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Kunst im UmBau

ISBN 978-3-86859-614-4

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<strong>Kunst</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>UmBau</strong><br />

Dokumentation einer Berliner Projektreihe<br />

<strong>im</strong> Kontext urbaner Wohnraumverknappung


Inhalt<br />

2


6 Vorwort<br />

8 Über <strong>Kunst</strong> <strong>im</strong> <strong>UmBau</strong><br />

30 Künstlerische Interventionen<br />

34 Rich, Hard, Poor, Soft – Alexander Wolff<br />

66 Alphabet der Formen – 44flavours<br />

92 Semi Public Gallery<br />

106 Inner Clock – Rubén D´hers<br />

120 Interstice – Pierre-Etienne Morelle<br />

134 30153,846153846153846 – Jelena Fuzinato<br />

158 Die Kulturgarage – Studio Achtviertel<br />

194 Nachklang<br />

204 Kurzbiografien<br />

205 Danksagung<br />

206 Quellenverzeichnis<br />

3


Berliner Morgenpost, 31.07.2016 Berliner Morgenpost, 22.01.2015<br />

Berliner Bezirke<br />

stellen weitere Kieze<br />

unter Milieuschutz<br />

Mit der Verordnung sollen<br />

Luxusmodernisierung und die<br />

Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen<br />

verhindert<br />

werden.<br />

TAZ , 11.01.2019<br />

Wohnen macht arm<br />

Die soziale Schere geht <strong>im</strong> Bezirk<br />

Mitte <strong>im</strong>mer weiter auf. Stadtrat<br />

Ephra<strong>im</strong> Gothe (SPD) stellt aktuelle<br />

Daten vor.<br />

Das Ende der<br />

berühmten Berliner<br />

Toleranz<br />

Sozialwissenschaftler Andrej Holm sieht<br />

Berlin <strong>im</strong> Wandel. Wo früher Menschen<br />

Brachen besiedelten und geduldet wurden,<br />

werden heute Häuser gebaut. Und<br />

<strong>im</strong>mer mehr Menschen ziehen nach<br />

Lichtenberg.<br />

Berliner Morgenpost, 18.10.2016<br />

Berliner Immobilien<br />

werden <strong>im</strong>mer<br />

schneller <strong>im</strong>mer<br />

teurer<br />

Für ein Grundstück müssen Berliner<br />

rund 200 Euro pro Quadratmeter<br />

zahlen. Das ist ein Anstieg<br />

von mehr als 11 Prozent gegenüber<br />

2015.<br />

Berliner Morgenpost, 13.07.2013<br />

Hunderte demonstrieren<br />

gegen Bebauung<br />

des Spreeufers<br />

300 Teilnehmer haben in Friedrichshain<br />

für die Umsetzung des<br />

Bürgerentscheides demonstriert.<br />

Damals gab es ein klares Votum<br />

für öffentliche Uferflächen und<br />

gegen Hochhäuser. Das Gegenteil<br />

ist passiert.<br />

4<br />

TAZ, 23.05.2019<br />

Mehr als eine<br />

Immobilie<br />

Eine 80-jährige Frau soll aus ihrer<br />

Wohnung ziehen, weil eine junge<br />

Familie die Immobilie gekauft hat.<br />

Der BGH prüft jetzt genau.<br />

FAZ, 17.05.2018<br />

Gewerbe ja,<br />

aber bitte keine<br />

Kultur<br />

TAZ, 23.05.2019<br />

Frust wegen Mietenexplosion:<br />

Berlin<br />

diskutiert Enteignungen<br />

Der Wohnungsmarkt ist vielerorts<br />

leergefegt, die Mieten sind<br />

gestiegen – Initiative will Volksbegehren<br />

starten.<br />

Die Zeit, 07.04.2019<br />

Die Hausretterin<br />

Als ein dänischer Investor in<br />

Berlin-Neukölln einen ganzen<br />

Straßenzug kauft, wird eine<br />

Studentin zur Vollzeitaktivistin.<br />

Die Zeit, 26.09.2019<br />

Frau Königs Kokon<br />

Berlins Regierung will die Mieten<br />

deckeln – und Berlins größter Immobilienkonzern<br />

macht freiwillig<br />

mit. Eine Mieterin misstraut beiden.<br />

Sie hat dafür gute Gründe.<br />

Berliner Kurier, 17.09.2011<br />

Berlin ist das Immobilien-Mekka<br />

Europas<br />

Die Bundeshauptstadt ist bei<br />

Immobilieninvestoren angesagt.<br />

Was Berlin so attraktiv macht –<br />

und mit welchen Renditen Immobilienanleger<br />

rechnen können.


Berliner Morgenpost, 25.01.2013<br />

Mieter aus dem<br />

Blick verloren<br />

Dass der Berliner Verband<br />

der Immobilienunternehmen<br />

vor dem Enteignungsvolksbegehren<br />

warnt, wundert nicht.<br />

Wohl aber, wie.<br />

Spiegel online, 03.11.2017<br />

Wo sich der<br />

Wohnungskauf in<br />

Berlin noch lohnt<br />

Berlin gilt als heißester Immobilienmarkt<br />

Europas. Nirgendwo<br />

sonst in Deutschland sind die<br />

Preise in den vergangenen Jahren<br />

so stark gestiegen. Eine neue<br />

Studie zeigt, wo sich Investments<br />

trotzdem noch rentieren.<br />

Der Tagesspiegel, 18.02.2019<br />

Immobilienpreise<br />

in Berlin steigen<br />

langsamer<br />

Käufer von Wohnungen oder<br />

Grundstücken mussten 2018<br />

mehr bezahlen als zuvor. Zwar<br />

stiegen die Preise moderater als<br />

2017, eine Trendwende ist das<br />

aber nicht.<br />

Berliner Morgenpost, 03.08.2016<br />

Wieso Berlin eine<br />

Baupflicht für<br />

Grundstücke braucht<br />

Investoren kaufen Grundstücke,<br />

um sie mit Gewinn zu verkaufen.<br />

Doch diese Spekulation schadet<br />

der Stadt, meint Isabell Jürgens.<br />

Tagesspiegel, 16.01.2019<br />

Deutsche Bank<br />

erwartet „Superzyklus“<br />

für Berlin<br />

Nun hat man auch <strong>im</strong> Bankenviertel<br />

von Frankfurt am Main<br />

festgestellt, dass die Wirtschaft<br />

in Berlin boomt. Für Mieter ist<br />

das keine gute Nachricht.<br />

Berliner Morgenpost, 25.01.2013<br />

Verschönerung,<br />

aber bloß nicht<br />

diese Gentrifizierung!<br />

TAZ, 14.10.2018<br />

Warum steht meine<br />

Wohnung leer?<br />

Vor anderthalb Jahren musste<br />

unser Autor aus seiner Wohnung<br />

in einem beliebten Berliner<br />

Stadtteil. Seitdem steht sie leer.<br />

Wie kann das sein?<br />

Handelsblatt, 19.02.2019<br />

TAZ, 14.03.2017<br />

Eine Rendite<br />

namens Miete<br />

Die Mieten steigen weiter, die Gewinne<br />

der Immobilienkonzerne<br />

ebenso. Ein Ende ist nicht abzusehen.<br />

Nun muss der Staat<br />

eingreifen.<br />

Focus online, 14.02.2018<br />

„Ich bin fassungslos“<br />

Berliner fühlt sich<br />

aus Atelier in Kreuzberg<br />

vertrieben<br />

Die Wohnsituation <strong>im</strong> Berliner<br />

Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg<br />

ist sehr angespannt. Die Mieten<br />

steigen, Mieter werden verdrängt.<br />

Immer wieder wird auch<br />

von Fällen berichtet, in denen<br />

langjährige Mieter aus ihren vier<br />

Wänden regelrecht rausgeekelt<br />

werden. Auch selbstständige<br />

Kleinunternehmer leiden unter<br />

dem Wandel.<br />

Warum Immobilienpreise<br />

und Mieten<br />

auch 2019 steigen<br />

Der Preisdruck am deutschen Wohnungsmarkt<br />

wird sich laut Immobilienweisen 2019<br />

verschärfen. Die Experten sehen die Schuld<br />

bei der Politik: Sie setze falsche Anreize.<br />

5


Vorwort<br />

6


Existenzangst, Wut, Ohnmacht sind jene Gefühle und Empfindungen, die mir<br />

als Initiatorin und Kuratorin der Projektreihe <strong>Kunst</strong> <strong>im</strong> <strong>UmBau</strong> am eindringlichsten<br />

und vordergründigsten in Erinnerung bleiben werden. Jene Gesichter und<br />

Aussagen von Bewohner*innen, die die Sorge zum Ausdruck bringen, nicht in<br />

ihrer Wohnung und folglich ihrem Zuhause, ihrem Kiez, ihrem gewohnten Umfeld<br />

bleiben zu können. In ihnen spiegelt sich jene persönliche Betroffenheit,<br />

die den öffentlichen Diskurs um Wohnraumverknappung und Gentrifizierung<br />

definieren und best<strong>im</strong>men sollte.<br />

Mit der Projektreihe <strong>Kunst</strong> <strong>im</strong> <strong>UmBau</strong> sind wir, ich als Kuratorin sowie die beteiligten<br />

<strong>Kunst</strong>schaffenden, oft zur Projektionsfläche für Ängste, Empörung,<br />

Bedrohung und durchaus auch Zorn geworden. Abwehrhaltung, Gleichgültig​keit,<br />

Apathie, auch Desinteresse waren ebenfalls Zuschreibungen, die wir in<br />

Gesprächen über den Projektverlauf häufig verwendet haben. Vor allem dann,<br />

wenn wir eine Zuordnung für jene Barrieren oder Distanz gegenüber den künstlerischen<br />

Interventionen zu finden gesucht haben, mit denen wir <strong>im</strong> Laufe fast<br />

aller Projekte (zeitweilig) konfrontiert wurden. Doch vielleicht gibt es auch einfach<br />

Umstände, in denen <strong>Kunst</strong> keine Türen öffnen kann.<br />

Es gab aber auch jene zahlreichen Momente, in denen wir gespürt und gemerkt<br />

haben, wie diese Türen aufgingen: wie aus einem Wutgespräch Offenheit für<br />

eine differenzierte Position entwachsen kann, wie über das Wahrnehmen von<br />

<strong>Kunst</strong> ein vielschichtiger Dialog entstanden ist, wie <strong>im</strong> Zusammentreffen von<br />

Personen mit scheinbar gegenteiligen Ansichten durchaus auch gelacht und<br />

bei einem gemeinsamen Bier Gemeinschaft erlebt werden kann.<br />

Das Projekt <strong>Kunst</strong> <strong>im</strong> <strong>UmBau</strong> hat von allen Beteiligten und Teilhabenden, ob Baufirma,<br />

