird<br />
abverlangt, mit zwölf Jahren oder noch früher ohne Eltern klar zu kommen, sich mit<br />
wechselnden Bezugspersonen abzufinden und sich mit den Macken nicht ausgesuchter WG-<br />
Genossen zu arrangieren. Aber hat es ihnen geschadet? NEIN! Im Gegenteil: es war oft die<br />
einzige Möglichkeit, um später trotz <strong>eines</strong> Handicaps ein eigenständiges Leben führen zu<br />
können. Dennoch ist es für die genannte Personengruppe ein grober Schlag ins Gesicht,<br />
wenn einem zumindest nach dem Gesetz erwachsenen Jugendlichen allein aufgrund seiner<br />
nicht auf irgendeiner Lebensleistung beruhenden körperlichen Vollkommenheit ein ihm allein<br />
zur Verfügung stehender Wohnraum nebst Butler zugesprochen und mit öffentlichen Mitteln<br />
finanziert wird! Auch aus diesem Grund werden die Verantwortlichen hiermit aufgefordert,<br />
das fragwürdige Projekt schnellstmöglich zu beenden und dem Probanden eine klassischere<br />
Problembehandlung zukommen zu lassen. Anstrengender und schwieriger als der Verfasser<br />
dieses Gutachtens in dem Alter kann Kevin Zimmermann nun wirklich nicht sein!<br />
Ferner soll an dieser Stelle nicht versäumt werden, ein klares Wort über die Personalpolitik<br />
vom Kap-Institut Nittendorf/Regensburg zu verlieren. Die Besetzung einer einem (sozial-)pädagogischen<br />
Abschluss erfordernden Stelle mit einem Medizinstudenten ist eine<br />
Beleidigung sämtlicher arbeitsloser Fachkräfte; etwaige Wünsche Kevins sind hier<br />
nachrangig zu behandeln! Das Fehlen jeglicher Professionalität seitens Pascale Lishnevskas<br />
spiegelt sich in dessen Vermengung von Job und Privatleben wieder: Mal lädt er seinem<br />
Schutzbefohlenen in seine Wohnung ein; dann begleitet seine Freundin die Beiden auf einen<br />
Wochenendausflug. Der Gipfel der Distanzlosigkeit wird jedoch erklommen, wenn Herr<br />
Lishnevska den von ihm betreuten Teenager gegenüber Außenstehenden als „kleinen<br />
Bruder“ bezeichnet. Diese auf dem ersten Blick harmlos erscheinenden Gesten können<br />
verheerende Folgen haben, wenn z. B. das Arbeitsverhältnis <strong>eines</strong> <strong>Tages</strong> aufgelöst wird und<br />
der Proband feststellen muss, dass das Interesse s<strong>eines</strong> Betreuers rein beruflicher Natur<br />
war. Der Fall in das berühmte „schwarze Loch“ ist die hier die traurige aber logische<br />
Konsequenz, welche die Ergebnisse der Betreuung stark gefährdet und auch einen<br />
Rückschritt in der Entwicklung des Jugendlichen auslösen kann. Einen früheren Schützling<br />
Pascale Lishnevskas ist es bereits ähnlich ergangen!<br />
Was ist nun zu tun? Zunächst einmal wird Kevins Mutter an dieser Stelle aufgefordert, ihren<br />
Sohn nicht länger für Ereignisse zu bestrafen, die geschehen sind, als dieser sechs Jahre alt<br />
war. Auch sollte <strong>sie</strong> endlich damit aufhören den Verlust von angeblich liebenden Verwandten<br />
und falschen Freunden nachzutrauern, ohne die <strong>sie</strong> ohnehin besser dran ist. Nach zwölf
57<br />
Jahren sollte man sich daran gewöhnt haben, eine alleinstehende Mutter zu sein, endlich die<br />
Ärmel hochkrempeln und ihren Sohn in die nun frei jeglicher Vorbehalte entblößten Arme<br />
schließen. Aber auch Kevin sollte sich dafür hüten, allein aufgrund seiner Lese- und<br />
Rechtschreibschwäche einen qualifizierten Hauptschulabschluss mit anschließender Lehre<br />
in einer Kfz-Werkstatt als Ende der Fahnenstange anzusehen, sondern mutig höher und<br />
weiter klettern. Mit der richtigen Förderung liegt ein späterer Arbeitsplatz im<br />
