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Wissen und Innovation Mai 2023

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<strong>Wissen</strong> & <strong>Innovation</strong><br />

SAMSTAG, 20. MAI <strong>2023</strong><br />

W1<br />

Rechtsgeschichte. Anders<br />

als bei anderen Ritterorden<br />

sind von den Templern<br />

wenige Originaldokumente<br />

erhalten. Salzburger<br />

Forschende lösen diesen<br />

historischen Krimi.<br />

VON CLAUDIA LAGLER<br />

Sie waren im Mittelalter die<br />

Elitetruppe des Papstes,<br />

kämpften bei Kreuzzügen<br />

<strong>und</strong> schützten Pilger im Heiligen<br />

Land vor Angriffen. Sie lebten<br />

mönchisch, waren gut vernetzt <strong>und</strong><br />

vor allem sehr reich: die Tempelritter.<br />

Ein mittelalterlicher Ritterorden,<br />

um den sich sehr viele Mythen<br />

ranken. Auch deshalb, weil sie<br />

1312 nach einem fragwürdigen<br />

Prozess mit Vorwürfen wie Gotteslästerung,<br />

Ketzerei <strong>und</strong> Homosexualität<br />

aufgelöst wurden <strong>und</strong> ihr<br />

ansehnliches Vermögen verteilt<br />

wurde.<br />

Aber waren diese Vorwürfe<br />

vielleicht nur ein Vorwand, um<br />

sich der Templer zu entledigen?<br />

Der Rechtshistoriker Daniele Mattiangeli<br />

(Uni Salzburg) hat nach<br />

umfangreichen Studien so seine<br />

Zweifel an der gängigen Erzählung<br />

über die Templer. Gemeinsam mit<br />

einem Team unterschiedlichster<br />

Disziplinen beschäftigt er sich seit<br />

2019 mit der Geschichte des Templerordens.<br />

Und je länger er sich damit<br />

befasst, desto mehr Ungereimtheiten<br />

tauchen auf.<br />

„Es gibt viele Bücher <strong>und</strong> Arbeiten<br />

über die Templer. Diese<br />

stützen sich aber meist nicht auf<br />

Originaldokumente, sondern auf<br />

Abschriften, die zum Teil stark verändert<br />

wurden“, begründet Mattiangeli<br />

seine Zweifel an der offiziellen<br />

Version.<br />

Anfrage aus dem Vatikan<br />

Aber zurück zum Anfang: Im Jahr<br />

2019 erhielt Mattiangeli, der damals<br />

eine Gastprofessur in Rom<br />

hatte, eine ungewöhnliche Anfrage<br />

vom päpstlichen Sekretariat. Er<br />

solle untersuchen, ob jenes Skelett,<br />

das man in einem Sarkophag in<br />

San Fermo in Verona entdeckt hatte,<br />

wirklich die sterblichen Überreste<br />

von Arnau de Torroja<br />

(1120–1184), dem neunten Großmeister<br />

des Templerordens, sein<br />

LEXIKON<br />

Viele päpstliche Dokumente sind verschw<strong>und</strong>en. Gab es eine Auflösung oder nur eine Suspendierung? [ Mary Evans/PD ]<br />

