Das Memelland 1920 — 1939
Das Memelland 1920 — 1939
Das Memelland 1920 — 1939
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<strong>Das</strong><br />
<strong>Memelland</strong><br />
<strong>1920</strong> <strong>—</strong> <strong>1939</strong><br />
und das Problem der<br />
Minderheiten<br />
VORTRAG<br />
von Universitätsprofessor<br />
Dr. Walther Hubatsch - Bonn<br />
gehalten am 22. März 1964<br />
in Oldenburg<br />
Sonderdruck aus Nr. 10-13 /1964<br />
des „Memeler Dampfbootes“,<br />
der HEIMATZEITUNG aller<br />
Memelländer<br />
Zwischen dem langgestreckten pommerschen<br />
Meeressaum und dem kurischen Strand<br />
liegt an der mittleren Ostsee die reich<br />
gegliederte Küste Preußens. An ihren<br />
schön geschwungenen Nehrungsbögen<br />
hän-gen an den äußersten Enden zwei<br />
natür-liche Hafenplätze: Danzig und<br />
Memel. Als der Versailler Vertrag dem<br />
preußischen Adler die FIügel beschnitt,<br />
wurden beide Seestädte vom Staatsgebiet<br />
abgetrennt. Sie fielen der zeitgebunden<br />
Doktrin zum Opfer, daß der Wohlstand<br />
einer Nation auf dem Seehandel beruhe,<br />
daß infolgedessen auch neugegründete<br />
Staaten einen freien Zugang zum Meer<br />
haben müßten; nicht in der<br />
vertragsmäßigen Form eines Freihafens,<br />
sondern in eigenem, ungeteiltem Besitz,<br />
mit vollem Verfügungsrecht. Darin äußert<br />
sich die Zeitströmung des<br />
imperialistischen Navelismus, wie sie in<br />
England geläufig war und wie sie die<br />
Nordamerikaner zum ersten Mal gegenüber<br />
einer europäischen Nation im spanischamerikanischen<br />
Kriege 1898 durchgesetzt<br />
haben.<br />
Der Artikel 99 des Versailler Vertrages<br />
von 1919 lautet: „Deutschland verzichtet<br />
zugunsten der alliierten und<br />
assoziierten Hauptmächte auf alle Rechte<br />
und Ansprüche auf die Gebiete zwischen<br />
der Ostsee, der in Artikel 28 des Teiles<br />
II (Deutschlands Grenzen) des<br />
gegenwärtigen Vertrages beschrieben<br />
Nordostgrenze Ostpreußens und den alten<br />
Grenzen zwischen Deutschlands und<br />
Russland. Deutschland verpflichtet sich,<br />
1 von 11<br />
die Bedingungen anzuerkennen, welche die<br />
alliierten und assoziierten Hauptmächte<br />
in Bezug auf diese Gebiete, insbesondere<br />
über die Staatsangehörigkeit der<br />
Einwohner, treffen werden. Der genannte<br />
Artikel 28 beschrieb umständlich die<br />
neue Nordost-Grenze Ostpreußens: von<br />
Schmalleningken in der Mitte des Memel -<br />
, Ruß und Skirwieth -Stromes über das<br />
Kurische Haff bis 4 km südlich Nidden;<br />
die Nehrung wurde durch die<br />
Trennungslinie der Kreise Memel und<br />
Fischhausen als neue Grenze<br />
durchschnitten. Die Artikel 331 und 342<br />
brachten zusätzliche Bestimmungen über<br />
die Internationalisierung der Verwaltung<br />
des Memelstromes.<br />
Soweit die Versailler Bestimmungen. Sie<br />
sagten nur nichts darüber aus, wer die<br />
begünstigte Macht, die Nutznießerin der<br />
abgetretenen Gebiete sein sollte. Ein<br />
litauischer Staat im rechtlichen Sinne<br />
existierte zur Zeitpunkt des<br />
Vertragsabschlusses noch nicht. Litauen,<br />
zwar im Frieden von Brest- Litowsk am 3.<br />
März 1918 vom russischen Staatsgebiet<br />
gelöst, hatte sich bereits am 16.<br />
Februar desselben Jahres und unabhängig<br />
erklärt und durch seine provisorische<br />
Regierung am 11.Juli das<br />
konstitutionelle Königtum Litauen<br />
ausgerufen. Die Krone wurde den Herzog<br />
von Urach als Mindaugas II. angeboten,<br />
der jedoch auf mancherlei Widerstände<br />
traf, bis zum November, als man sich für<br />
die Staatsform der Republik entschied.<br />
Dann wurde auch Litauen in den Strudel<br />
des Unterganges der Mittelmächte<br />
hineingerissen, aber durch die Hilfe<br />
deutscher Freiwilligentruppen vor der<br />
Roten Armee und damit der<br />
Wiedereinbeziehung in den russischen<br />
Staatsverband bewahrt.<br />
Bei Unterzeichnung des Versailler<br />
Vertragens, an dem die Ostmächte nicht<br />
beteiligt waren, war die Zukunft<br />
Litauens noch ganz ungewiss und die<br />
politische Lage in Ostmitteleuropa noch<br />
durchaus labil. Erst fast ein Jahr<br />
später, am 15. Mai <strong>1920</strong>, während des<br />
russisch-polnischen Krieges, wurde eine<br />
litauische konstituierende Versammlung<br />
einberufen; im gleichen Jahr erfolgte im<br />
Vertrag mit der Sowjetrepublik Rußland<br />
die staatliche Anerkennung der litauischer<br />
Republik, während zu gleicher<br />
Zeit Polen mit bewaffneter Macht die<br />
eigentliche Hauptstadt Litauens,Wilna,<br />
und das umliegende Gebiet besetzte. Die<br />
Rechtsunsicherheit ist für jenes<br />
„Zwischeneuropa“ damals noch kennzeichnend.<br />
Eine erste Stabilisierung<br />
zeichnete sich durch Litauens Aufnahme<br />
in den Völkerbund am 22. September 1921<br />
ab, worauf die Anerkennung der<br />
europäischen und amerikanischen Staaten<br />
in diesem und dem nächsten Jahre folgte.<br />
Wenn daher in der alliierten Mantel-Note<br />
vom 16. Juni 1919 deutlicher als im späteren<br />
Vertragstext selbst die Abtretung
des <strong>Memelland</strong>es damit begründet wird,<br />
Memel sei der einzige Zugang Litauens<br />
zum Meer, so ist damals unter dem<br />
vorherrschenden polnischen Einfluß in<br />
Paris anzunehmen, daß das „historische“<br />
Litauen gemeint ist, das dem polnischen<br />
Staat inkorporiert gewesen sei, mit<br />
anderen Worten: daß auch Memel wie<br />
Danzig als Hafen einem großpolnischen<br />
Staat dienen sollte.<br />
Dieser Argwohn war noch Anfang des<br />
Jahres 1923 in Litauen lebendig. So hat<br />
wohl auch die Besorgnis, dass die<br />
Franzosen als Treuhänder des<br />
Völkerbundes das von ihnen besetzte<br />
Memelgebiet an Polen geben könnte, dazu<br />
beigetragen, auf eigene Faust vollendete<br />
Tatsachen zu schaffen. Am 9. Januar 1923<br />
erfolgte der litauische Einmarsch und<br />
die Besitzergreifung dieses Gebietes.<br />
<strong>Das</strong> Deutsche Reich war durch den<br />
gleichzeitig erfolgenden französischen<br />
Einfall in das Ruhrgebiet, durch<br />
kommunistische Aufstände und durch den<br />
Währungsverfall gelähmt. <strong>Das</strong> Internum<br />
eines alliierten-assozierten<br />
Kondominiums hörte zugunsten der von<br />
Litauen in diesem Gebiet beanspruchten<br />
Souveränität auf. Die Verantwortung dafür<br />
und für alle Folgen lag gemäß<br />
Artikel 99 des Versailler Vertrags bei<br />
den alliierten Hauptmächten.<br />
Die Zeit des Kondominiums war dadurch<br />
bezeichnet, dass von vornherein die<br />
völkerrechtliche Stellung des Memelgebietes<br />
eine durchaus andere gewesen<br />
ist, als die von Danzig. Die bei Danzig<br />
vorhandene staatliche Existenz fehlte<br />
Memel; dieses blieb ein Staatsfragment.<br />
Der rechtliche Schutz lag nicht beim<br />
Völkerbund, sondern war von den vier<br />
alliierten und assoziierten Hauptmächten<br />
abhängig. Die weitere Verfügung über das<br />
Gebiet blieb den Alliierten vorbehalten,<br />
so dass sich in den Jahren 1919<strong>—</strong>1923<br />
eine unklare Situation ergab. Der<br />
diplomatische Schutz der Memelländer<br />
wurde durch Frankreich wahrgenommen. Die<br />
interne Verwaltungspraxis hat jedoch<br />
nach wie vor die Memelländer als<br />
Deutsche behandelt.Am 12. Februar <strong>1920</strong><br />
zogen die deutschen Truppen aus dem<br />
Memelgebiet ab, am 15. Februar wurde es<br />
durch den Reichsbevollmächtigten,<br />
Regierungspräsident a. D. Graf<br />
Lambsdorf, an den Befehlshaber der<br />
französische Truppen, General Odry,<br />
übergeben. Die Verwaltung des Gebietes<br />
wurde weiterhin durch beurlaubte<br />
deutsche Beamte ausgeübt, deren<br />
