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Benjamin Hasselhorn Johannes Haller

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525360842 — ISBN E-Book: 9783647360843


<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

Schriftenreihe<br />

der Historischen Kommission bei der<br />

Bayerischen Akademie der Wissenschaften<br />

Band 93<br />

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525360842 — ISBN E-Book: 9783647360843


<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong><br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

Eine politische Gelehrtenbiographie<br />

Mit einer Edition des unveröffentlichten Teils<br />

der Lebenserinnerungen <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>s<br />

Vandenhoeck & Ruprecht<br />

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525360842 — ISBN E-Book: 9783647360843


<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

Die Schriftenreihe wird herausgegeben<br />

vom Sekretär der Historischen Kommission:<br />

Helmut Neuhaus<br />

Umschlagabbildung: <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong> am Schreibtisch. Stuttgart 1934.<br />

Universitätsarchiv Tübingen, Nachlass <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong> (302/24)<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind<br />

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

ISBN 978-3-647-36084-3<br />

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de<br />

Gedruckt mit Unterstützung der Franz Schnabel Stiftung<br />

und der Deutschen Forschungsgemeinschaft.<br />

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /<br />

Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A.<br />

www.v-r.de<br />

Diese Arbeit wurde im Sommersemester 2014 von der Philosophischen Fakultät<br />

der Universität Passau als Dissertation angenommen.<br />

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen<br />

schriftlichen Einwilligung des Verlages.<br />

Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de<br />

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525360842 — ISBN E-Book: 9783647360843


<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

Inhalt<br />

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

II. Ancien Régime (1865–1890) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />

1. Baltische Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />

2. Vaterkomplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />

3. Russifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />

III. Deutscher Schock (1890–1892) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

1. Berlin – ein »scheußliches Nest« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

2. Promotion in Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />

IV.<br />

Römische Heimat und Basler Intermezzo<br />

(1892–1902) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47<br />

1. Das Königlich Preußische Historische Institut . . . . . . . . . . . 47<br />

2. <strong>Haller</strong> und das Repertorium Germanicum 1892–1897 . . . . . . 49<br />

3. Leben und Arbeiten in Rom 1892–1897 . . . . . . . . . . . . . . . 52<br />

4. Concilium Basiliense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />

5. Basel 1897–1901 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />

6. Ein Kampf um Rom 1901–1902 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />

V. Gelehrte Isolation (1902–1913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83<br />

1. Ein Kampf um Rom – zweite Runde . . . . . . . . . . . . . . . . . 83<br />

2. Marburg 1902–1904 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90<br />

3. Gießen 1904–1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99<br />

4. Berufung nach Tübingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />

VI. Weltkriegsdeuter (1914–1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />

1. Geistige Kriegführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />

2. Wissenschaft im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131<br />

3. Akademischer Rektor im Zusammenbruch . . . . . . . . . . . . . 140<br />

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525360842 — ISBN E-Book: 9783647360843


<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

6 Inhalt<br />

VII. Berühmter Außenseiter (1918–1932) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151<br />

1. Politische Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151<br />

2. Epochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166<br />

3. Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182<br />

4. Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191<br />

5. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203<br />

6. Emeritierung und Nachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213<br />

VIII. Nationalsozialismus (1933–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217<br />

1. Die Auferstehung der deutschen Nation? . . . . . . . . . . . . . . 217<br />

2. Auseinandersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229<br />

3. Papsttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240<br />

4. Finis Germaniae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255<br />

IX. Überlebt (1945–1947) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267<br />

X. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277<br />

XI. Anhang: <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>: Lebenserinnerungen, Teil IV . . . . . . . 287<br />

Vorbemerkung des Bearbeiters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes. Teil IV: Im Strom der Zeit . . . 290<br />

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441<br />

1. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441<br />

2. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443<br />

a) Publikationen <strong>Haller</strong>s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443<br />

b) Sonstige gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448<br />

3. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455<br />

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473<br />

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525360842 — ISBN E-Book: 9783647360843


<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

Vorwort<br />

Die hier vorgelegte politische Gelehrtenbiographie <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>s wurde im<br />

Sommersemester 2014 von der Universität Passau als Dissertation angenommen.<br />

Für den Druck wurde sie überarbeitet und um eine Edition des letzten, bislang<br />

unveröffentlichten Teils der Lebenserinnerungen <strong>Haller</strong>s ergänzt. Zusammen<br />

mit der von mir bearbeiteten Edition der Briefe <strong>Haller</strong>s, die im September<br />

2014 in der von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie<br />

der Wissenschaften herausgegebenen Reihe »Deutsche Geschichtsquellen des<br />

19. und 20. Jahrhunderts« erschienen ist, versteht sich diese Arbeit als ein erster<br />

Deutungsversuch dieses eigenwilligen, einstmals berühmten Außenseiters der<br />

historischen Zunft.<br />

Die Entscheidung, eine biographische Studie über <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong> zu verfassen,<br />

fiel erst, als ich bereits mit der Arbeit an der Briefedition begonnen<br />

hatte. Die Biographie verdankt ihre Existenz also der Edition, und aus<br />

diesem Grund habe ich hier zuerst denen zu danken, ohne die die Edition<br />

nicht hätte fertiggestellt werden können: Herrn Dr. Christian Kleinert, dessen<br />

Vorarbeiten zur Edition auch für die Biographie eine unabdingbare Voraussetzung<br />

bildeten; Herrn Prof. Dr. Heribert Müller, dem Pionier der <strong>Haller</strong>-Forschung<br />

und Initiator der Edition, dem ich zahlreiche Hinweise und<br />

Hilfestellungen verdanke; Herrn Prof. Dr. Helmut Neuhaus und Herrn Dr.<br />

Karl-Ulrich Gelberg, die vonseiten der Historischen Kommission bei der Bayerischen<br />

Akademie der Wissenschaften die notwendigen organisatorischen und<br />

finanziellen Voraussetzungen bereitgestellt und sich auch darüber hinaus intensiv<br />

um das Gedeihen meiner <strong>Haller</strong>-Forschungen gekümmert haben bis<br />

hin zur Aufnahme dieser Arbeit in die Schriftenreihe der Kommission; Herrn<br />

Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, unter dessen Leitung ich die Edition übernehmen<br />

und zum Abschluss führen konnte und der mir am Lehrstuhl für Neuere<br />

und Neueste Geschichte der Universität Passau ein ideales Arbeitsumfeld<br />

geboten hat.<br />

In diesem Sinne danke ich auch den Teilnehmern des Oberseminars von<br />

Prof. Kraus für die mehrfache Gelegenheit, die verschiedenen Ergebnisse und<br />

Arbeitsstände dieser Arbeit zur Diskussion zu stellen. Insbesondere danke ich<br />

den Herren Prof. Dr. Martin Hille, PD Dr. Marc von Knorring, Sven Prietzel<br />

und Markus Schubert für die stete Bereitschaft, das Thema <strong>Haller</strong> mit mir zu<br />

diskutieren und mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Für die Hilfe beim Korrekturlesen<br />

danke ich den Herren Prof. Dr. Marcus <strong>Hasselhorn</strong>, PD Dr. Marc von<br />

Knorring, Dr. Hartmut Voelkel und Fabian Schmidt. Für hilfreiche Hinweise<br />

im Zusammenhang mit <strong>Haller</strong>s Verhältnis zu Karl Hampe sowie zur Identifikation<br />

mancher von <strong>Haller</strong> aus dem Gedächtnis nicht ganz wortgetreu zitierter<br />

Goethesprüche danke ich Herrn Prof. Dr. Folker Reichert.<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

8 Vorwort<br />

Herrn Prof. Dr. Anton Schindling und Herrn Prof. Dr. Franz-Reiner Erkens<br />

danke ich für die Erstellung von Gutachten für meine Dissertation. Mein größter<br />

Dank schließlich gilt noch einmal meinem Erstgutachter und Doktorvater,<br />

Herrn Prof. Dr. Hans-Christof Kraus. Seine stete Bereitschaft, seinen Doktoranden<br />

wissenschaftlich wie persönlich zu betreuen und zu fördern, geht weit über<br />

das erwartbare Maß hinaus.<br />

Berlin, am Georgstag 2015<br />

<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong><br />

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

I. Einleitung<br />

Die Biographie <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>s ist ein Desiderat der Geschichtsforschung, das<br />

nahezu von jedem, der sich in den vergangenen Jahren wissenschaftlich mit <strong>Haller</strong><br />

befasst hat, als solches benannt wird.1 Dennoch kann man über die Notwendigkeit<br />

einer <strong>Haller</strong>-Biographie geteilter Auffassung sein, je nach dem, für wie<br />

relevant man erstens die Person <strong>Haller</strong>s und zweitens biographische Forschung<br />

überhaupt hält. Der Name <strong>Haller</strong>s ist selbst innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft<br />

weitgehend vergessen, seine wenigen Schüler sind längst verstorben,<br />

seine Werke werden kaum mehr gelesen. Die Nachwirkung, die <strong>Haller</strong> immerhin<br />

noch bis 1965 gehabt hat – als anlässlich seines 100. Geburtstags eine Jubiläumsausgabe<br />

seines großen Alterswerks, des »Papsttums« erschien2 – ist mittlerweile<br />

vollständig abgerissen; seit Ende der 1960er Jahre tauchte <strong>Haller</strong>s Name<br />

in der Forschung wenn überhaupt, dann nur noch im Zusammenhang jener<br />

»Ideologie des deutschen Weges« auf, die man zur Erklärung für den Erfolg des<br />