Managementbereich mit eigener Sekretärin durchaus im Bereich des Möglichen.<br />
gez. Peter Hecker, Dipl. Sozialpädagoge (FH)<br />
05.06.2008, 10.00 Uhr<br />
Wider Erwarten war es ihm gelungen, die Nacht über ruhig zu bleiben; irgendwie hatte das<br />
eingestürzte Luftschloss den Blick auf das dahinter liegende Fabrikgelände freigelegt.<br />
Vielleicht wusste Daisy Rat, wie der beißende Rauch von seiner Nase ferngehalten werden<br />
konnte. Sicherlich zog er sich zum wiederholten Male Pascales Zorn zu, sollte dieser von der<br />
erneuten Unterredung zwischen Klient und Pflegedienstleitung erfahren. Aber es war für<br />
sein Seelenheil unerlässlich, einer derartigen Gefühlsaufwallung mit anschließender<br />
Enttäuschung entgegenzuwirken. Seine Besucherin sah die Ereignisse des letzten Abends<br />
allerdings wenig dramatisch: „Wenn Pascale erst einmal ein paar Nächte darüber geschlafen<br />
hat, <strong>sie</strong>ht er die ganze Sache bestimmt auch etwas lockerer. Vielleicht könnt Ihr verabreden,<br />
dass Ihr Euch künftig ein- bis zweimal im Monat trefft. Das klappt nie im Leben. Würde so<br />
etwas auch nie erwarten! Wenn Pascale allerdings bei seiner Einstellung bleibt, musst Du <strong>sie</strong><br />
wohl oder übel akzeptieren.“ „Diesbezüglich habe ich wenig Hoffnung.“, resümierte der<br />
Verschmähte einsichtig, „Mir geht es akut hauptsächlich darum, eine eventuelle Duplizität<br />
der Ereignisse zu verhindern.“ „Es ist in unserem Beruf für beide Parteien immer schwierig,<br />
die richtige Balance zwischen persönlichem Entgegenkommen und professioneller Distanz<br />
zu finden.“, plauderte die langjährige Pflegedienstleiterin aus dem Nähkästchen, Letztere ist<br />
aber für ein gesundes Verhältnis unentbehrlich. Wenn Pascale seinen `kleinen Bruder` <strong>eines</strong><br />
<strong>Tages</strong> verlässt, wird dieser ebenso einsam sein wie Du heute. Was hältst Du zum Beispiel<br />
davon, wenn Du Dich zukünftig von Deinen Helfern <strong>sie</strong>zen lässt?“ Mit diesem Ratschlag<br />
verabschiedete sich Daisy von dem auch heute noch tieftraurigen Rollstuhlfahrer.<br />
Der Streit mit Tilman lag nun schon über zwanzig Jahre zurück; hatte Pascal Halbwein in<br />
dieser langen Zeit wirklich absolut nichts dazugelernt? Zwar hatte er schon vor Ewigkeit<br />
erkannt, dass das Werben um die Gunst <strong>eines</strong> Menschen mit dem Kampf um<br />
Gleichberechtigung absolut nichts gemein hatte, doch manchmal brachte sich sein Drang zur<br />
Übertreibung tatkräftig in Erinnerung und stand meistens mit einer weiteren menschlichen<br />
Schwäche seinerseits in Verbindung, welche er z. B. nach einem Ortswechsel oder auch nur<br />
einer gewissen Zeit der Abstinenz überwunden glaubte, welche dann aber doch in<br />
veränderter Form erneut auftrat. So hätte er z. B. die zehnjährige Internatszeit<br />
wahrscheinlich ohne die Familie Ewing nicht durchgestanden; ihre Verweildauer im<br />
deutschen Fernsehen, von den zahlreichen Wiederholungen abgesehen, begann und endete<br />
jeweils mit seinem Verbleib in Hess. Lichtenau. Mit der Aufnahme s<strong>eines</strong> Studiums übertrug<br />
der Süchtige seine Sympathie nicht etwa auf eine andere Familienserie, sondern entdeckte<br />
sein Herz für eine Kultsendung ganz anderer Art: „Ruck Zuck“! Pascal verliebte sich gar in<br />
das schnelle Spiel um Worte und Begriffe, zitterte mit liebgewonnenen, zumeist männlichen<br />
Mannschaften um Worte und Begriffe und ereiferte sich über offensichtliche<br />
Fehlentscheidungen von Schiedsrichter Günter. Fatalerweise bestand ein gravierender<br />