Der geistliche Ritterorden „Arme<br />

Ritterschaft Christi <strong>und</strong> des<br />

salomonischen Tempels zu Jerusalem“<br />

bestand von 1129 bis 1312.<br />

Gegründet in Jerusalem war die<br />

militärische Elitetruppe der Kreuzzüge<br />

direkt dem Papst unterstellt.<br />

Auf Druck von Philipp IV. wurde der<br />

Orden wegen Vorwürfen von Ketzerei<br />

nach einem aufsehenerregenden<br />

Prozess von Papst Clemens V. auf dem<br />

Konzil von Vienne offiziell aufgelöst.<br />

Die Tempelritter sind<br />

womöglich Opfer von<br />

Geschichtsfälschern<br />

könnten. „Ich habe damals so gut<br />

wie nichts über den Templerorden<br />

gewusst“, erzählt der gebürtige Italiener.<br />

Das Skelett war ursprünglich<br />

von Fiorenzo Facchini, einem<br />

der renommiertesten Anthropologen<br />

Italiens, untersucht worden.<br />

Gemeinsam mit dem Bioarchäologen<br />

Jan Cemper-Kiesslich <strong>und</strong> dem<br />

Gerichtsmediziner Fabio Monticelli<br />

– beide arbeiten an der Uni Salzburg<br />

– fuhr Mattiangeli zu Facchini,<br />

der die Knochen zur Untersuchung<br />

nach Bologna gebracht hatte.<br />

Die Salzburger erhielten Material<br />

für zusätzliche Forschungen –<br />

Radiokarbon-Datierung, DNA-Rekonstruktion,<br />

Isotopenuntersuchung,<br />

Geschlechtsbestimmung.<br />

Ein DNA-Vergleich fehlt noch<br />

Mittlerweile steht fest, dass es sich<br />

bei dem Toten um einen etwa 55<br />

Jahre alten Mann handelt, der um<br />

1180 gelebt haben dürfte. „Es<br />

spricht vieles dafür, dass es Arnau<br />

ist. Wir haben bisher keine Gegenbeweise<br />

gef<strong>und</strong>en“, sagt Mattiangeli<br />

zum bisherigen <strong>Wissen</strong>sstand.<br />

Was noch fehlt, sind DNA-Vergleiche<br />

von Skeletten möglicher Verwandter<br />

von Arnau de Torroja. Mit<br />

etwas Glück könnte so ein Vergleichsmaterial<br />

im Laufe dieses<br />

Jahres zur Verfügung stehen. Stellt<br />

sich die vermutete Identität des<br />

Skeletts als richtig heraus, wäre das<br />

eine kleine Sensation: Man hätte<br />

das erste Grab eines Großmeisters<br />

der Templer nachgewiesen.<br />

Jede Quelle erzählt anders<br />

Vieles, das – wie die Gräber der<br />

Großmeister – auf die Geschichte<br />

dieses Ordens hindeuten könnte,<br />

scheint nämlich verschw<strong>und</strong>en –<br />

oder möglicherweise systematisch<br />

ausgelöscht bzw. umgeschrieben<br />

worden – zu sein. Mattiangeli hat<br />

bei seinen Recherchen festgestellt,<br />

dass die vorhandenen mittelalterlichen<br />

Quellen ganz anders sind als<br />

die päpstlichen.<br />

„Viele der historischen Dokumente<br />

sind unglaubwürdig, es gibt<br />

fast keine originalen Dokumente,<br />

sondern immer Transkripte“, sagt<br />

der Rechtshistoriker. Und er setzte<br />

sich das Ziel, die originalen Quellen<br />

wiederzufinden. Denn: „Wenn<br />

sich eine Behauptung auf eine unsichere<br />

Quelle stützt, ist sie unglaubwürdig.“<br />

In den vergangenen zwei Jahren<br />

suchten er <strong>und</strong> seine Mitarbeiter<br />

unter anderem im Vatikan, in<br />

Paris, Barcelona, Madrid oder Dijon<br />

nach originalen Dokumenten<br />

zu den Templern, vor allem jene<br />

päpstliche Bulle, mit der die Templer<br />

1312 angeblich exkommuniziert,<br />

aufgelöst <strong>und</strong> verboten wurden.<br />

„Es ist ja auch eine spannende<br />

rechtliche Frage, ob dieses Dokument<br />

existiert oder nicht“, betont<br />

der Rechtshistoriker. Möglicherweise<br />

hat es nämlich gar keine Auflösung,<br />

sondern nur eine Suspendierung<br />

gegeben.<br />

„Manche Dokumente haben<br />

vier oder fünf Versionen, es ist<br />

nicht klar, welche Version die richtige<br />

ist. Vieles ist noch gar nicht untersucht<br />

worden.“ Die Hypothese,<br />

dass der französische König Philipp<br />

IV. beim Kampf um die Vorherrschaft<br />

zwischen Königtum <strong>und</strong><br />

Papsttum die militärisch-geistliche<br />

Elitetruppe als unliebsame Gegner<br />

sah, ist nicht ganz abwegig. Der<br />

König hatte außerdem für den von<br />

ihm angezettelten Krieg gegen<br />

Flandern viel Geld bei den Templern<br />

geliehen. Auch ein möglicher<br />

Fortsetzung auf Seite W2<br />

Österreich gilt seit 2008 als tollwutfrei. Doch die Viruserkrankung tritt in Osteuropa, Asien, Afrika <strong>und</strong> Südamerika weiterhin auf.<br />