Nationalsozialismus untersuchte.3<br />

Auch <strong>Haller</strong> selbst hätte den Nutzen einer biographischen Studie über ihn<br />

vermutlich nicht eingesehen. Darauf lassen zumindest die ersten Sätze seiner<br />

1960 teilweise publizierten Lebenserinnerungen schließen. Darin begründet er<br />

den vollständigen Verzicht auf die Offenlegung seiner »wissenschaftlichen Entwicklung«<br />

damit, dass das Zustandekommen seiner Arbeiten niemanden, nicht<br />

einmal ihn selbst interessiere.4 <strong>Haller</strong> bekräftigt seine Auffassung mit einem Zitat<br />

des von ihm verehrten Johann Wolfgang von Goethe: »Was ist denn von dem<br />

Leben eines deutschen Gelehrten zu berichten, selbst wenn es 80 Jahre währt?«5<br />

Für Gelehrtenbiographien hatte <strong>Haller</strong> also offenbar nichts übrig.<br />

1 Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 273, Anm. 8; Kaudelka, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>, S. 178,<br />

Anm. 1; Krumm, Johan Huizinga, S. 171; Kraus, Deux peuples, S. 271, Anm. 17.<br />

2 Vgl. dazu Kapitel X.<br />

3 Vgl. dazu vor allem Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges, mit Bezug auf <strong>Haller</strong> bes.<br />

S. 28–61, S. 92–96, S. 189, S. 198, S. 228, S. 245–247 und S. 287. Vgl. außerdem Werner, Das<br />

NS-Geschichtsbild; Schönwälder, Historiker und Politik; Wolf, Litteris et Patriae. Ältere<br />

Literatur über das Leben und Werk <strong>Haller</strong>s existiert nur in Form von Nachrufen: Dannenbauer,<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>. 16. Oktober 1865 – 24. Dezember 1947; Wittram, Erinnerung an<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>; Ernst, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>; Günter, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>. Vgl. auch die weiteren<br />

Nachrufe, unter anderem von Erich Wittenburg und Eugen Neuscheler, in: UAT 305/31.<br />

Eine Auflistung der Nachrufe bietet zudem Gundel, Die Geschichtswissenschaft an der<br />

Universität Gießen, S. 250, Anm. 35. Bei Gundel, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>, handelt es sich um eine<br />

kommentierte Edition von Briefen <strong>Haller</strong>s aus seiner Gießener Zeit.<br />

4 <strong>Haller</strong>, Lebenserinnerungen, S. 9.<br />

5 Zit. nach ebd., S. 9. <strong>Haller</strong> zitierte Goethe regelmäßig und aus dem Gedächtnis, daher<br />

auch nicht immer ganz wortgetreu. Vermutlich bezieht <strong>Haller</strong> sich auf Goethes Gespräch<br />

mit Johann Peter Eckermann vom 27. Januar 1824: »Und dann, das Leben eines deutschen<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

10 Einleitung<br />

Mittlerweile sieht man das innerhalb der Geschichtswissenschaft aber etwas<br />

anders. Die Geschichte der Geschichtswissenschaft ist ein beliebter Forschungsgegenstand,<br />

und dies keineswegs ausschließlich in struktureller Perspektive,<br />

sondern auch im Modus biographischer Forschung, was an den zahlreichen Gelehrtenbiographien<br />

zu erkennen ist, die in den letzten Jahren erschienen sind.6<br />

Im Hintergrund dieses Phänomens steht zum einen eine Tendenz zur Historisierung<br />

der in den 1970er Jahren und auch lange danach noch stark politischnormativ<br />

aufgeladenen Fragestellungen, zum anderen ein neues Interesse an den<br />

Forschungsthemen und den spezifischen Zugängen, die die ältere deutsche Geschichtswissenschaft<br />

entwickelt hat.7 Damit ist normalerweise nicht der Wunsch<br />

nach einer Repristination des traditionellen »Historismus« verbunden, aber doch<br />

die Auffassung, dass eine einfache Verdammung sachlich unan gemessen ist.<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong> ist allerdings bislang nicht mit einer Gelehrtenbiographie<br />

bedacht worden. Das hängt vermutlich weniger damit zusammen, dass die<br />

enorme Bedeutung <strong>Haller</strong>s in und für seine Zeit bestritten würde, sondern mit<br />

zwei anderen Faktoren: Erstens könnte man unter Berufung auf die starke wissenschaftliche<br />

Eigenständig- oder sogar Eigenwilligkeit – <strong>Haller</strong>s Schüler Fritz<br />

Ernst nannte ihn einen »vir sui generis«8 – bezweifeln, dass <strong>Haller</strong>s wissenschaftliche<br />

Entwicklung in irgendeiner Weise auch für überindividuelle Fragen<br />

von Belang ist. Und zweitens gilt der Deutschnationale und Anhänger<br />

der »Dolchstoß«-These <strong>Haller</strong>, der 1932 einen faktischen Wahlaufruf für die<br />

NSDAP unterzeichnete, oft als politisch noch ein ganzes Stück »belasteter« als<br />

viele seiner Kollegen.<br />

Beides spricht allerdings bei genauerer Betrachtung nicht gegen, sondern<br />

für <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong> als Forschungsgegenstand. Innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft<br />

seiner Zeit kann er zwar durchaus als Außenseiter gelten:<br />

keiner Schule, keinem Zirkel, keiner Akademie angehörend, zu fast keinem direkten<br />

Fachkollegen intensiveren Kontakt pflegend. Als Fachgelehrter von Rang<br />

aber war er dennoch durchweg anerkannt.9 Seine mitunter mehr als nur ori-<br />

Gelehrten, was ist es? Was in meinem Fall daran etwa Gutes seyn möchte, ist nicht mitzutheilen,<br />

und das Mittheilbare ist nicht der Mühe wert. […] Allein im Grunde ist es nichts als<br />

Mühe und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen, daß ich in meinen fünf und siebzig Jahren<br />

keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt.« (Eckermann, Gespräche, S. 105–106.)<br />

6 Nonn, Theodor Schieder; Reichert, Gelehrtes Leben; Thimme, Percy Ernst Schramm; Meinel,<br />

Der Jurist in der industriellen Gesellschaft; Hammann, Rudolf Bultmann; Rebenich, Theodor<br />

Mommsen; Eckel, Hans Rothfels; Cornelißen, Gerhard Ritter; Radkau, Max Weber;<br />

Kreis, Karl Hegel; Jasper, Paul Althaus; Nippel, Johann Gustav Droysen; Lahme, Golo Mann;<br />

Steinbach, Des Königs Biograph. Etwas älter, aber doch auch in diese Reihe gehörend sind<br />

Meineke, Friedrich Meinecke; Lenger, Werner Sombart; Raulff, Ein Historiker; Szöllösi-<br />

Janze, Fritz Haber; Chickering, Karl Lamprecht; Cymorek, Georg von Below.<br />

7 Vgl. dazu vor allem Cornelißen, Gerhard Ritter, S. 642–648, sowie Rüsen, Konfigurationen,<br />

S. 95–113. Damit geht teilweise auch ein verstärktes Interesse für das Phänomen des »Historismus«<br />

insgesamt einher; vgl. dazu etwa Schlüter, Explodierende Altertümlichkeit, S. 12–17.<br />

8 Ernst, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>, S. 12.<br />

9 Vgl. dazu bes. Kapitel V.4.<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

Einleitung<br />

11<br />

ginellen Forschungspositionen setzten sich zwar in der Regel nicht durch, wurden<br />

aber als ernstzunehmende und fruchtbare Diskussionsanstöße akzeptiert.10<br />

Nach 1918 wurde der Außenseiter zudem durch seine populärhistorischen Veröffentlichungen<br />

zum öffentlichen Aushängeschild seines Faches und war in den<br />

Augen des Publikums sogar dessen führender Vertreter.11 In der Frühphase<br />

seiner Karriere arbeitete er am Preußischen Historischen Institut in Rom, und<br />

zwar genau in den Jahren, in denen dieses zum Zentrum einer der bedeutendsten<br />

wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen der wilhelminischen Zeit<br />

wurde. <strong>Haller</strong> erlebte diese Auseinandersetzung nicht nur »hautnah« mit, sondern<br />

beteiligte sich auch aktiv an ihr.12 Wer sich daher für die Geschichte der<br />

Geschichtswissenschaft zwischen 1890 und 1945 interessiert, hat in Leben und<br />

Werk <strong>Haller</strong>s – der den akademischen Betrieb von innen kannte, aber zugleich<br />

so sehr Einzelgänger war, dass er nicht richtig dazugehörte – eine Quelle von<br />

hohem Wert.<br />

Was nun zweitens die – vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit präsentierten<br />

Ergebnisse allerdings zu differenzierende – politische »Belastung« <strong>Haller</strong>s<br />

betrifft, so macht auch sie den Forschungsgegenstand <strong>Haller</strong> umso relevanter.<br />