Unterschied der beiden Formate darin, dass die Gameshow nicht von fiktiven Ölbaronen aus<br />
Texas, sondern von real existierenden Kandidaten lebte, die lediglich einen kurzen Ausflug<br />
ins Rampenlicht unternahmen und anschließend wieder in ihr Alltagsleben zurückkehrten.<br />
Ein Team wuchs dem leidenschaftlichen Fan besonders ans Herz: die „Schwabing Sharks“.<br />
Die drei Brüder gewannen mit zwei Freunden sogar den Hauptgewinn von 100.000 DM;<br />
Kapitän Fabian war ferner der einzige Kandidat, dem es je gelungen war(ausgerechnet beim<br />
alles entscheidenden Begriff), sich gegen Günter durchzusetzen. Der Wunsch, diese<br />
erfolgreiche Gruppe persönlich kennenzulernen, ließ dem Zuschauer schließlich zum<br />
Telefonhörer greifen; erstaunlicherweise erfuhr er trotz <strong>eines</strong> wenig originellen Nachnamens<br />
und der Größe Münchens die Nummer des jüngsten Bruders heraus, der ihm, wie es sich
58<br />
eigentlich auch gehörte, an dem Ältesten verwies. Dieser hieß Martin und zeigte sich<br />
bezüglich der Gründung <strong>eines</strong> Fanclubs mehr als aufgeschlossen und verabredete sich mit<br />
dem Anrufer zur nächsten Liveaufzeichnung. Zwar erschien der gelernte Computerfachmann<br />
zum anberaumten Termin, verschwand aber nach dem offiziellen Teil urplötzlich, ohne am<br />
abgesprochenen Besuch <strong>eines</strong> Biergartens teilzunehmen. Nur die Ehre, von Fabian<br />
persönlich durch die Hauptstadt Bayerns geschoben zu werden, rettete dem Besucher aus<br />
Regensburg den Tag. Dennoch war Pascal Halbwein erleichtert, als die treulose Tomate ihr<br />
während <strong>eines</strong> Telefonats erklärte, lediglich eine gesundheitliche Besonderheit habe <strong>sie</strong><br />
dazu gezwungen, sofort und ohne Abschied ins Bett zu gehen, als <strong>sie</strong> müde geworden sei.<br />
Auch bat Martin seinen neuen Bekannten, ihm mitzuteilen, wann neue Folgen ihrer beider<br />
Lieblingssendung entstehen sollten. Die fröhliche Art des Gesprächspartners tat dem<br />
prüfungsgeplagten Studenten gut und beflügelte ihn für die nächsten Aufgaben. Doch nach<br />
der produktionslosen Weihnachtspause meldete sich statt des begnadeten Animateurs<br />
dessen Untermieter am anderen Ende der Leitung. Martin halte sich schon seit Wochen in<br />
einer Rehabilitationsklinik auf, „irgendwas mit den Gelenken“, und käme frühestens im März<br />
zurück, er könne ihm höchstens die Telefonnummer von Fabian geben. Neben dem<br />
ehrlichen Gefühl des Mitgefühls löste diese Nachricht bei dem Rollstuhlfahrer auch das<br />
beseelende Gefühl auf, endlich mal derjenige zu sein, der half und nicht wie üblich<br />
umgekehrt (Saß Martin eventuell jetzt auch im Rollstuhl?). Leider sahen die Münchner<br />
Brüder das offenbar nicht so, auch Martin selbst meldete sich nach dem Zeitpunkt seiner<br />
Rückkehr mit keinem Wort. Zu allem Überfluss hatte der Genesene die Angewohnheit, erst<br />
ans Telefon zu gehen, wenn der Anrufer auf dem AB seine Identität preisgegeben hatte – in<br />
der Konsequenz bedeutete dies, dass Pascal bei jedem Anruf notgedrungen zunächst aufs<br />
Band sprechen musste, ganz egal, wie oft er dies schon getan hatte. Mit der Zeit genervt<br />
dichtete der gelernte Sozialpädagoge den Evergreen „Rosen aus Amsterdam“ um und<br />
drohte dem Computerfachmann damit, ihm „Veilchen ganz himmelblau“ zukommen zu<br />
lassen. Dieser erweiterte daraufhin seinem Ansagetext um folgende Mitteilung: „Eine<br />
Nachricht für Herrn Pascal Halbwein: Ruf nicht mehr an, lass <strong>mich</strong> in Ruhe, ein für allemal,<br />
