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Zimzum Issue 1

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11<br />

D<br />

er Turnertempel stand Ecke<br />

Turnergasse / Dingelstedtgasse<br />

im 15. Bezirk und wurde nach der<br />

Synagoge in der Seitenstättengasse und<br />

dem Leopoldstädter Tempel als dritte<br />

Synagoge Wiens erbaut. Er wurde in<br />

der Nacht vom 9. auf den 10.<br />

November 1938, in der<br />

„Reichskristallnacht“, völlig zerstört<br />

und niedergebrannt. Ein wertvolles<br />

Kulturgut, ein religiöser Ort wurde<br />

ausgelöscht, während Passanten und<br />

Nachbarn einfach zusahen und auch<br />

die Feuerwehr in den Brand nicht<br />

eingriff.<br />

„Unser Gotteshaus gilt denn auch als<br />

eines der gediegensten Tempelgebäude<br />

der Monarchie“ (Leopold Stern, 1892).<br />

Bereits 1869 war Adolf Schmiedl zum<br />

ersten Rabbiner der zu dieser Zeit von<br />

der IKG Wien unabhängigen<br />

Kultusgemeinde Sechshaus bestellt<br />

worden. Im selben Jahr erwarb man das<br />

Doppelgrundstück Turnergasse 22,<br />

Ecke Blüthengasse (heute<br />

Dingelstedtgasse), das im Zentrum der<br />

Gemeinde lag; 1870 beauftragte man<br />

den Wiener Architekten Carl König<br />

(1841-1915) mit der Planung des<br />

ersten Vorstadttempels nach dem<br />

Vorbild des Großen Leopoldstädter<br />

Tempels. 1872 wurde der knapp 830<br />

Plätze fassende Neorenaissancebau mit<br />

„pompejanischem“ (Leopold Stern)<br />

Innendekor fertiggestellt, 1923 durch<br />

eine Winterbetschule erweitert.<br />

Der Turnertempel war, nach dem heute<br />

einzigen erhaltenen, ältesten<br />

Stadttempel in der Seitenstettengasse<br />

und dem Tempel in der Tempelgasse 3,<br />

der dritte Synagogenbau Wiens und<br />

zugleich der erste in einer der damals<br />

noch nicht eingemeindeten Wiener<br />

Vorstädte. Einer der wichtigsten<br />

Chronisten der Zeit, Leopold Stern, ab<br />

1852 Kantor, Religionslehrer und<br />

Beamter der Fünfhauser jüdischen<br />

Gemeinde, beschrieb den Tempel Mitte<br />

der 1890er-Jahre als einen „auf drei<br />

Seiten freistehender Bau, welcher in<br />

den vornehmen Formen der<br />

italienischen Frührenaissance gehalten<br />

ist.“ Stern geht in seinen detailgenauen<br />

Betrachtungen auf die reich getäfelten<br />

Holzgalerien ein, auf das „aus<br />

geschnitztem Holze“ gestaltete<br />

„Allerheiligste“ nach dem Vorbild der<br />

römischen Triumphbogenarchitektur<br />

und auf die imposanten korinthischen<br />

Säulen, die „ein dreifach gegliedertes<br />

Hauptgesimse“ trugen, „über dem sich<br />

ein von Akroterien gekrönter Giebel<br />

erhebt“.<br />

Die Liegenschaft ging wenige Monate<br />

nach dem Brand auf dem Weg der<br />

„Arisierung“ in den Besitz eines<br />

Nachbarn, der Garagen und eine<br />

Tankstelle errichtete und eine<br />

Reparaturwerkstätte betrieb, über und<br />

gelangte, nachdem das 1947<br />

begonnenen Rückstellungsverfahren<br />

1950 mit einem Vergleich geendet<br />

hatte, 1973 schließlich in den Besitz<br />

der Gemeinde Wien, die hier von 1976<br />

bis 1979 eine Wohnhausanlage<br />

errichtete. Die Garagen wurden zu<br />

dieser Zeit abgerissen. Einzig der<br />

Umstand, dass das Wohngebäude aus<br />

bautechnischen Gründen etwas nach<br />

hinten versetzt wurde, „rettete“ den<br />

ehemaligen<br />

Synagogenplatz davor, wie<br />

alle anderen der 21 in der<br />

Reichspogromnacht<br />

zerstörten Wiener Tempel<br />

heute verbautes Wiener<br />

Wohnareal zu sein. 1988<br />

wurde zwar eine<br />

Gedenktafel angebracht,<br />

doch erst mit Verkauf des<br />

ehemaligen Vereinshauses<br />

in der Herklotzgasse 21<br />

und dem daran<br />

anschließenden Beginn<br />

der Forschungs- und<br />

Vermittlungsarbeiten<br />

konnte ein Prozess ins<br />

Leben gerufen werden, der<br />

am nun wieder öffentlich<br />

zugänglich gemachten<br />

Gedächtnisort seinen<br />

Höhepunkt findet.<br />