Anhand der privat wie öffentlich geäußerten politischen Auffassungen<br />

<strong>Haller</strong>s unmittelbar vor und unmittelbar nach 1933 werden Nähe und Distanz<br />

eines deutschnationalen Konservativen zum Nationalsozialismus gerade besonders<br />

deutlich. Die politische Entwicklung <strong>Haller</strong>s insgesamt – der erst seit 1914<br />

bzw. 1918 tatsächlich »rechte«, d. h. konservativ-nationalistische Positionen vertrat<br />

– verspricht deshalb auch Rückschlüsse in Bezug auf Brüche, Kontinuitäten<br />

und »Wegbereitungen«, deren in der Vergangenheit manchmal recht eindimensionale<br />

Betrachtung nichts gegen die prinzipielle Berechtigung dieser<br />

Fragerichtung sagt.13 Die enorme Bedeutung gerade <strong>Haller</strong>s hierfür hängt nicht<br />

10 Vgl. dazu bes. Kapitel VIII.3.<br />

11 Vgl. dazu Kapitel VII.<br />

12 Vgl. dazu die Kapitel IV.6. und V.1.<br />

13 Insgesamt neigt die neuere Forschung in diesen Fragen zu erfreulich differenzierten Urteilen.<br />

Sehr überzeugend zu diesem Fragenkomplex ist etwa Cornelißen, Gerhard Ritter,<br />

S. 229: »Dahinter zeigt sich zuletzt eine Problematik, die auf die Quellenkritik klassischen<br />

Typs zurückverweist. Unter den Bedingungen politischer Zensur reichen Exzerpte der gedruckten<br />

Literatur nur bedingt, um die Intentionen von Autoren und die Reaktionen von<br />

Lesern zu bewerten. Die oft ungedruckt gebliebenen Pläne und die teilweise ebenfalls nicht<br />

gedruckten historiographischen Studien aus dem Umfeld der Forschungsgemeinschaften<br />

bedürfen einer überzeugenden Einbettung in die nationalsozialistische Volkstumspolitik,<br />

um ihren Stellenwert bewerten zu können. Wer sich mit der Geschichtswissenschaft in der<br />

Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt, muß sich auf ›Zwischentöne‹ einlassen. Damit<br />

ist, um dies hier ausdrücklich festzuhalten, keine Apologie der deutschen Historiker gemeint,<br />

sondern der Versuch umschrieben, ihr Denken und Handeln im Nationalsozialismus<br />

möglichst präzise zu erfassen.« Vgl. außerdem Schöttler, Deutsche Historiker auf vermintem<br />

Terrain, S. 15 f.: »Doch tatsächlich verwandeln sich fast alle zeitgeschichtlichen<br />

Sachdiskussionen noch immer – oder mehr denn je? – sehr schnell in Kontroversen oder<br />

polemische Konfrontationen. Meist fängt es schon bei der Sprache an, bei der Wortwahl: So<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

12 Einleitung<br />

zuletzt auch damit zusammen, dass der große Verkaufserfolg seiner historischpolitischen<br />

Bücher die Vermutung nahelegt, dass sein Werdegang als repräsentativ<br />

für das tonangebende, durch Kriegsniederlage und »Versailles« radikalisierte<br />

»nationale« Bürgertum14 in der Weimarer Zeit zu betrachten ist.<br />

Ein geringeres Problem als die Begründung des Forschungsgegenstands<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong> ist die Begründung des biographischen Zugriffs. Die eingangs<br />

gestellte Frage nach der Relevanz biographischer Forschung überhaupt<br />

könnte man nämlich mit dem Hinweis auf die »Renaissance der Biographie«15<br />

im Allgemeinen und der Gelehrtenbiographie im Besonderen bereits für praktisch<br />

beantwortet halten. Aber auch die in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts<br />

vorgebrachten und seitdem oftmals wiederholten theoretischen Vorbehalte<br />

gegen die Biographie sind inzwischen gründlich widerlegt.16 Ein großer<br />

Teil der Ablehnung biographischer Forschung beruhte auf einer mittlerweile<br />

weitgehend als unproduktiv erkannten konfrontativen Gegenüberstellung von<br />

»Personen-« und »Strukturgeschichte«. Die weiteren Vorbehalte berufen sich<br />

auf besonders prominent von Pierre Bourdieu vorgetragene Argumente, die nur<br />

Anhängern eines radikalen Konstruktivismus einleuchten können, auf dessen<br />

innere Widersprüchlichkeit schon von verschiedener Seite hingewiesen wurde,<br />

und die im Falle ihrer Gültigkeit nicht nur biographische, sondern überhaupt<br />

jede geschichtswissenschaftliche Forschung treffen würden.17<br />

als ob auch nach fast 60 Jahren nicht nur nichts vergessen wäre – zumindest expressis verbis<br />

wünscht das ja niemand –, sondern jede Positionierung in diesem Fragengeflecht noch<br />

immer poli tische Bedeutung hätte. Es wird abzuwarten sein, ob Historiker über ihre eigene<br />

Disziplin in Zukunft diskutieren können, ohne sich ständig, sobald es brisant wird, entweder<br />

der Übertreibung oder der Untertreibung zu verdächtigen. Was allerdings nicht<br />

heißt, daß es solche Übertreibungen oder Untertreibungen nicht durchaus geben kann,<br />

aller dings im Sinne von sachlich zu korrigierenden Forschungsergebnissen oder Interpretationen.<br />

Jedenfalls scheint es mir wichtig, von vornherein auf diese Schwierigkeit hinzuweisen,<br />

gleichsam als methodologische Besonderheit bei dieser Art von Forschungen<br />

und Diskussionen, die man mitbedenken muß, um auf möglicherweise irritierende oder<br />

unangenehme Informationen argumentativ und nicht reflexhaft zu reagieren.« Schöttler<br />

hat damit zumindest implizit seine frühere Position in dieser Frage revidiert; vgl. Schöttler,<br />

Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft. Dass allerdings auch in jüngster<br />

Zeit noch politisch motivierte »Wegbereiter«-Thesen propagiert werden, zeigt das Beispiel<br />

Weiß, Moderne Antimoderne.<br />

14 Vgl. dazu vor allem Kondylis, Konservativismus, S. 470.<br />

15 Hammann, Rudolf Bultmann – eine Biographie für die Gegenwart, S. 52. Vgl. dazu auch<br />

Beales, History and Biography, bes. S. 282; vgl. Cornelißen, Gerhard Ritter, S. 10 f.<br />

16 Vgl. dazu vor allem Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte.<br />

17 Vgl. Bourdieu, Die biographische Illusion. Bourdieu nennt darin die »Einheit« der Person<br />

und die »Kohärenz« des einzelnen Lebens, von der biographische Forschung ausgehe, eine<br />

»Illusion« und ein ideologisches »Konstrukt«; vgl. dazu vor allem Kraus, Geschichte als<br />

Lebensgeschichte, S. 322–325. In der Logik eines konsequenten Konstruktivismus würde<br />

es liegen, dann auch alle anderen historischen »Realien« für »Konstrukte« und »Erfindungen«<br />

zu halten. Grundlegend zu den theoretischen Problemen des Konstruktivismus<br />

vgl. Musgrave, Weltliche Predigten, sowie Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt.<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

Einleitung<br />

13<br />

Das gilt genauso auch für das in neueren Arbeiten so genannte »biographische<br />

Paradox«18. Dieses wird im Wesentlichen darin gesehen, dass auf der<br />

theoretischen Ebene die »Kohärenz« der Person als »Konstruktion«19 erkannt<br />

werde, im praktischen Vollzug biographischer Arbeit dann aber doch eine solche<br />

Kohärenz implizit vorausgesetzt werde. Ein derartiges »Paradox« ergibt<br />

sich aber nicht aus der Sache selbst, sondern aus einem verfehlten theoretischen<br />

Konzept, das in Wirklichkeit nicht die Kohärenz der Person als »Konstruktion«<br />

entlarvt, sondern die erlebbare und phänomenologisch beschreibbare Personkohärenz<br />

erst künstlich – und gegen jede Erfahrung – dekonstruiert. Wer einem<br />

solchen konstruktivistischen Ansatz folgt, muss sich dann aber zumindest fragen<br />

lassen, wieso die entsprechende »Illusion« nur eine »biographische«20 sein<br />

soll und nicht ebenso für jeden anderen denkbaren Gegenstand wissenschaftlicher<br />

Forschung gilt.<br />

Damit soll keineswegs bestritten werden, dass die Textform Biographie mit<br />

spezifischen Schwierigkeiten verbunden ist. Sofern dies Grundsätzliches betrifft –<br />

etwa die Gefahr einer Überschätzung der Kontinuitätsmomente in einem Lebenslauf<br />

und der Vernachlässigung überindividueller Strukturen –, sind die Probleme<br />

schon relativ früh, etwa Anfang des 20. Jahrhunderts von Wilhelm Dilthey, reflektiert<br />

worden.21 Neuere theoretische Ansätze zur Rehabilitierung der Biographie<br />

– sei es sozial-22, psycho-23 oder wissenschaftsgeschichtlich24 – sind daher<br />

als methodische Erweiterungen und Ergänzungen des traditionell vornehmlich<br />

auf politikgeschichtliche Aspekte konzentrierten biographischen Mediums zu<br />

begrüßen; es bedarf aber keiner grundstürzenden methodischen Revision.25<br />

Es entspricht jedenfalls einem unangemessenen Negativklischee, wenn man<br />

der »alten«, »historistischen« Biographie vorwirft, methodisch unreflektierte<br />