ja!“ Kurze Zeit später erfuhr der sich ungerecht behandelt Fühlende, dass Werbefachmann<br />
Florian bis vor wenigen Wochen in der berühmten Münchner Lokalität „Reitschule“<br />
hauptverantwortlich die Geschäfte geführt hatte und demzufolge in der Promiszene kein<br />
Unbekannter war.<br />
Mirko Goldstein, genannt „Goldi“, war die berühmte Stecknadel, die aus dem Heuhaufen, der<br />
Partnerbörse von „Eurogay.de“, herausragte. Der Angestellte der Sparkasse Augsburg<br />
schien überhaupt nicht dem üblichen Klischee <strong>eines</strong> Homosexuellen zu entsprechen, liebte<br />
seine Heimatstadt Nürnberg und den dazugehörigen Fußballclub. Pascal Halbwein war im<br />
Mai 2003 geradezu besessen von den Gedanken gewesen, endlich einen aufgeschlossenen<br />
Menschen gefunden zu haben, der bei seiner Partnerwahl nicht nur auf Äußerlichkeiten<br />
schaute; dessen rein virtuelle Anwesenheit in seinem Leben unterband die Erkennung seiner<br />
realen Existenz. Obwohl Pascal zum damaligen Zeitpunkt beim Sudetendeutschen<br />
Musikinstitut in Lohn und Brot stand, verlor er auf seinem Eroberungsfeldzug gen Goldis<br />
Herz jegliche Geduld nebst Augenmaß. Pascal Halbwein quälte der Gedanke, den Makel<br />
seiner Behinderung mit besonderen Aktionen wettmachen zu müssen und bestellte für<br />
seinen potentiellen Traummann beim Augsburger Radiosender „Fantasy“ (Einige<br />
Moderatoren hatten vor Jahren mal zusammen bei „Ruck Zuck“ mitgespielt.) den Evergreen<br />
„Fremder Mann“ von Marianne Rosenberg. Ferner wählte er mittels Zufallsprinzip vier<br />
Adressen aus Goldis Gästebuch und bat <strong>sie</strong> unbekannterweise per E-Mail, die betreffende<br />
Sendung für ihren mutmaßlichen Freund aufzunehmen. Leider zeigte sich der Bedachte<br />
nicht nur wenig begeistert, sondern sogar ein wenig bedrängt; der Bankkaufmann fürchtete<br />
ferner ein unfreiwilliges Outing seiner Person. Zwar versuchte Mirko Goldstein, fair zu<br />
bleiben und seinem übereifrigen Fan eine zweite Chance zu geben; doch die abermals<br />
ungeduldige Reaktion Pascals auf das Ausbleiben einer Antwort auf das vor Wochen<br />
versandte Foto brachte endgültig das Fass zum Überlaufen. Goldi teilte ihm nüchtern mit,<br />
dass er sich beim Spülen die Hand aufgeschnitten habe und somit längere Zeit keine<br />
Tastatur benutzen könne. Er sei aber inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass er den<br />
Anderen allein schon aufgrund dessen Aufdringlichkeit nicht näher kennenlernen wolle und
59<br />
deshalb den Kontakt abbrechen wollte. Pascal Halbwein hatte zwar versucht, den<br />
Glorifizierten umzustimmen, zumal er bei der täglichen Arbeit am Computer die<br />
Notwendigkeit der zweiten Hand stets negierte, aber Goldi beharrte erbarmungslos auf<br />
seiner Ablehnung. Blinder Aktionismus hatte wieder mal zum Scheitern einer Aktion geführt.<br />
06.06.2008, 11.45 Uhr<br />
Der abgeschossene Pfeil war schon in die Mitte der Zielscheibe eingedrungen und hatte<br />
somit in der Luft nicht mehr aufgegriffen werden können. Pascal Halbwein hatte bereits in<br />
den frühen Morgenstunden des gestrigen <strong>Tages</strong> erheblich daran gezweifelt, dass es eine<br />
gute Idee gewesen war, Pascales E-Mail-Adresse an Curd Stangler weiterzugeben. Zwar<br />
vertraute er den treuen Begleiter aus Jugendtagen nach wie vor wie keinem Zweiten; doch<br />
für den Medizinstudenten war dieser eine wildfremde Person. War der entstandene Riss<br />
durch die Verletzung der moralischen Schweigepflicht noch größer geworden, oder<br />
