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DER HYMNOS AKATHISTOS - VOM Verein für Ostkirchliche Musik

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Nr. 52, Dezember 2005


Liebe <strong>VOM</strong>-Mitglieder<br />

Seit kurzem ziert das <strong>VOM</strong>-Logo eines der beiden Schaufenster des<br />

Weibelhauses an der Herisauerstrasse 4 in Gossau, an bester Geschäftslage<br />

im Zentrum der Metropole des Fürstenlandes. Der <strong>VOM</strong> tritt<br />

jetzt nach aussen in Erscheinung und kann auch von der breiten Öffentlichkeit,<br />

die von Ostkirche oder byzantinischem Ritus wenig bis gar<br />

nichts weiss, wahrgenommen werden. Dass das Schaufenster mit seinen<br />

ungewöhnlichen Auslagen auf Interesse stösst und von vielen als<br />

Bereicherung empfunden wird, wurde mir mehrfach bestätigt.<br />

Der zum Garten hin angelegte Mehrzweckraum wurde schon einige Male<br />

<strong>für</strong> Veranstaltungen des <strong>VOM</strong> genutzt. Auf den 29. Oktober und 26. November<br />

haben wir zum „Samstagsforum“ eingeladen. 14 bzw. 11 Interessierte<br />

sind gekommen und haben sich auf eine imaginäre Reise nach<br />

Transkarpatien mitnehmen lassen. Ausgangspunkt der Ausführungen<br />

des Unterzeichneten war die Life-Aufnahme eines orthodoxen Gottesdienstes<br />

in der Dorfkirche von Nyžne Selyšče in den ukrainischen<br />

Karpaten in der Nähe von Chust. Die Aufnahme ist übrigens anlässlich<br />

der Singwoche 2002 mit dem Chor „Cantus“ entstanden, wo der Reisegruppe<br />

die Möglichkeit geboten wurde, die sonntägliche Liturgie zu besuchen.<br />

(Die Singwoche wird auch im nächsten Sommer wieder angeboten,<br />

vgl. Terminübersicht.) Anhand dieser Aufnahme liess sich gar manches<br />

Detail aufgreifen und erläutern: die byzantinische Art und Weise<br />

des Gottesdienstes, sein Ablauf, die Rollen der Akteure, die orthodoxe<br />

Spiritualität und Frömmigkeit, die liturgischen Gesänge, die Art und Weise<br />

ihrer Interpretation, die besonderen Anforderungen an Dirigent und<br />

Chorsänger, die Kirchensprache und Schrift, der liturgische Kalender<br />

und vieles mehr. Aus der Praxis – <strong>für</strong> die Praxis, so könnte das übergeordnete<br />

Ziel dieser Veranstaltungen in etwa lauten. Keine wissenschaftlichen<br />

Forschungsergebnisse wurden da ausgebreitet, aber eine Fülle von<br />

Allgemeinwissen, das die Chorsänger als Hintergrund ihres Tuns zweifellos<br />

brauchen, das aber selbst bei langjährigen Sängern in byzantinischen<br />

Chören nicht durchwegs vorausgesetzt werden kann. — Am zweiten<br />

Samstag – es war der 1. Advent – war das Fest Christi Geburt das<br />

Thema, die liturgischen Gesänge zu Weihnachten also, aber auch das in<br />

der ukrainischen Karpatenregion noch lebendige Brauchtum.<br />

Die Reihe der Samstagsforen im Winter 2005/06 erfährt im nächsten<br />

Jahr zwei Fortsetzungen: Am 28. Januar 2006 sind Gesänge zur Fastenzeit<br />

das Thema, und am 25. März schliesslich das Fest der Feste –<br />

Ostern.<br />

* * *<br />

Seite 2


Zweieinhalb Jahre nach der Gründung des <strong>VOM</strong> hat der damalige Vorstand<br />

im Februar 1982 zum „I. Internationalen Seminar <strong>für</strong> orthodoxe<br />