Beamtenrechte im Reich aufrechterhalten<br />
blieben. Die Zollgrenze gegen das Reich<br />
wurde am 27. April <strong>1920</strong> errichtet,<br />
seitdem ist bis zum Ende des<br />
Kondominiums das <strong>Memelland</strong> ein eigenes<br />
Zollgebiet geblieben. Die Reichsbank<br />
wurde am 18. November <strong>1920</strong> durch die<br />
alliierten Hauptmächte zur Weiterführung<br />
der Geschäfte im <strong>Memelland</strong> veranlasst,<br />
mithin hat ein gemeinsame Währungsgebiet<br />
2 von 11<br />
Reich-<strong>Memelland</strong> trotz der Inflationsschwierigkeiten<br />
bestanden; erst am<br />
11.Juni 1923, ein halbes Jahr nach der<br />
Ende des Kondominiums, ist die<br />
litauische Währung im Memelgebiet<br />
eingeführt worden. Auch der deutsche<br />
Rechtszustand blieb erhalten, das ganze<br />
Gebiet wurde zu einem Landgerichtbezirk<br />
zusammengefasst. Der Wegfall der höheren<br />
Instanzen von Oberlandesgericht<br />
Königsberg und Reichsgericht ist durch<br />
ein gemeinsames Danzig-Memelländisches<br />
Obergericht in Danzig am 30. August <strong>1920</strong><br />
ausgeglichen worden. Der Eisenbahnverkehr<br />
im Memelgebiet wurde weiterhin<br />
durch die Reichsbahn auf Rechnung des<br />
Reiches durchgeführt. Die Post wurde<br />
memelländisch selbständig, die Polizei<br />
von der Besatzungsbehörde gestellt. Die<br />
innere Verwaltung wurde so eingerichtet<br />
dass ein Gouverneur im Namen der<br />
alliierten Mächte eingesetzt wurde, der<br />
gesetzgeberische Hoheit hatte. Dieser<br />
ernannt das aus der memelländischen<br />
Bevölkerung ausgewählte Direktorium.<br />
Erst am 2.März 1922 kam es zu einer<br />
Verordnung über die Befugnisse der<br />
alliierten Verwaltung und des memelländischen<br />
Direktoriums.Zum Oberkommissar<br />
wurde der französische Präfekt<br />
Pétisné bestellt, diesem blieben<br />
vorbehalten: die Polizeihoheit, die<br />
Regelung der militärischen Angelegenheiten,<br />
die Gnadenhoheit, die<br />
Anstellung mittlerer und höherer<br />
Beamter. <strong>Das</strong> Verwaltungsgericht und der<br />
Staatsrat wurden neu eingerichtet, das<br />
Land in den Stadtkreis Memel und die<br />
drei Landkreise Memel, Heydekrug und<br />
Pogegen eingeteilt.Die militärische<br />
Besatzung wurd verringert und betrug<br />
zuletzt nur noch ein Bataillon<br />
Infanterie. <strong>Das</strong> <strong>Memelland</strong> führt eine<br />
eigene Flagge: gelb-rot mit dem Memeler<br />
Stadtwappen in der oberen Ecke am<br />
Flaggenstock; diese Flagge wurde im<br />
Lande selbst außerhalb der Stadt Memel<br />
jedoch kaum gezeigt; die Memeländer<br />
flaggten grün-weiß-rot, was zugleich die<br />
Tilsiter Stadtfarben waren.<br />
Während der ganzen Zeit des Kondominiums<br />
blieb Litauen ohne jeden<br />
Einfluss. <strong>Das</strong> Recht, Handelsverträge für<br />
das <strong>Memelland</strong> abzuschließen, lag beim<br />
Oberkommissar, und dieser hat die<br />
bisherigen natürlichen Handelsbeziehungen<br />
des Landes es nicht wesentlich<br />
eingeschränkt. Am 30. September <strong>1920</strong><br />
wunde von den Franzosen eine<br />
Volkszählung durchgeführt, die fast<br />
genau die gleichen Zahlen wie die<br />
deutsche Zählung von 1910 feststellte.<br />
Im Jahr darauf (1921) wurde eine<br />
Elternbefragung über die gewünschte<br />
Unterrichts-sprache veranstaltet; dabei<br />
wunde festgestellt, dass 11,2 Prozent<br />
der ländlichen Bevölkerung für<br />
litauischen Religionsunterricht, jedoch<br />
nur 2,2 Prozent für litauischen Schreibund<br />
Leseuntericht stimmten. Der Stadt-
kreis Memel ist von vornherein nicht<br />
befragt worden, so dass die<br />
Prozentzahlen, auf alle Schulen angewandt,<br />
ein noch weit ungünstigeres Bild<br />
für die litauische Unterrichts-sprache<br />
im Memeland ergeben hätte.<br />
Angesichts dieser klaren Meinungsäußerung,<br />
die jedoch nicht als politische<br />
Willensmeinung gelten gelassen<br />
wurde, wäre die Rückgabe des Gebietes an<br />
das deutsche Reich oder zumindest eine<br />
Volksbefragung das nächstliegende<br />
gewesen. Es ist kein Zweifel, dass eine<br />
solche wie im Jahre <strong>1920</strong> in Masuren<br />
und Westpreußen eine überwältigende<br />
Mehrheit für Deutschland erbracht haben<br />
würde. Die alliierten und assoziierten<br />
Mächte haben jedoch den Artikel 99 des<br />
Versailler Vertrages um diesen Preis<br />
nicht freigeben wollen. Da eine Rückgabe<br />
an Deutschland und eine Volksbefragung<br />
ihrer Meinung nach ausgeschlossen blieb,<br />
wurde von Seiten der französischen<br />
Besatzungsmacht die Tendenz zu einer<br />
Freistaatlichen Verfassung des <strong>Memelland</strong>es<br />
verstärkt.<br />
Die französisch-polnischen Verhandlungen<br />
vom November 1922 führten dann die<br />
Gefahr herauf, daß sich Polen in<br />
ähnlicher Weise, wie es mit Wilna<br />
geschehen war, auch Memels bemächtigen<br />
würde. Um allen derartigen Weiterungen<br />
zuvorzukommen, ergriff Litauen das<br />
Mittel des Staatsstreichs.<br />
Der französische Oberkommissar und die<br />
Botschafterkonferenz reichten Protestschreiben<br />
ein. Französische und<br />
englische Kriegsschiffe liefen in Memel<br />
ein, begnügten sich jedoch damit, die<br />
Einschiffung der französischen Truppen<br />
zu decken. Angesichts des RuhrkonfIiktes<br />
nahmen die alliierten und assoziierten<br />
Mächte, unter sich uneins, davon<br />
Abstand, im Osten energisch<br />
durchzugreifen,da unabsebare Verwicklungen<br />
befürchtet wurden, falls etwa<br />
Polen Memel besetzen würde. Es wurde<br />
lediglich eine internationale<br />
Kommission, bestehend aus dem Franzosen<br />
CIinchaut, dem Engländer Fry und dem<br />
Italiener Aloisi nach Memel geschickt,<br />
die am 26. Januar dort eintraf. Zehn<br />
Tage vorher hatte das sogenannte<br />
„Direktorium“ der Litauer die gesamte<br />
öffentliche Gewalt mit militärischer<br />
Hilfe in die Hand gebracht. Es kann wohl<br />
keinen Zweifel darüber geben, daß es<br />
sich um den völkerrechtlichen Vorgang<br />
einer Ocupatio quasi-bellica gehandelt<br />
hat.<br />
Am 26. Februar 1923 kam es zu einem<br />
Beschluß der Botschafterkonferenz,<br />
wonach auf die Souveränität im<br />
Memelgebiet von den AlIliierten<br />
zugunsten Litauens Verzicht geleistet<br />
wurde; es ist lediglich die Bedin-gung<br />
gestellt, dem Gebiet Autonomie<br />
zu-zugestehen. Litauen hat diesen<br />
Vorschlag am 23. März 1923 angenommen.<br />
3 von 11<br />
Am 7. Mai 1923 verkündete Litauen<br />
daraufhin die Autonomie des <strong>Memelland</strong>es.<br />
Auf dieser Basis sind dann<br />
zwischen den vier alliierten<br />
Hauptmächten und Litauen Verhandlungen<br />
geführt worden, die am 8. Mai 1924 zur<br />
Memelkonvention mit dendrei dazugehörigen<br />
Anlagen Memellstatut, Memeler<br />
Hafen und Durchgangsverkehr führten.<br />
Hiermit wurde die Staats- und völkerrechtliche<br />
Grundlage der Stellung des<br />
Memelgebiets für die folgenden 15 Jahre<br />
festgelegt. Die Ratifikation der<br />
Memelkon-vention (von den USA weder<br />
unterzeichnet noch ratifiziert) hat sich<br />
bis zum 25. August 1925 hingezogen.<br />
Jedoch erfolgte die treu-händerische<br />
Verwaltung dieses Gebietes durch Litauen<br />
zugunsten der Alliierten be-reits durch<br />
den Zusatzvertrag vorn 8. Mai 1924 von<br />
diesem Tage an. Am 10. Februar 1925,<br />
noch vor der Ratifikation der<br />
Memelkonvention, wurde zwischen dem<br />
Deutschen Reich und Litauen ein Vertrag<br />
über die Bürger des Memelgebietes<br />
geschlossen.<br />
Die Memelkonvention wurde am 8. Mai 1924<br />
in Paris durch die Bevollmächtigten<br />
Englands, Frankreichs, ltaliens, Japans<br />
einerseits und Litauens andererseits<br />