entdeckte Pascale Lishnevska hierdurch zunächst die Verzweiflung und dann wieder ein<br />
Herz für seinen ehemaligen Klienten. Dieser gab sich diesbezüglich keine Illusionen hin,<br />
zumal Curd ihm erst 17 Stunden zuvor ermahnt hatte, geduldiger sein; er habe Pascale erst<br />
vor wenigen Stunden geschrieben. Dieser Warnung zum Trotz fand Pascal in seinem<br />
elektronischen Postfach die erwartete Nachricht vor:<br />
Lass ein bisschen Zeit vergehen, finde zu Dir selbst, dann werden wir sehen, was die Zukunft bringt!<br />
Pascale<br />
Der Empfänger wusste nicht recht, was er von den zu lesenden Zeilen halten sollte. Auch<br />
blieb die quälende Frage offen, ob die unter dem Einfluss größter Hoffnungslosigkeit<br />
angenommene Hilfe Curds sich auf die mögliche Wiederbelebung ihres Verhältnisses eher<br />
nützlich oder kontraproduktiv auswirkte.<br />
Vor genau einem Monat im Mai, nach einem zwanzigminütigen Telefonat<br />
Sandra Engelhardt zeigte offen ihre Besorgnis und Verärgerung: „Was sollte denn das jetzt? Wie viel<br />
willst Du Dir denn noch aufhalsen?“ „Ach, Pascal hat <strong>mich</strong> einfach in sein Herz geschlossen.“,<br />
verteidigte sich ihr Freund, „Er ist zwar manchmal etwas aufdringlich, aber eigentlich ein netter Kerl.<br />
Und es geht bezüglich bei der Fußball-EM ja auch nur um einen einzigen Abend im Juni!“ „So etwas<br />
Ähnliches sagst Du immer, wenn Dein Herz mal wieder vor Tatendrang überquillt.“, die Freundin des<br />
Übereifrigen war dieses Mal nicht bereit, klein bei zu geben, „Und ich muss dann jedes Mal miterleben,<br />
wenn Du vor lauter Stress weder ein noch aus weißt. Im Juni wirst Du bereits vollauf mit Deiner<br />
Doktorarbeit beschäftigt sein; Kevin und das Studium fordern auch weiterhin den üblichen zeitlichen<br />
Tribut. Dieser Pascal mag ja ganz sympathisch sein, aber er WAR Teil Deiner Arbeit; ihr habt nichts<br />
mehr miteinander zu tun. Ich habe wirklich meine Stelle in Linz nicht aufgegeben, nur damit wir uns<br />
jetzt noch weniger sehen als früher. Wann wirst Du endlich lernen, Nein zu sagen?“ Die Ermahnung der<br />
schönen Krankenschwester verfehlte ihre Wirkung nicht. „Eigentlich hast Du Recht! Ich muss wirklich<br />
Prioritäten setzen.“, gab Pascale Lishnevska einsichtig zu.<br />
06.06.2008, 21.05 Uhr<br />
Das spätabendliche Klingeln des Telefons rettete das gesamte Wochenende. „Hallo Pascal,<br />
hier ist Alex.“, drang eine fröhliche Stimme aus München an das Ohr des Angerufenen, „Ich<br />
wollte <strong>mich</strong> nur mal wieder melden.“ Diese Art von Überraschung war einer der wenigen, die<br />
Pascal Halbwein liebte: „Schön, dass Du anrufst! Wie geht es mit dem Projekt voran?“ „Zur<br />
Zeit legen wir gerade eine Zwangspause ein.“, verriet der Freund am anderen Ende der<br />
Leitung, „Meine Kollegen sind dieser Tage in Japan unterwegs; für eine derartige Reise fehlt<br />
<strong>mir</strong> momentan das nötige Kleingeld. Ferner hat <strong>mich</strong> ein Freund m<strong>eines</strong> Vaters gebeten,<br />
sein Ferienhaus in Schweden zu restaurieren. Diese Möglichkeit, meinem beruflichen<br />
Horizont zu erweitern, will ich <strong>mir</strong> auf keinem Fall entgehen lassen. Eventuell komme ich<br />
übrigens nächstes Wochenende nach Regensburg, dann können wir uns vielleicht sehen.“<br />
Der Mord des aktuellen Freitagskrimis würde bis zu seiner fast garantierten Wiederholung für<br />
den anderweitig beschäftigten Zuschauer unaufgeklärt bleiben, aber der Himmel über<br />
Regensburg versprach besseres Wetter als die klimatischen Verhältnisse der letzten Tage.