Ist die Tollwut bei uns schon ausgerottet?<br />

FORSCHUNGSFRAGE<br />

VON VERONIKA SCHMIDT<br />

Ein Fuchs, der sich nähert, sorgt<br />

oft für Schrecken. Nicht nur die<br />

Sorge, ob die Hühner im Stall<br />

sicher sind, sondern auch die um<br />

Tollwut kommt dazu. Immerhin gibt<br />

es gegen die Viruserkrankung kein<br />

Heilmittel. Sie endet – wenn sie ausbricht<br />

– tödlich. Impfungen schützen<br />

Mensch <strong>und</strong> Tier aber prophylaktisch.<br />

Eine „Presse“-Leserin fragte: Ist die<br />

Tollwut in Österreich <strong>und</strong> in Europa<br />

ausgerottet? „Österreich gilt seit 2008<br />

offiziell als tollwutfrei“, bestätigt der<br />

Fachtierarzt für Pathologie Zoltán Bagó<br />

vom Nationalen Referenzlabor für<br />

Tollwut der Ages (Agentur für Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Ernährungssicherheit).<br />

Der letzte Ausbruch von Tollwut<br />

bei Füchsen wurde in Österreich 2002<br />

dokumentiert, der letzte Einzelfall trat<br />

2006 auf. „Jedes Land kann sich beim<br />

Internationalen Tierseuchenamt – es<br />

heißt nun Woah, World Organisation<br />

for Animal Health – aufgr<strong>und</strong> der aktuellen<br />

Datenlage als tollwutfrei deklarieren.<br />

Die Anerkennung von<br />

Deutschland <strong>und</strong> Österreich war<br />

2008“, sagt Bagó. Er betont, dass dies<br />

nur für die „terrestrische“ Tollwut gilt,<br />

also die Virusstämme, die landlebende<br />

Tiere wie Füchse, Marder, Dachse,<br />

H<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Katzen befallen.<br />

Weniger bekannt sind die Tollwut-Viren<br />

in Fledermäusen. „Diese<br />

sind eng verwandt mit dem Erreger<br />

der klassischen Tollwut. Aber die Fledermaus-Tollwut<br />

ist aus epidemiologischer<br />

Sicht in Europa nicht so relevant.<br />

Denn es gibt nur vereinzelt Fälle,<br />

in der Tollwut von Fledermäusen<br />

auf andere Tiere oder Menschen<br />

übertragen wurde“, sagt der Experte.<br />

Die meisten F<strong>und</strong>e tauchen durch Zufall<br />

auf, da Fledermäuse streng geschützt<br />

sind <strong>und</strong> nicht gejagt werden.<br />

„In Österreich gibt es seit etwa 20 Jahren<br />

das Fledermaus-Monitoring. In<br />

den r<strong>und</strong> 1500 untersuchten Tieren<br />

haben wir keinen Fall von Tollwut gef<strong>und</strong>en“,<br />

sagt Bagó.<br />

Nachbarländer mit Einzelfällen<br />

Im Referenzlabor der Ages in Mödling<br />

landen alle Monitoringproben <strong>und</strong><br />

Verdachtsfälle. 2022 waren das insgesamt<br />

288 Tiere, davon 168 Fledermäuse<br />

<strong>und</strong> 69 Füchse bzw. 21 Tiere, die<br />

einen Menschen gebissen hatten. Alle<br />

Ergebnisse waren negativ. Hingegen<br />

treten in Nachbarländern immer wieder<br />

Einzelfälle auf: 2022 wurden in<br />

Ungarn vier <strong>und</strong> in der Slowakei zwei<br />

Fälle terrestrischer Tollwut gemeldet.<br />

„Osteuropa ist weiterhin ein Gebiet,<br />

in dem Tollwut vorkommt. Die<br />

Ukraine war schon vor dem Krieg ein<br />

Hotspot. Dort wird weiterhin sehr<br />

korrekt mit der Meldung von Fällen<br />

umgegangen“, sagt Bagó. Es gibt aber<br />

große Länder, die gar keine Zahlen<br />

melden <strong>und</strong> dann fälschlicherweise<br />

„In Österreich<br />

ist die orale<br />

Immunisierung<br />

der<br />

Füchse von<br />

1991 bis 2012<br />

gelaufen.“<br />

Zoltán Bagó,<br />

Fachtierarzt, Ages<br />

als „tollwutfrei“ angesehen werden<br />

könnten. Bagó weist auf das neue<br />

Tierseuchenradar der Ages hin, das<br />