unterzeichnet. Die Vereinigten Staaten<br />
von Nordamerika sind zwar in der<br />
Präambel genannt, haben jedoch, wie<br />
erwähnt, nicht unterzeichnet und ratifiziert.<br />
Artikel 1 überträgt die<br />
Souveränität über das Memelgebiet an<br />
Litauen. Artikel 2 stellt fest, daß das<br />
Memelgebiet entsprechend dem Memelstatut<br />
Autonomie unter der Souveränität<br />
Litauens erhält. Artikel 3 verpflichtet<br />
Litauen, die Bestimmungen über den<br />
Memeler Hafen und den Transitverkehr<br />
(Anhang 2 und 3) durchzuführen. Artikel<br />
4 legt Litauen auf, Besatzungs- und<br />
Verwaltungskosten den Alliierten zu<br />
erstatten. In Artikel 5 wird das<br />
deutsche Staats- bzw. Reichseigentum im<br />
<strong>Memelland</strong> Litauen übertragen, das es<br />
seinerseits wieder an das Memelgebiet<br />
über-trägt mit Ausnahme der Eisenbahn,<br />
Post, Zoll und Hafen sowie dazugehörigen<br />
Ausrüstungen. Artikel 6 und 7 betreffen<br />
Finanz- und Vermögensbestimmungen.<br />
Artikel 8 bis 10 Staatsangehörigkeitsfragen,<br />
Artikel 11 erstreckt die<br />
Minderheitendeklaration auf das <strong>Memelland</strong>.<br />
Artikel 12 betrifft Personen und<br />
Gesellschaften fremder Staatsangehörigkeit.<br />
Artikel 13 schränkt die<br />
Aufhebung der Militärdienstpflicht für<br />
Memelbürger bis zum 1.Januar 1930 ein.<br />
In Artikel 15 haben sich die alliierten<br />
und assoziierten Mächte vorbehalten, daß<br />
Souveränitätsrechte über das Memelgebiet<br />
nicht ohne ihre Zustimmung übertragen<br />
wenden dürfen. Artikel 17 sieht die<br />
Schiedsgerichtsbarkeit des ständigen<br />
internationalen Gerichthofes vor, jedoch<br />
nur im Falle ein er Meinungsverschiedenheit<br />
zwischen der litauischen
Regierung und irgendeiner der<br />
alliierten Hauptmächte. Eine<br />
Schiedsgerichtsbarkeit zwischen den<br />
Verwaltungsorganen des Memelgebietes und<br />
Litauen oder zwischen Deutschland und<br />
Litauen ist in der Memelkonvention<br />
nirgends vorgesehen.<br />
Nach Artikel 16 bildet das Statut des<br />
Me-melgebiets als Anhang einen<br />
wesentlichen Bestandteil der Memelkonvention.<br />
<strong>Das</strong> Memelstatut wird mit<br />
einer Präambel eingeleitet, deren<br />
Formulierung angesichts der bald darauf<br />
ausbrechenden heftigen Streitigkeiten<br />
genügend Anlass zu spöttischen<br />
Bemerkungen geliefert hat: „In<br />
Verwirklichung des weisen Entschlusses,<br />
dem Memelgebiet Autonomie zu gewähren<br />
und die überlieferten Rechte und die<br />
Kultur seiner Bewohner zu sichern. . .<br />
Von den Bestimmungen des Memelstatuts<br />
sind folgende von grundlegender Bedeutung:<br />
<strong>Das</strong> Memelgebiet ist unter der<br />
Souveränität Litauens in Gesetzgebung,<br />
Rechtsprechung, Verwaltung und Finanzen<br />
autonom (Art. 1). Der Präsident der<br />
litauischen Republik ernennt einen<br />
Gouverneur (Art. 2). Memelländische<br />
Landtagsab-geordnete können in die<br />
litauische Volksvertretung in Kowno<br />
gewählt werden (Art. 3). Der Geschäftsbereich<br />
der autonomen Verwaltung des<br />
Memelgebietes wird in Art. 5 präzisiert<br />
Dazu gehören u. a. Religions- und Unterrichtswesen,<br />
Arbeitsgesetzgebung,<br />
Regelung, des Aufenthaltes der<br />
Ausländer, Polizei bürgerliche<br />
Gesetzgebung und Strafgesetzgebung,<br />
Erwerb der Rechte als Bürger des Memelgebietes,<br />
Gerichtsverfassung,<br />
Registrierung der Handelsschiffe. Es<br />
soll hier vorweg bemerkt werden, daß<br />
nicht ein einziger dieser Punkte im<br />
Laufe der auf die Memelkonvention<br />
folgenden fünfzehn Jahre von litauischer<br />
Seite her nicht angefochten oder<br />
verletzt worden ist. Der Begriff der<br />
Memelbürgerschaft wird in Art. 8 und 9<br />
umschrieben, Art. 10 bis 13 behandeln<br />
den memelländischen Landtag, Art. 14 und<br />
15 den Wirtschaftsrat des Memelgebietes.<br />
Von besonderer Bedeutung sollte Art. 16<br />
werden, der dem Gouverneur das<br />
Einspruchsrecht gegen Gesetze des<br />
Memeländischen Landtags einräumt. Art.<br />
17 regelt die Befugnisse des<br />
Direktoriums. Art. 20 verfügt über die<br />
Zuständigkeit der Polizei wobei die<br />
Grenz-, Zoll- und Eisenbahnpolizei von<br />
Litauen gestellt Wird. Art. 21 ist der<br />
Praxis ebenfalls nach Gutdünken verletzt<br />
worden, so daß sein Wortlaut hier folgen<br />
mag: „Die von den Gerichten de<br />
Memelgebietes und die von den anderen<br />
Iitauischen Gerichten getroffenen<br />
Entscheidungen werden im ganzen Gebiet<br />
Litauen einschließlich des Memelgebiets<br />
anerkannt. <strong>Das</strong> gleiche gilt für die<br />
von den Behörden des Memelgebiets und<br />
von den Behörden der anderen Teile<br />
4 von 11<br />
Litauens erlassenen Haftbefehle.“ Die<br />
nächstfolgenden Artikel (2 bis 24)<br />
handeln von der Gerichtshoheit, Art. 25<br />
von dem Lehrplan der öffentliche,<br />
Schulen, wobei ein versteckter<br />
Sprachenparagraph hier Aufnahme gefunden<br />
hat: „Der Lehrplan der öffentlichen<br />
Schulen des Memelgebiets darf nicht<br />
hinter dem Lehrplan zurückbleiben, der<br />
für die entsprechende Schulen der<br />
übrigen Teile des litauischen<br />
Staatsgebiets gilt.“ Art. 27 erklärt die<br />
Gleichberechtigung der litauischen und<br />
der deutschen Sprachen als Amtssprachen<br />
im Memelgebiet. Art. 28 bis 30 regeln<br />
die Rechte der Beamten und Angestellten.<br />
Art. 31, ebenfalls oft genug zu<br />
Ungunsten der deutschen Bevölkerung im<br />
Memelgebiet ausgelegt, stellt den<br />
memelländischen Schulbehörden frei bis<br />
zum 1. 1. 1930 Lehrpersonal fremder<br />
Staatsangehörigkeit anzustellen. Artikel<br />
3 proklamiert die Versammlungs- und<br />
Vereinigungsfreiheit, die Gewissens- und<br />
Pressefreiheit für alle Einwohner des<br />
Memelgebietes. Die weiteren Artikel<br />
regeln Bestimmungen über Pässe (Art.<br />
34), Zölle (Art. 35), Verkehr (Art. 36)<br />
und Landtagswahlen (Art. 37). Art. 38<br />
trifft Bestimmungen über Änderungen des<br />
Memelstatuts auf Antrag des Landtags und<br />
Volksabstimmung.<br />
Die Bestimmungen über den Memeler Hafen<br />
(Anhang II der Memelkonvention)<br />
sehen vor, daß Vorschläge der Konferenz<br />
von Barcelona über Häfen unter<br />
internatio-nalem Regime anzuwenden,<br />
weisen die Ko-sten für Unterhalt und<br />
Ausbau des Hafens und der Wasserstraßen<br />
der litauischen Regierung zu und<br />
errichten in Art. 5 bis 14 eine<br />
Hafendirektion aus drei Mitgliedern<br />
(1 Litauer,1 Memelländer, 1 Völkerbundsmitglied,<br />
das nicht Angehöriger der<br />
Memeluferstaaten ist).<br />
Im Anhang III der Memelkonvention werden<br />
in vier Artikeln und einer<br />
Übergangsbestimmung Vorschriften über<br />
den Transitverkehr getroffen. Darin wird<br />
Verkehrsfreiheit von und nach dem<br />
Memelgebiet zugesichert und im Memeler<br />
Hafen eine Freizone für Holz nicht<br />
litauischen Ursprungs errichtet. Durch<br />
die Bestimmungen über den Transitverkehr<br />
soll ein Lagersystem für gemischten<br />
Transit geschaffen werden, „das für die<br />
Benutzung mindestens ebenso vorteilhaft<br />
ist, wie dasjenige, das unter der<br />
deutschen Herrschaft bestanden hat<br />
(Art. 2). In Art. 3 verpflichtet sich<br />
die litauische Regierung, dem Verkehr<br />
auf dem Memelfluß alle Erleichterungen<br />
zu gestatten und zuzugestehen, ohne daß<br />
aus den gegenseitigen politischen<br />
Beziehungen zwischen Litauen und Polen<br />
Einschränkungen erwachsen. <strong>Das</strong> Abkommen<br />
über den Memeler Hafen ist von denselben<br />
Beauftragten ihrer Regierun-gen<br />
unterzeichnet worden, die am gleichen<br />
Tage die Memelkonvention ausfertigten.