Dem Prozess der Suche<br />

nach einem adäquaten<br />

Erinnerungsortes gingen die<br />

Initiativen der Agentur<br />

dieloop und des Vereins<br />

coobra voran, sowie das Erkennen und<br />

Erforschen der bedeutenden jüdischen<br />

Vergangenheit des Bezirkes, als<br />

integralem Element des Lebens vor<br />

1938. Die Forschungstätigkeiten<br />

führten zu zahlreichen Interviews mit<br />

ehemaligen jüdischen Bewohner_innen<br />

des Bezirks, zu der Publikation „Das<br />

Dreieck meiner Kindheit“ im<br />

Mandelbaum Verlag und zur<br />

gleichnamigen Ausstellung im Haus<br />

Herklotzgasse 21, einem ehemaligen<br />

Zentrum des jüdischen Lebens im<br />

Bezirk.<br />

Im Jänner 2010 wurde von Kunst im<br />

öffentlichen Raum Wien in<br />

Kooperation mit der Stadt Wien ein<br />

zweistufiger Wettbewerb für die<br />

Gestaltung eines Mahnmals an der<br />

Stelle des zerstörten Turnertempels<br />

ausgelobt, zu dem fünf Teams aus<br />

Künstler_innen und<br />

Landschaftsgestalter_innen geladen<br />

wurden.<br />

Zielsetzung und Aufgabe des<br />

Wettbewerbs war es, an der Stelle des<br />

zerstörten Turnertempels einen<br />

zeitgemäßen Gedenk- und Symbolort<br />

zu schaffen. Zum einen sollte ein<br />

Gedächtnisort geschaffen werden, der<br />

von der Geschichte des Tempels und<br />

seiner Bedeutung für die jüdischen<br />

Bewohner der Gemeinde, aber auch<br />

von seiner Zerstörung und<br />

Verdrängung berichtet. Zum anderen<br />

sollte die Fläche wieder ein Ort der<br />

Begegnung, ein zugänglicher und<br />

nutzbarer Freiraum für die heutigen<br />

Bewohner des Bezirkes, werden. Der<br />

neu gestaltete Platz bildet eine<br />

Schnittstelle zwischen Vergangenheit<br />

und Zukunft.<br />

Als zentrales Element ihrer Gestaltung<br />

haben die Gewinner des Wettbewerbs<br />

Iris Andraschek und Hubert Lobnig<br />

gemeinsam mit Maria Auböck und<br />

János Kárász unter dem Titel<br />

„Turnertempel Erinnerungsort - Suche<br />

nach einer reflexiven Archäologie“ ein<br />

Netz aus dunklen Beton-Balken<br />

gewählt. Es symbolisiert in seiner<br />

abstrahierten Form den eingestürzten,<br />

zerborstenen Dachstuhl des<br />

Turnertempels nach dem Brand und<br />

erschließt zugleich in seiner<br />

„graphischen“ Anmutung den Platz,<br />

gliedert die Fläche, schafft Räume und<br />

dient als Möblierung.<br />

Die vorgefertigten Elemente, schließen<br />

teilweise mit dem Bodenniveau ab,<br />

ragen teilweise aus dem Boden,<br />

wachsen heraus. Der Platz bildet im<br />

Inneren Räume, Nischen, Zonen. Die<br />

Strukturierung holt die Menschen in<br />

den Platz hinein, hält sie im Platz,<br />

bietet ihnen Platz aber auch Abstand<br />

und Distanz. Die Betonbalken sind an<br />

der Oberfläche mit einer Holzmaserung<br />

strukturiert und nehmen das Bild des<br />

verbrannten, eingestürzten Dachbodens<br />

ÜBER DEN<br />

TURNERTEMPEL<br />

ERINNERUNGSORT<br />

Hubert Lobnig und Iris Andraschek<br />

auf. Zugleich sind sie Musterung,<br />

Markierung und Möblierung.<br />

Mosaikflecken bilden archäologische<br />

Fundstücke: Schon auf der Straße vor<br />

dem Betreten des Platzes beginnend,<br />

finden sie sich zwischen den Balken<br />

- Bilder im Boden, die zwischen<br />

tragischer Vergangenheit und<br />

zuversichtlicher Gegenwart vermitteln;<br />

auf ein lebendiges künftiges<br />

Miteinander von Menschen<br />

unterschiedlicher Religionen und<br />

Herkunft hinweisen. Gleichsam<br />

archäologische Fundstücke, die<br />

symbolträchtige Früchte. Granatäpfel,<br />

Feigen, Oliven, Datteln sind erkennbar,<br />

Überreste eines Festmahls vielleicht,<br />

aber auch eine Dose eines bekannten<br />

Energydrinks, Obst in einem<br />

Plastiksackerl oder Kerne in einem<br />

Becher. Es sind Früchte aus dem Süden,<br />

die in der Thora erwähnt werden und<br />

im jüdischen Jahreskreis eine Rolle<br />

spielen. Es sind aber auch Früchte, die<br />

den heute in der Umgebung<br />