monatlich die internationale Lage<br />

<strong>und</strong> Ausbreitung der bedeutendsten<br />

Tierseuchen <strong>und</strong> Tierkrankheiten<br />

sichtbar macht (www.ages.at).<br />

Wie hat Österreich es geschafft,<br />

die Tollwut auszurotten? Durch strenge<br />

Impfkampagnen der Haus- <strong>und</strong><br />

Wildtiere. „In Österreich ist die orale<br />

Immunisierung der Füchse 1991 bis<br />

2012 gelaufen“, sagt Bagó. Dabei wurden<br />

zweimal jährlich Zigtausende Köder,<br />

die den Impfstoff enthalten, mit<br />

Flugzeugen ausgebracht. Stichproben<br />

zeigten, dass die Immunisierung sehr<br />

gut klappt. Treten in Nachbarländern<br />

neue Tollwutfälle auf, kann Österreich<br />

in Grenznähe jederzeit einen „Impfgürtel“<br />

spannen <strong>und</strong> die Köder neuerdings<br />

ausbringen. [ Foto: Privat ]<br />

Was wollten Sie schon immer wissen? Senden Sie<br />

Fragen an: wissen@diepresse.com


W2 WISSEN & INNOVATION SAMSTAG, 20. MAI <strong>2023</strong><br />

Fortsetzung von Seite W1<br />

Was geschah<br />

mit all den<br />

Templern?<br />

Gr<strong>und</strong>, um sich des Ordens<br />

durch den Vorwurf von Ketzerei<br />

zu entledigen. „Ein faires Verfahren<br />

hat es sicher nicht gegeben,<br />

es war eher ein Hexenprozess“,<br />

sagt Mattiangeli über das<br />

Verfahren gegen die Templer.<br />

Es gab Folterungen von Zeugen,<br />

die Kirche habe die Templer<br />

ähnlich wie die Hexen verfolgt.<br />

1314 wurde der letzte Großmeister<br />

auf Anordnung von<br />

Philipp IV. in Paris auf dem<br />

Scheiterhaufen verbrannt.<br />

In Frankreich seien viele<br />

Templer – Mattiangeli schätzt,<br />

dass der Orden zwischen 5000<br />

<strong>und</strong> 10.000 Mitglieder verstreut<br />

in ganz Europa hatte – getötet<br />

worden. In anderen Ländern<br />

seien sie in andere Orden aufgenommen<br />

worden. „Das wäre<br />

nicht möglich gewesen, wenn<br />

die Ritter tatsächlich exkommuniziert<br />

worden wären“, betont<br />

der Rechtshistoriker. Für ihn<br />

liegt nahe, dass im Mittelalter<br />

versucht worden ist, die Gräuel<br />

an den Templern im Sinne von<br />

Philipp <strong>und</strong> der Kirche, die<br />

durch die Verbrechen Schuld<br />

auf sich geladen hatte, umzuschreiben<br />

<strong>und</strong> Dokumente zu<br />

vernichten, damit niemand die<br />

gängige Version in Zweifel ziehen<br />

könne.<br />

Das Grab des Großmeisters<br />

Mittlerweile haben Mattiangeli<br />

<strong>und</strong> sein Team übrigens auch<br />

ein mögliches Grab eines zweiten<br />

Großmeisters im Auge. Des<br />

handelt sich dabei um Guillaume<br />

de Sonnac, den 18. Großmeister<br />

des Ordens, dessen Gebeine<br />

vielleicht in der Commanderie<br />

d’Ozon in Chatellerault<br />

in Westfrankreich entdeckt<br />

wurden. Dort befand sich einer<br />

der ersten Stützpunkte des<br />

Templerordens.<br />

Guillaume de Sonnac starb<br />

1250 bei einem Kreuzzug,<br />

möglicherweise wurde sein<br />

Körper nach seinem Tod in die<br />

Heimat zurückgebracht. Untersucht<br />

werden DNA, Holz des<br />

Sarges <strong>und</strong> ein Sargnagel. Ob es<br />

wirklich Guillaume ist, ist eines<br />

der vielen Rätsel, die Mattiangeli<br />

<strong>und</strong> sein Team lösen wollen.<br />

Die Geschichte<br />

der Tiere wird<br />

umgeschrieben<br />

Ihr Nervensystem unterscheidet sich von dem aller anderen Tiere: Hormiphora californensis, eine Art der Rippenquallen. [ Monterey Bay Aquarium Research Institute ]<br />