Die Memelkonvention zeigt sich in<br />
zahlreichen entscheidenden Punkten<br />
(Verwaltung,Finanzen,Kommissar,Vertretung)<br />
unünstger als das Statut der<br />
freien Stadt Danzig.<br />
Bei der Beurteilung der Wirksamkeit der<br />
Memelkonvention ist von vornherein zu<br />
be-rücksichtigen, daß deren Ratifikation<br />
erst am 25. August 1925 erfolgt ist, daß<br />
jedoch bereits am 17. Dezember 1926<br />
durch Gesetz der Kriegszustand im<br />
Memelgebiet eingeführt worden ist, der<br />
dem Kriegskommandanten diktatorische<br />
Vollmachten übertrug, wodurch der<br />
Gouverneur nicht mehr an die<br />
Bestimmungen des Memelstatuts gebunden<br />
war. Dieser Kriegszustand wurde erst am<br />
1. Dezember 1938 aufgehoben. Die<br />
Memelkonvention, auch in der Zeit des<br />
Kriegszustandes von der Memelbevölkerung<br />
als Grundlage ihres Verhältnisses zum<br />
litauischen Staat anerkannt, hatte sich<br />
unter die-sen Umständen nicht in<br />
normalen Verhältnissen bewähren können.<br />
<strong>Das</strong> Memelstatut hat die sogenannte<br />
Autonomie verbürgen wollen. Es ist zu<br />
fragen, wer hier „autonom“ werden<br />
sollte. Der gemäß Artikel 99 des<br />
Versailler Vertrages zugunsten der<br />
Alliierten abgetretene Raum umfaßte mit<br />
2656 qkm etwa die Hälfte des<br />
Regierungsbezirks Düsseldorf. <strong>Das</strong> neue<br />
Gebiet war keine verwaltungsmäßige<br />
Einheit. Es umfaßte den ganzen Stadtund<br />
Landkreis Memel, 2/3 des Kreises<br />
Heydekrug, 1/2 qkm Niederung, 4/5 des<br />
Landkreises Tilsit und 1/4 des Kreises<br />
Ragnit. Alle diese Kreise gehörten dem<br />
Regierungsbezirk Gumbinnen an. Eine<br />
Memelfrage war vor 1919 ebenso unbekannt<br />
wie eine Danziger Frage. <strong>Das</strong> <strong>Memelland</strong><br />
war kein natürliches oder kulturelles,<br />
verwaltungsmäßiges oder konfessionelles<br />
Sonder-Territorium, vielmehr eine<br />
künstliche politische, der Bevölkerung<br />
oktroyierte Neubildung. Die Grenze<br />
zwischen Ostpreußen und Litauen<br />
(Russland) bestand 1919 fast 500 Jahre,<br />
sie stellte hier eine Rückzugsgrenze des<br />
Deutschen Ordens (DO) dar, der 1422<br />
seinem Anspruch auf Samaiten entsagt<br />
hatte.<br />
Die Auswirkungen der Memelkonvention<br />
Sprache und Kultur<br />
Die im Januar 1923 nach Memel entsand-te<br />
Völkerbunds-kommission Clinchaut-Fry-<br />
Alosi hatte am 6. März 1923 einen<br />
Bericht über die Bevölkerung des<br />
<strong>Memelland</strong>es verfasst, in dem es u. a.<br />
heißt: „Die Bewohner des Memelgebietes<br />
sind stark germanisiert. In der Stadt<br />
wohnen fast nur Deutsche. Die Ostgrenze<br />
des Memelgebietes, die frühere russischdeutsche<br />
Grenze, stellt eine wirkliche<br />
Scheidung ohne Übergang zwischen<br />
verschiedenen Zivilisation dar.<br />
Mindestens ein Jahrhundert trennt sie<br />
voneinander. Es ist eine richtige Grenze<br />
5 von 11<br />
zwischen West und Ost, zwischen Europa<br />
und Asien. Ein großer Teil der Litauer<br />
memelländischen Stammes fürchtet sich<br />
vor dem Anschluss an Litauen“.<br />
Im deutschen Reich gab es vor dem ersten<br />
Weltkrieg insgesamt 93.000 Personen mit<br />
litauischer Muttersprache, davon 57.000<br />
im Regierungsbezirk Gumbinnen, aber auch<br />
in anderen Teilen Preußens, so über 1000<br />
im Regierungsbezirk Düsseldorf und eine<br />
etwas geringere Anzahl im Regierungsbezirk<br />
Arnsberg. Die Zahl der Menschen,<br />
die neben der deutschen die litauische<br />
Sprache für die Statistik angaben, hatte<br />
seit dem Jahr 1890 schon um rund 25.000<br />
abgenommen und war noch im Absinken.<br />
Daraus eine Nationalitätenfrage zu<br />
machen, war völlig absurd und höchstens<br />
romantisch zu verstehen, da seit dem<br />
Ende des Mittelalters kein litaui-scher<br />
Staat als politischer Träger eines<br />
Volkswillens mehr existierte. Die im<br />
nördlichen Ostpreußen ansässigen<br />
deutschen Staatsan-gehörigen mit<br />
Iitauischer Haussprache waren Nachkommen<br />
der vom Deutschen Orden und den<br />
Preußischen Herzögen, zuletzt von König<br />
Friedrich-Wilhelm 1. im Zuge des<br />
"Retablissements“ dort angesiedelten<br />
Litauer, die preußische Untertanen mit<br />
völliggleichen Rechten geworden waren<br />
und sich, da sie mit den Landesfürsten<br />
die evangelische Konfession angenommen<br />
hatten, auch in dieser Hinsicht von<br />
ihren Stammesgenossen im früheren<br />
polnischen Kultur- und russischen<br />
Staatsbereich unterschieden. Es ist eine<br />
ganz unzutreffende Ansicht gewesen,<br />
diesen Preußisch-Litauern irgendwelche<br />
Autonomie- oder gar Separationsbestrebungen<br />
politischer Art zu unterstellen.<br />
Die Volkszählungen im <strong>Memelland</strong> in den<br />
Jahren 1910, <strong>1920</strong> und 1925 (deutsche<br />
Zeit, französische Besetzung im „<br />
Kondominium“ und litauische Besetzung<br />
nach dem „Memelstatut“) ergaben folgende<br />
Tabelle:
1910 deutsch <strong>1920</strong> französisch 1925 litauisch<br />
Gesamtzahl 140766 140746 136367<br />
Deutsch Muttersprache 71191 Nationalität 71156 59337 (-8000)<br />
Litauisch Muttersprache 67345 Nationalität 67259 37625 (-30000)<br />
Memelländisch 38404<br />
Während die Bevölkerung, wie vorstehende<br />
Tabelle zeigt, von 1910 bis 1925<br />
verhältnismäßig konstant blieb, sind in<br />
den folgenden Jahren erhebIiche<br />
Bevölkerungsverschiebungen eingetreten.<br />
Im Jahre 1925 mußten diejenigen<br />
Deutschen, die am 30. Juni 1924 Wohnsitz<br />
im Memelgebiet gehabt hatten, jedoch<br />
nicht litauische Staatsbürger werden<br />
wollten, für Deutschland optieren. Sie<br />
verpflichteten sich dadurch, innerhalb<br />
von zwei Jahren abzuwandern. Für<br />
Deutschland haben damals 14872 Personen<br />
optiert, fast 10 Prozent der Bevölkerung.<br />
Allerdings sind nicht alle<br />
Optanten abgewandert, da Deutschland<br />
1928 die Zusage erreichen konnte, daß<br />
Litauen die Optanten nicht ausweisen<br />
werde.<br />
Andererseits hat Litauen alles versucht,<br />
um aus dem sogenannten „Großlitauen“<br />
Bevölkerung in das <strong>Memelland</strong> hinein<br />
zuziehen, obwohl letzteres um gut zwei<br />
Drittel stärker bevölkert war als das<br />
Gebiet der litauischen Republik. Auf<br />
Anfrage der litauischen Fraktion im<br />
Memelländischen Landtag hat das<br />
Direktorium angegeben, daß allein in der<br />
Zeit vom 1. Februar 1932 bis 1.Mai 1932,<br />
also in einem Vierteljahr, an litauische<br />
Staatsangehörige 6277 Pässe mit<br />
dem Vermerk der Memelbürgerschaft<br />
erteilt worden sind. Vom 31. 10. 1928<br />
bis zum 15. 3. 1933 sind an<br />
großlitauische Staatsangehörige 9628<br />
Pässe für die Memelbürgerschaft erteilt<br />
worden.<br />
Der litauischen Kulturpolitik kam es<br />
darauf an, den deutschen Kulturzusammenhang<br />
zu unterbrechen. Buch-,<br />
Theater- und Filmzensuren, Beschränkung<br />
der Reisen nach Deutschland,Verbot<br />
deutscher Vereine waren die an zaristischem<br />
Vorbild geschulten Kampfmaßnahmen<br />
des Gouverneurs, der sich bald<br />
auf das Kriegszustandsgesetz berufen<br />
konnte.<br />
Die litauische Einflußnahme erstreckte<br />
sich auch auf die Kirchen des<br />
Memelgebiets. In der Zeit des Kondominiums<br />
war die Verbindung der memelländischen<br />
Kirche zu der evangelischen<br />