Projektentwickler*in, <strong>Kunst</strong>schaffende, vor allem aber von den Bewohner*innen<br />

viel Mut und die Bereitschaft erfordert, sich in einer sehr schwierigen<br />

und konfliktbeladenen Situation auf <strong>Kunst</strong> einzulassen.<br />

Dafür möchte ich mich bereits an dieser Stelle herzlich bedanken!<br />

Siglinde Lang<br />

Sommer 2019<br />

7


ÜBER KUNST IM UMbAU<br />

Die ‚Gentrifizierungsdebatte‘<br />

als Referenzrahmen<br />

Berlin wächst. Im Zeitraum 2008 bis 2018 betrug das Bevölkerungswachstum in<br />

der deutschen Hauptstadt 10 %. Das bedeutet einen Gesamtzuwachs von über<br />

300.000 Personen. 1 Die durchschnittlichen Mietpreise sind in diesem Zeitraum von<br />

5,15 auf 9,87 Euro pro Quadratmeter und somit um über 90 % gestiegen. Der Kaufpreis<br />

von Eigentumswohnungen ist parallel um über 100 % gestiegen. 2<br />

Der Wohnungsmarkt hat sich zusätzlich und mit weiterhin steigender Tendenz privatisiert.<br />

Im deutschen als auch internationalen Vergleich ist die sogenannte Wohnungseigentumsquote<br />

in Berlin historisch bedingt mit 15 % (2018) zwar nach wie<br />

vor niedrig, weist aber <strong>im</strong> Dekadenzeitraum ebenfalls einen enormen Anstieg auf.<br />

Denn zahlreiche Mehrparteienhäuser werden zunehmend in Eigentumswohnungen<br />

umgewandelt. So wurden zwischen 2007 und 2016 etwa 830.000 Wohnungen in<br />

Berlin parifiziert. Damit wurden fast ebenso viele Miet- in Eigentumswohnungen um -<br />

gewandelt wie durch Neubau entstanden sind. 3<br />

Der Bedarf an leistbarem Wohnraum ist zu einer der zentralen urbanen und auch<br />

gesellschaftlichen Herausforderungen geworden. Die Debatte über Ursachen, Konsequenzen<br />

und Perspektiven wird heftig geführt: Ob <strong>im</strong> Freundeskreis, in der Nachbarschaft,<br />

in den Medien oder auf der politischen Tagesagenda, Wohnen prägt wie<br />

kein anderes Thema den öffentlichen als auch privaten Diskurs. Dieser ist dabei zumeist<br />

von klar abgegrenzten Positionen best<strong>im</strong>mt – und <strong>im</strong> Gros der Bevölkerung<br />

von Verunsicherung und Sorgen geprägt. Laut einer Caritas-Studie machen sich<br />

über 70 % der Deutschen über steigende Mieten und damit verbundener Angst<br />

vor Altersarmut Sorgen. Fast zwei Drittel betrachten die <strong>im</strong>mer höheren Miet- oder<br />

Kaufpreise für Wohnraum inzwischen als eine „Bedrohung für den gesellschaftlichen<br />

Zusammenhalt“ 4 .<br />

Dass die Immobilienwirtschaft mit der Nachfrage nach urbanem Wohnraum und<br />

damit einhergehender Wohnungsknappheit Milliarden verdient, steht außer Frage<br />

Investor*innen werden als „Spekulanten“, „gefräßige Miethaie“ und „Abzocker“ 5 bezeichnet<br />

– und nicht nur seitens der Bevölkerung, sondern oft auch seitens der Politik<br />

zu Verursacher*innen und folglich Feindbildern der Entwicklungen deklariert. Mit<br />

dem Argument, Immobilien und damit Wohnraum als Ware und Renditeobjekt zu<br />

betrachten, werden Investor*innen für die stattfindenden Verdrängungsprozesse,<br />

Mietexplosionen und wachsenden Existenzängste in der Bevölkerung verantwortlich<br />

10


ÜBER KUNST IM UMbAU<br />

»Ich bin jetzt seit acht oder siebeneinhalb<br />

Jahren hier in dieser Stadt.<br />

Das ist jetzt noch nicht mal so lange,<br />

aber trotzdem, was sich in dieser<br />

Zeit zum Thema Gentrifikation entwickelt<br />

hat, finde ich schon enorm.«<br />

Auszug aus dem Interview mit Philipp Külker<br />

»Die Jungen ziehen in die Außenbezirke<br />

oder bleiben bis nach dem<br />

Studium bei den Eltern wohnen.<br />

Wohnen <strong>im</strong> Berliner Umland oder<br />

in der Kleinstadt sehen die meisten<br />

aber als wenig attraktive Variante,<br />

vielleicht dann mal als Familie.«<br />

Auszug aus einem Gespräch mit Kai Püschner<br />

»Berlin wächst rasant – und überall<br />

wird gebaut, saniert und gehämmert.<br />

Wir, als Baufirma, stehen da mitten<br />

drinnen und wissen nicht mehr, wie wir<br />

die ganze Arbeit und all die Aufträge<br />

bewältigen sollen. Die Stadt verändert<br />

sich, aber ich finde das gut.«<br />

Auszug aus einem Gespräch mit Emra Agbalik<br />

11


ÜBER KUNST IM UMbAU<br />

Von <strong>Kunst</strong> am Bau<br />

zu <strong>Kunst</strong> <strong>im</strong> <strong>UmBau</strong><br />

<strong>Kunst</strong> am Bau hat vor allem <strong>im</strong> öffentlichen Bausektor Tradition und ist mit der Vorgabe<br />

verbunden, 1 % der Bausumme für <strong>Kunst</strong> an Fassaden oder in vorgelagerten<br />

Eingangsbereichen etwa von Staats- oder Verwaltungsgebäuden, zunehmend aber<br />

auch an Verkehrsknotenpunkten wie Kreisverkehren oder Bahnhofshallen, aufzuwen<br />

den. <strong>Kunst</strong> am Bau geht dabei auf das Jahr 1919 zurück, als in der We<strong>im</strong>arer<br />

Reichsverfassung festgehalten wurde, dass mit dieser Maßnahme <strong>Kunst</strong> als Auftrag<br />

an der Gesellschaft verstanden wird. Intention dieser Initiative war auch, <strong>Kunst</strong>schaffenden<br />

eine erweiterte oder ergänzende Einnahmequelle zu ermöglichen und<br />

neue Spannungsfelder von (zeitgenössischer) <strong>Kunst</strong> in Relation zu Architektur, öffentlichen<br />

Räumen und der Frage nach Öffentlichkeit zu erschließen. <strong>Kunst</strong> am Bau<br />

intendiert(e) vor allem, dass kontextspezifische Arbeiten entstehen, also Arbeiten,<br />

die einen räumlichen, lokalen, inhaltlichen oder historischen Bezug zu ihrem Auftrags<br />

umfeld herstellen.<br />

Seither hat sich <strong>Kunst</strong> am Bau weiterentwickelt. Zahlreiche private Bauherr* innen<br />

oder Wirtschaftsunternehmen sehen sich ebenfalls der Tradition der Auftragskunst<br />

verpflichtet. So auch die HaMa Berlin Realitäten GmbH (HaMa), die mich <strong>im</strong> Sommer<br />

2017 für die Betreuung ihrer künstlerischen Projekte anfragte. Die HaMa ist<br />

ein Immobilienunternehmen, das für nationale und internationale Investor*innen<br />

Berliner Mehrparteienhäuser oder Altbestände saniert, ausbaut und teilweise auch<br />

für die Aufteilung in den Privatverkauf vorbereitet. Als Projektbetreuer fungiert dieses<br />

Unternehmen als Vertretung der Hauseigentümer*innen und ist auch für die Kommunikation<br />

mit den Bewohner*innen verantwortlich.<br />

Im Zuge von bis 2017 erfolgten Sanierungsarbeiten wurden von der HaMa bereits<br />

drei Fassadenprojekte in Auftrag gegeben und umgesetzt. Diese Projektreihe sollte<br />

nun unter kuratorischer Leitung und mit Berliner <strong>Kunst</strong>schaffenden fortgesetzt<br />

werden.<br />

Doch was leistet <strong>Kunst</strong> am Bau oder was kann <strong>Kunst</strong> am Bau leisten? Kann – banal<br />

gesprochen – eine Gestaltung von Fassaden oder eine raumspezifische Skulptur<br />

in Vorgärten von Wohnhäusern den Gedanken der Gründungsinitiative gerecht werden?<br />

Dies scheint in Referenz auf die aktuellen Entwicklungen <strong>im</strong> Berliner Wohnsektor<br />

als auch mit Blick auf die Positionierung der HaMa als Vertreterin der Immobilienwirtschaft<br />

(zumindest) zweifelhaft.<br />

14


ÜBER KUNST IM UMbAU<br />

Neben einer vertraglich zugesicherten Unabhängigkeit in der Auswahl der <strong>Kunst</strong>schaffenden,<br />

ihrer Konzepte und Realisierungen war der Ansatz für die Übernahme<br />

des Auftrags, eine Projektreihe für die HaMa zu kuratorieren, die <strong>Kunst</strong> am Bau zu<br />

<strong>Kunst</strong> <strong>im</strong> <strong>UmBau</strong> macht. Die künstlerischen Interventionen sollten sich in jene(n)<br />

Räumlichkeiten positionieren, die semiöffentlich zugänglich sind und als Zwischenraum<br />

interpretiert werden können.<br />

Die aktuellen Entwicklungen in der Berliner Wohnraumentwicklung – und damit auch<br />

indirekt das Umfeld und die Aktivitäten der HaMa sowie die daraus resultierenden<br />

Konsequenzen – sollten als Referenzrahmen der Projektreihe aufgegriffen werden,<br />

ohne jedoch diese unmittelbar oder zwangsläufig zum Inhalt der künstlerischen<br />

Arbeiten zu machen.<br />

Vom öffentlichen zum halb<br />

öffentlichen und halb privaten<br />

Raum<br />

Wohnbauten unterscheiden sich von öffentlichen Verwaltungsbauten. Sie unterscheiden<br />

sich dadurch, dass sie keine öffentlichen, sondern abseits der Privatbereiche<br />

zumindest halb öffentliche 10 , vielmehr halb private Räumlichkeiten darstellen.<br />

Semiöffentlich wird bei <strong>Kunst</strong> <strong>im</strong> <strong>UmBau</strong> in jenem Sinne interpretiert, dass diese Räume<br />

nicht ohne Weiteres von jedermann und jederfrau betreten werden können. Sie<br />

sind aber auch nicht, wie etwa die eigene Wohnung, ganz privat, da sie mit anderen<br />

geteilt werden und rechtlich nicht als Privatzone ausgewiesen sind: Diese Bereiche<br />

umfassen Stiegenhäuser, Eingangsbereiche, Gemeinschaftsräume wie etwa Fahrrad-<br />

oder Müllraum, Innenhöfe, Vorgärten und teilweise auch Kellerflächen. Diese<br />