wohnhaften Migranten aus ihrer<br />

Heimat vertraut sind und auch längst<br />

Eingang in den Speiseplan<br />

autochthoner Wiener gefunden haben.<br />

Der neu gestaltete Platz soll somit als<br />

Schnittstelle zwischen Vergangenheit<br />

und Zukunft erlebbar sein, in der<br />

sowohl die grausame Kraft von der<br />

Zerstörung des Tempels als auch die<br />

lebensbejahende Energie im Heute und<br />

in kommenden Zeiten<br />

angelegt sind.<br />

Andraschek und<br />

Lobnig entschieden<br />

sich, dem durch ihr<br />

Zitat der verkohlen<br />

Holzkonstruktionen<br />

einprägsamen Bild des<br />

zerstörten Tempels mit<br />

den intarsierten<br />

Mosaiken etwas<br />

Positives, Lebendiges<br />

entgegenzusetzen. „Wir<br />

sind dabei - angeregt<br />

von der<br />

pompejanischen<br />

Malereien in der<br />

Synagoge - von einem<br />

pompejanischen<br />

Mosaik ausgegangen,<br />

das den Namen „Der<br />

umgekehrte<br />

Küchenboden“ oder<br />

„Reste eines<br />

Festmahles“ trägt, und<br />

haben uns schließlich<br />

für Abbildungen von<br />

Früchten und Gemüsen entschieden,<br />

welche in der Tora erwähnt werden,<br />

aber auch für eine transkulturelle<br />

Gesellschaft von heute stehen.“<br />

Der Erinnerungsort Turnertempel ist<br />

ein „neuer“ Gedenkort geworden. Im<br />

Gegensatz zu klassischen Denkmälern<br />

bietet er sich als Verweil- und<br />

Aufenthaltsort an, lädt ein, sich in seine<br />

Räumlichkeit, in seine Geschichte<br />

hinein zu begeben. Frontalität wird<br />

durch Involviertheit und Beteiligung<br />

ersetzt. Das funktioniert sehr gut. Die<br />

Menschen geben auf ihn acht. Von der<br />

Idee, ihn auch als Veranstaltungsort zu<br />

nutzen wurde außer den<br />

Gedenkveranstaltungen zur<br />

Reichsprogromnacht noch nicht<br />

wirklich Gebrauch gemacht, was gut<br />

ist. Es soll ein stiller, besinnlicher Ort<br />

für die individuelle Erfahrung von<br />

Geschichte und zugleich ein schöner<br />

und einladender Ort in der Stadt sein<br />

und bleiben.<br />

Auf einer Tafel im hinteren Bereich des<br />

Erinnerungsortes Turnertempel finden<br />

Besucher_innen Informationen über<br />

die Platzgestaltung, über die Geschichte<br />

des Turnertempels und den Brand von<br />

1938. Die Information ist bewusst der<br />

eigenen Wahrnehmung nachgereiht.<br />

Der Text enthält Textzitate aus „Es soll<br />

ein lebendiger Erinnerungsort sein“ von<br />

Angela Heide, dem Pressetext von<br />

KÖR, Kunst im öffentlichen Raum<br />

Wien, Erinnerungsort Turnertempel<br />

- Suche nach einer reflexiven<br />

Archäologie von Hubert Lobnig und<br />

Janos Karasz, und dem Artikel von<br />

„Betreten geboten“ von Franziska Leeb.<br />

Iris Andraschek<br />

Geboren 1963 in Horn. Studium an der<br />

Akademie der Bildenden Künste Wien.<br />

Ausbildung an der Freskoschule in Bozen<br />

und scuola degli arti ornamentali in<br />

Rom. Schwerpunkte der künstlerischen<br />

Arbeit sind Fotografie und Zeichnung,<br />

sowie ortsbezogene Projekte und<br />

Installationen im öffentlichen Raum (seit<br />

1997 oft gemeinsam mit Hubert Lobnig).<br />

Sie ist Mitglied der Wiener Secession und<br />

von Foto Fluss, erhielt zahlreiche Preise<br />

und Stipendien, lebt und arbeitet in<br />

Wien und Mödring (NÖ).<br />

Hubert Lobnig<br />

Geboren 1962 in Völkermarkt. Studium<br />

an der Hochschule für angewandte Kunst<br />

in Wien. Schwerpunkte der künstlerischen<br />

Arbeit sind Video, Zeichnung, Malerei,<br />

Fotografie sowie ortsbezogene Projekte<br />

und Installationen im öffentlichen Raum<br />

(seit 1997 oft gemeinsam mit Iris<br />

Andraschek). Zahlreiche kuratorische<br />

Projekte. Professur für künstlerische Praxis<br />

an der Kunstuniversität Linz. Lebt und<br />

arbeitet in Wien und Mödring (NÖ).<br />

Hubert Lobnig ist Mitglied der NGBK in<br />

Berlin und der Wiener Secession.<br />

Photo: Iris Andraschek

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