Nacherzählungen eines Lebens zu bieten und von einem teleologischen und<br />

sich nach bestimmten Gesetzen entwickelnden Lebensziel auszugehen.26 Die<br />

Anforderungen wiederum, die dagegen für eine »neue« Biographie erhoben<br />

werden – die Wendung zum Konkret-Besonderen, die Analyse der Wechselwirkung<br />

zwischen Individuum und Gemeinschaft, die Herausstellung der Komplexität<br />

einer Person – sind tatsächlich so neu nicht; es handelt sich vielmehr um<br />

»reichlich viel alten Wein in neuen Schläuchen«27.<br />

Schon bei Dilthey – und übrigens auch bei Leopold von Ranke – findet sich<br />

nämlich der Hinweis, dass die Biographie das Medium der Verschränkung von<br />

18 So Etzemüller, Biographien, S. 153–169.<br />

19 Ebd., S. 9, spricht ausdrücklich von einer »Konstruktion von Kohärenz«.<br />

20 Bourdieu, Die biographische Illusion.<br />

21 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 303–310.<br />

22 Vgl. Gestrich/Knoch/Merkel, Biographie – sozialgeschichtlich.<br />

23 Vgl. Röckelein, Biographie als Geschichte.<br />

24 Vgl. Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte.<br />

25 Vgl. hierzu bes. Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S. 319–321.<br />

26 Gegen Bödecker, Biographie.<br />

27 Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S. 320.<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

14 Einleitung<br />

Individuum und allgemeiner Entwicklung und daher in besonderer Weise in<br />

der Lage ist, unproduktive Konfrontationen zwischen individuell und überindividuell<br />

ausgerichteter Forschung zu überwinden.28 Die Biographie bietet<br />

darüber hinaus die Möglichkeit, ein relativ breites Spektrum an Themen oder<br />

Fragestellungen zu bearbeiten, weil diese dadurch verbunden sind, dass ein und<br />

dieselbe Person mit ihnen in Beziehung stand.29 Damit ist keineswegs automatisch<br />

das willkürliche »Konstruieren« eines »Lebensplans«30 verbunden, sondern<br />

dadurch wird ermöglicht, einen spezifischen Lebensweg zu erhellen und<br />

dabei sowohl Kontinuitäten als auch Brüche nachzuweisen. In diesem Zusammenhang<br />

ist der von Max Weber geprägte Begriff der »Lebensführung«31 weiterführend,<br />

weil er den »konstruktivistischen« Einwand, dass ein Leben nicht<br />

einem vorgegebenen Ziel folge, sondern individuell gestaltet werde, aufnimmt,<br />

ohne den genannten konstruktivistischen Fehlschlüssen zu erliegen.<br />

Die durch den biographischen Zugriff ermöglichte Themenbreite kann allerdings<br />

zugleich auch ein Nachteil sein, was im Falle der Person <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>s<br />

besonders deutlich wird: Schon allein die Veröffentlichungen <strong>Haller</strong>s enthalten<br />

eine solche Fülle an Themen, dass der Versuch aussichtslos wäre, sie alle<br />

auch nur zusammenfassend darzustellen, geschweige denn angemessen in ihren<br />

historischen Zusammenhang einzuordnen oder gar inhaltlich zu beurteilen.<br />

Ohne hin wäre diese Arbeit missverstanden, wenn man sie als definitiven Beitrag<br />

bzw. als Abschluss der »<strong>Haller</strong>-Forschung« begriffe. Vielmehr soll hier der<br />

Versuch unternommen werden, eine bisher so gut wie gar nicht existente <strong>Haller</strong>-<br />

Forschung überhaupt in Gang zu bringen. Dazu soll ein quellengestützter Überblick<br />

über Leben und Werk <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>s gegeben werden, der sich an den<br />

für die Wissenschafts-, Politik-, Ideen- und auch Religionsgeschichte zwischen<br />

1871 und 1945 relevanten Fragen orientiert.<br />

28 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 303–310, hier S. 304 und S. 310: »Die Aufgabe<br />

des Biographen ist nun, […] den Wirkungszusammenhang zu verstehen, in welchem<br />

ein Individuum von seinem Milieu bestimmt wird und auf dieses reagiert. Alle Geschichte<br />

hat Wirkungszusammenhang zu erfassen. […] Das Individuum ist nur der Kreuzungspunkt<br />

für Kultursysteme, Organisationen, in die sein Dasein verwoben ist«. Vgl. dazu<br />

Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S. 326–328, dort auch der Hinweis auf entsprechende<br />

Äußerungen von Ranke. Vgl. weiterhin Cornelißen, Gerhard Ritter, S. 11 f.: »Die<br />

Biographie bietet, wie in kaum einem anderen Ansatz denkbar, die Möglichkeit, historisches<br />

Denken und Handeln mit den Motiven eines Individuums und den bestimmenden<br />

Faktoren seiner Lebenswelt in Verbindung zu setzen. […] Es bleibt, methodisch betrachtet,<br />

festzuhalten: So wie die Gelehrtenbiographie der Ergänzung durch gruppenbezogene<br />

Erkenntnisse und einer Einbettung in übergeordnete Kontexte bedarf, stellt sich der Sachverhalt<br />

auch umgekehrt dar.«<br />

29 So auch Etzemüller, Biographien, S. 13.<br />

30 So das in der Tat problematische Konzept bei Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt,<br />

S. 303–310. Vgl. dazu auch Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S. 327.<br />

31 So der plausible Vorschlag von ebd., S. 321, mit Verweis auf Weber, Wirtschaft und Gesellschaft,<br />

S. 412 und 686.<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

Einleitung<br />

15<br />

Aus diesem Grund ist die Fragestellung dieser Arbeit eine dreifache: Wie verlief<br />

<strong>Haller</strong>s Entwicklung erstens in wissenschaftlicher, zweitens in politischer<br />

und drittens in weltanschaulich-religiöser Hinsicht?32 Es handelt sich damit<br />

um eine politische Gelehrtenbiographie: um eine Gelehrtenbiographie, indem<br />

das wissenschaftliche Werk und die wissenschaftspolitische Bedeutung <strong>Haller</strong>s<br />

analysiert werden; um eine politische Gelehrtenbiographie, weil <strong>Haller</strong> zwar<br />

nicht mehr zum reinen Typus des »Gelehrtenpolitikers«33 gehörte, weil er aber<br />

spätestens seit 1914 politisch nicht ohne Einfluss war und sich auch sein wissenschaftliches<br />

Werk ohne seine politischen Auffassungen gar nicht erklären<br />

lässt. Die Untersuchung der weltanschaulich-religiösen Entwicklung <strong>Haller</strong>s<br />

bietet schließlich zum einen ein notwendiges Bindeglied zwischen seinem politischen<br />

und seinem wissenschaftlichen Werdegang. Zum anderen verspricht die<br />

Rekonstruktion der religiösen Vorstellungswelt eines protestantischen Pfarrersohnes,<br />

der zum Historiker des Papsttums wurde und sich kurz vor seinem Tod<br />

in einem Aufsatz zu einer monistischen »Naturreligion«34 bekannte, interessante<br />

Aufschlüsse zur Religionsgeschichte um die Jahrhundertwende, deren<br />

Erforschung lange Zeit durch eine »nicht hinreichend reflektierte Säkularisierungsthese«35<br />

eher behindert als gefördert wurde.<br />

Damit ist noch einmal eine wesentliche Stärke des biographischen Mediums<br />

angesprochen, nämlich eine Analyse der »Wirkungszusammenhänge«36<br />

zwischen Individuum und Umwelt zu leisten. In Bezug auf <strong>Haller</strong> bedeutet<br />

dies, vor allem die Prägungen durch sein soziales Umfeld zu berücksichtigen,<br />

d. h. zuerst durch seine deutschbaltische Herkunft, dann durch die Welt<br />

des – allerdings im allmählichen Abstieg begriffenenen – »Mandarinentums«37<br />

der deutschen Gelehrten. Analysiert werden soll darüber hinaus <strong>Haller</strong>s spezifische<br />

»Lebens führung«, die sein Leben nicht als auf ein vorgegebenes Ziel<br />

führende Linie, sondern als Ergebnis bestimmter Entscheidungen – gegen eine<br />

Musikerkarriere, gegen die Fortführung einer Laufbahn in Rom, für ein hohes<br />

Engagament in der Kriegspublizistik des Ersten Weltkriegs, für die Wirksam-<br />

32 Es handelt sich bei dieser Arbeit deshalb auch nicht um eine vollständige, sondern um eine<br />

politische Gelehrtenbiographie. Alle anderen Aspekte von <strong>Haller</strong>s Leben und Werk, die<br />

nichts mit seiner wissenschaftlichen, politischen oder weltanschaulich-religiösen Entwicklung<br />

zu tun haben, werden daher zwar nicht ignoriert, aber außerhalb der für die Fragestellung<br />

relevanten Aspekte bewusst ausgeklammert. Das betrifft vor allem große Teile von<br />

<strong>Haller</strong>s Privatleben sowie sein musikalisches und künstlerisches Interesse.<br />