Räume werden einerseits von allen Bewohner*innen (ob un-/angenehme Nachbarschaft<br />

oder anonym) genutzt oder können genutzt werden. Die Hausverwaltung<br />

betreut diese Bereiche, auch Gästen der Bewohner*innen sind diese Räume zugänglich.<br />

Auch der/die Hauseigentümer*in und sein/ihre Vertreter*in haben das<br />

Recht, diese Flächen zu betreten.<br />

15


ÜBER KUNST IM UMbAU<br />

Ausgehend von diesen Fragestellungen hat sich <strong>Kunst</strong> <strong>im</strong> <strong>UmBau</strong> mit insgesamt<br />

sechs künstlerischen Interventionen unmittelbar in Wohnhäuser begeben, die von<br />

Sanierung, Mieterhöhungen und Umwandlung in Privateigentum betroffen sind.<br />

Über die Positionierung der künstlerischen Arbeiten <strong>im</strong> halb öffentlichen und somit<br />

auch halb privaten (Wohn-)Raum wurde der Versuch unternommen, über und mittels<br />

<strong>Kunst</strong> einen Zwischenraum zu eröffnen, der sich in das Spannungsfeld von (bau-)wirtschaftlichen<br />

Interessen sowie persönlicher als unmittelbarer Betroffenheit begibt.<br />

Der Raum für sehr unterschiedliche, zumeist oppositionelle Sichtweisen und Interessen<br />

von Hausbewohner*innen, Gästen, <strong>Kunst</strong>schaffenden, Baufirmen und auch<br />

Eigentümervertreter*innen sollte eröffnet werden.<br />

Mit Blick auf potenzielle Rezeptions- und Kommunikationsprozesse wurden je nach<br />

Spezifika des Hauses auch unterschiedliche ästhetische Formate erprobt. Diese<br />

drückten sich vor allem über ihren jeweiligen Interaktions- und/oder Partizipationsgrad<br />

18 aus und reichten von purer Informationen über das <strong>Kunst</strong>projekt, über die<br />

Einladung zur partiellen Mitgestaltung bis hin zu einer partizipativen Umsetzung.<br />

Kuratorischer Prozess<br />

Der kuratorische Prozess umfasste in der Startphase die Auswahl der Häuser und<br />

ein damit verbundenes Erfassen und Abschätzen der über den Refrenzrahmen hinausgehenden<br />

kontextrelevanten Gestaltungsparameter. Diese bedeuteten wiederum<br />

die Basis für die Einladung an die <strong>Kunst</strong>schaffenden.<br />

Die Auswahl, Begleitung und organisatorische Betreuung der künstlerischen Ar beiten<br />

sowie zumeist auch die Kommunikation mit den Bewohner*innen war ebenfalls<br />

Teil des kuratorischen Prozesses. Die Konzepte entstanden zeitgleich <strong>im</strong> Frühjahr<br />

2018. Die künstlerischen Arbeiten selbst wurden <strong>im</strong> Zeitraum von April 2018 bis Februar<br />

2019 umgesetzt, sodass diese nicht parallel, sondern zeitlich versetzt realisiert<br />

wurden. Im Dialog mit den Künstler*innen wurde der kuratorische Ablauf flexibel<br />

gestaltet, sodass laufend Erfahrungen, wie etwa erste Rückmeldungen von den<br />

Bewohner*innen oder Entwicklungen <strong>im</strong> Zuge der Sanierungen, berücksichtigt<br />

werden konnten.<br />

22


ÜBER KUNST IM UMbAU<br />

Auswahl der Häuser<br />

Insgesamt wurden vier 19 Mehrparteienhäuser <strong>im</strong> Stadtraum Berlin für die künstlerischen<br />

Interventionen ausgewählt, wobei folgende Kriterien für eine graduelle Vielfalt<br />

herangezogen wurden:<br />

Veränderungsbetroffenheit<br />

Die ausgewählten Häuser sind während der Projektdauer 2018–2019 von Veränderungen<br />

wie Sanierung, Parifizierung und/oder Dachgeschossausbau betroffen.<br />

Der Prozess ist zeitlich unterschiedlich weit fortgeschritten, in manchen<br />

Häusern bereits angelaufen, in manchen erst in Planung. Überlegungen zu<br />

unterschiedlichen Rahmenbedingungen wie hoher/niedriger Leerstand, aktiv<br />

protestierender Kiez, Milieuschutz, hohe Fluktation oder etwa eine gefestigte<br />

Altmieterstruktur flossen ebenfalls in die Auswahl mit ein.<br />

Gestaltungsflächen<br />

Jedes Haus sollte über unterschiedliche Möglichkeiten der Gestaltungsintervention<br />

verfügen, sodass Eingriffe in verschiedene semiprivate Räume und<br />

Raumkonstellationen ermöglicht werden. Hier waren auch Absprachen mit den<br />

Baufirmen erforderlich, da sich Zeitpläne (etwa für Gerüstaufbau, Malerarbeiten<br />

oder auch Informationsveranstaltungen mit den Bewohner*innen) verschieben<br />

konnten.<br />

Spezifika des Hauses<br />

Jedes Haus sollte ein spezifisches Charakteristikum als zusätzlichen kontextuellen<br />

Parameter aufweisen. Dies waren etwa die Historie des Umfeldes, ein<br />

denkmalgeschütztes Ensemble, aktuelle Entwicklungen <strong>im</strong> Kiez, bautechnische<br />

Eigenheiten (wie massive Brandwände) oder die Besonderheit einer Backsteinfassade.<br />

Lage des Hauses<br />

Um auch verschiedene Stadteile zu berücksichtigen, sollten die jeweiligen<br />

Mehr parteienhäuser in unterschiedlichen Bezirken liegen. Auch der Aspekt<br />

heterogener Milieus und durchmischter Bewohnerstrukturen floss in die Auswahl<br />

als Parameter ein.<br />

23


ÜBER KUNST IM UMbAU<br />

Interviews und Dokumentation<br />

Mit allen Künstler*innen wurde nach Fertigstellung der Arbeiten ein halb standardisiertes<br />

leitfadengestütztes Interview geführt. Der Leitfaden umfasste drei bis vier<br />

Fragen zu den Themenblöcken künstlerische Arbeit, Prozessverlauf, Kommunikation<br />

mit den Bewohner*innen und Projektkontext. Diese Interviews bilden die Basis der<br />

Dokumentation, wobei aufgrund der analogen Fragen Textpas sagen in thematische<br />

Blöcke zusammengefasst werden. Bei der Wiedergabe wurden Aussagen grammatikalisch<br />

in erforderlichem, stilistisch in min<strong>im</strong>alem Umfang korrigiert. Inhaltlich wurde<br />

nur bei Unverständnis eingegriffen, wobei dies stets nach Rücksprache mit den<br />

Interviewpartner*innen erfolgte. Auf geschlechtsneutrale Um formulierungen bei<br />

Personenbezeichnungen wurde in der Verschriftlichung verzichtet.<br />

Zusätzlich wurden Interviews mit Philipp Külker, der als Fotograf alle Projekte begleitet<br />

hat, sowie dem Geschäftsführer der HaMa Berlin Realitäten GmbH und Auf -<br />

traggeber Harald Mayer geführt. Gesprächsaufzeichnungen mit seinen Mitarbeitern,<br />

den beiden Projektmanagern Andreas Klinger und Jürgen Henkel, dem Mitarbeiter<br />

Kai Püschner sowie Emra Agbalik, der als Leiter der Baufirma bei den meisten Projektrealisierungen<br />

beteiligt war, fließen als Statements, Reflexionen und Beobachtungen<br />

ebenfalls in die Dokumentation ein.<br />

Die Prozesse rund um die Begleitveranstaltungen der künstlerischen Interventionen<br />

wurden vor allem mittels Gedächtnisprotokollen 22 als Begleitmedium dokumentiert.<br />

Trotz beobachtendem Anspruch geben diese die subjektive Sichtweise von mir als<br />

Kuratorin wieder. Fragebögen, die ursprünglich als Medium der Rückmeldung geplant<br />

waren, haben sich als ungeeignet erwiesen. Vor allem in persönlichen Gesprächen<br />

und direkten Begegnungen haben wir Feedback seitens der Bewohner*innen,<br />

Gäste bei einem Umtrunk und/oder von eingeladenen und befreundeten <strong>Kunst</strong>schaffenden<br />

erhalten.<br />

Bei der folgenden Darstellung der sechs künstlerischen Projekte werden einleitend<br />

der Prozessverlauf und Projektrahmen dargestellt, um in die Dokumentation sowie<br />

Reflexion der künstlerischen Prozesse und entstandenen Arbeiten so wenig wie<br />

möglich einzugreifen. Die fotografische Dokumentation hat sich phasenweise als<br />

schwierig und nicht wie ursprünglich geplant durchführbar herausgestellt. Gerade in<br />

Situationen und Atmosphären des Austausches oder der persönlichen Gespräche<br />

wurde eine Kamera als irritierend empfunden.<br />

26


ÜBER KUNST IM UMbAU<br />

»Als Fotograf hatte ich früher den Ansatz,<br />

möglichst wenig aufzufallen und mich <strong>im</strong><br />

Hintergrund zu halten. Das ist nach wie vor<br />

eine Herangehensweise von mir. Ich bin<br />

mir aber mittlerweile darüber bewusst, dass<br />

das teilweise überhaupt nicht geht. Wenn<br />

da jemand mit einem Gerät herumhantiert,<br />

mit einem Fotoapparat oder einer Videokamera,<br />

ist heute die Sensibilität von den<br />

Leuten, die fotografiert werden, sehr, sehr<br />

hoch. So ein Art Unwohlsein, dass das eigene<br />

Bild durchaus außer Kontrolle geraten<br />

kann, dass es irgendwo <strong>im</strong> Internet publiziert<br />

wird oder ich als fotografierte Person<br />

nicht mehr best<strong>im</strong>men kann, wo es hinkommt,<br />

schwingt da mit. Das ist etwas,<br />

das – je nachdem, in welchem Umfeld man<br />

sich bewegt – so hingenommen wird, vielleicht<br />

sogar stört. Oder es wird wie bei<br />

einer Hochzeit total befürwortet. In so einem<br />

Moment, in dem eher eine angespannte<br />

Atmosphäre herrscht, überlege ich als<br />

Fotograf halt schon: Okay, wenn ich jetzt<br />

hier auch noch bei einer Person zu fotografieren<br />

anfange, die sich sowieso schon<br />

in einem (best<strong>im</strong>men) emotionalisierten<br />

Zustand befindet, ist das ein zusätzlicher<br />

Stressfaktor. Wie wiegt das gegenüber dem<br />

Benefit, den ich oder der Auftraggeber<br />

haben, indem ich gerade dieses Bild jetzt<br />

mache?«<br />

Auszug aus dem Interview mit Philipp Külker<br />

27


TEGELER STRASSE<br />

MITTE<br />

BERLICHINGENSTRASSE<br />

MOABIT<br />

CHARLOTTENBURG<br />

WILMERSDORF<br />

SCHÖNEBERG<br />

32


PRENZLAUER BERG<br />

ALEXANDERPLATZ<br />

FRIEDRICHSHAIN<br />

RUMMELSBURG<br />

SEBASTIANSTRASSE<br />

KREUZBERG<br />

ALT-TREPTOW<br />

TEMPELHOFER<br />

FELD<br />

RICHARDSTRASSE<br />

NEUKÖLLN<br />

33


38


RICH, HARD, POOR, SOFT<br />

Künstlerischer Ansatz und Konzeptidee<br />

Die Idee, den Eingangsbereich mitzugestalten, kam mir aufgrund des Angebots,<br />