Landeskirche Preußens aufrechterhalten<br />
geblieben. Nach 1923 versuchte Litauen,<br />
die memelländische evangelische Kirche<br />
mit der evangelischen Kirche Litauens zu<br />
einer einheitlichen litauisch-evangelischen<br />
Kirche zusammenzuschließen, obwohl<br />
in Litauen selber nur 70.000<br />
Staatsbürger evangelischer Konfession<br />
6 von 11<br />
vorhanden waren, von denen die meisten<br />
zur deut-schen Minderheit in Litauen<br />
gehörten. In dem Kirchenvertrag vom<br />
21.Juli 1925 wurde nun aber bestimmt,<br />
daß das Memelgebiet weiterhin zur<br />
evangelischen Landeskirche Altpreußens<br />
gehören solle, jedoch einem eigenen<br />
Verwaltungsbezirk unter einem Generalsuperintendenten<br />
zu bilden habe.<br />
Theoretisch war es möglich, daß ähnlich<br />
wie auf dem Gebiet der Schulen deutsche<br />
Akademiker in das <strong>Memelland</strong> berufen<br />
werden konnten. Die Ausbildung des<br />
memelländischen Akademikernachwuchses<br />
dagegen ist nicht im Lande selbst,<br />
sondern an deutschen Universitäten<br />
erfolgt.<br />
Die einzige litauische Universität Kowno<br />
hat niemals deutsche Studenten aus dem<br />
<strong>Memelland</strong> gehabt.<br />
Verwaltung des Memelgebiets<br />
In der Verwaltungspraxis waren die<br />
Regierungfunktionen auf den litauischen<br />
Gouverneur übergangen.<br />
Auch wenn er sich nicht auf den<br />
Kriegszustand berief, konnte der<br />
Gouverneur durch den Gebrauch des Veto-<br />
Rechts, für das zunächst nicht einmal<br />
eine Begründung gegeben wurde, die<br />
Verwaltungsfunktionen des memelländischen<br />
Direktoriums lahmlegen. Auch<br />
mußte der Landtag in der Inanspruchnahme<br />
des Rechts auf Eröffnung, Schließung<br />
oder Vertagung derordentlichen Sessionen<br />
durch den Gouverneur eine Schmälerung<br />
seines ihm durch das Statut (Art. 12)<br />
gegebenen Rechtes erblicken (St. A.<br />
Kgsbg. Rep. 220 Ihr. 34 S. 9).<br />
Daß der Gouverneur die Regelung des<br />
Aufenthaltes der Ausländer im<br />
Memelgebiet den autonomen Behörden<br />
entzog, hat der Memelländische Landtag<br />
in seiner Beschwerde vom März 1926<br />
bereits feststellen müssen, ohne dass<br />
eine wesentliche Änderung auf diesem<br />
Gebiet eintrat. Der Gouverneur hatte<br />
sich zudem das Recht angemaßt, den<br />
Präsidenten des Landesdirektoriums zu<br />
ernennen, so Ende des Jahres 1925 den<br />
Litauer Juozupaitis, der einer Gruppe<br />
angehörte, die bei den Landtagswahlen<br />
vom 19. Oktober 1925 in verschwindender<br />
Minderheit geblieben war.<br />
Besonders scharfe Zusammenstöße gab es<br />
in der Kompetenzfrage der memelländischen<br />
Gerichts-Zuständigkeit.<br />
Entgegen den Bestimmungen des<br />
Memelstatuts sind immer wieder Memelländer<br />
vor großlitauische Gerichte<br />
gebracht worden bzw. verurteilt,
Haftstrafen in Litauen zu verbüßen.<br />
Dagegen wandte sich neben zahlreichen<br />
anderen Petitionen ein Dringlichkeitsantrag<br />
des Memelländischen Landtags vom<br />
7.März 1928, der forderte,<br />
„das Landesdirektorium des Memelgebietes<br />
zu beauftragen, geeignete Schritte<br />
dahingehend zu unternehmen, daß<br />
memelländische Bürger nicht in Groß-<br />
Litauen abgeurteilt werden und die<br />
seinerzeit verhafteten Memelländer<br />
sofort nach dem Memelgebiet<br />
zurückbefördert werden“<br />
(St.A. Kgsbg. Rep.220 Nr. 34 S. 33).<br />
Besonders erschwert wurde die Frage der<br />
Gerichtszuständigkeitseit der Verhängung<br />
des Kriegszustandes im Memelgebiet, der<br />
nicht etwa wegen memelländischer<br />
Unruhen, sondern wegen der<br />
großlitauischen Verfassungskrise und der<br />
Diktatur des Präsidenten Smetona in<br />
Kowno verursacht worden war. Im<br />
Frühsommer 1928 waren beim<br />
memelländische Landgericht mehrere<br />
Strafverfahren anhängig, für die das<br />
litauische Heeresgericht zuständig zu<br />
sein glaubte, das auch in einigen Fällen<br />
die durch den Oberstaatsanwalt des<br />
Memelgebietes betriebene Strafvollstreckung<br />
für sich in Anspruch nahm.<br />
Anstatt derartige Streitigkeiten auf<br />
dem gesetzlichen Wege zu erledigen,<br />
hatte der Kriegskommandanten des Memelgebietes<br />
durch militärische Gewalt am<br />
16. und 18.Juni 1928 Akten und Gefangene<br />
aus einem Gerichtsgebäude und einer<br />
Strafanstalt des Memegebietes entfernen<br />
und dem Heeresgericht zuführen lassen.<br />
Gericht und Strafanstalt wurden<br />
militärisch besetzt, die zuständigen<br />
Beamten bedroht und eine Zeitlang der<br />
Freiheit beraubt, Räume gewaltsam<br />
durchsucht, zwei Gefängnisbeamten wurden<br />
die Schlüssel aus der Hand, einem von<br />
ihnendas Koppel nebst Dienstpistole<br />
entrissen beide wurden mit Erschießen<br />
bedroht, in dem litauische Soldaten mit<br />
gegen sie gerichteten Gewehren im<br />
Anschlag standen. Der Landtag<br />
protestierte sofort in alle Schärfe.<br />
Diese Vorfälle beleuchten schlagartig<br />
die Zustände im Memelgebiet unter dem<br />
Kriegszustand. Sie mochten für die<br />
Iitauische Verfahrenspraxis, die aus der<br />
zaristischen Tradition erwachsen war,<br />
nicht sonderlich befremdlich erscheinen;<br />
für die an deutsche Gerichtsbarkeit<br />
gewohnte memelländische Bevölkerung war<br />
sie im höchsten Maße abstoßend. Immer<br />
wieder zeigt es sich, unter welch<br />
verschiedenartigen Vorzeichen die<br />
Memelfrage von Memel und Kowno aus<br />
angesehen werden mußte. Die altrussische<br />
Polizeitradition, die sich in der<br />
Jahrzehnten vor dem Weltkriege gegen<br />
alle Regungen des Iitauischen Volkstums<br />
mit brutaler Schärfe gewandt hatte,<br />
wurde nun mehr von der diktatorisch<br />
geführten litauischen Republik gegen die<br />
7 von 11<br />
Mehrzahl der Bewohner des <strong>Memelland</strong>es<br />
mit denselben Mitteln angewandt.<br />
Die Post im Memelgebiet mit allen ihren<br />
Einrichtungen blieb dem litauischen<br />
Gesamtstaat vorbehalten, womit dieser<br />
ein wichtiges Regal und zudem ein<br />
volkstumspolitisches Druckmittel größter<br />
Ordnung in der Hand hatte. Wiederholte<br />
Beschwerden der memelländischen Behörden<br />
erstreckten sich darauf, daß sich die<br />
litauischen Poststellen im <strong>Memelland</strong><br />
weigerten, Briefe (auch memelländische<br />
Staatsdienstsachen) mit deutschen<br />
Anschriften zu befördern.<br />
Auch der Zoll war entsprechend dem<br />
Memelstatut der litauischen Regierung<br />
vorbehalten, mithin die Kontrolle der<br />
Wasserwege und die Möglichkeit, eine<br />
Zollgerichts-barkeit im Memelgebiet<br />
selbst auszuüben.<br />
Die Lokalbahnen waren der Zuständigkeit<br />
der memelländischen Landesbehörden<br />
überlassen. 1932 genehmigte das<br />
Direktorium, daß die ostpreußische<br />
Kleinbahnen AG. Königsberg und die<br />
Bahnverwaltung der Kleinbahn Tilsit<strong>—</strong><br />
Pogegen<strong>—</strong>Schmalleninken in Übermemel die<br />
Genehmigung zum Betrieb von fünf<br />
Kraftwagenlinien erhielt, die sie bis<br />
September 1937 vertraglich befahren<br />
sollten (St. A. Kgsbg. Rep. 220 Nr. 45<br />
S. 33).<br />
Die Haupteisenbahnlinien dagegen<br />
unterstanden entsprechend Artikel 5 der<br />
Memelkonvention dem litauischen Staat.<br />
Bereits im Jahre 1925 überreichte<br />
hierüber der memelländischen Landtag der<br />
Botschafterkonferenz folgende<br />