Kirchenmusik“ in das Haus Bethanien eingeladen. Archimandrit Irenäus<br />

Totzke aus der Byzantinischen Dekanie der Abtei Niederaltaich sprach<br />

über „Fragen der Traditionen orthodoxer Kirchenmusik, Stilprinzipien und<br />

Chorliteratur“.<br />

In den darauf folgenden Jahren wurde die Verbindung zwischen dem<br />

<strong>VOM</strong> und Niederaltaich intensiviert. So konnte der <strong>VOM</strong> auf das Osterfest<br />

des Jahres 1985 unter der Bestellnummer <strong>VOM</strong>-525 zum erstenmal<br />

eine vollständige orthodoxe Oster-Matutin in deutscher Sprache der Öffentlichkeit<br />

vorstellen, <strong>für</strong> vier gleiche Stimmen zusammengestellt von<br />

Archimandrit Irenäus Totzke. Der Verfasser gibt sich als sehr erfahrener<br />

Praktiker zu erkennen, wenn er im Vorwort schreibt, dass <strong>für</strong> die musikalische<br />

Auswahl der Umstand richtungweisend war, dass einem Chor, der<br />

ab Palmsonntag täglich im Dienst ist, in der Osternacht keine physischen<br />

Strapazen mehr zugemutet werden können.<br />

Es freut mich ausserordentlich, dass Archimandrit Irenäus Totzke unsere<br />

Anfrage, das nächste Seminar im Haus Bethanien zu gestalten, gerne<br />

angenommen hat. Er wird mit den Teilnehmern die Texte und Gesänge<br />

zum Pfingstfest betrachten. Die Anmeldeunterlagen haben wir diesem<br />

Versand beigelegt.<br />

* * *<br />

Zum Schluss möchte ich danken <strong>für</strong> alles, was jede und jeder auf seine<br />

Weise zum Gelingen der gemeinsamen Sache beiträgt: Der Kollegin und<br />

den Kollegen vom Vorstand sowie den übrigen Mitarbeitern und Helfern,<br />

die sich <strong>für</strong> eine konkrete Aufgabe einsetzen oder fallweise zur Stelle<br />

sind, wenn sie gerufen werden, die Referenten und Zelebranten, die unsere<br />

Seminare zu einer langen Erfolgsgeschichte haben werden lassen,<br />

und Ihnen allen als Mitglieder, dass Sie das Werk durch Ihren ideellen<br />

und materiellen Beitrag unterstützen.<br />

Heute geht mein ganz besonderer Dank an Herrn Protodiakon Dr. Jean-<br />

Paul Deschler, der den nachstehenden Artikel über den Hymnos Akathistos<br />

verfasst und uns zum Abdruck in unserem Mitteilungsblatt zur<br />

Verfügung gestellt hat.<br />

Ich wünsche Ihnen allen frohe und gesegnete Weihnachten und im neuen<br />

Jahr Gottes reichen Segen!<br />

Seite 3<br />

Werner Dudli, Präsident


ΑΚΑΘΙΣΤΟΣ ‛ΥΜΝΟΣ – <strong>DER</strong> <strong>HYMNOS</strong> <strong>AKATHISTOS</strong><br />