die Arbeit in verschiedene Bereiche des Hauses auszuweiten, da dieses sich gerade<br />

in Sanierung befindet.<br />

Dann habe ich mir gedacht: Wenn ich hier dieses Wandbild male,<br />

finde ich es schön, den Eingang miteinzubeziehen, weil der einen<br />

darauf psychisch vorbereitet und abholt. Der Eingangsbereich<br />

ist praktisch wie ein Foyer, eine Einleitung, eine Vorspeise zur<br />

Hauptspeise.<br />

Da muss man durchgehen, um irgendwo ins Haus hineinzukommen. Wenn man da<br />

gerade durchgeht, kommt man in einen sehr schönen Garten, wo sich diese Brandschutz-<br />

oder Giebelwand anschließt. Das ist eine 20 Meter hohe und 6 Meter breite,<br />

leere Wand, die sich als Bildfläche anbietet.<br />

Da die Arbeit <strong>im</strong> Eingangsbereich als Intro für das große Wandbild funktionieren sollte,<br />

habe ich dann beschlossen, dass die Arbeit <strong>im</strong> Eingangsbereich eher leichter sein<br />

sollte – kein richtiges Motiv, sondern eine offenere Gestaltung. Sie sollte nicht zu viele<br />

Kon traste haben, um einen nicht zu sehr zu vereinnahmen oder sich aufzudrängen.<br />

Sie soll einen nicht zu sehr beschäftigen, sondern darauf einstellen, was danach kommt.<br />

Bei solchen Arbeiten habe ich <strong>im</strong>mer das Bedürfnis, dass da noch<br />

irgendetwas reinkommt, das Inhalt herstellt, damit das nicht nur<br />

formale Spielereien oder Ableitungen sind. Da hat sich mir das Wort<br />

Richard aufgedrängt, wegen der Richardstraße und dem Richardkiez.<br />

Ich habe <strong>im</strong> Internet geschaut, was da in der Vergangenheit stattgefunden<br />

hat. ‚Richard‘ leitet sich <strong>im</strong> Englischen etymologisch<br />

aus den Worten ‚rich‘ und ‚hard‘ ab.<br />

Bei dem Mural war klar: Es muss in die Höhe gehen. In dem Fall gab es relativ früh<br />

die Idee, von außen sehen zu können, wo sich die Räume <strong>im</strong> Innen befinden.<br />

Ich dachte, es wäre schön, von außen in diese Räume hineingucken zu können.<br />

39


KÜNSTLERISCHE INTERVENTIONEN<br />

Konzeption und Ausgestaltung des Wandbildes<br />

Zuerst habe ich anhand des Bauplans der Architekten ausgerechnet, wo sich die<br />

jeweiligen Etagen befinden. Das habe ich auf einem Plan der Giebelwand eingezeichnet.<br />

Als nächstes fiel mir das zweifach schräg abfallende Dach auf. Das ist ein Dach,<br />

bei dem es zwei schräge Winkel gibt. Diese zwei Schrägen versuchte ich mit dem<br />

ansonsten rechtwinkeligen Format der Wand zu verbinden. Daraus entstand diese<br />

Art Fächerform, dieser Winkel von oben, der sich in fünf bis sechs Linien <strong>im</strong> rechten<br />

Winkel runterfächert. So hatte ich schon zwei solche Ebenen.<br />

Dann kam als nächstes, dass ich an ‚rich‘ und ‚hard‘ zweifelte. Es gefiel mir von Anfang<br />

an, weil es auch diese Sanierung und Gentrifizierung auf eine ironische Art und Weise<br />

miteinbezieht.<br />

Jetzt wird das Haus hübsch gemacht, dann werden die Wohnungen<br />

verkauft, die neuen Eigentümer ziehen ein. Das ist quasi ein Fakt,<br />

zu dem die Worte ‚rich‘ und ‚hard‘ gut passen, weil es vollendete Tatsachen<br />

sind. Ich hatte dann <strong>im</strong>mer mehr Zweifel, ob es zu krass ist.<br />

Dann dachte ich irgendwann, stattdessen das Gegenteil hinzuschreiben:<br />

‚poor‘ und ‚soft‘.<br />

Das ist bei mir gleich am Anfang hängengeblieben. Ich kam <strong>im</strong>mer wieder darauf<br />

zurück, auch wenn ich es ein bisschen doof fand, das in das Wandbild reinzuschreiben,<br />

weil mir das zu platt erschien. Ich habe es aber <strong>im</strong>mer wieder probiert und fand es<br />

schön, das in Großbuchstaben, mit einer selbstgemachten Typografie in der Arbeit<br />

drinnen zu haben.<br />

Dann war da noch eine weitere Ebene, die ich von Anfang entschieden<br />

hatte: freie Schnörkel oder Schwünge, die mit der Hand gemacht<br />

sind. Die sollen so sein, wie wenn ‚Graffiti-Artists‘ auf Baugerüste<br />

klettern und auf jeder Etage Tags auf die Wand schreiben. Das sieht<br />

man hier in Berlin oft: Die Häuser werden eingerüstet, dann kommen<br />

die Sprayer und sprayen alles voll. Wenn die Gerüste wieder wegkommen,<br />

sieht man die vollgesprayten Ebenen.<br />

Es ist cool, das mal auszuleben, weil wir hier auch auf einem Baugerüst gearbeitet<br />

haben. Ich habe entschieden, diesen Ansatz auf die Etagen anzupassen. Ich fand es<br />

schön, weil ich jeden dieser Kringel oder Schwünge mit der Hand gemacht habe.<br />

Sie haben also eine organische Form, wie auch das Leben der Bewohner in jeder Etage<br />

ein anderes organisches Leben ist. Dann habe ich das mit den Layern ausprobiert.<br />

Das ergab dann ein Raster, das mir reizvoll erschien.<br />

Von vornherein gab es die Idee, mit der Gartenerde zu arbeiten. Im Eingangsbereich<br />

habe ich ja mit dem Straßenschmutz gemalt. Mit Schmutz habe ich schon oft gemalt,<br />

mit Erde noch nie so richtig. Da erschien es mir eine gute Idee, auch weil es so viel gab.<br />

48


RICH, HARD, POOR, SOFT<br />

Mein Gedanke war: Im Eingangsbereich kommt die Straße<br />

ins Haus rein, hinten kommt der Garten auf die Hauswand.<br />

Eine Bewegung, bei der Außen- und Innenraum miteinander in<br />

Dialog treten.<br />

Dann wollte ich für das Mural noch eine zweite Farbe nehmen, damit nicht alles Ton<br />

in Ton ist wie <strong>im</strong> Eingangsbereich. Ich habe beschlossen, eine Komplementärfarbe der<br />

braunen, grauen Gartenerde zu nehmen. Dieses Graublau, das ich davon abgeleitet<br />

habe, fand ich auch sehr schön.<br />

49


»<br />

KÜNSTLERISCHE INTERVENTIONEN<br />

Reflexionen über das Projekt und den Referenzrahmen<br />

Als ich mit dem Projekt angefangen habe, war mir noch nicht so klar, wie hart der<br />

Häuserkampf hier in Neukölln <strong>im</strong> Kiez gerade geführt wird. In der gleichen Zeit war ja<br />

dann auch diese Hausbesetzung, die von der Polizei geräumt wurde, und eine große<br />

Häuserkampfdemo <strong>im</strong> Rathaus Neukölln. Dann gab es die berlinweite Demo gegen<br />

steigende Mieten. Das hat jetzt alles in der Zeit stattgefunden, in der ich hier war.<br />

Das heißt, mein Bewusstsein wurde natürlich davon gefärbt. Auf der anderen Seite<br />

ist man das in Berlin ja seit vielen Jahren gewohnt.<br />

Ich könnte mir vorstellen, dass das Wandbild rich, hard, poor, soft heißt, weil das steckt<br />

da ja drin, aber man kann es kaum entziffern. Von dem her fände ich es okay, wenn es<br />

<strong>im</strong> Titel noch mal auftaucht.<br />

Es war mir nicht unbedingt klar, dass mein Werk von den Bewohnern<br />

so stark mit dem Sanierungsprozess, mit der Firma und mit den<br />

Auftragsgebern identifiziert und zusammengelegt wird. Ich habe nicht<br />

so richtig bedacht, dass es als ein Teil davon gesehen wird, weil ich<br />

es selbst ein bisschen frei davon sehe: <strong>Kunst</strong> als <strong>Kunst</strong> und Sanierung<br />

als Sanierung.<br />

Künstlerisch finde ich es <strong>im</strong>mer problematisch, wenn sich <strong>Kunst</strong> vordergründig politisch<br />

gestaltet oder äußert, weil ich grundsätzlich der Meinung bin, dass <strong>Kunst</strong> eine<br />

andere Sprache spricht und sprechen sollte als politisch Handelnde. Somit hoffe ich,<br />

dass ich als politisch denkender Mensch in meinem Werk irgendetwas unterbringen<br />

kann, was vielleicht eine Form von Subversion oder poetischer Schönheit hat, das sich<br />

auch mit politischem Denken verbindet.<br />

Ob <strong>Kunst</strong> einen Dialog eröffnet?<br />

Ich weiß nicht, ob das funktioniert.<br />

54


RICH, HARD, POOR, SOFT<br />

55


64


65


KÜNSTLERISCHE INTERVENTIONEN<br />

Über das künstlerische Konzept …<br />

»<br />

J: In der Konzeption fragten wir uns: Wie kann man ein ästhetisches <strong>Kunst</strong>projekt<br />

<strong>im</strong> semiöffentlichen Raum mit den Hausbewohnern gemeinsam gestalten? Da hatten<br />

wir verschiedene Ideen, am Ende haben wir uns für die Fahnen- und Banneridee<br />

mit dem Workshop entschieden. Wir haben viel diskutiert, ob es funktionieren wird<br />

oder nicht. Wir waren opt<strong>im</strong>istisch und auch kritisch, aber hätten uns in Bezug auf<br />

die Beteiligung mehr erwartet.<br />

S: Wir haben überlegt, wie man eine Mitgestaltung einfach<br />

halten kann, ohne dass sich die Bewohner überrumpelt fühlen,<br />

sondern Lust haben, mitzumachen.<br />

J: Das Vorgehen war folgendermaßen: Vorabentwurf als ein „So könnte es aussehen“<br />

mit einem Anschreiben an die Bewohner und einer Einladung zum Workshop,<br />

schließlich die Durchführung des Workshops. Danach gab es eine Auswertung des<br />