33 Vgl. dazu bes. Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung.<br />

34 Wittram, Erinnerung an <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>, S. 67 f. Vgl. dazu auch Wittram, Rez. »<strong>Johannes</strong><br />

<strong>Haller</strong>: Zum Verständnis der Weltgeschichte«, S. 156 f.<br />

35 Blaschke/Kuhlemann, Religion in Geschichte und Gesellschaft, S. 8.<br />

36 Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S. 328. Das Folgende orientiert sich an den von<br />

Kraus (ebd., S. 328–330) für die biographische Forschung aufgestellten vier hauptsächlichen<br />

Erkenntniszielen: die Wirkungszusammenhänge zwischen Individuum und Umwelt,<br />

die konkrete Gestalt der Lebensführung, das Zusammenspiel von Kontinuitäten und<br />

Brüchen sowie die Rekonstruktion der Handlungsspielräume.<br />

37 Ringer, Die Gelehrten, bes. S. 8.<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

16 Einleitung<br />

keit als »Populär historiker« in der Weimarer Zeit usw. – darstellt und an dessen<br />

Ende das Empfin den des Scheiterns stand.38 Damit verbunden ist die Frage<br />

nach Kontinuitäten und Brüchen in <strong>Haller</strong>s Entwicklung, wobei hier die Diskrepanz<br />

zwischen privaten und öffentlich geäußerten Auffassungen – etwa in<br />

der Beurteilung Preußens – ebenso untersucht wird wie die Frage, ob seine politische<br />

Entwicklung insgesamt eigentlich kontinuierlich bzw. »plausibel« verlief<br />

oder ob nicht vielmehr zwischen 1914 und 1918 ein deutlicher Bruch festzustellen<br />

ist. Und schließlich sollen auch die »Handlungsspielräume«39 rekonstruiert<br />

werden, in denen <strong>Haller</strong> agierte.<br />

Letzteres bedeutet im Wesentlichen, die quellengestützte Rekonstruktion<br />

der Entwicklungslinie von <strong>Haller</strong>s Leben und Werk in den allgemeineren historischen<br />

Zusammenhang einzuordnen, in dem sie verlief. Es wird dabei aber<br />

bewusst darauf verzichtet, jedes der Themen, die hier relevant sind, systematisch<br />

auszuführen. Die vorgenommenen Einordnungen sollen stattdessen lediglich<br />

Hinweise darauf geben, inwiefern der Werdegang <strong>Haller</strong>s den bisherigen<br />

Stand der Forschungsdiskussion bestätigt, ergänzt oder infrage stellt. Übergreifende<br />

Themen werden hier deshalb nicht oder nur knapp im eigentlichen Sinne<br />

bearbeitet, sondern lediglich – neben dem Verweis auf die jeweils einschlägige<br />

Literatur – in ihrem unmittelbaren Bezug auf <strong>Haller</strong> vorgestellt. Mit dieser Vorgehensweise<br />

ist den über diesen unmittelbaren Bezug hinaus relevanten Themen<br />

ohnehin am besten gedient, zumal die Alternative darin bestünde, breite<br />

Rekapitulationen und Kommentierungen der jeweiligen Forschungs literatur<br />

vorzunehmen, die die ganze Arbeit letztlich unnötig überfrachten würden.<br />

Selbstverständlich wird aber in dieser Arbeit an den entsprechenden Stellen<br />

eigens darauf verwiesen, wenn Ergebnisse nicht nur im Hinblick auf <strong>Haller</strong>,<br />

sondern auch grundsätzlich von Interesse sind.<br />

Ein Beispiel für Letzteres ist <strong>Haller</strong>s Deutung der Niederlage Deutschlands<br />

im Ersten Weltkrieg. In der bisherigen Forschung gilt <strong>Haller</strong> als einer der profiliertesten<br />

und klügsten Vertreter der sogenannten »Dolchstoßlegende«, nach<br />

der das »im Felde unbesiegte« deutsche Heer durch den »Verrat« der Revolutionäre<br />

im Inland zu Fall gebracht worden sei. Anstatt nun die Geschichte der<br />

»Dolchstoßlegende« erschöpfend darzustellen, wird an der betreffenden Stelle<br />

dieser Arbeit dazu nur das Nötigste gesagt, um <strong>Haller</strong> einordnen zu können,<br />

und dann wird <strong>Haller</strong>s Version der Dolchstoßthese ausführlich präsentiert.40<br />

Das Ergebnis dieser Analyse wiederum könnte auch für die Sichtweise des Komplexes<br />

»Dolchstoßlegende« insgesamt Folgen haben, da <strong>Haller</strong> keine platte, deutlich<br />

den historischen Tatsachen widersprechende, sondern eine klug und differenziert<br />

argumentierende Form der »Legende« vertrat. Auf diese Weise werden<br />

die Vernunft- und die Realitätsmomente eines politischen Schlagwortes von<br />

38 Vgl. dazu bes. Kapitel IX.<br />

39 Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S. 329, mit Verweis auf Vierhaus, Handlungsspielräume,<br />

bes. S. 35.<br />

40 Vgl. dazu Kapitel VI.3.<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

Einleitung<br />

17<br />

kaum zu überschätzender Bedeutung für die jüngere deutsche Geschichte sichtbar,<br />

die die enorme Verbreitung der Dolchstoßthese in dieser Zeit möglicherweise<br />

besser erklärt als die Konzentration auf leicht widerlegbare Versionen.<br />

Die vorliegende Arbeit kann sich auf zwei Hauptquellengruppen stützen: erstens<br />

die Veröffentlichungen <strong>Haller</strong>s, zweitens die zahlreichen Briefe und anderen<br />

unveröffentlichten Dokumente aus seinen beiden Teilnachlässen.41 In Tübingen<br />

befinden sich persönliche Dokumente <strong>Haller</strong>s, darunter auch der handschriftliche<br />

Originalentwurf der Lebenserinnerungen, Vorträge, Rezensionen und Vorlesungsmanuskripte.<br />

Daneben befinden sich dort noch Unterlagen von <strong>Haller</strong>s<br />

Vater sowie von <strong>Haller</strong>s Kindern, etwa die Chronik der Familie <strong>Haller</strong> und die<br />

Erinnerungen von Adelheid Ignatius, geborene <strong>Haller</strong>, an ihren Vater.42 Der in<br />

den 1950er Jahren dem Bundesarchiv in Koblenz übergebene Bestand enthält<br />

zum einen politische und wissenschaftliche Unterlagen – Zuschriften zu <strong>Haller</strong>s<br />

Veröffentlichungen, vor allem aber Rückmeldungen zu dem von ihm 1917<br />

initiierten Aufruf gegen die Reichstagsmehrheit –, zum anderen solche Briefe, die<br />

von <strong>Haller</strong> aufbewahrt wurden und die Zerstörungen infolge des Zweiten Weltkriegs<br />

überstanden haben.43<br />

Beide Teilnachlässe zusammen ergeben bei weitem keinen vollständigen<br />

Nachlass; es handelt sich vielmehr um Restbestände. Das ist nicht nur mit<br />

der teilweisen Vernichtung der Dokumente in und nach dem Krieg zu erklären,<br />

sondern auch damit, dass <strong>Haller</strong> in den ersten, relativ unbeständigen Jahrzehnten<br />

seines beruflichen Werdegangs offenbar nur wenige Briefe überhaupt<br />

für längere Zeit aufgehoben hat.44 Es ist aber möglich, den Bestand teilweise zu<br />

ergänzen durch <strong>Haller</strong>-Briefe aus den Nachlässen seiner Korrespondenzpartner.<br />

In insgesamt gut 20 Archiven und Bibliotheken wurden in etwa doppelt so<br />

vielen Nachlässen und anderen Beständen noch weitere Briefe von oder an <strong>Johannes</strong><br />

<strong>Haller</strong> gefunden. Am umfangreichsten und aussagekräftigsten sind die<br />

Korrespondenzen <strong>Haller</strong>s mit Rudolf Wackernagel, mit Eduard Fueter und dessen<br />

gleichnamigen Sohn, mit Johan Huizinga sowie mit Paul Fridolin Kehr.45<br />

Der Gesamtbestand der Briefe – zu <strong>Haller</strong>s Korrespondenzpartnern gehörten<br />

neben den Genannten u. a. auch Friedrich Althoff, Robert Bosch, »Kaise rin«<br />

Hermine, Theodor Heuss, Paul von Hindenburg, Friedrich Meinecke, Rudolf<br />

Smend, Martin Spahn und Theophil Wurm – verteilt sich sehr ungleichmäßig<br />

auf die gut 70 Jahre, in denen <strong>Haller</strong> Briefe schrieb und ist ebenso ungleichmäßig<br />

im Hinblick auf den Absender- bzw. Empfängeranteil verteilt. Etwas ver-<br />

41 Ein Teilnachlass <strong>Haller</strong>s befindet sich im Bundesarchiv Koblenz (BArch N 1035), der andere<br />

im Universitätsarchiv Tübingen (UAT 305).<br />

42 Vgl. Schäfer, Universitätsarchiv Tübingen: Provisorisches Bestandsrepertorium 305.<br />

43 Vgl. Kinder, Bundesarchiv: Nachlass <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong> N 1035.<br />

44 Eine »Zensur« mancher Briefe durch <strong>Haller</strong>s Erben ist gerade für den Tübinger Teilnachlass<br />

nicht prinzipiell auszuschließen, ist aber doch eher unwahrscheinlich: Sollte eine solche<br />

