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„Und was geschah dann?“<br />
„Ich habe ständig mit ihnen geredet und nach zwei, drei Tagen begannen<br />
sie zu essen. Einige nahmen den Schleier ab und banden sich – wie<br />
in Tschetschenien üblich – ein Kopftuch um. Als sie allmählich wieder<br />
auflebten, brachte ich sie irgendwo unter. Im Ausland, aber auch<br />
in Russland. Suchte nach möglichen Verwandten, damit sie irgendwo,<br />
möglichst weit weg von den Großstädten, leben konnten, telefonierte,<br />
traf Verabredungen.“<br />
Wir redeten über seine Motivation: Wozu hatte er das alles nötig?<br />
„Was kannten sie denn schon, diese jungen Dinger?“, erklärte mir Buwadi.<br />
„In ihrem Alter waren wir junge Pioniere, fuhren ins Ferienlager,<br />
gingen ins Kino, aßen Eis. Doch sie haben von all dem nie etwas gesehen.<br />
Und so ist es eben gekommen. Ich fühlte mich ihnen gegenüber<br />
schuldig.“<br />
„Und Ihr Resümee betreffend die Schahiden? Sind sie unverbesserlich?“<br />
„Nein, die meisten von ihnen sind nicht zu verurteilen. Man hat ihnen<br />
bloß das Gehirn vernebelt.“<br />
Ich werde die Namen der von Buwadi geretteten jungen Witwen nicht<br />
nennen – das ist nicht nötig. Hauptsache, sie selbst wissen, wer gemeint<br />
ist und wem sie ihr zweites Leben verdanken. Nachdem Buwadi sie möglichst<br />
weit weg geschickt hatte, riefen sie ihn immer wieder an, holten<br />
seinen Rat ein, was sie in dieser oder jener Situation tun sollten. Bis zum<br />
13. September dieses Jahres.<br />
Es gibt zwei Versionen über den Tod von Buwadi. Die erste, die „schwarze“,<br />
lautet, dass er an den Ort des Feuergefechts zwischen tschetschenischen<br />
und inguschischen Milizen fuhr, einem inguschischen Milizionär<br />
eine Ohrfeige verpasste und sofort erschossen wurde.<br />
Ich glaube es nicht: Schießen ja, doch eine in die Fresse – nein, das war<br />
nicht sein Stil, er kannte nur zu gut die Folgen eines Streits zwischen<br />
Tschetschenen und Inguschen.<br />
Die zweite Version: Als das Scharmützel losging, war Buwadi nicht an<br />
Ort und Stelle, befand sich aber nicht weit entfernt davon und eilte hin,<br />
um die Leute zu beruhigen. Er stieg aus dem Wagen, redete auf sie ein,<br />
sie mögen aufhören und sich besinnen – da traf ihn eine Salve aus einem<br />
Maschinengewehr.<br />
So war es wohl. Und ich bin froh, dass Buwadi bis zum Schluss er selbst<br />
war: Er versuchte, sie vom Schießen abzuhalten. Obschon er selbst hervorragend<br />
bewegliche Ziele treffen konnte. Doch die letzten Stunden<br />
seines Lebens verbrachte Buwadi innerhalb seiner „weißen“ Hälfte.<br />
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„Alle haben den Krieg bereits satt“, sagte er einen Monat vor seinem Tod<br />
zu mir. „Alle müssen sich aussöhnen.“<br />
Heutzutage herrscht im offiziellen Tschetschenien ein eklatanter Mangel<br />
an solchen Menschen – keine Engel, doch solche, die sich betroffen<br />
fühlen und leiden. Es gibt in Tschetschenien immer mehr „geradlinige<br />
Einzeller“. Jemanden zu töten bedeutet für sie so viel wie eine Tasse Tee<br />
zu schlürfen. Einen Menschen zu verstehen, der im Voraus zum Feind<br />
erklärt wurde, weil er anders lebt, ist für einen Einzeller unmöglich.<br />
Was bedeutet „verstehen“ in tschetschenischen Verhältnissen? Verstehen<br />
bedeutet, Leben zu bewahren. Das ist der Preis der Toleranz, einen<br />
anderen gibt es dort derzeit nicht. Buwadi schenkte Menschen einen<br />
zweiten Versuch, obwohl seine Stellung ihn dazu verpflichtete, schon<br />
den ersten zu unterbinden. Er schenkte, einfach so – und es gibt niemanden,<br />
der ihn hier ersetzen kann.<br />
„Hast du wenigstens in dem Haus, in dem du übernachtest, ein Maschinengewehr?“,<br />
fragte Buwadi besorgt.<br />
„Da gibt es kein Maschinengewehr. Ich will auch keines“, murmelte ich.<br />
„Ich habe die Maschinengewehre satt. Sieben Jahre gibt es sie schon.<br />
Hast du sie denn noch nicht satt?“<br />
Buwadi schwieg, er stimmte zu. Auch er hatte die Maschinengewehre<br />
und die ewige Angst satt. Er war todmüde davon, sich nie von der Waffe<br />
trennen zu dürfen und im Tarnanzug in einem Haus zu schlafen, das<br />
einer Kaserne ähnelt. Es heißt, wer müde ist, stirbt.<br />
Übersetzung aus dem Russischen: Ruth Berg<br />
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von „Nowaja Gaseta“ und<br />
„Perlentaucher“. Erste Veröffentlichung der deutschen Fassung unter<br />
www.perlentaucher.de/artikel/3430.html<br />
Anna Stepanowna Politkowskaja wurde am 30. August 1958 in New York<br />
geboren und am 7. Oktober 2006 in Moskau in ihrem Haus von unbekannten<br />
Tätern ermordet. Sie war Reporterin, Autorin und Aktivistin für<br />
Menschenrechte und wurde bekannt durch Reportagen und Bücher über<br />
den Krieg in Tschetschenien, über Korruption im Verteidigungsministerium<br />
und im Oberkommando der Streitkräfte in Tschetschenien.<br />
Bücher:<br />
„Tschetschenien – Die Wahrheit über den Krieg“, DuMont, Köln 2003<br />
„In Putins Russland“, DuMont, Köln 2005<br />
MAGAZIN FÜR KUNST UND ZIVILGESELLSCHAFT IN ZENTRAL- UND OSTEUROPA / <strong>Frauen</strong> in Ost und West<br />
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