Workshops und eine Phase der eigentlichen Entwicklung der Arbeit. Am Ende fand die<br />

Installation der Arbeit statt, die vonseiten der Sanierungsfirma übernommen wurde.<br />

S: Wir haben positiv gedacht, dass alle Bock haben. Aber es war uns auch bewusst,<br />

dass es in die Hose gehen kann. Deshalb war das Konzept so aufgebaut, dass es <strong>im</strong>mer<br />

funktioniert, auch wenn kein Input oder Output von den Bewohnern kommen sollte.<br />

… <strong>im</strong> Kontext seiner kontinuierlichen<br />

Auseinandersetzung mit Grenzen ...<br />

S: Das Alphabet der Formen bezieht sich unter anderem auf eine Projektreihe, die wir<br />

unter dem Titel ‚No Man’s‘ Land schon seit Jahren verfolgen: Wir gestalten Flaggen<br />

mit Grafiken oder Formen, die frei erfunden sind und für irgendetwas stehen können.<br />

‚No Man’s Land‘ – das Niemandsland. Es ist vielfältig, es gibt ganz viele Flaggen, es<br />

kann ganz vielen Leuten oder allen zusammen etwas gehören. Das versuchen wir mit<br />

diesem Ansatz aufzubrechen. Die Idee, Fahnen zu gestalten, taucht daher <strong>im</strong>mer<br />

wieder in unserer Arbeit auf …<br />

J: … wobei dieser Titel ‚No Man’s Land‘ ja auch für Zwischenräume steht. Räume,<br />

die entstehen können, wenn etwas passiert, wenn zwischen Grenzen Raum entsteht.<br />

Uns beschäftigt dabei auch die Frage: Wie entstehen Grenzen?<br />

S: Wir verstehen diese Auseinandersetzung einerseits als Kritik an den<br />

Grenzen, die die Welt beschreiben, andererseits geht es auch darum,<br />

Grenzen in unserem Kopf, die auch durch Flaggen entstehen, aufzubrechen.<br />

70


ALPHABET DER FORMEN<br />

+23.15<br />

DACHGESCHOSS<br />

OBERGESCHOSS 4<br />

OBERGESCHOSS 3<br />

23.15<br />

OBERGESCHOSS 2<br />

OBERGESCHOSS 1<br />

EG HOCHPATERRE<br />

EG SOUTERRAIN<br />

±0.00<br />

Hofansicht 1<br />

71


KÜNSTLERISCHE INTERVENTIONEN<br />

»Wenn ich etwas von der Hausverwaltung<br />

bekomme, stehe ich dem auch mit Abneigung<br />

und Vorsicht gegenüber.«<br />

»Nicht zu kommunizieren, bedeutet ja<br />

auch <strong>im</strong>mer etwas, das kann Verweigerung,<br />

Desinteresse oder auch Gleichgültigkeit<br />

bedeuten.«<br />

»Ich kann das schon verstehen,<br />

bei dem Baulärm.«<br />

Statements vom Umtrunk, September 2019<br />

78


ALPHABET DER FORMEN<br />

Reflexionen über den Projektverlauf …<br />

J: Vielleicht war es die Art der Kommunikation via Posteinwurf. Vielleicht wäre digitale<br />

Kommunikation besser gewesen, aber wir hatten ja auch nicht die Kontakte der<br />

Bewohner – und wäre auch aus Datenschutzgründen nicht möglich gewesen.<br />

Das Vertrauen hätte über einen längeren Zeitraum aufgebaut<br />

werden müssen. Man hätte irgendwie am Anfang, noch vor dem<br />

Workshop, den Dialog finden müssen.<br />

Das Projekt war ein guter Erfahrungswert. Es kann jederzeit und überall komplett<br />

anders aussehen. Es hängt total von den Bewohnern ab und davon, ob sie kunstund<br />

kulturinteressiert sind.<br />

S: Desinteresse? Schwer zu sagen, ob es einem so egal ist, weil man einfach Mieter ist.<br />

Oder ist die Hausverwaltung <strong>im</strong>mer der Feind oder das, was einen nicht interessiert?<br />

Oder man denkt: „Was soll der Quatsch? Gibt es nicht irgendwie Wichtigeres?“<br />

J: Es muss auch gar nicht so negativ sein.<br />

Inwiefern muss man sich an Gesellschaft beteiligen? Es gibt Leute,<br />

die gehen auf Demonstrationen, andere nie. Das heißt aber nicht, dass<br />

sie sich nicht interessieren. Vielleicht nehmen sie sich nicht die Zeit<br />

oder haben es vergessen oder es ist am Weg zum Workshop oder<br />

Briefkasten gescheitert.<br />

S: Mehr Transparenz und Information wären auch möglich gewesen. Inwiefern ist die<br />

Hausverwaltung integriert? Steigt der Wert der Immobilie durch das Projekt? Klar zu<br />

kommunizieren, was die Projektmotivation ist und was nicht. Da entsteht Reibung<br />

und tut vor allem partizipativen Projekten gut.<br />

Die Frage ist, ob die verschiedenen Parteien untereinander kommuniziert haben. Das<br />

hängt ja auch von der Hausgemeinschaft ab und davon, ob die <strong>im</strong> Alltag mehr miteinander<br />

zu tun haben, außer sich <strong>im</strong> Flur zu treffen. In den Wohnungen, bei einer Familie,<br />

einer WG oder einem Pärchen, wird auf jeden Fall darüber gesprochen, denke ich.<br />

79


90


91


KÜNSTLERISCHE INTERVENTIONEN<br />

Gedächtnisprotokoll<br />

Informationsveranstaltung, September 2018<br />

Anwesende Bewohner*innen:<br />

Ehepaar, Hausbewohner*innen, etwa Anfang 40, und ihre beiden Kinder;<br />

Hausbewohnerin, etwa Mitte 40; Hausbewohner, etwa Mitte 40<br />

Team:<br />

Jelena, Rubén, Pierre, Siglinde, Philipp, Harald<br />

Verlauf:<br />

Das Treffen findet in der Gewerbeeinheit, in Jelenas zukünftigem Atelier,<br />

statt. Gegen 18:00 Uhr betreten drei Personen, zwei weibliche und eine<br />

männliche, sowie zwei Kinder, etwa 6 und 8 Jahre, den Raum. Die Begrüßung<br />

ist ausgesprochen offen, die Personen kommen sehr freundlich, fast herzlich,<br />

auf uns zu, geben jedem die Hand und stellen sich persönlich vor. Ein angenehme,<br />

fröhliche Atmosphäre herrscht. Wir erfahren, dass zwei Personen ein<br />

Paar sind und mit ihren Kindern da sind. Die Künstler*innen sitzen gemeinsam<br />

auf einer Bank, Philipp und Harald stehen etwas abseits.<br />

Ich beginne mit der Projektvorstellung, werde aber <strong>im</strong>mer wieder – freundlich,<br />

aber best<strong>im</strong>mt – von einer Person mit Fragen unterbrochen: nach meiner<br />

Person, nach dem Zeitplan, danach wer Harald, wer Philipp sei. Ich versuche klar,<br />

aber knapp zu antworten und beginne die erste künstlerische Arbeit vorzustellen.<br />

Ich übergebe das Wort an Pierre, der seine Arbeit erläutert. Hierbei<br />

kommen wir auf die Ursprungsidee seiner Arbeit zu sprechen: Da <strong>im</strong> März geplant<br />

war, dass über den Sommer Sanierungsarbeiten stattfinden, erläutert<br />

Pierre, spielte er mit dem Gedanken, dass ein Bauarbeiter ein Werkzeug, einen<br />

Klammerstock, verloren haben könnte. Nachdem Pierre sein Projekt vorgestellt<br />

hat, kommen vor allem Fragen nach dem Warum des Projektes. Ich<br />

versuche zu antworten, es kommt zum Dialog. Als zentrale Frage wird dann<br />

die Frage nach dem Kontext formuliert: Kritisch und eher schroff wird von<br />

einer Person <strong>im</strong>mer wieder angemerkt, dass hier gerade die Mieter*innen<br />

von Verdrängung betroffen sind, und dass das doch wohl der aktuell einzige<br />

Kontext des Hauses wäre. Ich versuche mit Kontext als erweitertem Begriff<br />

zu argumentieren, ohne aber die persönliche Betroffenheit ausklammern zu<br />

wollen. Dann richtet sie sich an die Künstler*innen, ob sie davon vorab wussten.<br />

Jelena nickt, Ruben auch, Pierre bleibt stumm. Die Körpersprache der <strong>Kunst</strong>schaffenden<br />

weist darauf hin, dass sie mit dieser Frage kaum gerechnet<br />

haben und sich unwohl fühlen. Ich erläuterte, dass wir natürlich vorab darüber<br />

gesprochen, auch vielfach diskutiert haben, was Jelena nochmals bestätigt.<br />

Statements aus der nun folgenden 15-minütigen Diskussion:<br />

„Der Zeitraum hat uns etwas irritiert. Gerade jetzt.“„Be<strong>im</strong> Lesen der Einladung<br />

habe ich mir gedacht: Da hören wir so lange nichts über die Situation <strong>im</strong> Haus<br />

98


SEMI PUBLIC GALLERY<br />

und dann auf einmal so ein <strong>Kunst</strong>projekt.“„Keine Informationen über den<br />

Status quo. Das ist ärgerlich.“„Es herrscht Unsicherheit <strong>im</strong> Haus über Zustand<br />

und wie es weitergeht.“ Alle anwesenden Bewohner*innen bezeichnen sich<br />

als „kunstaffin“. Ab einem gewissen Punkt wird Harald, als Vertreter des Eigentümers,<br />

angesprochen, eher in Nebensätzen. Eine Person sagt schließlich<br />

direkt: „Gut, dass Sie auch hier sind. Jetzt haben wir ein Gesicht.“ Ab diesem<br />

Moment ergreift Harald <strong>im</strong>mer mehr das Wort, wird vielfach angesprochen:<br />

Er entschuldigt sich für die fehlende Kommunikation, bietet an, dass er <strong>im</strong><br />

Anschluss gerne noch für Fragen zur Verfügung steht, aber diese Diskussion<br />

an dieser Stelle von dem <strong>Kunst</strong>projekt trennen möchte. Dieses Statement<br />

wird von allen positiv aufgenommen und ich nehme den Verlauf wieder auf,<br />

indem ich Rubén bitte, sein Projekt vorzustellen.<br />

Ab diesem Punkt verläuft die Gesprächsrunde wieder entspannt(er), die Bewohner*innen,<br />

vor allem das Ehepaar, scheinen wirklich interessiert an den<br />

Arbeiten zu sein. Rubén übergibt an Jelena, die klar und präzise ihre Arbeit vorstellt<br />

und auch einlädt, für ein Gespräch bei ihr vorbeizuschauen. Auf Jelenas<br />

Arbeit reagiert eine Person sehr positiv, verweist auf die vielen „Geschichten <strong>im</strong><br />