Ein unvergleichliches Werk ostkirchlicher Spiritualität<br />

und byzantinischer Dichtung<br />

Eines der kostbarsten und kunstvollsten Kleinode aus den reichen<br />

Schätzen der byzantinischen Literatur ist der Hymnos Akathistos, wohl<br />

der schönste und volkstümlichste, auch im Abendland bekannte Marienhymnus,<br />

der wegen der Erhabenheit seines Gegenstandes nicht sitzend<br />

vorgetragen wird (während man zum Gesang eines liturgischen Kathisma<br />

sitzen darf); ähnlich wie man das Evangelium aus Ehrfurcht stehend<br />

anhört, so auch dieses Preislied, das die Menschwerdung des göttlichen<br />

Logos in orientalischer Weise besingt.<br />

Herkunft und Inhalt, Form und Aufbau<br />

Die Form des Akathistos ist die des Kontakions 1 , einer hochpoetischen<br />

Festpredigt, in welcher der theologische Gehalt des zentralen christlichen<br />

Glaubensgutes in großartiger<br />

dichterischer Form seinen Ausdruck<br />

findet. Der Hymnus besteht aus vierundzwanzig<br />

Strophen, die man Stanzen<br />

oder „Häuser“ (von griech. oikos)<br />

nennt – diese Bezeichnung weist deutlich<br />

auf die syrische Herkunft der Kontakiendichtung<br />

hin (syr. baitho „Haus“).<br />

Die Verehrung Marias als Gottesgebärerin<br />

durch besondere Hymnen entfaltete<br />

sich in der Syrischen Kirche schon<br />

sehr früh. Ephrem der Syrer († 373),<br />

die „Harfe des Heiligen Geistes“, hat<br />

als Theologe und Dichter vollendete<br />

Werke geschaffen. Überhaupt haben<br />

byzantinische Liturgie und Kirchen-<br />

Verkündigung:<br />

Freu dich, du Gnadenvolle ... Lk 1,28<br />

dichtung, Kirchenmusik 2 und Ikonographie<br />

ihre Wurzeln im syrischpalästinischen<br />

Raum. Es ist denn auch<br />

Romanos der Melode († um 560), aus Syrien stammend 3 und als Diakon<br />

nach Konstantinopel übergesiedelt, der in der Kontakiendichtung unüber-<br />

1<br />

Griech. κοντάκιον Stab deshalb genannt, weil das Pergament mit dem liturgischen<br />

Text um einen Stab gerollt wurde.<br />

2<br />

Gerade die Októechos (das „Achttonbuch“), das System der Kirchentonarten, hat<br />

syrische und altorientalische Wurzeln; vgl. Onasch: Liturgie und Kunst…, s. v. Oktoechos.<br />

3<br />

Aus Emesa, dem heutigen Homs, wo er zweisprachig aufwuchs.<br />

Seite 4


troffen blieb und von dem rund sechzig authentische Werke erhalten<br />

sind. Wahrscheinlich ist auch der Akathistos seine Schöpfung. 4<br />

Die erste Hälfte (die „historischen“ Strophen 1 bis 12) enthält eine Erzählung<br />

der Ereignisse von der Verkündigung bis zur Darstellung Jesu im<br />

Tempel, die zweite Hälfte (die „theologischen“ Strophen 13 bis 24) eine<br />

Meditation der heilsgeschichtlichen Bedeutung der Inkarnation.<br />

Die 24 Stanzen bilden ein Akrostichon, indem die Initialen der einleitenden<br />

Worte das griechische Alphabet ergeben. Die zwölf ungeraden<br />

Stanzen (die Oikoi) schließt eine litaneiartige Reihe von jeweils zwölf Anrufungen<br />

der Jungfrau ab, die mariologische Prädikate enthalten und mit<br />

dem Engelsgruß χαι̃ρε (freu dich Lk 1,28) beginnen; den krönenden Abschluss<br />

dieser Chairetismen bildet gleichsam als zusammenfassendes<br />

Motto der unnachahmliche Kehrvers, der das Paradoxon der jungfräulichen<br />

Mutterschaft prägnant wiedergibt: χαι̃ρε, Νύμφε ’ανύμφευτε – „Freu<br />

dich, unverheiratete Braut“ bzw. „unvermählte Gattin“ oder „Sei gegrüßt,<br />

du jungfräuliche Mutter“. Bei Romanos finden wir solche paradoxen Aussagen<br />

häufig dann, wenn es um das Wesen Gottes geht, das letztlich<br />

Geheimnis bleibt. 5 – Die geraden Stanzen (die Kontakien) schließen mit<br />

dreifachem Alleluja.<br />

Es ist fast unmöglich, dieses Meisterwerk adäquat in eine andere Sprache<br />

zu übertragen, wenn man den Text genau übersetzen und gleichzeitig<br />

auch die Fülle von Stilmitteln wiedergeben will: Reime, Wortspiele,<br />

Parallelismen, Antithesen, vor allem aber den Rhythmus.<br />

ΟΙΚΟΣ Α ( Strophe I – ΑΓΓΕΛΟΣ )<br />

Als ein Bote vom Himmel<br />

kam ein herrlicher Engel,<br />

der Gottesmutter „Freu dich!“ zu sagen.<br />

Bei dem körperlos klingenden Wort<br />

da gewahrt’ er, wie Du Körper wardst,<br />

Mächtiger;<br />

ergriffen, staunend stand er da,<br />

ergriff das Wort, ihr zuzurufen:<br />

Freu dich, durch dich werden Heil wir finden,<br />

freu dich, durch dich wird das Unheil schwinden,<br />

freu dich, du hebst Adam empor, den gefallenen,<br />

freu dich, du erlösest auch Eva, die weinende.<br />

4 Ausführlichere Hinweise und weitere Literatur zu Romanos und der Kontakiendichtung<br />

vgl. Mit der Seele Augen…, hg. Johannes Koder, Wien 1996; Felix Keller: Die<br />