60<br />
Eines vergangenen <strong>Tages</strong> im Mai<br />
„Kürzlich hat <strong>mich</strong> Pascal Halbwein am späten Abend angerufen. Er hat Dich gesucht?“, Maximilian<br />
Sommer sah sich offenbar trotz seiner akuten Freizeit genötigt, in die Rolle des stellvertretenden<br />
Pflegedienstleiters zu schlüpfen, „Warum?“ „Oh Nein, ich hatte keine Ahnung, dass er so weit gehen<br />
würde!“, Pascale Lishnevska war das Verhalten s<strong>eines</strong> Fastnamensvetters offenbar mehr als peinlich,<br />
„Pascal hatte sich wohl über eine E-Mail von <strong>mir</strong> sehr aufgeregt und dann bis zum Exzess versucht,<br />
<strong>mich</strong> zu erreichen. Dies hat aber erst am nächsten Tag geklappt. Wir sind übrigens locker zur Fußball-<br />
EM verabredet.“ „Ich habe ein ungutes Gefühl dabei, so etwas gutzuheißen, „der Freund des Studenten<br />
wurde wieder zu dessen Vorgesetzten, „Ein privater Kontakt zu Klienten ist total unprofessionell, der<br />
Helfer läuft zudem immer Gefahr, unbewusst von beiden Seiten ausgenutzt zu werden. Du bist zwar<br />
im Moment beschäftigt, willst aber <strong>eines</strong> <strong>Tages</strong> wieder bei uns anfangen. Da sind derlei Verwicklungen<br />
beim Aufbau <strong>eines</strong> normalen Verhältnisses oft mehr als störend. „Das Gleiche hat Sandra kürzlich auch<br />
zu <strong>mir</strong> gesagt.“, der Medizinstudent erlebte, wie seine Sympathie für Pascal Halbwein dahin schmolz,<br />
„Ich sollte wirklich öfter auf Euch hören.“<br />
09.06.2008, 20.00 Uhr<br />
Die durch Alexander Ruhrpöttl ausgelöste Hochstimmung hielt nun schon drei Tage an,<br />
wurde jedoch bei erneutem Klingeln jäh zerstört; wenn Pascals Elefantengedächtnis nicht<br />
irrte, war es erst das zweite Mal in zwölf Jahren, dass Curd Stangler bei ihm in Regensburg<br />
anrief: „Hallo Pascal, ich bin’s; so wie ich es Dir per Mail versprochen habe.“ „Ich war am<br />
Wochenende und heute gar nicht online.“, der Angerufene sah urplötzlich seinen noch etwas<br />
schwachen inneren Frieden bedroht, „Übrigens hat <strong>mir</strong> Pascale zwischenzeitlich<br />
geschrieben. Er ist der Meinung, ich solle eine gewisse Zeit verstreichen lassen und wieder<br />
zu <strong>mir</strong> selbst kommen. Dann werde man weitersehen.“ „Ich habe ebenfalls eine E-Mail von<br />
ihm bekommen.“, dämpfte Curd umgehend Pascals diesbezügliche Hoffnungen, „Er hat <strong>mir</strong><br />
mitgeteilt, dass er an einem Gespräch mit <strong>mir</strong> nicht interes<strong>sie</strong>rt ist! Allein seine akuten<br />
Pflichten lassen dies dazu. Neben der Anfertigung seiner Doktorarbeit bereitet er gerade<br />
einen Afrikaaufenthalt vor und ist mit der Bewältigung höchst ehrenvoller Aufgaben in der<br />
Jugendarbeit beschäftigt. Das Projekt mit Kevin Zimmermann ist gemeingefährlicher Schwachsinn!<br />
Familie und Freundin werden bereits von ihm vernachlässigt. Das kann gar nicht sein! Pascale<br />
und Sandra leben ja schließlich zusammen! Du machst die gleichen Fehler wie ich früher! Was<br />
hatte ich für hochtrabende Träume von der großen Liebe mit Marvin; die rosarote Brille habe<br />
ich damals quasi mit Sekundenkleber auf meine Nase gesetzt. Erst als ich akzeptiert habe,<br />
dass er für <strong>mich</strong> zumindest in gewisser Hinsicht unerreichbar ist, konnte ich mein kl<strong>eines</strong><br />
Glück mit Mohammed finden.“ „Aber Du bist doch bis heute eng mit Marvin befreundet!“,<br />
wies Pascal Halbwein auf das hinkende Bein des Vergleichs hin, „Ich aber werde nie<br />