Haus“ und merkt an, dass das ein „schönes Projekt“ sei. Die anderen nicken<br />

durchgängig zust<strong>im</strong>mend. Dann werden noch Fragen nach dem Zeitplan, Aufbauarbeiten<br />

und Beeinträchtigungen gestellt. Das Gespräch endet in freundlicher<br />

Atmosphäre, aber die positive Offenheit wirkt nun reduzierter. Danach<br />

rede ich mit den drei <strong>Kunst</strong>schaffenden noch länger über die Veranstaltung.<br />

Vor allem Jelena setzt sich sehr stark mit dem Gespräch auseinander und<br />

möchte in ihrem Projekt noch intensiver auf die Situation <strong>im</strong> Haus eingehen.<br />

Pierre meint, er habe von all dem keine Ahnung gehabt, weil er schlecht<br />

deutsch spreche und das Dossier nicht gelesen habe. Als Künstler habe er<br />

damit aber auch nichts zu tun. Harald diskutiert noch lange mit drei der<br />

vier Bewohner*innen.<br />

Persönliche Gedanken:<br />

Ich bin sehr dankbar für die Offenheit, werde mir aber zunehmend bewusst,<br />

dass die <strong>Kunst</strong>aktionen vor allem als (erneute) „Bedrohung“ von den Bewohner*innen<br />

wahrgenommen wird. Wir muten den Menschen viel zu. Sich in so<br />

einer Situation noch auf <strong>Kunst</strong> einzulassen, ist eigentlich fast unmöglich. Es<br />

war gut, dass Harald da war. Der Gesprächsbedarf war enorm. Aber dadurch<br />

vermischt sich unsere Arbeit mit seiner – und das war ja so gar nicht geplant.<br />

Die HaMa müsste viel mehr mit den Menschen sprechen. Wir hören nun<br />

schon wieder, dass sich die meisten uninformiert fühlen. Das dürfte eines der<br />

Grundprobleme sein. Es scheint schon auch ein Verständnis dafür zu gehen,<br />

dass in Berlin wie in vielen anderen Städten Wohnraumaufwertung passiert –<br />

aber erneut wird diese Ohnmacht, das Gefühl, dass hier jemand über jemand<br />

anderen in einer existenziellen Situation best<strong>im</strong>mt, sehr präsent. Zumindest<br />

Transparenz und Dialog würden die Betroffenheit anerkennen und abholen,<br />

wenn auch nicht lindern.<br />

99


KÜNSTLERISCHE INTERVENTIONEN<br />

Künstlerischer Konzeptansatz und Herangehensweise<br />

»<br />

Die erste Auseinandersetzung und Herausforderung war der Kontext das Projekt<br />

sowie auch das Reingehen in den halb öffentlichen oder halb privaten Wohnraum.<br />

Da waren unterschiedliche Ideen in meinem Kopf. In Bezug auf die Frage, wie ich mit dem<br />

Raum umgehen kann, wusste ich, dass Zithern eine gute Arbeit machen können.<br />

Ich habe von Anfang an best<strong>im</strong>mt, dass die Arbeit rein akustisch bleibt und nicht über<br />

Lautsprecher verstärkt wird.<br />

Bei der Konzeption der Arbeit habe ich mich auf das Architektonische konzentriert,<br />

darauf, wie die Arbeit <strong>im</strong> Haus wirken kann. Ich habe mich mit der Rezeption der<br />

Arbeit auseinandergesetzt. Wie kann ich mit der Arbeit die Leute erreichen? Das war<br />

mein Ziel und die eigentliche Idee dahinter. Der referenzielle Kontext ist nicht direkt<br />

in die Kreation der Arbeit eingeflossen – eher habe ich versucht, einen unmittelbaren<br />

Bezug zu der Wohnsituation <strong>im</strong> Haus aus der Installation herauszunehmen, denn das<br />

Werk muss als Schutzraum für mich und schließlich für den Betrachter fungieren.<br />

Meine Idee war, aus einer Klangperspektive in die Atmosphäre<br />

des Hauses zu intervenieren, sie nicht unbedingt zu verbessern,<br />

aber einzugreifen. Mit dem Sound, mit den klanglichen Eigenschaften<br />

der Zithern, und mit den Zeitintervallen füge ich einen<br />

atmosphärischen Beitrag hinzu. Es geht um eine Installation,<br />

die in einem anderen Kontext als in einer Galerie oder einem<br />

Museum ist. Man geht nicht freiwillig rein, um die Installation zu<br />

hören. Hier geht es also auch um eine Art Funktionalität.<br />

Das ist etwas, was mich wirklich interessiert: diese Funktionalität von <strong>Kunst</strong>. Die<br />

Installation <strong>im</strong> Treppenhaus sollte sich an den Raum anpassen, nicht nur architektonisch.<br />

Die Arbeit will <strong>im</strong> Haus eine Funktion erfüllen: Es kann sich eine Verbindung<br />

oder eine Beziehung zwischen Klang und Zeit aufbauen.<br />

Die Arbeit verbindet Klänge und Zeit auf eine besondere Weise. Die Zithern, die<br />

Instrumente, enthalten Spuren der Geschichte: Sie spiegeln verschiedene Phasen<br />

der deutschen Geschichte und Historie des Hauses wider. Ich habe sie auch so –<br />

halbwegs chronologisch – platziert: von der ältesten ganz oben bis zur neuesten<br />

Zither <strong>im</strong> ersten Stock.<br />

108


SEMI PUBLIC GALLERY – INNER CLOCK<br />

109


KÜNSTLERISCHE INTERVENTIONEN<br />

Künstlerischer Konzeptansatz<br />

»<br />

For Interstice I had no idea when I was asked to submit a concept. Then I visited the site<br />

and hit on the idea on the spot. I remember, I took a rough measure of the two lobbies<br />

on that day in order to plan a possible realisation when I get back home.<br />

I am a conceptual artist. My work consists of objects, installations, and performances,<br />

mostly responding to designated spaces. Since a few years I have been leading my<br />

research into formalist objects dealing with their own constrained space.<br />

This work faces physical characteristics of raw material in<br />

order to create spaces in tension. More generally I would say<br />

that I play with the notion of l<strong>im</strong>its, instability, and entropy.<br />

The idea was to split the work in two and place it in two parts of the lobby: on the one<br />

side the object and on the other side its reflection as a drawing of its possible shadow,<br />

to be more specific. In between there is the space, the emptiness, and the connection<br />

that the viewer can make in his mind – from one space to the other. For me it is<br />

related to the definition of what an Interstice is.<br />

Exactly that draws my attention: this l<strong>im</strong>it between private<br />

and public. Where do people experience this l<strong>im</strong>it? My project<br />

was designed to initiate the experience of entering a space.<br />

Another space, into a transitional site between public and<br />

private space, between outside and inside.<br />

122


SEMI PUBLIC GALLERY – INTERSTICE<br />

Interstice _ ON SITE SIMULATION / INTEGRATION _ Sebastianstrasse 87<br />

123


130


131


KÜNSTLERISCHE INTERVENTIONEN<br />

Da hat man den Überblick verloren, wer was gezeichnet hat. Außerdem gab es auch<br />

Gespräche, bei denen ich Tonaufnahmen gemacht habe oder selbst dazu zeichnete<br />

oder Gesagtes mitschrieb.<br />

Die Menschen haben mir von unterschiedlichen Sachen erzählt:<br />

Träume, Wünsche, Erinnerungen zu diesem Ort. Wie war es<br />

früher? Wie und wann wurde der Laden geschlossen?<br />

Viele haben gefragt, was mit dem Gebäude und den leeren<br />

Wohnungen passiert. Über die Mauer haben zwei geredet.<br />

Auch Kinder sind gekommen und haben gezeichnet.<br />

Am Anfang konzentrierte ich mich stark auf die historische Situation – ohne zu wissen,<br />

wohin das führt. Für das allererste Gespräch wurde ein ehemaliger Bewohner eingeladen,<br />

der in den 80er-Jahren, kurz vor dem Mauerfall und kurz danach, hier gelebt hatte.<br />

Er hat mir viel über das Gebäude und das Alltagsleben von damals erzählt und mir<br />

Fotos gezeigt. Ich fragte ihn, wie es war, plötzlich so eine starke Grenze vor Augen zu<br />

haben. Er sagte, er habe sich an die Mauer gewöhnt und sie gar nicht <strong>im</strong>mer wahrgenommen.<br />

Er erzählte vom Straßenleben und dem Blick in die Zone zwischen den<br />

Wänden – und dass er da oft Hasen beobachtet hat.<br />

Ich habe ihn auch nach dem Zusammenleben der Menschen hier <strong>im</strong> Gebäude gefragt.<br />

Er meinte, es seien ganz normale Nachbarschaftsverhältnisse gewesen. Er hat aber<br />

auch von seinen Beobachtungen gesprochen, darüber etwa, dass türkische Familien<br />

die Straße anders nutzten und oft Autos reparierten. Die Straße war damals viel mehr<br />

ein öffentlicher Raum, ein Raum für alle, die sich getroffen haben.<br />

Das Gespräch mit dem ehemaligen Mieter produzierte viele<br />

Bilder bei mir. Ich habe für die weitere Arbeit dann das dominante<br />

mit den Hasen ausgewählt. Wir haben dann auch zusammen<br />

eine Wohnung besucht und er hat mir erzählt, wie viel er früher an<br />

Miete bezahlt hat und wie viel es jetzt kostet. Schon bei diesem<br />

ersten Gespräch wurde die Wohnungsfrage gestreift.<br />

Dann habe ich einen Workshop mit einer Familie gemacht, die aktuell hier in dem<br />

Haus wohnt. Wie sind sie eingezogen und warum wollten sie unbedingt hier wohnen?<br />

Die Blicke aus dem Fenster waren auch hier für eine Weile ein wichtiges Thema.<br />

Es kamen auch ihre Kinder mit und haben etwas gezeichnet. Ich war sehr glücklich über<br />

diesen generationenübergreifenden Aspekt, weil sich der an wenigen Orten ergibt.<br />

140


SEMI PUBLIC GALLERY – 30153,846153846153846<br />

141


KÜNSTLERISCHE INTERVENTIONEN<br />

Reflexions- und Erweiterungsphase:<br />

Ausstellungseröffnung und Dialoge<br />

Dann kam die Ausstellungseröffnung – da habe ich erfahren, dass es einen Nachbarn<br />

gibt, der ganz unzufrieden ist und die Situation hier <strong>im</strong> Haus als schwierig betrachtet<br />

hat. An diesem Abend gab es einen Wutanfall.<br />

Jemand kam plötzlich zu mir und erzählte von einem großen Streit und meinte:<br />