russisch-kirchenslavische Fassung…Bern 1977; Maria H. Duffner: Romanos der<br />

Melode… Gersau 2001.<br />

5 Vgl. den Refrain des Weihnachtskontakions: Ein kleines Kind, der urewige Gott.<br />

Seite 5


Freu dich, Höhe, allen Menschenbegriffen unerreichbar fern,<br />

freu dich, Tiefe, unerschaubar sogar <strong>für</strong> Engelsaugen auch,<br />

freu dich, weil du geworden Thron dem König der Welten,<br />

freu dich, weil du erhalten aller Dinge Erhalter.<br />

Freu dich, als Stern die Sonne Verkündende,<br />

freu dich, den Herrn im Fleische Gebärende,<br />

freu dich, in dir wird erneuert die Schöpfung,<br />

freu dich, in dir wird zum Kinde der Schöpfer.<br />

Freu dich, Mutter, jungfräuliche.<br />

Diese Verse sind nicht <strong>für</strong> stumme Augenlesung geschaffen, man muss<br />

sie singen und hören, so dass sich die darin enthaltene meditative Stimmung<br />

einstellen kann. Dazu verhilft auch die einzigartige Rhythmenstruktur:<br />

in den Chairetismen (den zwölf mal zwölf Akklamationen) beispielsweise<br />

haben stets zwei aufeinander folgende Verse denselben Rhythmus,<br />

um den inhaltlichen Parallelismus zu betonen, der in den alttestamentlichen<br />

Psalmen sein Vorbild hat. Die unerschöpflich angewandten<br />

Mittel akustischer Sprachkunst, die unzähligen Alliterationen, Assonanzen<br />

und Endreime 6 , die „Spielereien“ mit Homonymen und Homöonymen<br />

(gleich- und ähnlichlautenden Wörtern) können zwar in einer Übersetzung<br />

fast nie mit einer genauen Entsprechung wiedergegeben werden,<br />

doch ist es möglich (und nötig), sie an einer anderen Stelle nachzuahmen,<br />

damit sie die ästhetische und psychologische Wirkung hervorrufen,<br />

die der Urtext auslöst. 7 Es ist schade, dass die meisten Übersetzungen<br />

auf die dichterische Ausdrucksform, die auditive und graphische Darstellungsweise<br />

so wenig Rücksicht nehmen.<br />

Liturgische Praxis<br />

Seinen liturgischen Platz hat der Akathistos seit dem 9. Jahrhundert im<br />

Morgengottesdienst (Orthros) des fünften Samstags in der Großen Fastenzeit,<br />

8 also immer in der Nähe von Mariä Verkündigung (griech. Evangelismos).<br />

Als einziges Kontakion, das noch heute in seiner Gänze ausgeführt<br />

wird, bildet er einen der liturgischen Höhepunkte der Fastenzeit.<br />

6<br />

Endreime, in der griechischen Poesie kaum gebräuchlich, weisen wiederum auf<br />

syrischen Hintergrund dieser Dichtung hin.<br />

7<br />

Dagegen kann die Übersetzung auf die Akrostichis verzichten, da diese <strong>für</strong> das Ohr<br />

ohne Bedeutung ist.<br />

8<br />

In der griechischen Kirche hat sich später der Brauch eingebürgert, die Stanzen auf<br />

die ersten vier Freitage der Fastenzeit zu verteilen.<br />

Seite 6


Dabei wird er in die Oden des Kanons 9 eingebettet, so dass eine außergewöhnlich<br />

komplexe und ausgedehnte Gottesdienst-Akolouthie entsteht.<br />

Doch dies hat seine Popularität nicht gemindert, es finden sich im<br />

Gegenteil stets viele Teilnehmer ein. Bezeichnend <strong>für</strong> die ostkirchliche<br />

Spiritualität ist es auch, dass die Liebe zur Gottesmutter sich nicht zu einem<br />