Zensur nämlich aus politischen Motiven erfolgt sein, wurde einiges »brisante« Material<br />

übersehen (vgl. dazu bes. Kapitel VIII.1.).<br />

45 Vgl. dazu die ausführliche Auflistung der benutzten Bestände im Literaturverzeichnis.<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

18 Einleitung<br />

gröbernd ergibt sich folgender Befund: Aus den frühen Jahren <strong>Haller</strong>s, also aus<br />

Kindheit, Schul- und Studentenzeit existieren von wenigen Ausnahmen abgesehen<br />

fast ausschließlich Briefe von <strong>Haller</strong>. Auch in den ersten Berufsjahren<br />

nach der Promotion in Deutschland, den Jahren 1891–1902 in Rom und Basel,<br />

dominieren eindeutig die Briefe von <strong>Haller</strong>s Hand; im Prinzip gilt dies auch<br />

noch für die Zeit in Marburg und Gießen 1902–1913. In der zweiten Lebenshälfte<br />

ist es genau umgekehrt: Vor allem aus den Jahren der Weimarer Republik<br />

existieren überwiegend an <strong>Haller</strong> gerichtete Briefe. Ausnahmen sind zunächst<br />

die Briefe an Freunde wie Ferdinand Wagner und Hermann Losch sowie<br />

an seinen Schüler Dannenbauer; eine große Ausnahme bilden dann vor allem<br />

in der nationalsozialistischen Zeit die Briefe <strong>Haller</strong>s an seine Kinder, besonders<br />

an seine Söhne.<br />

Leider weist der Briefbestand eine Reihe chronologischer Lücken auf. Eine<br />

erste kleinere Lücke fällt auf die Basler Jahre (1897–1900), eine zweite auf fast<br />

die gesamte Zeit in Gießen (1904–1913). Letzteres hängt in erster Linie mit dem<br />

Tod des Vaters (1905) zusammen, der zuvor der Hauptkorrespondenzpartner<br />

<strong>Haller</strong>s gewesen ist; außerdem spielen hier die Ende 1903 zwar nicht beendete,<br />

aber doch merklich abgekühlte Freundschaft zu Paul Kehr sowie der einige<br />

Anstrengung erfordernde Familienaufbau des seit 1904 verheirateten <strong>Haller</strong><br />

eine Rolle.46 Und auch für die Anfangsphase des Ersten Weltkriegs ist der Bestand<br />

relativ dünn; erst mit dem Kontakt zu Philipp zu Eulenburg- Hertefeld<br />

in der Endphase des Krieges und der Übernahme des Rektorats der Universität<br />

Tübingen im akademischen Jahr 1918/19 ändert sich das.47 Briefe aus den<br />

1920er Jahren sind zwar relativ zahlreich, sofern sie an <strong>Haller</strong> gerichtet sind;<br />

von <strong>Haller</strong> in dieser Zeit verfasste Briefe sind aber eher selten. Nach 1933 und<br />

vor allem nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schließlich gibt es kaum noch<br />

»Außenkorrespondenz«, sondern fast nur noch die allerdings zahlreichen Briefe<br />

an die Kinder.48<br />

Der Verfasser hat 2014 eine Auswahledition der <strong>Haller</strong>-Briefe vorgelegt.49 Sofern<br />

die in dieser Arbeit zitierten Briefe <strong>Haller</strong>s in der Edition abgedruckt sind,<br />

wird sowohl die entsprechende Archivsignatur als auch die Nummer der Edition<br />

in der Fußnote angegeben. Diejenigen Briefe, bei denen in der Fußnote der<br />

Hinweis auf die Edition fehlt, sind nicht Bestandteil der Edition.<br />

Neben der Korrespondenz <strong>Haller</strong>s sind für diese Arbeit noch weitere <strong>Haller</strong><br />

betreffende Dokumente einschlägig, die sich zum größten Teil in den Beständen<br />

des Tübinger Universitätsarchivs befinden.50 Besonders wichtig ist dabei<br />

46 Vgl. dazu auch Kapitel V.<br />

47 Vgl. dazu auch Kapitel VII.1.<br />

48 Vgl. dazu auch Kapitel VIII.4.<br />

49 <strong>Hasselhorn</strong>/Kleinert, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>.<br />

50 Für das UAT sind hier in erster Linie seine Personalakte (UAT 126/241) sowie die Akten<br />

des Akademischen Rektorats und die Senatsprotokolle (UAT 117, UAT 47/39, UAT 47/40)<br />

zu nennen.<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

Einleitung<br />

19<br />

der vierte, bislang unveröffentlichte Teil von <strong>Haller</strong>s Lebenserinnerungen, der<br />

im Wesentlichen die Zeit des Ersten Weltkriegs (und seiner Entstehung) umfasst,<br />

aber auch eine kurze Reflexion der Jahre 1918–1945 enthält. Dieser letzte<br />

Teil der Lebenserinnerungen ist, mit einem knappen wissenschaftlichen Kommentar<br />

versehen, im Anhang an diese Arbeit abgedruckt.51 Der Vergleich zwischen<br />

<strong>Haller</strong>s Veröffentlichungen einerseits, seinen Briefen und den Lebenserinnerungen<br />

andererseits, zeigt dabei, wie oft sich die nichtöffentlichen von<br />

den öffentlichen Äußerungen unterscheiden. Dies betrifft beispielsweise <strong>Haller</strong>s<br />

Verhältnis zu Deutschland und Preußen, das für einen Deutschnationalen<br />

und »Bismarckianer« erstaunlich negativ war.52 Das gibt zu der Vermutung Anlass,<br />

dass <strong>Haller</strong> in seinen Veröffentlichungen eine politische Position bezogen<br />

hat, während er in den Briefen, aber auch in der nachträglichen Reflexion in den<br />

Lebenserinnerungen seine persönlichen, von keiner politischen Zweckmäßigkeit<br />

beeinflussten Auffassungen festgehalten hat. Das fügt dem ohnehin widersprüchlichen<br />

Charakter <strong>Haller</strong>s eine weitere Facette hinzu, ermöglicht aber auch,<br />

bestimmte widersprüchlich scheinende Phänomene zu erklären – etwa die politische<br />

Parteinahme für Deutschland und Preußen bei gleichzeitiger kulturellatmosphärischer<br />

Parteinahme für Italien und Frankreich.53<br />

Der Grobaufbau dieser Arbeit ist chronologisch und orientiert sich zum<br />

einen an den für <strong>Haller</strong> persönlich relevanten Einschnitten – der Auswanderung<br />

erst nach Deutschland, dann nach Italien, dann der Rückwanderung nach<br />

Deutschland –, zum anderen an den allgemeinen politischen Zäsuren – dem Beginn<br />

und dem Ende des Ersten Weltkriegs, der nationalsozialistischen »Machtergreifung«,<br />

schließlich dem Zusammenbruch 1945. Innerhalb dieses Aufbaus<br />

werden dann die für die Fragestellung relevanten Themen »systematisch« abgehandelt.<br />

Durch diese Verflechtung von chronologischer und systematischer<br />

Gliederung entstehen bisweilen Wiederholungen bzw. Querverweise, und manche<br />

systematisch zusammenhängenden Themen werden nicht durchgängig,<br />

sondern auf verschiedene Kapitel verteilt behandelt. Dies scheint allerdings die<br />

beste Lösung zu sein, wenn man die Entwicklung – und das heißt insbesondere<br />

auch den Wandel der Auffassungen und Motive – <strong>Haller</strong>s untersuchen will.<br />

Grundsätzlich wird aber versucht, systematische Schwerpunkte jeweils an demjenigen<br />

chronologischen »Ort« zu setzen, an den ein Thema am ehesten gehört.<br />

So wird beispielsweise das <strong>Haller</strong>sche Frankreichbild zwar in mehreren Kapiteln<br />

erwähnt, allerdings erst dort ausführlich dargestellt, wo es um die 1930<br />

publizierten »Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen« geht, in denen<br />

51 <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i bzw. unten S. 287–439. Zu der Teilpublikation<br />

von <strong>Haller</strong>s Lebenserinnerungen durch dessen Schüler Reinhard Wittram vgl. Kapitel<br />

X sowie die einleitenden Bemerkungen im Anhang. Zitate aus diesem Teil der Lebenserinnerungen<br />

werden analog zu den edierten Briefen doppelt belegt: Es wird also sowohl<br />

die Archivsignatur und Manuskriptseitenzahl genannt als auch die Seitenzahl im Anhang.<br />

52 Vgl. dazu bes. Kapitel III.<br />

53 Vgl. dazu bes. Kapitel IV.3.<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

20 Einleitung<br />

<strong>Haller</strong> selbst so etwas wie die »Summa«54 seiner Überlegungen zu dieser Frage<br />

bot.55 Damit soll versucht werden, den richtigen Ausgleich zwischen einer in der<br />