„Wir verstehen die Situation jetzt besser.“ Wir haben lange über die Situation <strong>im</strong> Haus<br />

geredet. Der ganz Abend wurde von dieser Situation geprägt.<br />

Ich glaube, dass bei so einem Gespräch auf der Treppe vielleicht<br />

ein Raum geöffnet werden konnte, sodass kein Bruch rauskommt,<br />

sondern es eine Möglichkeit gibt, dass die Menschen sich kritisch,<br />

dennoch offen, austauschen. Dieses Ereignis wurde zum Kern<br />

meiner Arbeit, weil es ein ungehemmter, psychologischer Vorfall<br />

war. Dann habe ich angefangen, die Teilnehmenden zu fragen,<br />

was da passiert ist, um unterschiedliche Positionen zu sehen.<br />

Ich habe einen Bewohner, der auch dabei war, dann zum Gespräch eingeladen.<br />

Hier in diesem Raum fühlte er sich verstanden. Aber hat sich auch entschuldigt,<br />

dass er dir [Anm.: gemeint ist die Kuratorin und Interviewerin Siglinde Lang]<br />

gegenüber so aggressiv war. Ich war jedoch sehr froh, dass ich seine Position fühlen<br />

und das Gesicht von jemandem sehen konnte.<br />

Es ging mir darum zu verstehen, was passiert ist und auch, was ich hier mache.<br />

Kurz nach der Eröffnung gab es nämlich auch eine schwierige Situation für mich,<br />

in der ich nicht wusste, wie und ob ich weitermachen kann, weil ich nicht ein Teil<br />

dieses Prozesses sein wollte.<br />

Natürlich stelle ich mir die ideologisch-künstlerische Arbeit als<br />

ein Feld vor, wo alles möglich ist und viel gemacht werden kann.<br />

Diese Ohnmacht, die Situation mit einer künstlerischen Arbeit<br />

nicht ändern zu können, fiel mir sehr schwer. Ich habe mich<br />

gefragt, warum ich hier eigentlich als Künstlerin bin.<br />

Aber kurz danach habe ich es geschafft mir meine Position zu erklären. Diese lässt<br />

viel auf dem Tisch – buchstäblich so wie in der dann entstandenen Skulptur. Ich lasse<br />

mehrere St<strong>im</strong>men zu und stelle Pluralitäten in meiner Arbeit zusammen. Wut und Kontraposition<br />

gehören ebenso dazu wie Neigung und Akzeptanz. Und wenn ein oder zwei<br />

reagieren und sich versammeln, dann besteht die Möglichkeit, dass etwas passiert.<br />

In diesem Netzwerk von unterschiedlichen Zugängen, was hier<br />

passiert, finde ich mein Verständnis und meine Ordnung. Ich bin<br />

144


SEMI PUBLIC GALLERY – 30153,846153846153846<br />

145


Die<br />

Kulturgarage<br />

– Studio Achtviertel (Sarah Stella Bäcker, Irene Kriechbaum)<br />

158


»Was habe ich gemeinsam<br />

mit jemandem, der sich<br />

hier für 600.000 Euro eine<br />

Wohnung kauft?«<br />

Altmieter bei einer Austauschveranstaltung<br />

Wie kann aus einer ehemaligen Garage ein Gemeinschaftsraum<br />

für die Bewohner*innen werden? Wie kann ein Austausch unter<br />

langjährigen Mieter*innen und neuen Eigentümer*innen initiiert<br />

werden und welche Impulse der nachbarschaftlichen Verbundenheit<br />

können mit künstlerisch-kreativen Mitteln gesetzt werden?<br />

Der Auftrag an Studio Achtviertel war klar formuliert: Mit einer<br />

etwa sechs- bis achtwöchigen Präsenz vor Ort sollte kontinuierlich<br />

ein Prozess der Verbundenheit mit dem Raum aufgebaut,<br />

sollten Probenutzungen angeregt und Ideen für die weitere Verwendung<br />

aufgegriffen werden. Doch die Ausgestaltung dieses<br />

Prozesses erforderte Engagement und Flexibilität, auch viel kommunikatives<br />

Geschick, zwischenmenschliches Feingefühl – und<br />

einen langen Atem. Studio Achtviertel hat mit viel persönlichem<br />

Einsatz, Freude am Dialog und an visueller Gestaltung die Kulturgarage<br />

zu einem fortan selbstorganisierten Ort des nachbarschaftlichen<br />

Austauschs gemacht.<br />

159


164<br />

KÜNSTLERISCHE INTERVENTIONEN


DIE KULTURGARAGE<br />

Phase 1: Beobachten und beobachtet werden<br />

Heute ist Umzugstag. Für eine Woche werden wir unser Leben in die ehemalige Garage verlegen.<br />

Schon be<strong>im</strong> Packen stellt sich die Frage: Was braucht man eigentlich zum (temporären) Wohnen?<br />

Noch herausfordernder ist der Umgang mit der eingeschränkten Privatsphäre. Wir haben uns<br />

bewusst dazu entschieden, unser Wohnen zu einem performativen, sichtbaren Akt zu machen.<br />

Wir machen aus dem Raum kein privates Wohnz<strong>im</strong>mer, sondern besetzen ihn. Das Wohnen soll<br />

nicht zum Dauerzustand werden und wir wollen den Raum nicht mit dieser Bedeutung aufladen.<br />

Denn auch die Privatheit und die Exklusivität in der Nutzung sollen nicht dem zukünftigen Charakter<br />

des Raumes entsprechen. Also setzen wir auf Insignien temporären Wohnens: Ein Zelt als Rückzugs-<br />

und Schlafort. Ansonsten nur das Nötigste: ein Tisch, zwei Stühle. Alles kann in wenigen<br />

Augenblicken verschwinden und einen leeren Raum zurücklassen, einen Raum, der (fast) alles sein<br />

kann. Was das sein wird, das werden wir in den nächsten Wochen gemeinsam herausfinden.<br />

(Auszug Tagebuchprotokoll)<br />

S: Be<strong>im</strong> Projektauftakt ging es uns erst mal darum, zu informieren und den Blick auf<br />

diesen Raum zu lenken, damit er in der Wahrnehmung der Bewohner überhaupt<br />

vorkommt. Bis jetzt war das nicht der Fall und er wurde auch nicht als Gemeinschaftsraum<br />

wahrgenommen. Das ganze Haus wurde renoviert, aber was mit diesem Raum<br />

passiert, war noch unklar. Dann haben wir uns gedacht: „Wenn wir hier etwas machen<br />

wollen, müssen wir uns auch darauf einlassen.“ Wir sind also eingezogen, denn wir<br />

kannten den Ort, das Umfeld und die St<strong>im</strong>mung, die da so herrscht, auch noch überhaupt<br />

nicht. Wir lebten in diesem Raum schon mal etwas vor und konnten dabei<br />

beobachtet werden, ohne dass groß mit uns interagiert werden musste.<br />

Das Exper<strong>im</strong>ent beginnt. Unser Einzug bleibt nicht lange unbemerkt. Kaum ist das Zelt <strong>im</strong> Raum<br />

aufgestellt, klopft es an der Tür: „Was wird das hier jetzt?“ „Wir machen hier ein Projekt um heraus -<br />

zufinden, wie man den Raum zukünftig nutzen kann. Der Raum ist für die Hausgemeinschaft<br />

gedacht. Um ihn gemeinsam zu nutzen. Dafür ziehen wir jetzt erst mal hier ein.“ „Was will man damit<br />

schon groß machen. Außerdem war da ja schon was drin – eine Werkstatt. Die ist jetzt weg und<br />

wenn man das jetzt alles so schick macht, dann sollen sie doch einfach eine Wohnung reinmachen<br />

und gut ist. Wozu brauchen wir denn einen Gemeinschaftsraum? Also wenn ich jemanden treffen<br />

will, dann einfach bei mir in der Wohnung. Da hab ich schließlich alles.” Es sind erst ein paar Minuten<br />

vergangen seit unserem Einzug und der erste Bewohner macht seine Position schon recht<br />

deutlich. Mike, so erzählt er uns, wohnt schon seit 12 Jahren <strong>im</strong> Haus, ist echter (West-)Berliner<br />

und beobachtet genau, was hier <strong>im</strong> Haus und ums Haus herum passiert. Seine Skepsis versucht<br />

er erst gar nicht zu verbergen. Später sehen wir ihn <strong>im</strong> Hof mit Nachbarn reden. Er scheint gut<br />

vernetzt zu sein, vielleicht ein Multiplikator oder St<strong>im</strong>mungsmacher? Wir beschließen, uns nicht<br />

einzumischen und weiter in der beobachtenden Position zu bleiben. Dass sich seine Skepsis aber<br />

165


174<br />

KÜNSTLERISCHE INTERVENTIONEN


DIE KULTURGARAGE<br />

»Der Informationsabend in der Berlichingenstraße<br />

ist gut gelaufen – und es war gut,<br />

hier nochmals mit den Mietern ins Gespräch zu<br />

gehen. Wir hatten das ja bereits vorgehabt, aber<br />

wollten nicht in das <strong>Kunst</strong>projekt eingreifen.<br />

Aber wir haben massiv unterschätzt, wie wichtig<br />

es ist, <strong>im</strong>mer wieder Gesicht zu zeigen, persönlich<br />

für die Veränderungen zu stehen.<br />

Ein wenig nervös waren wir [Anm.: Bei dem Gespräch<br />

war der Projektleiter des Hauses<br />

ebenfalls anwesend] schon, da uns bewusst<br />

war, dass wir versäumt hatten, die Menschen,<br />

die ja schon lange dort wohnen, nicht nur über<br />

das Geplante besser zu informieren. Wir sollten<br />

ihnen auch den rechtlichen Rahmen und die<br />

damit verbundenen Konsequenzen erläutern.<br />

Über das Bleiberecht und die Zehn-Jahres-Frist,<br />

die nur bei konkretem Eigenbedarf in Kraft tritt,<br />

wissen die meisten nicht Bescheid.<br />

Durch Fakten kann hier Gerüchten, die Existenz -<br />

ängste und Verunsicherung auslösen, entgegengewirkt<br />

werden. Doch vor allem wollen die<br />

Menschen Fragen stellen können, genau wissen,<br />

was passiert. Ein Gegenüber haben. Einige wollten<br />

durchaus auch ihre Ängste und ihre Wut<br />

aussprechen, doch <strong>im</strong> Gesamten hatten wir das<br />

Gefühl, dass trotz der Umstände ein Dialog<br />

stattgefunden hat.«<br />

Auszug aus dem Interview mit Harald Mayer. Nachdem am Galerieabend mehrfach Unmut über<br />

die mangelnde Kommunikation und Transparenz seitens der Hausverwaltung und des Eigentümers<br />

zur Sprache kam, wurde ein Informationsabend organisiert, der diesen Mangel aufgriff.<br />