Evolution. Nicht die<br />

Schwämme, sondern<br />

die Rippenquallen<br />

zweigten als Erste vom<br />

Baum der tierischen<br />

Evolution ab: Diese<br />

These vertritt ein<br />

Team an der Uni Wien.<br />

VON THOMAS KRAMAR<br />

Vor 600, vielleicht 700 Millionen<br />

Jahren taten sich Einzeller<br />

zusammen <strong>und</strong> bildeten<br />

die ersten Tiere: Schwämme,<br />

ohne Nerven <strong>und</strong> Muskeln, die<br />

friedlich <strong>und</strong> sesshaft auf dem<br />

Meeresboden lebten. Erst später<br />

wurden manche davon mobiler<br />

<strong>und</strong> entwickelten sich weiter zu<br />

den Vorfahren aller anderen Tiere,<br />

die heute durch die Welt schwimmen,<br />

kreuchen <strong>und</strong> fleuchen . . .<br />

Das ist eine nette, einleuchtende<br />

Geschichte, man liest sie in fast<br />

allen Lehrbüchern der Biologie. Es<br />

gibt eine alternative Geschichte,<br />

die jünger ist <strong>und</strong> weniger einleuchtend<br />

scheint, aber von vielen<br />

Biologen vertreten wird. Nun plädiert<br />

in Nature ein Team, an dem<br />

Forschende der Uni Wien um Darrin<br />

Schultz führend beteiligt sind,<br />

vehement für diese neue Version<br />

der Stammesgeschichte. Danach<br />

sind nicht die Schwämme, sondern<br />

die Rippenquallen die direkten<br />

Nachfahren der ältesten Tiere. In<br />

der etwas verwirrenden Sprache<br />

der Systematiker: Rippenquallen<br />

sind die Geschwistergruppe zu allen<br />

anderen Tieren.<br />

Um das zu verstehen, stellt<br />

man sich die Evolution der Tiere<br />

am besten als einen Baum vor. Bei<br />

dessen erster Gabelung bildeten<br />

sich zwei Äste: Der eine entspricht<br />

den Rippenquallen, der andere allen<br />

anderen Tieren. Von ihm<br />

zweigte als Nächstes der Ast der<br />

Schwämme ab, dann ein Ast, der<br />

sich bald in den Zweig der unscheinbaren<br />

Plattentiere <strong>und</strong> den<br />

Zweig der Nesseltiere (Quallen,<br />

Korallen) spaltete. Den verbleibenden<br />

Ast kann man ohne falschen<br />

Stolz als wichtigsten bezeichnen:<br />

Er enthält die Bilateria,<br />

das sind alle Tiere mit Linksrechts-Symmetrie,<br />

unter diesen<br />

sind die Gliederfüßer (Insekten,<br />

Krebse, Spinnen) <strong>und</strong> die Wirbeltiere.<br />

Wir also auch.<br />

Rippenquallen sind Räuber<br />

Kontraintuitiv an der Geschichte<br />

mit den Rippenquallen als stammesgeschichtlich<br />

konservativste<br />

Tiere ist, dass sie viel weniger urtümlich<br />

wirken als die Schwämme:<br />

Sie haben zwar keine Rippen (so<br />

nennt man nur Bänder auf ihren<br />

quallenartigen Körpern), aber Nerven<br />

<strong>und</strong> Muskeln, sie können sich<br />

schnell bewegen <strong>und</strong> fressen andere<br />

Tiere. Das konnten ihre frühesten<br />

Ahnen logischerweise noch<br />

nicht, denn damals gab es keine<br />

anderen Tiere.<br />

Wie begründen denn die Forscher<br />

ihr Plädoyer für die Sonderstellung<br />

der Rippenquallen? Mit<br />

einer Analyse der DNA etlicher Arten<br />

der in Diskussion stehenden<br />

Tiergruppen, aber auch von bestimmten<br />

Einzellern, die als nächste<br />

Verwandte der Tiere gelten. Das<br />

wichtigste Argument für das Umschreiben<br />

der Systematik stützt<br />

sich nun auf die Anordnung der<br />

Gene auf den Chromosomen. Diese<br />

ist nämlich im Lauf der Evolution<br />

erstaunlich konstant: Nur selten<br />

wandern Gene – meist: Gruppen<br />

von Genen – von einem Chromosom<br />

auf ein anderes. Solche<br />

charakteristischen Übersiedlungen<br />

