Seelenpflege 2014-3
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Beiträge<br />
Wir alle sind es gewohnt, uns in diesem biografischen Raum der Zeit zu bewegen,<br />
denn er begegnet uns als der Raum der Erzählung. Anders als in einer Aufzählung<br />
lebt eine Erzählung in einem beständigen Wechsel von Vorwegnahme und Rückblick,<br />
der mit einer Vervielfältigung der Perspektive und einer Schichtenbildung einhergeht:<br />
Selbst ein Ich-Erzähler ist nur teilweise mit der Hauptfigur oder dem «Helden» identisch.<br />
Er bewertet manches anders und er weiss, was andere denken, oder er weiss<br />
unter Umständen, was dem Helden noch bevorsteht. Und so ist auch eine jede reale<br />
Lebensgeschichte dadurch geprägt, dass es in ihr einen Helden gibt, einen Erzähler<br />
und dann den Autor des Lebens.<br />
Die beiden Gefahren der Zeitlichkeit: Verflüchtigung und Verewigung<br />
Es verhält sich nun nicht so, dass der Autor des Lebens der eigentliche oder wahre Mensch<br />
wäre und der Held bloss eine vorübergehende Rolle spielt. Für den Menschen sind die<br />
Kategorien von Urbild und Abbild oder Wesen und Erscheinung nicht zureichend.<br />
Der Mensch ist als Ich-Wesen eine Beziehung in sich selbst, und die daran beteiligten<br />
Elemente nennen wir Held, Erzähler und Autor. Erst in diesem Beziehungswesen<br />
und d.h. zugleich, erst nach dem bewussten Eintritt in die Erzählzeit stossen wir auf<br />
den wahrhaft individuellen Menschen. Er ist etwas ganz anderes als die gefrorene<br />
Momentaufnahme seiner derzeitigen Eigenschaften oder der durch den Zeitraffer oder<br />
eine Grafik gewonnene Überblick über einen Abschnitt von kalendarischer Zeit auf<br />
der Zeitlinie. Er darf auch nicht mit der alten metaphysischen Vorstellung von einer<br />
Monade oder einem ewigen Wesenskern verwechselt werden, der gänzlich ausserhalb<br />
der Zeit beheimatet wäre.<br />
Die naturwissenschaftliche Reduktion des Menschen auf einen zeitlich-vergänglichen<br />
Jetztpunkt zwischen Vorher und Nachher und die metaphysische Erweiterung auf<br />
einen ewigen Jetztpunkt, der die Zeit transzendiert, sie verfehlen beide gleichermassen<br />
die biografische Zeitgestalt des Menschen in seiner Individualität. Entweder man<br />
radikalisiert die Vergänglichkeit so sehr, dass der Mensch im blossen Jetzt verschwindet,<br />
oder man überdehnt die Unsterblichkeit zu einer statischen und abstrakten<br />
Vorstellung eines wiederum punktuellen «Wesenskerns». Diesen beiden gegensätzlichen<br />
Gefahren gilt es bei einer jeden biografischen Betrachtung ins Auge zu blicken,<br />
um zwischen ihnen den immer wieder neu zu findenden Ausgleich herzustellen. Und<br />
dazu helfen heute die Einsichten der modernen hermeneutische Philosophie. 2<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> 3 | <strong>2014</strong> 7