175


KÜNSTLERISCHE INTERVENTIONEN<br />

Projektreflexionen von Studio Achtviertel<br />

S: Uns gefällt <strong>im</strong>mer noch dieser Clash der beiden Wörter Kultur und Garage, weil<br />

letzteres ja eigentlich so ein Abstellort ist – etwas, das nicht beachtet wird. Das Wort<br />

beinhaltet somit auch die Transformation, die dieser Raum durchläuft. Er sieht gar<br />

nicht mehr nach Garage aus, aber diese Historie ist bei den Leuten, die schon länger<br />

dort wohnen, sehr präsent.<br />

… über das Spezifische der Kulturgarage<br />

S: Der Kontext ist total anders: Bei der Kulturgarage sind die Leute dort zuhause und<br />

haben da ihren Rückzugsort. Man greift in gewisser Weise in ihre Privatheit viel<br />

stärker ein, als man das in öffentlichen Räumen tut oder wenn man Leute zu einem<br />

anderen Ort einlädt. Unser Ziel war ja das Aktivieren eines Gemeinschaftsraums<br />

und das Herstellen einer Gemeinschaft, die nicht durch ein gemeinsames Hobby oder<br />

Thema zustande kommt, sondern durch das Setting, dass sie dort eben gemeinsam<br />

wohnen. Das Eindringen ist auch ein Grund dafür, warum wir nicht geklopft haben,<br />

weil wir dort eigentlich schon sehr drin waren.<br />

… über die Herausforderung, dass langjährige<br />

Mieter*innen und neu eingezogene Eigentümer*innen<br />

aufeinandertreffen<br />

I: In der Berlichingenstraße gibt es diese zwei unterschiedlichen Bewohnergruppen:<br />

Die einen sind schon seit 15 Jahren eingemietet, die anderen Leute sind frisch zugezogen.<br />

Das manifestierte sich auch <strong>im</strong> Prozess in einem anderen Auftreten beider<br />

Gruppen. Die Personen, die schnell da waren, waren eher jene mit skeptischem Blickwinkel.<br />

Diese Gruppe war schon interessiert und neugierig, aber mit einer deutlichen<br />

Portion Skepsis. Das waren eher die alten Mieter. Ihr Bedürfnis war, sich darüber zu<br />

äußern, was in letzter Zeit kommunikativ und mit dem Verkauf, der Renovierung und<br />

der Baustelle nicht funktioniert hat und falsch gelaufen ist. Die Neuen haben von<br />

dem nichts mitbekommen und waren eher positiv eingestellt und haben sich über die<br />

Möglichkeit eines Gemeinschaftsraums gefreut.<br />

S: Da, wo weniger Aktivität gefordert wurde und wo es eher ums Informieren ging,<br />

ist es sehr gemischt gewesen beziehungsweise waren eher mehr langjährige Bewohner.<br />

Da, wo es ums Machen geht, da sind es zu 100 % die Neuen, die mit einer anderen<br />

Energie da reinkommen – die Lust haben, Leute kennenzulernen, die etwas starten<br />

wollen. Von unserem Gefühl her wollen die Anderen eher den Status quo erhalten.<br />

182


DIE KULTURGARAGE<br />

I: Da kommt natürlich auch die Angst vor der Veränderung: „Geht es in die Richtung,<br />

dass die Mieten teurer werden und ich hier irgendwann raus muss?“ „Hier war doch<br />

schon eine Werkstatt, wieso gibt es die nicht mehr? Wieso gibt es da jetzt etwas von<br />

außen Initiiertes?“ Wir haben das jetzt auch nicht als persönliche Skepsis uns oder<br />

dem Projekt gegenüber wahrgenommen, sondern eher generell Veränderungen<br />

gegenüber. Die Vorbehalte der langjährigen Mieter gegenüber den neuen Bewohnern<br />

sind definitiv größer, aber auch wieder nicht auf einer persönlichen Ebene.Ein Bewohner<br />

hat zum Beispiel gesagt: „Wir sind einfache Leute und ich wohne hier mit meiner<br />

Familie. Was habe ich gemeinsam mit jemandem, der sich hier für eine halbe Million<br />

eine Wohnung kauft?“<br />

S: Die Ausgangssituation war für beide Gruppen komplett anders. Die eine Gruppe<br />

beobachtet schon sehr lange, was hier passiert, und fragt sich, was das für sie bedeutet.<br />

Es ist ein bisschen eine Invasion. Die neuen Leute haben diesen Ballast nicht,<br />

sondern denken sich begeistert: „Neue Wohnung, neues Leben, neue Leute! Einen<br />

Gemeinschaftsraum gibt es auch – das ist doch super!“ Die sind noch nicht so gefangen<br />

in ihren Bedenken und Routinen. Sie sind auch ökonomisch anders aufgestellt,<br />

wahrscheinlich Akademikerkinder und noch relativ jung.<br />

I: Es gab aber auch nicht nur diese Schwarz-Weiß-Gruppen. Es gab auch einige Leute,<br />

die schon länger drinnen wohnen, nachgefragt haben und es gut finden, dass etwas<br />

passiert. Aber für eine aktive Beteiligung hat es trotzdem nicht gereicht.<br />

… über die Bedeutung visueller<br />

und atmosphärischer Gestaltung<br />

S: Wir sind natürlich Gestalter. Jeder Schritt <strong>im</strong> Prozess war visuell durchdacht und<br />

auch, wenn man kein Grafikdesigner ist, bekommt man ein Gefühl davon, dass es<br />

mit Mühe und Aufmerksamkeit gemacht wurde. Das erzeugt auch eine gewisse<br />

St<strong>im</strong>mung wie etwa bei der ‚Galerie der Möglichkeiten'. Die Volumina waren erst mal<br />

abstrakt, diese 1,38 Quadratmeter, die jedem symbolisch zustehen. Auch das Zelt<br />

sollte zeigen, dass das jetzt nicht eine Woche lang unser Schlafz<strong>im</strong>mer ist ...<br />

I: Wir haben in Gesprächen schnell <strong>im</strong>mer ein Bild <strong>im</strong> Kopf, das wir erzeugen wollen.<br />

Das Zelt steht zum Bespiel für das Improvisierte, Temporäre.<br />

Die Gestaltung hat ja alle Phasen begleitet und es war uns wichtig,<br />

da einen roten Faden drinnen zu haben. Man hätte natürlich auch<br />

einen Text auf den Flyer für den Spielabend bringen können, aber<br />

da sehen wir die Gestaltung als Mittel und Methode, um schon<br />

Assoziationen zu wecken und Ideen aufzubringen. Nicht nur bei dem<br />

Flyer, auch bei der Gestaltung des Spieles selbst.<br />

183


Nachklang<br />

194


<strong>Kunst</strong> <strong>im</strong> <strong>UmBau</strong> war ein Projekt, das mehr Fragen als<br />

Antworten aufgeworfen hat – und das sich auch über<br />

seine Atmosphäre definiert hat: Der Referenzrahmen<br />

der Wohnraumverknappung und der persönlichen<br />

Betroffenheit hat nicht nur kuratorisch und künstlerisch<br />

die entstandenen Arbeiten – in ihrer räumlichen,<br />

kontextuellen Verortung – beeinflusst. Gefühle der<br />

Beklommenheit, der Anspannung, phasenweise auch<br />

der Betrübtheit, waren <strong>im</strong> gesamten Prozessverlauf<br />

präsent und prägten die Grundst<strong>im</strong>mung des Projektes<br />

mit. Die in dieser Atmosphäre – und mittels einer<br />

differenzierten Auseinandersetzung mit eben dieser –<br />

entstandenen künstlerischen Konzepte, Arbeiten und<br />

Prozesse verweisen auf das Potenzial von <strong>Kunst</strong> als<br />

gesellschaftliche Ressource. Dieses wird spürbar und<br />

erfahrbar, wenn sich <strong>Kunst</strong> unmittelbar in Räume der<br />

gesellschaftlichen Auseinandersetzung begibt.<br />

195


Kurzbiografien<br />

Alexander Wolff ist ein deutscher, in Berlin lebender Künstler (Malerei, Skulptur, Video).<br />

Er studierte an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt<br />

am Main, der École nationale supérieure des beaux-arts de Paris sowie an der Akademie der<br />

Bildenden Künste Wien. Neben Einzelausstellungen war er an zahlreichen Ausstellungen<br />

<strong>im</strong> In- und Ausland beteiligt. Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Wolff<br />

44flavours (Julio Rölle, Sebastian Bagge) arbeiten seit ihrem Studium an der Fachhochschule<br />

Bielefeld als <strong>Kunst</strong>-und-Design-Duo eng zusammen. Im Dialog miteinander<br />

entstehen ihre Arbeiten in unterschiedlichen Medien wie Malerei, Installation, Skulptur<br />

oder Grafik. Seit 2011 unterrichten sie an der Fachhochschule Salzburg am Fachbereich<br />

für MultiMediaArt. Beide leben und arbeiten in Berlin. Link: http://www.44flavours.com<br />

Rubén D’hers, geboren in Venezuela, lebt und arbeitet als Künstler und Musiker in Berlin.<br />

Seine Soundinstallationen übersetzen die Variäteten von Geräuschen, Klängen und<br />

Tönen eines spezifischen Klangkörpers in Relation zur jeweiligen räumlichen und ortsbezogenen<br />

Singularität. Link: http://rubendhers.net<br />

Pierre-Etienne Morelle folgt in seinen Installationen und Performances einem objektspezifischen<br />

und interaktiven Ansatz, wobei Spannkraft und Druck wesentliche Gestaltungselemente<br />

darstellen. Der in Frankreich geborene Künstler bezieht Gegenstände als auch<br />

die Betrachter*innen in sein jeweiliges Werk mit ein. Link: http://www.pemorelle.com<br />

Jelena Fuzinato ist in Bosnien geboren und lebt als Künstlerin in Berlin. Interaktiv und<br />

partizipativ agierend, setzt sie sich in Zeichnungen, Filmen, Installationen und Skulpturen<br />

mit den Relationen von kollektiven Gedächtnissen und individuellen Erinnerungen<br />

auseinander. Link: http://jelenafuzinato.com<br />

Studio Achtviertel (Sarah Stella Bäcker, Irene Kriechbaum) bewegt sich an den Schnittstellen<br />

von Raum, Grafik und Inhalten. In Ausstellungen, Interventionen <strong>im</strong> öffentlichen<br />

Raum und Vermittlungsformaten werden Projekte partizipativ, forschend und vor Ort<br />

realisiert. Link: http://studioachtviertel.com<br />

––––––––––––––––<br />

Siglinde Lang ist freie Kulturwissenschaftlerin, Kuratorin und Dozentin. Ihre Forschungsund<br />

Arbeitsschwerpunkte umfassen dezentrale Kulturarbeit, <strong>Kunst</strong> als gesellschaftliche<br />

Ressource und partizipative <strong>Kunst</strong>projekte. Link: http://buero-kwp.net<br />

204


DIE KULTURGARAGE<br />

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