haben nun Bilateria, Plattentiere,<br />

Nesseltiere <strong>und</strong> Schwämme offenbar<br />

gemeinsam hinter sich – im<br />

Gegensatz zu den Rippenquallen<br />

LEXIKON<br />

Das Tierreich wird von Systematikern<br />

in Schwämme, Rippenquallen, Plattentiere,<br />

Nesseltiere sowie Bilateria geteilt.<br />

Zu letzteren gehören die Urmünder<br />

(Weichtiere, diverse Würmer, Gliedertiere<br />

u. v. a.) <strong>und</strong> die Neumünder.<br />

Die Neumünder enthalten vor allem die<br />

Stachelhäuter <strong>und</strong> die Chordatiere,<br />

deren wichtigster Unterstamm die<br />

Wirbeltiere sind. Zu diesen zählt man<br />

R<strong>und</strong>mäuler, Fische, Amphibien,<br />

Reptilien, Vögel <strong>und</strong> Säugetiere.<br />

<strong>und</strong> den untersuchten Nichttieren.<br />

Das spricht dafür, dass die Rippenquallen<br />

zuerst einen eigenen Ast<br />

am Baum des Tierreichs bildeten.<br />

Als Nächstes gingen dann die<br />

Schwämme ihren eigenen Weg:<br />

Das sieht man daran, dass alle anderen<br />

Tiere – also alle außer Rippenquallen<br />

<strong>und</strong> Schwämmen –<br />

eine ganz wichtige Art von Genen<br />

haben: die Hox-Gene, die für die<br />

Strukturierung des Körpers (z. B.<br />

für die Gliedmaßen) wichtig sind.<br />

Schwämme: Keine Nerven<br />

Die neue Systematik bringt freilich<br />

eine offene Frage, die man nervend<br />

nennen könnte, denn sie betrifft<br />

die Nervenzellen. Schwämme haben<br />

keine, Rippenquallen schon,<br />

Nesseltiere auch, Bilateria natürlich<br />

auch. Dafür gibt es, wenn die<br />

neue Systematik stimmt, zwei Erklärungen:<br />

Entweder die ältesten<br />

Tiere – also die Ahnen aller heutigen<br />

Tiere inklusive Schwämme –<br />

hatten schon Nervenzellen, aber<br />

die Schwämme haben diese später<br />

wieder verloren. Oder Nervenzellen<br />

haben sich zweimal unabhängig<br />

voneinander entwickelt, einmal<br />

bei den Rippenquallen, einmal bei<br />

den Vorfahren aller anderen Tiere.<br />

Für die zweite Erklärung<br />

spricht etwa eine jüngst in Science<br />

erschienene Arbeit: Danach haben<br />

Rippenquallen ein ganz anderes<br />

Nervensystem als alle anderen Tiere.<br />

Sie haben etwa keine Synapsen,<br />

ihre Nervenzellen sind direkt miteinander<br />

verb<strong>und</strong>en.<br />

NACHRICHTEN<br />

Fettleber: Molekulare<br />

Ursache geklärt<br />

Ein Mangel einer Gruppe von<br />

Proteinen, sogenannter Carboxylesterasen,<br />

dürfte dafür verantwortlich<br />

sein, dass sich<br />

schädliche Lipide in der Leber<br />

anhäufen können. Fettleber ist<br />

in Europa <strong>und</strong> den USA die<br />

häufigste Lebererkrankung, sie<br />

kann zu Leberzirrhose oder<br />

zum Leberkarzinom führen.<br />

Ein Forschungsteam der Uni<br />

Graz zeigte nun, dass sich die<br />

Zahl der Proteine reduziert,<br />

wenn man oft zu fett isst. Ihre<br />

Erkenntnisse präsentierte es im<br />

Journal Molecular Metabolism.<br />

Kehlkopfkrebs: Reha<br />

von zu Hause via Tablet<br />

Wer etwa durch eine Krebserkrankung<br />

seinen Kehlkopf verliert,<br />

muss neu lernen zu sprechen<br />

<strong>und</strong> zu schlucken. In der<br />

Steiermark entwickelten Teams<br />

von Med-Uni Graz <strong>und</strong> FH<br />

Joanneum nun eine digitale Lösung,<br />

welche die mehrmonatige<br />

Rehabilitation erleichtern<br />

soll. Betroffene können ortsunabhängig<br />

am Tablet üben.<br />

Der menschliche Darm auf einer Briefmarke<br />

Medizin. Wie sehr schädigen uns Pilzgifte? Um individuelle Therapien für diverse Erkrankungen zu finden, untersuchen<br />