„Marienkult“ verselbständigt hat: So innig und tief diese Verehrung<br />

ist, verweist sie letztlich auf Christus, Den Maria geboren hat; und sie<br />

bleibt immer in die Liturgie eingebettet.<br />

Fortwirken in Ost und West<br />

Es ist bei der engen Verbindung von Kirchendichtung und –<strong>Musik</strong>, Kultbild<br />

und Architektur mit der Liturgie nicht verwunderlich, dass die Stanzen<br />

des Akathistos seit dem Mittelalter in Freskenzyklen auf Kirchenwänden<br />

sowie auf Ikonen mit 24 Randbildern dargestellt werden.<br />

Auch haben manche Aussagen des Hymnus neue Typen von Gottesmutterikonen<br />

generiert, z. B. die Unerschütterliche Mauer (aus Str. XXIII<br />

– Ψ: ’απόρθητον τει�χος unzerstörbare Mauer) und die Unverwelkliche<br />

Rose (aus Str. V – Ε: βλαστου� ’αμαράντου κλη�μα Reis mit der reinsten<br />

Blüte).<br />

Schon im 8. Jahrhundert wurde der Hymnus über das byzantinische Unteritalien<br />

auch in Rom bekannt und gelangte nach St. Gallen, von wo aus<br />

er die westliche Mariendichtung beeinflusst hat. Die beliebte Lauretanische<br />

Litanei, deren Anrufungen ähnlich zu Ruhe und meditativer Versenkung<br />

führen, könnte man als fernes Echo des Akathistos bezeichnen.<br />

In Russland ist der Hymnus (der акафист akáfist) im 11. Jahrhundert<br />

eingeführt worden, und seine Volkstümlichkeit hatte mit der Zeit weitere<br />

Gruß- und Bittandachten zur Folge, die von seiner Form Gebrauch<br />

machten: So gibt es einen Akathistos zum Gütigen Jesus, einen zum<br />

Schutzengel, zu Nikolaus von Myra und anderen Heiligen, zu den zwölf<br />

Hochfesten und zu vielen Festen von Muttergottes-Ikonen. 10 Manche<br />

dieser „Nachfolge-Akathistoi“ sind Ausfaltungen eines bestimmten marianischen<br />

Attributs im Ur-Akathistos oder einer Ikone, die einem solchen<br />

Attribut entstammt, z. B. der Akathistos zur Ikone Unerschöpflicher Kelch<br />

(s. u.). Die Struktur des Ur-Akathistos wird bei diesen Akafisty grundsätzlich<br />

beibehalten, dagegen ist die Anzahl der Strophen und der Chairetismen<br />

freier und sind die sprachlichen Stilmittel viel bescheidener.<br />

Auch der einzigartige Rhythmus kommt in den slavischen Hymnen nicht<br />

zur Geltung, weil Übersetzungen und Nachfolge-Dichtungen vornehmlich<br />

auf inhaltliche Genauigkeit achten. Immerhin verwendet man, wenn 24<br />

Stanzen vorhanden sind, mit Vorliebe dieselben Leitworte (also Engel,<br />

9<br />

Der Kanon, die zweite Hochform der byzantinischen Kirchendichtung, löste im 7.<br />

Jh. das Kontakion ab.<br />

10<br />

Gottesmutterikonen haben nur in Russland eigene Festtage.<br />

Seite 7


Schauend, Erkenntnis, Kraft…, obwohl die slavischen Initialen nicht das<br />

Alphabet ergeben wie im Vorbild Αγγελος, Βλέπουσα, Γνω�σιν,<br />

Δύναμις…).<br />

In neuester Zeit, besonders seit dem Verschwinden des atheistischen<br />

Sovetregimes, ist eine ganze Reihe von Akafisty zu den russischen<br />

Neumärtyrern entstanden, beispielsweise zum Zaren Nikolaj, der 1918<br />

von den Bolschewiken erschossen wurde, und zur populären Christusnärrin<br />

Ksenija von Petersburg (19. Jh.).<br />

Akathistos zur Gottesmutter „Unerschöpflicher Kelch“<br />

Auffällig oft begegnet man in restaurierten und neu gebauten Kirchen<br />

des postkommunistischen Russland der Ikone Gottesmutter Unerschöpflicher<br />

Kelch. Sie zeigt die halbfigurige, gekrönte Muttergottes in Orantehaltung,<br />

vor ihr steht auf einem Tisch ein Kelch, aus dem Jesus hervortritt,<br />

ebenfalls in frontaler Halbfigur und beidhändig segnend. 11 Sie wurde<br />

1878 in Sérpuchov 12 als wundertätig bekannt, als ein schwer trunksüchtiger,<br />