Beschwerden: „Es besteht kein geregelter<br />
Fahrplan für Güterzüge. Im Winter<br />
erfrieren lebende Tiere in den<br />
Eisenbahnwagen. Ankommende Güter werden<br />
nicht avisiert. Sämtlichen Eisenbahnstationen<br />
im Memelgebiet ist das Telefon<br />
genommen. Der Personenverkehr leidet<br />
unter Unpünktlichkeit der Züge,<br />
Unzuverlässligkeit des Personals,<br />
völliger Herabwirtschaftung des rollende<br />
Materials, mangelhafter Heizung der<br />
Wagen, plötzlicher Einführung litauischer<br />
Bezeichnungen der Stationen, zum<br />
Teil ohne jeden Anklang an die<br />
bisherigen Bezeichnungen, Fehlen der<br />
elementarsten Ansprüche an Sauberkeit<br />
und Hygiene, Aufdruck auf Fahrkarten,<br />
Frachtbriefen und allen Anschlägen auf<br />
den Stationen nur in litauischer<br />
Sprache.“<br />
Probleme des<br />
memelländisch-litauischen<br />
Gesamtstaates“<br />
In der Eröffnungsrede des litauischen<br />
Gouverneurs vor dem memelländischen<br />
Landtag ist die Frage der memelländischen<br />
- litauischen Beziehungen mit<br />
aller Deutlichkeit gestellt und vom<br />
einseitig litauischen Standpunkt<br />
beantwortet worden, wenn es darin hieß:
„Im Statut, das von Litauen dem<br />
Memelgebiet als autonomen Bestandteil<br />
der Republik oktroyiert wurde (sic! )<br />
sind die Grundlagen vorgezeichnet, auf<br />
denen die lokale Verwaltung und<br />
Gesetzgebung abgewickelt werden sollten.<br />
<strong>Das</strong> Statut, das im Endergebnis<br />
internationaler Verhandlungen, ohne<br />
Inanspruchnahme praktischer Erfahrung<br />
stipuliert wurde, konnte von vornherein<br />
eine Vollkommenheit nicht beanspruchen.<br />
Es weist naturgemäß Lücken auf, die im<br />
Sinne der alltäglichen Bedürfnisse, sei<br />
es durch allgemeine Staatsgesetze, sei<br />
es durch Gesetze des Memelgebietes,<br />
ausgefüllt werden müs-sen. <strong>Das</strong> Statut<br />
setzt also nur die Grund-prinzipien, die<br />
Richtlinien und den Geist fest, in dem<br />
das Verhältnis zwischen dem Memelgebiet<br />
und dem Gesamtstaat ausge-baut werden<br />
soll.“<br />
Bereits am 1. September 1928 hatte die<br />
Rechtskommission des Memelländischen<br />
Landtages mit Nachdruck festgestellt,<br />
„daß das Memelstatut vor dem Staatsschutzgesetz<br />
den Vorrang hat. <strong>Das</strong> Statut<br />
hat für das Memelgebiet die Bedeutung<br />
einer Verfassung. Keine Rechtsnorm ist<br />
gültig, die gegen eine Bestimmung des<br />
Statuts verstößt . Auch die litauische<br />
Verfassung kann das Memelstatut nicht<br />
abändern oder einschränken.“<br />
Wirtschaft im Memelgebiet<br />
Die memelländische Wirtschaft, die<br />
bisher auf das engste mit dem übrigen<br />
Deutschland verbunden war, hat sich<br />
durch die Abtrennung des <strong>Memelland</strong>es<br />
vollständig umstellen müssen. <strong>Memelland</strong><br />
und Großlitauen stellten zwei heterogene<br />
Wirtschaftskörper dar, die nicht<br />
einen gesunden Ausgleich finden konnten.<br />
Es mußte der memelländischen Wirtschaft<br />
daher nach wie vor darauf ankommen, die<br />
alten Beziehungen zum deutschen Reich<br />
aufrechtzuerhalten. Dabei entstand die<br />
Befürchtung, daß durch enge deutschlitauische<br />
Handelsverträge der<br />
Güterverkehr nach Süden über Memel<br />
vorbei nach dem billigeren Königsberger<br />
Hafen abgezogen würde. Auch die<br />
Konkurrenzfähigkeit der memelländischen<br />
Holzindustrie gegenüber der deutschen<br />
konnte nur auf gleicher Wirtschaftsbasis<br />
aufrechterhalten bleiben. Die Landwirtschaft<br />
schließlich war nicht weniger als<br />
Handel und Industrie auf die alten<br />
Beziehungen zu Deutschland als dem<br />
einzigen Markt, auf dem sie ihre<br />
Produkte absetzen konnten, angewiesen.<br />
(St. A. Kgsbg. Rep. 220 Nr. 34 S. 61,<br />
87, ‘Nr. 527 S. 50.)<br />
Eine gewisse Erleichterung schuf daher<br />
der kleine Grenzverkehr mit Deutschland,<br />
auf den die memelländische Bauernbevölkerung<br />
angewiesen war und den sie<br />
unter allen Umständen aufrechtzuerhalten<br />
wünschte. Der Memelstrom war durch die<br />
Streitigkeiten zwischen Litauen und<br />
8 von 11<br />
Polen als Wasserstraße lange Zeit<br />
blockiert, so daß auch auf diesem Gebiet<br />
die Absicht der alliierten und<br />
assoziierten Mächte, durch die Memelkonvention<br />
ein blühendes Wirtschaftsgebiet<br />
zu schaffen, sich als utopisch erweisen<br />
mußte.<br />
Auch den Memeler Hafen hat Litauen<br />
ebenso wenig ausnutzen können, wie es<br />
mit Danzig durch Polen geschah. Die in<br />
der Anlage zur Memelkonvention<br />
vorgesehene Hafenbehörde ist tatsächlich<br />
eingesetzt wor-den, ihr Vorsitzender war<br />
der im Auftrag des Völkerbundes<br />
entsandte Norweger Kjelstrup, ein<br />
Hafenfachmann internationalen Rufs. Aber<br />
Kjelstrups Vorschläge sind durch die<br />
litauischen Mitglieder der Hafebehörde<br />
stets niedergestimmt wordenn. Im<br />
Gegensatz zum Wortlaut des Memelstatuts<br />
war die Memeler Hafendirektion in<br />
völliger Abhängigkeit von der litauischen<br />
Regierung eine litauische<br />
politische Behörde geworden. Die<br />
„Frankfurter Zeitung“ wies am 27. Mai<br />
1926 auf die Mißstände in Memel hin:<br />
„Unglaubliche Zustände herrschen in der<br />
staatlichen Hafenverwaltung, wo jetzt<br />
auf zwei Arbeiter bereits ein <strong>—</strong> meist<br />
unfähiger <strong>—</strong> Beamter aus Großlitauen<br />
kommt, während man die tüchtigen<br />
deutschen und memelländischen Beamten<br />
sämtlich entließ.“ <strong>Das</strong> stets gut<br />
unterrichtete Blatt schrieb weiter am<br />
gleichen Tage: „Als im April vorigen<br />
Jahres (1925) die litauische Regierung<br />
beim Völkerbundesrat in Genf den<br />
Mandatsbeginn der im Memelabkommen<br />
vorgesehenen Memeler Hafendirektion<br />
notifiziert hatte, äußerten wir an<br />
dieser Stelle (,‚Frankfurter Zeitung“<br />
Nr. 298) erhebliche Bedenken, ob bei der<br />
Gesamteinstellung Litauens, das im<br />
<strong>Memelland</strong> vor allem politische Ziele,<br />
d.h. die absolute Beherrschung und<br />
Litauisierung des Gebiets verfolgt,<br />
diese Korporation zum Nutzen der dem<br />
Memelstrom anliegenden Staaten, des<br />
Memeler Hafens und der memelländischen<br />
Industrie, somit auch natürlich der<br />
Wirtschaft Litauens werde arbeiten<br />
können. Heute zeigt sich klar, wie<br />
berechtigt diese Ansicht war. Litauen<br />
ist weder willens, noch in der Lage, die<br />
für das <strong>Memelland</strong> und die Stromanlieger<br />
notwendigeWirtschaftspolitik zu betreiben,<br />
und Litauen bleibt, wie damals von<br />
uns ausgeführt, weiter das Schu1beispiel<br />
dafür, wie verkehrt es gewesen ist,<br />
hochentwickelte deutsche Gebiete<br />
kulturell rückständigen Völkern<br />
auszuliefern. Dabei hat Litauen für den<br />
Raub des <strong>Memelland</strong>es bei der Entente<br />
hauptsächlich das Argument angeführt,<br />
daß es ohne den Memeler Hafen, den es<br />
bisheute so unglaublich vernachlässigt,<br />
nicht existieren könne. Bis heute geht<br />
auch die Hauptausfuhr Litauens infolge<br />
der ganz unzulänglichen Verkers- und<br />
Bahnpolitik über das ostpreußische
Königsberg und das lettländische Libau.<br />
Im Memeler Hafen aber herrscht Kirchhofsruhe,<br />
Zehntausende müssen in der<br />
Holzindustrie und dem Transportgewerbe<br />
feiern und der Memelstrom bleibt<br />