Pascales Trauzeuge geschweige denn der Taufpate <strong>eines</strong> seiner Kinder sein!“ „Was hättest<br />
Du davon?“, hakte der Hochschulprofessor ein. Dem Gefragten verwirrte dieser Einwand<br />
sehr, hatte er den Anderen doch immer um dessen Freundschaft zu Marvin und seine<br />
vermeintlich große Liebe Mohammed beneidet: „Dann stände ich wenigstens einmal mit<br />
Pascale Lishnevska vor dem Traualtar!“ „Es wird höchste Zeit, dass Du Deine Partnersuche<br />
auf anderen Bahnen fortsetzt.“, lenkte Curd das Gespräch in eine zukunftsorientierte<br />
Richtung, „Du solltest endlich in Behindertenkreisen nach dem Mann fürs Leben zu suchen.<br />
Menschen wie Pascale stehen einfach zu weit über Dir, eine Freundschaft mit ihnen steht ihr<br />
einfach nicht zu; Du bist ihrer schlichtweg nicht würdig!“ Trotz des Datums im Kalender<br />
dämmerte es an diesem Tag relativ früh!<br />
18.06.2008, 13.15 Uhr<br />
Nicht schon wieder! Leopold Schäfer stand nicht auf dem Dienstplan für den Monat Juli;<br />
dabei hatte ihm der Lehramtsstudent erst unlängst zum wiederholten Male versichert, wie<br />
gerne er gerade bei Pascal arbeitete. Waren diese Worte ebenso unwahr, wie <strong>sie</strong> auch aus<br />
dem Mund Pascale Lishnevskas gekommen waren? Auf eine telefonische Anfrage hin (per<br />
R-Gespräch) erfuhr er zumindest, dass auch Leopold einen zweiten Job angenommen hatte<br />
und er somit für Phönix e. V. nicht mehr im bisherigen Ausmaß zur Verfügung stand. Aber
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hatten nicht zuerst eingegangene Verpflichtungen immer Vorrang? Nachdem der zukünftige<br />
Gymnasiallehrer ihm noch einmal per SMS seine Sympathie bekundet hatte, versandte er<br />
folgendes Fax an den stellvertretenden Pflegedienstleiter:<br />
Hallo Maxl,<br />
ich habe heute den Plan für Juli erhalten. Dabei musste ich feststellen, dass Leopold Schäfer nicht eingesetzt<br />
wurde. Gegen diese Nichtberücksichtigung protestiere ich hiermit aufs Schärfste! Ich arbeite sehr gerne mit<br />
Leopold r zusammen; dieses Gefühl beruht laut seiner eigenen Bekundung auf Gegenseitigkeit. Es gibt also<br />
keinen Grund, unsere Zusammenarbeit zu beenden. Auch sehe ich nicht ein, <strong>mich</strong> an ständig neue Helfer<br />
(Heinrich, Pascale, Leopold) zu gewöhnen, nur damit <strong>sie</strong> <strong>mich</strong> nach kurzer Zeit schon wieder verlassen. So<br />
etwas nehme ich zukünftig nicht mehr hin! <strong>Für</strong> Deine Bemühungen bedanke ich <strong>mich</strong> schon jetzt.<br />
Mit freundlichen Grüßen,<br />
Pascal Halbwein<br />
Maxl Sommer verstand offenbar die Lage des Klienten und nahm die gewünschte Änderung<br />
vor.<br />
26.07.2008, 13.30 Uhr<br />
Trotz der Endgültigkeit des Zerwürfnisses hatte die hieraus resultierende Klarheit eine<br />
beruhigende Wirkung auf Pascal Halbwein. Wie hoch war der Zeitrahmen, der Pascale<br />
Lishnevska bei seiner letzten E-Mail vorgeschwebt hatte. Waren inzwischen genug Tage ins<br />
Land gegangen. Aufgrund der unmittelbar bevorstehenden Abreise des Medizinstudenten<br />
auf einem anderen Kontinent, verfasste und versandte der Hoffende folgenden Text:<br />
Hallo Pascale,<br />
auch wenn wir zerstritten sind, möchte ich Sandra und Dir auf diesem Wege alles Gute wünschen. Vor<br />
allem: KOMMT GESUND ZURÜCK! Ich bin immer noch sehr traurig darüber, dass unsere allererste<br />
Meinungsverschiedenheit überhaupt gleich zum totalen Bruch führte. Trotzdem alles Gute,<br />
Pascal<br />
Obwohl sonst nicht mit hellseherischen Fähigkeiten gesegnet, ahnte der Verfasser der guten<br />