gelähmter Veteran vor ihr betend Heilung fand. Die Darstellung<br />

verweist auf die Eucharistie, da „das heilige Brot“ bei der Kommunion<br />

„allezeit gegessen und doch nie aufgezehrt<br />

wird“ 13 , auf die Inkarnation<br />

Christi aus Maria und auf die machtvolle<br />

Fürbitte der Jungfrau bei ihrem<br />

göttlichen Sohn. Zu ihr nehmen heute<br />

viele Alkohol- und Drogensüchtige<br />

Zuflucht, und die Gläubigen beten<br />

den Akathistos zur Allheiligen Gottesgebärerin<br />

vor ihrer wundertätigen<br />

Ikone „Unerschöpflicher 14 Kelch“<br />

(Ака�фист Пресвято�й Богоро�дице<br />

ра�ди чудотво�рной Ея� ико�ны<br />

"Неупива�емая ча�ша"). Insofern es<br />

sich bei diesem Hymnus um eine<br />

neuzeitliche russische Sprachform<br />

Gottesmutter Unerschöpflicher Kelch<br />

handelt, ist die Ausdrucksweise <strong>für</strong><br />

die heutigen Gläubigen viel besser<br />

verständlich als die des Ur-<br />

Akathistos, in welchem doch einige „unmögliche“ Wörter vorkommen,<br />

etwa Lehnübersetzungen aus dem Griechischen, die man im Alltagsrus-<br />

11<br />

Es handelt sich also um eine Variante der Gottesmutter des Zeichens.<br />

12<br />

Südlich von Moskau.<br />

13<br />

Chrysostomus-Liturgie, Brotbrechung; im Akath.: Oik. VI – Λ, Chairetismen.<br />

14<br />

Vom Wortgebrauch und vom Sinn her ist auch die Übersetzung unaustrinkbarer<br />

oder nicht berauschender Kelch möglich; vgl. auch den Titel Der niegeleerte Kelch<br />

des russischen Dichters Ivan Šmelev (Berlin 1926).<br />

Seite 8


sischen nicht kennt. 15 Auch enthalten die Stanzen erzählerische Passagen,<br />

welche die historischen Tatsachen schildern, z. B. Kont. III – Δ:<br />

Die Kraft 16 des Allerhöchsten und die Huld der Gebieterin stärkten jenen<br />

trunksüchtigen Mann, als er, dem Anruf des heiligen Varlaam 17 gemäß<br />

der Aufforderung der Gottesmutter Folge leistend, trotz seiner gelähmten<br />

Beine nach Serpuchov pilgerte. In der Stadt angekommen, fand er die<br />

Ikone der allerreinsten Gottesmutter und war alsbald von seiner seelischen<br />

und leiblichen Krankheit genesen. Deshalb rief er voll Dankbarkeit<br />

aus tiefstem Herzen zu Gott: „Alleluja!“<br />

Die „Nachfolge-Akathistoi“ sind zwar nicht mit der byzantinischen Hochform<br />

vergleichbar, was die dichterische Qualität und die theologische<br />

Tiefe angeht, aber Glaubensgehalt, Innigkeit und Spiritualität sind dieselben<br />

geblieben, weil sie aus denselben Quellen schöpfen. Immerhin<br />

zeigen sich besonders in den Chairetismen 18 auch manche biblische Anspielungen,<br />

und vom Mittel des Parallelismus wird reichlich Gebrauch<br />

gemacht; als Beispiel diene Oik. III – Ε:<br />

Freu dich, Becken 19 , in dem alle unsere Sorgen versinken;<br />

freu dich, Kelch, durch den wir die Freude unserer Rettung empfangen;<br />

freu dich, du heilst unsere seelischen und leiblichen Schwächen;<br />

freu dich, du mäßigst durch dein mächtiges Gebet unsere Leidenschaften.<br />

Freu dich, den Betenden schenkst du in allen Nöten das Nötige;<br />

freu dich, allen spendest du unermessliches Mitleid;<br />

freu dich, du öffnest uns die Schatzkammer des Erbarmens;<br />

freu dich, du offenbarst den Gefallenen die Barmherzigkeit.<br />

Freu dich, Gebieterin, du unerschöpflicher Kelch, der den geistigen<br />

Durst uns stillt.<br />

15<br />

Beispiel: sl. дре�во благосенноли�ственное < gr. ξύλον ευ�σκιόφυλλον, wörtl.<br />

„wohlschattenblättriges Holz“, d. h. „Baum mit reichlich Schatten spendendem Laub“<br />