verödet, weil Litauen aus politischen<br />
Gründen die allein auf diesem Wasserwege<br />
mögliche Holzausfuhr aus den riesigen<br />
weißrussischen und polnischen Waldkomplexen<br />
im Memelbecken verhindert.“<br />
Sehr zweischneidig hat sich der deutsche<br />
Wirtschaftskrieg gegen Litauen<br />
ausgewirkt, der 1932 einsetzte und durch<br />
den das Deutsche Reich die Wiederherstellung<br />
normaler Verhältnisse im<br />
<strong>Memelland</strong> zu erzwingen hoffte.<br />
Tatsächlich sind dadurch nur die<br />
memelländischen Bauern auf das schwerste<br />
geschädigt worden, wobei Litauen die<br />
wirtschaftliche Schwächung des<br />
<strong>Memelland</strong>es benutzte, um es in engere<br />
Abhängigkeit zu bringen. Schließlich<br />
fand Litauen sehr bald den Ausweg, den<br />
Überschuß an Lebensmit-teln und Holz auf<br />
günstigste Weise an Eng-land abzusetzen,<br />
das damit im litauischen Außenhandel an<br />
die Stelle Deutschlands trat.<br />
Die Machtübernahme durch den<br />
Natio-nalsozialismus wurde in Litauen<br />
mit größter Besorgnis zur Kenntnis<br />
genommen. Die ver-schärften Maßnahmen<br />
gegen die Memelländer richteten sich<br />
aber keineswegs gegen die dort gar nicht<br />
zugelassenen nationalsozialistischen<br />
Verbände, sondern betrafen die deutschmemelländische<br />
Bevölkerung allgemein. Am<br />
Anfang des Jahres 1934 mußte die<br />
Tätigkeit der deutschen Parteien im<br />
<strong>Memelland</strong> eingestellt werden. Die<br />
deutschen Parteiführer wurden verhaftet<br />
oder unter Polizeiaufsicht gestellt. Sie<br />
wurden beschuldigt, einen Staatsstreich<br />
vorbereitet zu haben, um das Memelgehiet<br />
mit Waffengewalt Litauen zu entreißen.<br />
Vor dem Kriegsgericht in Kowno begann<br />
ein seit langem vorbereiteter Prozeß<br />
gegen 126 Memelländer, von dem der<br />
britische Anwalt Sir Alexander Lawrence<br />
sagte, sein Hauptzweck sei die<br />
Abschreckung. Die Behauptung der<br />
Vorbereitung eines militärischen<br />
Aufstandes ließ sich nicht halten.<br />
Dennoch wurden 80 Personen zu Zuchthausstrafen<br />
und vier andere wegen eines<br />
Mordprozesses, der damit in Verbindung<br />
gebracht wurde, zum Tode verurteilt. <strong>Das</strong><br />
am 3. April 1935 verkündete Kownoer<br />
Urteil stellte erneut einen Tiefpunkt in<br />
den deutsch-litauischen Beziehungen dar.<br />
Die Behauptung, der Prozeß habe die<br />
nationalsozialistische Infiltration abwehren<br />
wollen, ist eine erst nach 1945<br />
entstandene Konstruktion.<br />
Es zeigte sich, daß Litauen den scharf<br />
antideutschen Kurs nicht zu halten<br />
imstande war und in den folgenden Jahren<br />
einlenkte.<br />
Hatte noch im März 1935 Hitler abgelehnt<br />
mit Litauen einen Nichtangriffspakt zu<br />
9 von 11<br />
schlie-ßen, so war er ein Jahr später<br />
schon dazu bereit. Eine grundlegende<br />
Änderung erfuhr die litauische Politik<br />
im Frühjahr 1938. Hierfür waren zwei<br />
Gründe maßgebend, einmal der deutsche<br />
Einmarsch in Österreich, der vor aller<br />
Welt zeigte, daß das Versailler System<br />
zu Ende ging, zum anderen aber und<br />
wichtiger der polnisch-litauische Grenzzwischenfall,<br />
bei dem Polen wegen der<br />
Erschießung eines polnischen Grenzsoldaten<br />
scharfe Maßnahmen gegenüber<br />
Litauen ankündigte. In einer polnischen<br />
Protestversammlung in Wilna wurden<br />
damals die Worte laut: „Wir wollen nach<br />
Memel“. Die nationale Opposition in<br />
Polen forderte Marinestützpunkte in<br />
Memel oder Polangen. Um nicht vor<br />
vollendete Tatsachen gestellt zu werden,<br />
bereitete damals die Reichsregierung für<br />
den Fa1l eines polnisch-litauischen<br />
Konfliktes die militärische Besetzung<br />
des <strong>Memelland</strong>es vor. Zugleich aber trat<br />
sie mit Polen in Verbindung und stützte<br />
die polnischen Forderungen gegenüber<br />
Litauen, die auf einen territorialen<br />
Status quo hinausliefen. Bei der<br />
litauischen Regierung hinterließ die<br />
Märzkrise den unangenehmen Eindruck,<br />
politisch isoliert dazu stehen. Die<br />
Hoffnung auf Rußland erwies sich als<br />
trügerisch. Von England und Frankreich<br />
war keine Unterstützung zu erwarten. So<br />
mußte Litauen dem gemeinsamen deutschpolnischen<br />
Druck nachgeben. Als die<br />
Versuche der Kownoer Regierung,<br />
Anlehnung an Polen zu suchen, sich<br />
nicht erfüllten, vielmehr das polnische<br />
Ziel zutage trat, Litauen in die Abhängigkeit<br />
von Warschau zu bringen, damit<br />
Ostpreußen zu umfassen und von Lettland<br />
und Estland abzuschneiden, da blieb nach<br />
Lage der Dinge nur der Versuch übrig,<br />
einen Ausgleich mit Deutschland zu<br />
suchen. Dem stand das noch nicht gelöste<br />
Memelproblem im Wege. Im März 1938 hatte<br />
die Reichsregierung in elf Punkten die<br />
deutschen Beschwerden darüber zusammengestellt<br />
und auch den eigenen<br />
auswärtigen Missionen zur Kenntnis<br />
gegeben. Darin wurde darauf aufmerksam<br />
gemacht, daß seit 1926 der Kriegszustand<br />
im <strong>Memelland</strong> bestand, daß durch das Veto<br />
des Gouverneurs die gesetzgeberische<br />
Tätigkeit des Memelländischen Landtages<br />
behindert wurde, daß zahlreichen<br />
Memelländern das passive Wahlrecht<br />
entzogen wurde, daß Reisepässe, die vom<br />
Memelländischen Direktorium ausgestellt<br />
waren, als ungültig angesehen wurden,<br />
daß einseitig für die litauische Post-,<br />
Eisenbahn- und Zollverwaltung die<br />
litauische Sprache und Ortsbezeichnung<br />
galt, daß ein litauische Enteignungsgesetz<br />
seit 1937 bestand, daß memelländische<br />
Betriebe gezwungen wurden, die<br />
litauische Sprache anzuwenden und<br />
großlitauische Arbeitskräfte einzustellen,<br />
daß deutsche Firmen im Memelgebiet<br />
benachteiligt wurden, ebenso
eichsdeutsche Versicherungsgesellschaften,<br />
und daß der memelländischen<br />
Kreditwirtschaft Schwierigkeiten bereitet<br />
wurden.<br />
Erst nach einem halben Jahr hatte die<br />
litauische Regierung begonnen, diese<br />
Forderungen nach und nach anzuerkennen.<br />
Erfüllt von Sorge über die weitere<br />
Zukunft des <strong>Memelland</strong>es, war sie zwar<br />
bestrebt die Beziehungen zum Deutschen<br />
Reich zu. verbessern, aber doch nicht<br />
bereit, einer Schritt weiter zu gehen<br />
als es unbedingt nötig und unvermeidbar<br />
war. Von den insgesamt 89 Verurteilten<br />
aus dem Kownoer Prozeß waren im Laufe<br />
des Jahres 1937 die meisten begnadigt,<br />
die letzten sind im Sommer 1938<br />
entlassen worden. Deutschland war<br />
ernsthaft an einer Verbesserung der<br />
Beziehungen zu Litauen interessiert.<br />
Wirtschaftlich sind erhebliche<br />
Fortschritte zu verzeichnen gewesen. Die<br />
zunehmende Abhängigkeit Litauens vom<br />
deutschen Markt war unverkennbar.<br />
Angesichts der polnischen Expansionstendenzen<br />
wollte man sich in Litauen für<br />
alle Fälle ein Kompensationsobjekt für<br />
die Rückgabe des Korridors erhalten.<br />
Ende 1938 machte sich zudem das<br />
russische Bestreben bemerkbar, einen<br />
Integritätsvertrag mit den baltischen<br />
Staaten einschließlich Polen zu<br />
schließen. Allem diesem wollte<br />
Deutschland begegnen durch eine<br />
Verbesserung der deutsch-litauischen<br />
Beziehungen und mit dem Ziel eines engen<br />
politischen und militärischen<br />