Wünsche voraus, dass deren Übermittlung keine Antwort nach sich ziehen würde.<br />
30.07.2008, 16.00 Uhr<br />
Die Krankenschwester schickte sich an, auf den Schoß ihres Freundes zu hüpfen, welcher gerade seine E-<br />
Mails abrief. „Pascal Halbwein hat geschrieben.“, wurde <strong>sie</strong> unmittelbar nach Vollendung ihres<br />
Vorhabens informiert, „Er wünscht uns alles Gute für die Reise und hängt offenbar immer noch stark an<br />
<strong>mir</strong>! Was meinst Du; Was soll ich tun?“ „Gar nichts!“, Sandra Engelhardt zeigte sich wie gewohnt<br />
resolut, „Wenn Du jetzt antwortest, macht sich Pascal nur wieder falsche Hoffnungen. Er muss aber<br />
begreifen, dass Du nicht sein Freund bist und lernen, ohne Dich zurecht zu kommen. „Genau das Gleiche<br />
denke ich auch! Du findest einfach immer die richtigen Worte.“, antwortete Pascale Lishnevska und küsste<br />
seine Herzensdame.<br />
24.09.2008, 16.00 Uhr<br />
Endlich kam Nina Pfefferkorn mal wieder zum Kaffee. Als Pascale noch mit seiner Freundin<br />
in Afrika gewesen war, hatte Pascal noch ohne Groll an ihm denken können, wusste er doch<br />
wohl, dass er trotz Bezug von Hartz IV immer noch der Nutznießer einer<br />
Wohlstandsgesellschaft war und somit seine Probleme nicht annähernd mit den Nöten und<br />
Lebenskämpfen der Ärmsten der Armen vergleichbar waren, obwohl es natürlich pervers<br />
wäre, sich mit einer derartigen Erkenntnis zu trösten. Aber seit das Datum der<br />
mutmaßlichen Rückkehr überschritten war, wurmte es den Sozialpädagogen doch, dass der<br />
Medizinstudent nun wieder seine Arbeitskraft in den Dienst <strong>eines</strong> jugendlichen Rotzlöffels<br />
stellte; neben seinen bisherigen Argumenten war ihm zwischenzeitlich noch der Aspekt des<br />
akuten Pflegenotstandes eingefallen. Seinem Gast teilte er diese Überlegungen nicht mit;<br />
lediglich s<strong>eines</strong> neu aufgeflammten Unmuts brachte er zur Sprache. Nina verstand seine<br />
Gedanken jedoch nur teilweise: „Ich verstehe, dass Du enttäuscht bist. Es war wirklich nicht<br />
in Ordnung von Pascale, zunächst zu sagen, wie toll er Dich fände und dann zu behaupten,<br />
Ihr seid total verschieden! Allerdings kann man ihn nur bitten, zukünftig solche<br />
Versprechungen zu unterlassen; sein Verhalten ist kein ausreichender Grund, ihn nicht
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wieder einzustellen. Auch Du kannst jetzt nichts weitermachen; jede weitere Aktion von Dir<br />
wäre mit Stalking gleichzusetzen. Aber vielleicht hast Du Glück, und das Schicksal führt<br />
Euch noch einmal zusammen.<br />
28.09.2008, 20.06 Uhr<br />
Hallo Pascal,<br />
Andrea und ich haben in letzter Zeit hin- und her überlegt, wann wir Dich endlich mal zu uns einladen<br />
könnten. Inzwischen haben wir einen geeigneten Termin gefunden: den 14. Oktober! Bitte melde Dich<br />
dahingehend, ob dies auch für Dich o. k. ist, ich würde Dich dann gegen 19.00 Uhr abholen. Wir<br />
freuen uns auf Dich!<br />
Servus,<br />
Josef<br />
Pascal Halbwein stieß innerlich einen Jubelschrei aus. Auch wenn Pascale und Sandra ihn<br />
verschmähten, hatte er doch noch wirkliche Freunde. Zudem war die Einladung an<br />
Alexander Ruhrpöttls Geburtstag, so wurde er zusätzlich darüber hinweg getröstet, dieses<br />
Wiegenfest wahrscheinlich nicht mit dem Architekturstudenten gemeinsam feiern zu können.<br />
Behinderte wurden zwar noch nicht in jedem Lebensbereich als vollwertige Menschen<br />
angesehen; in ihrem oft trostlosen Dasein gab es aber wenigstens ab und zu ein paar<br />
Lichtblicke!