(Str. XIII – Ν).<br />

16<br />

Man beachte: Grundwort Δύναμις des Ur-Akathistos.<br />

17<br />

Der hl. Varlaam von Serpuchov († 1377), dessen Gedächtnis die Russ. Orth. Kirche<br />

gleichzeitig mit dem der Ikone am 5. Mai feiert, war dem Soldaten erschienen.<br />

18<br />

In diesem wie in einigen andern Folge-Akathistoi sind es jeweils acht Akklamationen.<br />

19<br />

Sl. купе�ль (Bade-)Teich, Zisterne ist auch Fachausdruck <strong>für</strong> das kelchförmige (!)<br />

Taufbecken, in dem Kinder getauft werden. Gleichzeitig erinnert die Metapher an die<br />

Muttergottesikone Ζωοδόχος πηγή Lebenspendende Quelle, auf der die Jungfrau<br />

selbst in einem kelchförmigen Brunnenbecken erscheint.<br />

Seite 9


So sind die neuen Akathistoi ein schönes Beispiel <strong>für</strong> echte Tradition,<br />

wenn man sich vor Augen hält, dass diese nach wie vor so beliebten Andachten<br />

in Form eingängiger Gesänge auf die frühbyzantinische Kontakiendichtung<br />

zurückgehen, die ihrerseits ihren Ursprung in den liturgischen<br />

Hymnen der Syrischen Kirche haben.<br />

Dr. Jean-Paul Deschler, Protodiakon, Basel<br />

Gottesmutter des Zeichens:<br />

Ikone der Inkarnation<br />

Seite 10


Impressum<br />

Herausgeber: <strong>VOM</strong> – <strong>Verein</strong> <strong>für</strong> ostkirchliche <strong>Musik</strong><br />

Präsident, Redaktion:<br />

Werner Dudli<br />

Rebbergstrasse 2f Tel. 044 750 09 01<br />

CH-8102 Oberengstringen<br />

Sekretariat:<br />

<strong>VOM</strong> – <strong>Verein</strong> <strong>für</strong> ostkirchliche <strong>Musik</strong> Tel. 061 683 73 10<br />

Peter Vitovec Fax 061 683 73 12<br />

Bläsiring 128 E-Mail: vitovec@bluewin.ch<br />

CH-4057 Basel<br />

Mediothek:<br />

Weibelhaus, Herisauerstrasse 4<br />

CH-9200 Gossau SG Tel. 071 383 36 39<br />

Postscheckkonto Schweiz: 60 – 27171 – 1<br />

Bankkonto Deutschland: Konto 00 – 189 100 bei der Sparkasse Hochrhein,<br />

Waldshut-Tiengen (BLZ 684 522 90)<br />

Bankkonto Österreich: Konto 284 784 111 bei der<br />

Hypothekenbank des Landes Vorarlberg, Filiale<br />

Feldkirch<br />

Das Weibelhaus mit Laden und Mediothek ist wie folgt geöffnet:<br />

Termine nach <strong>Verein</strong>barung mit dem Präsidenten, Tel. 044 750 09 01.<br />

Adresse: Herisauerstrasse 4, 9200 Gossau SG, Tel. 071 383 36 39.<br />

Seite 11


Termine 2006:<br />

Samstag, 28. Januar 2006 Gossau, Weibelhaus, 10.30 – 16.00 Uhr<br />

Samstagforum. Thema: Gesänge zur Fastenzeit<br />

aus der Ukraine<br />

Anmeldung an Werner Dudli, 044 750 09 01<br />

24. – 26. Februar 2006 <strong>Musik</strong>seminar im Haus Bethanien, St. Niklausen<br />

OW zum Thema Pfingsten, mit Archimandrit<br />

Irenäus Totzke, Ökumenisches Institut<br />

der Abtei Niederaltaich<br />

Samstag, 25. März 2006 Gossau, Weibelhaus, 10.30 – 16.00 Uhr<br />

Samstagforum. Thema: Gesänge zur Osterzeit<br />

aus der Ukraine<br />

Anmeldung an Werner Dudli, 044 750 09 01<br />

Samstag, 27. Mai 2006 Generalversammlung 2006<br />

28. Juli – 7. August 2006 Singwoche mit Emil Sokač und dem Kammerchor<br />

Cantus in Užhorod (Transkarpatien/Ukraine).<br />

Auskunft: Werner Dudli, 044 750 09 01<br />

Besuchen Sie unsere Website: www.ostkirchenmusik.ch<br />

Seite 12<br />

Dezember 2005

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