wirtschaftlichen Zusammengehens Litauens<br />
mit Deutschland. Die Interessen der<br />
Memelländer mußten zeitweise dahinter<br />
zurücktreten. Daher erging im Sommer<br />
1938 die strikte Weisung, alle<br />
Übergriffe, Straßenunruhen usw. zu<br />
unterlassen. Als jedoch Ende Oktober<br />
desselben Jahres der Kriegszustand<br />
aufgehoben wurde, haben Umzüge und<br />
Kundgebungen im <strong>Memelland</strong> der Erwartung<br />
Ausdruck gegeben, daß nach dem Vorgang<br />
von Österreich und den Sudetengebieten<br />
nunmehr mit dem Reich wieder vereinigt<br />
werden könnte. Die politische Führung<br />
des Reiches zögerte noch. Bezeichnend<br />
ist dafür ein Schreiben, das der SS-<br />
Gruppenführer Heydrich an den Reichsaußenminister<br />
am 28. November 1938<br />
richtete, in dem es hieß: „Unter<br />
Umständen kann die Entwicklung im<br />
Memelgebiet einen derartigen Verlauf<br />
nehmen, daß sich das Reich Tatsachen<br />
gegenübergestellt sieht, die zur Zeit im<br />
Hinblick auf die weltpolitische Lage für<br />
das Reich durchaus unerwünscht sind.“<br />
Die Hoffnung, daß Litauen auf dem<br />
Verhandlungswege das <strong>Memelland</strong> abtreten<br />
würde, mußte damals noch als unerfüllbar<br />
angesehen werden. Die litauische<br />
Regierung wollte im Rahmen eines<br />
elastisch zu handhabenden Memelstatutes<br />
Zugeständnisse machen und war auch zu<br />
einem Kondominium im Memelgebiet bereit.<br />
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Schließlich hatte sie bei den<br />
Signatarmächten des Memelstatuts<br />
anfragen lassen, welche Haltung diese<br />
Mächte im Falle eines deutschen<br />
Einmarsches einnehmen würden.<br />
Die Besetzung der restlichen<br />
Tschechoslowakei am 15. März <strong>1939</strong> hat<br />
dann auch indirekt die Memelfrage<br />
beschleunigt einer Lösung zugeführt. Der<br />
litauische Außenminister suchte, von Rom<br />
kommend, in Berlin das deutsche<br />
Auswärtige Amt auf. Ribbentrop hat<br />
darauf hingewiesen, daß die Unruhe der<br />
memelländischen Bevölkerung gestiegen<br />
war, was sicherlich zutraf. Welch ein<br />
Zündstoff in solchen Fragen enthalten<br />
ist, wurde uns neulich erst wieder im<br />
Zypern-Konflikt vor Augen geführt. Die<br />
Reichsregierung zeigte eine entschlossene<br />
Haltung, wenngleich ein formelles<br />
Ultimatum vermieden wurde. Die schnelle<br />
Abwicklung ist schließlich auf die<br />
Einsicht in die Lage auf litauischer<br />
Seite zurückzuführen. Der Staatsvertrag,<br />
dem ein militärischer Paradeakt mit<br />
Abordnungen schwacher deutscher Truppenteile<br />
folgte, war keineswegs mit dem<br />
Einmarsch von Streitkräften in<br />
Österreich und die Tschechoslowakei<br />
vergleichbar. Diese beiden Staaten haben<br />
ihre Souveränität aufgeben müssen. Eine<br />
Einschränkung der litauischen Regierungsbefugnisse<br />
ist nach Abtretung des<br />
Memelgebietes nicht erfolgt und auch<br />
nicht erstrebt worden, so wie es etwa<br />
im Jahre 1940 durch Rußland geschah.<br />
Litauen war als Ententestaat auf der<br />
Basis des Versailler Vertrages gegründet<br />
worden. Als die Entente politisch ihre<br />
Bedeutung in Europa verlor, wurde auch<br />
dieser Staat, ähnlich wie die<br />
Tschechoslowakei, ernsthaft gefährdet.<br />
In dem außenpolitischen Dreieck zwischen<br />
Rußland, Polen und Deutschland gelegen,<br />
nahm die litauische Regierung den Weg,<br />
der noch am ehesten die Chance einer<br />
Selbständigkeit bot. Am Ende des<br />
Versailler Systems war die Zeit reif für<br />
eine Umgruppierung. Litauen fand seinen<br />
neuen Standort durch die Hinwendung von<br />
Paris nach Berlin. <strong>Das</strong> konnte reiche<br />
Zukunftmöglichkeiten eröffnen, die<br />
jedoch der bald ausbrechende zweite<br />
Weltkrieg und die Mentalität der<br />
leitenden Verantwortlichen in Berlin<br />
verschüttet haben.<br />
*<br />
Vor dem Rathaus in Tilsit stand das<br />
bronzene Denkmal des im <strong>Memelland</strong><br />
geborenen Freiheitssängers Max<br />
v.Schenkendor. Es trug die Aufschrift:<br />
„Ich will mein Wort nicht brechen und<br />
Buben werden gleich, will predigen und<br />
sprechen vom Kaiser um vom Reich.“<br />
Schenkendorf, Reiter in den Freiheitskriegen<br />
und Mitarbeiter des Freiherrn<br />
vom Stein, sah am Ende der Anstrengungen<br />
und Hoffnungen die geschmeidigen und
willfährigen Verderber am Werk, denen<br />
das Heute alles, die Vergangenheit<br />
nichts galt, die die Zukunft nicht<br />
kannten, weil sie dem Tage verhaftet<br />
waren und nicht aus der Tiefe lebten.<br />
<strong>Das</strong> Erhabene, Große Gemeinsame zu<br />
bewahren, die Herrlichkeit des<br />
Mittelalters mit seinen wunderbaren<br />
Ausdrucksformen liebevolI zu betrachtet<br />
und einen Abglanz davon mitzunehmen in<br />
die Gegenwart, das war Schenkendorfs<br />
Anliegen. Von den „Buben“, den Verrätern<br />
und Opportunisten, trennten ihn Welten,<br />
ihn, der sich die Zusammengehörigkeit<br />
der deutschen Stämme und die unversehrte<br />
Anschauung der deutschen Geschichte<br />
mühsam Erstritten hatte. Davon zu<br />
künden, gelobt er nun allen Anfechtungen<br />
und Widerwärtigkeiten zum Trotz.<br />
Hierin mag uns der unerschrockene<br />
Kämpfer gegen Gewalt und Reaktion, ein<br />
wirklicher Dichter und ganzer Mann, ein<br />
Vorbild sein.<br />
Deutschland hat eine reiche und schön<br />
Geschichte, und die Memelländer haben<br />
set siebenhundert Jahren teil an ihr.<br />
<strong>Das</strong> Böse und Dunkle, das von Deutschen<br />
an Verbrechen in der Zeit der<br />
Gewaltherrschaft angerichtet worden ist,<br />
belastet die Gegenwart schwer, es kann<br />
aber die Vergangenheit nicht berühren.<br />
Die Geschichte ist unantastbar durch<br />
das, was nach ihr geschieht, sie kann<br />
nicht nachträglich verändert, weder<br />
verschönert noch verschlechtert wenden.<br />
Nicht einmal in den bekannten zwölf<br />
Jahren hat es in Deutschland<br />
ausschließlich Unrecht und Verbrechen<br />
gegeben. <strong>Memelland</strong>, Preußen und<br />
Deutschland haben ihren festen Platz in<br />
der Abfolge der Leistung von<br />
Generationen, an die wir mit Ehrfurcht,<br />
Dankbarkeit und Freude zurückblicken<br />
können. Wir dürfen uns frei und stolz zu<br />
unserer gemeinsamen Vergangenheit<br />
bekennen, die im <strong>Memelland</strong> bis zum<br />
Ausbruch des ersten Weltkrieges eine<br />
fortlaufende Entwicklung dargestellt<br />
hat. Was seitdem an Unruhe, Umbrüchen<br />
und Niedergang innen und außen erfolgte,<br />
vermag die Jahrhunderte davor nicht zu<br />
überschatten, erweckt aber Teilnahme,<br />
Sorge und Kummer und ruft zu tätiger<br />
Hilfe auf, um aus Not, Verzweiflung und<br />
dem Gestrüpp der Verirrungen wieder zu<br />
jenen bewährten Grundlagen zurückzukehren,<br />
die unseren nordostpreußischen<br />
Volksstamm seit jeher auszeichneten:<br />
schlicht und hilfsbereit zu sein, das<br />
Erprobte festzuhalten und das Neue<br />
aufgeschlossen zu prüfen. So soll auch<br />
der 22. März ein Tag des Gedenkens der<br />
Zuggehöigkeit der Memelländer zur<br />
deutschen Nation sein, eine Bekräftigung<br />
der 700jährigen Gemeinsamkeit in einer<br />
ereignisreichen und bedeutenden<br />
Geschichte.<br />
Sonntag, 12. Januar 2003<br />
G.Pietsch<br />
.<br />
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