Geschichtswissenschaft immer – bei Biographien aber in besonderer Weise –<br />

notwendigen chronologischen sowie einer im Sinne einer stringenten Analyse<br />

geforderten systematischen Gliederung zu finden.56<br />

Zur Politik-, Wissenschafts- und Religionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts<br />

gibt es eine große Fülle an Forschungsliteratur, deren Ergebnisse<br />

für die vorliegende Arbeit fruchtbar gemacht werden konnten. Das gilt vor allem<br />

für bereits relativ breit erforschte Themen wie die Geschichte des Deutschbaltentums57,<br />

die Geschichte der Geschichtswissenschaft im wilhelminischen<br />

Kaiserreich58, die (Gelehrten-)Politik im Ersten Weltkrieg59 und in der Weimarer<br />

Republik60, die Religions- und Geistesgeschichte des späten 19. und frühen<br />

20. Jahrhunderts61 sowie die Geschichte des Konservatismus, insbesondere in<br />

seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus.62<br />

Was die spezifische Forschung über <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong> betrifft, so sind hier<br />

<strong>Haller</strong>s Publikationen sowie das umfangreiche unveröffentlichte Material die<br />

Hauptquellen. Wenn man nämlich einmal von den unmittelbar nach <strong>Haller</strong>s<br />

Tod 1947 erschienenen Nachrufen und von einigen Lexikoneinträgen absieht,<br />

so beschränkt sich die Forschungsliteratur über <strong>Haller</strong> auf insgesamt ein gutes<br />

halbes Dutzend Aufsätze.63 Dabei sind bislang im Grunde lediglich drei Themen<br />

näher untersucht worden: <strong>Haller</strong>s Frankreichbild, <strong>Haller</strong>s Russlandbild<br />

sowie sein Verhältnis zum Nationalsozialismus. Immerhin zum Frankreichbild<br />

und zum NS-Verhältnis ist hier bereits Grundlegendes, wenn auch nicht in jeder<br />

Hinsicht Erschöpfendes, geleistet worden.64 Darüber hinaus gibt es eine Hand-<br />

54 Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 292.<br />

55 Vgl. Kapitel VII.5.<br />

56 Wer im Namen des Konstruktivismus den Sinn chronologischer Ordnungen überhaupt<br />

anzweifelt, greift damit nicht nur jede Form geschichtswissenschaftlicher Praxis an, die ja<br />

gerade darin besteht, Kausalitäten plausibel zu rekonstruieren, sondern verstrickt sich damit<br />

auch in dieselben inneren Widersprüche, unter denen der Konstruktivismus insgesamt<br />

leidet: vgl. dazu Nonn, Theodor Schieder, S. 4 f.<br />

57 Vgl. Kapitel II.<br />

58 Vgl. die Kapitel IV und V.<br />

59 Vgl. Kapitel VI.<br />

60 Vgl. Kapitel VII.<br />

61 Vgl. die Kapitel II.2. und IX.<br />

62 Vgl. Kapitel VIII.<br />

63 Braun, The Philosophical Testament; Müller, Der bewunderte Erbfeind; Volkmann, Von<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong> zu Reinhard Wittram; Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung;<br />

Haar, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>; Kaudelka, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>; Kraus, Deux peuples dans le débat des<br />

historiens.<br />

64 Weiterführend sind vor allem die Aufsätze von Müller und Kraus, aber auch die ältere Arbeit<br />

von Martin Braun über <strong>Haller</strong>s »philosophisches Testament«, während bei denjenigen<br />

von Volkmann, Kaudelka und insbesondere von Haar die Analyse unter der starken normativen<br />

Aufladung der Fragestellung leidet.<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

Einleitung<br />

21<br />

voll Aufsätze bzw. Buchkapitel zu Spezialthemen, in denen <strong>Haller</strong> als Wissenschaftler<br />

in seinem Verhältnis zu anderen Kollegen thematisiert wird.65 <strong>Haller</strong>s<br />

Wirken an der Universität Tübingen zwischen 1913 und 1932 ist bislang eher<br />

sporadisch und vor allem wenig überzeugend in den Blick genommen worden,<br />

was zum Teil auch an unsauberer wissenschaftlicher Arbeitsweise liegt.66 Ansonsten<br />

hat lediglich die wissenschaftspolitische Auseinandersetzung um das<br />

Preußische Historische Institut in Rom breitere Aufmerksamkeit gefunden.67<br />

Alle anderen Aspekte des <strong>Haller</strong>schen Lebens und Werks sind bislang entweder<br />

gar nicht oder nur beiläufig von geschichtswissenschaftlicher Seite aus in den<br />

Blick genommen worden. Dies soll hiermit geändert werden.<br />

65 Matthiesen, Kontroverse und Konfession; Struve, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong> – ein Romancier?; Struve,<br />

<strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong> und das Versöhnungsmahl auf Canossa; Vischer, Eine Buchrezension;<br />

Krumm, Johan Huizinga.<br />

66 Das betrifft die Arbeiten von Mathias Kotowski: Kotowski, Noch ist der Krieg gar nicht<br />

zu Ende; Kotowski, Die öffentliche Universität. Die Unsauberkeit dieser Arbeiten drückt<br />

sich in erster Linie darin aus, dass Äußerungen <strong>Haller</strong>s falsch bzw. sinnentstellend zitiert<br />

werden. Vgl. dazu die Kapitel VI.1. und VI.3. Wissenschaftlich sauber gearbeitet, allerdings<br />

in manchen Schlussfolgerungen vor dem Hintergrund des in dieser Arbeit Zusammengetragenen<br />

zu revidieren ist dagegen Langewiesche, Die Eberhard-Karls-Universität<br />

Tübingen.<br />

67 Braubach, Aloys Schulte in Rom; Burchardt, Gründung und Aufbau; Elze/Esch, Das Deutsche<br />

Historische Institut in Rom; Schubert, Auseinandersetzungen. Ebenfalls relevant hierfür<br />

ist Pfeil, Vorgeschichte und Gründung.<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

II. Ancien Régime (1865–1890)<br />

1. Baltische Verhältnisse<br />

Das Baltikum, geteilt in die Gouvernements Estland, Livland und Kurland, gehörte<br />

während des ganzen 19. Jahrhunderts zum Russischen Reich. Hier lebten<br />

neben Esten und Letten vor allem baltische Deutsche als Nachkommen der seit<br />

dem 12. Jahrhundert in Richtung Osten aus dem Reichsgebiet Ausgewanderten.1<br />

Die Position der Deutschbalten war auch im 19. Jahrhundert noch die einer »dominierenden<br />

Minderheit«2, die im Gesamtgefüge des Russischen Reiches insofern<br />

eine Sonderrolle einnahm, als das Maß an Selbstverwaltung und -regierung im<br />

Baltikum sehr hoch war. In jedem Fall pflegten die Deutschbalten, insbesondere<br />

der Adel und die Akademikerschaft, ein ausgeprägtes Überlegenheitsbewusstsein<br />

gegenüber der zumeist bäuerlichen Bevölkerung der Esten und Letten.3<br />

Die Abschaffung der Erbuntertänigkeit in den Jahren 1816 bis 1819 – die sogenannte<br />

»Bauernbefreiung« – änderte zunächst wenig an der ständischen Ordnung<br />

des Baltikums. Sie brachte den Esten und Letten aber neue Aufstiegsmöglichkeiten,<br />

die im Laufe des 19. Jahrhunderts, vor allem in der zweiten Hälfte,<br />

immer stärker genutzt wurden. Damit einher ging allerdings normalerweise auch<br />

eine »Germanisierung« der aufstrebenden Bevölkerungsteile im Sinne einer Assimilation<br />

an die deutschbaltische Oberschicht.4 Erst in den 1860er Jahren entstand<br />

so etwas wie eine estnische Nationalbewegung, die dafür plädierte, den<br />

sozialen Aufstieg nicht mit einer Aufgabe der eigenen kulturellen Identität zu verbinden.5<br />

Dabei handelte es sich anfangs um ein Phänomen der Städte und größeren<br />

Ortschaften; auf dem Land verlief die Entwicklung wesentlich langsamer.<br />

Vor diesem Hintergrund ist auch die Darstellung der entsprechenden Periode<br />

in den Lebenserinnerungen <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>s zu verstehen. Im ersten Teil,<br />

der offenbar in der ersten Hälfte der 1930er Jahre geschrieben wurde,6 schil-<br />

1 Grundlegend für das Folgende sowie zur Geschichte der Deutschbalten ingsesamt und mitsamt<br />

Bibliographie: Pistohlkors, Deutsche Geschichte im Osten Europas. Nach wie vor nützlich<br />

ist auch die Überblicksdarstellung des <strong>Haller</strong>-Schülers Reinhard Wittram: Wittram,<br />

Baltische Geschichte.<br />

2 Schlau, Eine Einführung in die Wanderungsgeschichte, S. 11. Der Anteil der Deutschen<br />

im Baltikum betrug im 19. Jahrhundert etwa 5 %, während Esten und Letten etwa 90 % der<br />

Gesamtbevölkerung ausmachten: vgl. Jansen, Die nicht-deutsche Komponente, S. 233, bzw.<br />

wesentlich detaillierter für das Gouvernement Estland 1850–1897: Kenéz, Die Bevölkerung,<br />

bes. S. 61.<br />

3 Zur Standeseinheit von Adel und Akademikern unter den Deutschbalten vgl. bes. Prehn,<br />

Max Hildebert Boehm, S. 33, Anm. 22.<br />

4 Vgl. Jansen, Die nicht-deutsche Komponente, S. 234–240.<br />

5 Vgl. Jansen, Die estnische Nationalbewegung.<br />

6 Vgl. <strong>Haller</strong>, Lebenserinnerungen, S. 11, Anm. 1.<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

24 Ancien Régime (1865–1890)<br />

dert er die sozialen Verhältnisse, wie er sie als Kind in Estland erlebt hatte. Am<br />

16. Oktober 1865 in Keinis auf der estnischen Insel Dagö als Sohn des lutherischen<br />

Pfarrers Anton <strong>Haller</strong> geboren, verbrachte <strong>Haller</strong> seine ersten zehn<br />

Lebensjahre auf der Insel. Die geringe Bevölkerungsdichte und die schlechte<br />

Anbindung an das Festland – so <strong>Haller</strong> – trugen nicht nur zu »Einsamkeit und<br />

Weltabgeschiedenheit«7 bei, sondern machten auch ein Auskommen zwischen<br />

Esten und Deutschen notwendig. <strong>Haller</strong> schildert, wie seine Mutter von der estnischen<br />

Bevölkerung regelmäßig bei kleineren Krankheiten konsultiert wurde,<br />

weil es im Umkreis von 30 km keinen Arzt gab, und <strong>Haller</strong> erwähnt auch, dass<br />

seine »Wärterin« eine schwedisch sprechende Estin gewesen sei.8 Zudem gibt es<br />

Hinweise darauf, dass <strong>Haller</strong>s Mutter Amalie, »geborene« Sacken, die illegitime<br />

Tochter eines Barons von Korff und einer Estin gewesen ist und <strong>Haller</strong> somit<br />

selbst eine estnische Großmutter hatte.9<br />

<strong>Haller</strong> gibt in seinen Lebenserinnerungen aber auch zu, dass der deutschbaltische<br />

Adel und die estnischen Bauern keine herzlichen, sondern »lediglich<br />

wirtschaftliche Beziehungen«10 gepflegt hätten. Gutsherrliche Grausamkeiten<br />

aber habe es nur als vereinzelte »Ausnahmen«11 gegeben; die Norm sei gegenseitige<br />

Achtung, vonseiten der Deutschen sogar väterliche »Verantwortung«12 gewesen.<br />

Umgekehrt hätten die Esten »die Überlegenheit des Deutschen willig«13<br />

anerkannt. <strong>Haller</strong> interpretiert dies nicht nur im sozialkonservativen Sinn, sondern<br />

spricht hier sogar von gelebter »Volksgemeinschaft«:<br />

»Wenn ich mir die Eintracht zwischen Deutschen und Esten, zumal auf dem Lande,<br />

wieder vergegenwärtige, wie ich sie damals erlebte, und wenn ich damit vergleiche,<br />

was ich später an gegenseitigem Klassenhaß zwischen Angehörigen eines und desselben<br />

Vokes kennengelernt habe, so kann ich nur sagen: dem Ideal der Volksgemeinschaft<br />

waren wir um 1870 in Estland näher.«14<br />

7 Vgl. ebd., S. 15.<br />

8 Vgl. ebd.<br />

9 Das behauptet jedenfalls <strong>Haller</strong>s Tochter Adelheid in dem Manuskript »Einige Erinnerungen<br />

an <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>«: »Der wirkliche Vater von Amalie v. H. soll ein Baron v. Korff<br />

gewesen sein, die Mutter höchstwahrscheinlich eine einfache Estin. Mein Vater erinnerte<br />

sich, daß er in der Leuteküche ab und zu eine liebe alte Frau sitzen sah, die ihn manchmal<br />

innig an sich drückte u. die von seiner Mutter mit besonderer Freundlichkeit behandelt<br />

wurde. Er vermutete später, daß dies seine Großmutter war.« (UAT 305/58, Abschnitt<br />

»Eltern und Geschwister von J. H.«, S. 1.) Dass <strong>Haller</strong>s Mutter jedenfalls streng genommen<br />

keine geborene (Osten-)Sacken, sondern adoptiert war, geht auch hervor aus <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

an Hans Jakob <strong>Haller</strong>, 10. Juli 1939: UAT 305/61 bzw. <strong>Hasselhorn</strong>/Kleinert, <strong>Johannes</strong><br />

<strong>Haller</strong>, Nr. 307.<br />

10 <strong>Haller</strong>, Lebenserinnerungen, S. 16.<br />

11 Ebd., S. 17.<br />

12 Ebd., S. 18.<br />

13 Ebd., S. 19.<br />

14 Ebd., Als Beleg für seine Behauptung nennt <strong>Haller</strong> die relative Schonung der Deutschbalten<br />

im Zuge der Revolution 1905: »Hätte es sich damals wirklich um die Erhebung<br />

eines ganzen Volkes gehandelt, das seine Freiheit und sein Menschenrecht gegenüber jahr-<br />

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<strong>Benjamin</strong> <strong>Hasselhorn</strong>, <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong><br />

Baltische Verhältnisse<br />

25<br />

<strong>Haller</strong> hat damit die Bedeutung der Identitätsfrage für den estnischen Bevölkerungsteil<br />

möglicherweise ebenso unterschätzt wie die historisch bedingte<br />

»kühle Nachbarschaft«15 zwischen Esten bzw. Letten und Deutschbalten. Allerdings<br />

hat er sich auch zur Frage der »Germanisierung« geäußert und hier nicht<br />

nur darauf hingewiesen, dass man spätestens mit der beginnenden Russifizierungspolitik<br />

gar keine praktischen Möglichkeiten mehr besessen habe, sondern<br />

er hat auch das Recht der Esten und Letten auf ihr »angeborenes Volkstum«16<br />

verteidigt. Selbst wenn man in <strong>Haller</strong>s weiterer Schilderung der baltischen Verhältnisse<br />

das Maß an nachträglicher Idyllisierung und weltanschaulicher Färbung<br />

mit einrechnet, wird man doch zugeben müssen, dass vieles davon den<br />

Tatsachen entspricht. <strong>Haller</strong> vergleicht die sozialen Verhältnisse seiner Heimat<br />

in seiner Kindheits- und Jugendzeit mit denen in Westeuropa und besonders<br />

in Deutschland, und hier ist wohl kaum bestreitbar, dass Estland in puncto<br />

technischer und gesellschaftlicher Modernisierung ebenso zurückstand wie<br />

im Hinblick auf die Dringlichkeit der sozialen Frage. Insofern trug das Baltikum<br />

in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirklich noch Züge des »ancien<br />

régime«17 als »ständisch gegliederte, aristokratisch-liberale«18 Gesellschaft, eben<br />

als »letzte[s] Stück der aristokratischen Welt des Ancien Régime«.19 Dass diese<br />

Wahrnehmung <strong>Haller</strong>s mindestens subjektiv ehrlich war, wird auch daran erkennbar,<br />

dass <strong>Haller</strong>s eigene weltanschaulich-politische Präferenzen – wie noch<br />

zu zeigen sein wird20 – zumindest bis 1914 eindeutig in eine solche »aristokratisch-liberale«<br />

Richtung gingen.<br />

Erstaunlicherweise schildert <strong>Haller</strong> in seinen Lebenserinnerungen zwar relativ<br />

ausführlich die Lebensverhältnisse seiner Kindheit auf Dagö, schreibt aber<br />

wenig über seine Revaler Jahre 1875–1883. Das hängt wahrscheinlich auch damit<br />

zusammen, dass <strong>Haller</strong> sich in Reval nicht wohlfühlte; dies behauptete er<br />

jedenfalls 1889, nachdem er durch das Studium in Dorpat auch andere Existenzhundertelanger<br />

Unterdrückung zu erobern suchte, wie es manche Zeitungen in Mittelund<br />

Westeuropa nach bequemer Schablone darzustellen beliebten, so wäre wohl kaum<br />

ein Deutscher auf dem Lande mit dem Leben davongekommen. In Wirklichkeit waren<br />

die Opfer zwar schmerzlich, aber verhältnismäßig sehr gering an Zahl, und die reichen<br />

Bauern hatten stellenweise ebenso zu leiden wie die Gutsbesitzer.« (<strong>Haller</strong>, Lebenserinnerungen,<br />

S. 20).<br />

15 Schlau, Die Völker des baltischen Raumes, S. 7.<br />

16 <strong>Haller</strong>, Lebenserinnerungen, S. 40.<br />

17 Ebd., S. 32. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Kinderbuch von <strong>Haller</strong>s Schwester<br />

Helene, in dem das Leben einer Pastorenfamilie auf Dagö bis zum Umzug nach Reval geschildert<br />

wird: <strong>Haller</strong>, Pastoratskinder. Im Tübinger Nachlass <strong>Haller</strong>s befindet sich ein<br />

Exemplar mit einer Vorbemerkung, aus der hervorgeht, dass dort das <strong>Haller</strong>sche Familienleben<br />

geschildert wird; <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong> sei in der Figur des »Benno« verewigt (vgl.<br />

UAT 305/47).<br />

18 <strong>Haller</strong>, Lebenserinnerungen, S. 26.<br />

19 <strong>Johannes</strong> <strong>Haller</strong>: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 161 bzw. unten S. 421.<br />

20 Vgl. dazu die Kapitel IV.3., IV.5., V.2. und V.4.<br />

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