Grazer Forschende deren Verhalten mit einer einzigartigen Methode: Simuliert wird auf einem 3–D-Chip.<br />

VON MICHAEL LOIBNER<br />

Darmprobleme stehen im Verdacht,<br />

an zahlreichen Erkrankungen<br />

beteiligt zu sein: Alzheimer,<br />

Diabetes, Zöliakie, Herz-Kreislauf-<br />

Probleme. Es gibt Hinweise, dass<br />

das Verdauungsorgan auch bei<br />

Long Covid eine Rolle spielt. „Konkret<br />

ist es eine <strong>und</strong>ichte Darmwand,<br />

im Fachjargon als ,Leaky<br />

Gut‘ (siehe Lexikon) bezeichnet,<br />

die es erlaubt, dass schädliche<br />

Substanzen wie Bakterien oder Toxine,<br />

die mit der Nahrung aufgenommen<br />

wurden, ins Blut gelangen,<br />

sich im Körper ausbreiten<br />

<strong>und</strong> Krankheiten begünstigen können“,<br />

erklärt Monika Riederer vom<br />

Institut für Biomedizinische Analytik<br />

der Fachhochschule Joanneum.<br />

Um die Prozesse, die zur Entwicklung<br />

eines „Leaky Gut“ führen,<br />

besser verstehen zu können,<br />

untersucht die <strong>Wissen</strong>schaftlerin<br />

die Wirkung eines Schimmelpilzgiftes,<br />

das vor allem in getreidehaltigen<br />

Nahrungsmitteln vorkommt<br />

<strong>und</strong> dem nachgesagt wird, die natürliche<br />

Schutzbarriere im Darm<br />

zu schädigen. Als erste Forscherin<br />

weltweit ahmt sie dabei das, was<br />

im menschlichen Körper vor sich<br />

geht, in nur briefmarkengroßen,<br />

physiologisch exakten Miniatur-<br />

Nachbauten eines Darmabschnitts<br />

nach: In jedem „3-D-Chip“ befinden<br />

sich feine, nur unter dem Mikroskop<br />

sichtbare Kapillaren, von<br />

denen eine den Darm <strong>und</strong> eine andere<br />

ein benachbartes Blutgefäß<br />

imitiert, getrennt durch die Zwischenzellsubstanz.<br />

Der Schutz schwindet<br />

„Wir legen in der Darmkapillare<br />

eine Zellkultur an <strong>und</strong> warten, bis<br />

diese die Darmwand auskleidet“,<br />

schildert Riederer. „Dann geben<br />

wir das Toxin in unterschiedlichen<br />

Konzentrationen hinzu <strong>und</strong> testen,<br />

ab wann das Gift die Zellen derart<br />

schädigt, dass die Schutzfunktion<br />

der Darmwand schwer beeinträchtigt<br />

wird.“ Ist die Darmwand nicht<br />

mehr dicht genug, tritt der Darminhalt<br />

einschließlich der Toxine<br />

aus <strong>und</strong> gelangt mitunter bis ins<br />

Blutgefäß. „In diesem Fall liegt ein<br />

,Leaky Gut‘ vor“, so die Forscherin.<br />

„Das weisen wir unter anderem<br />

mit Fluoreszenz-Farbstoff oder mit<br />

elektrischen Widerstandsmessungen<br />

nach.“ Die Ergebnisse seien<br />

präziser als jene von bisherigen<br />

Experimenten, da die Gegebenheiten<br />

im Körper noch nie so exakt<br />

nachgestellt worden seien.<br />

„Das Erschreckende ist, dass<br />

sich das von uns beispielhaft analysierte<br />

Schimmelpilzgift laut<br />

Fachliteratur im Urin nahezu eines<br />

jeden Menschen findet“, ergänzt<br />

Riederer. „In den meisten Fällen<br />

LEXIKON<br />

Ein „Leaky Gut“-Syndrom liegt vor,<br />

wenn die Darmwand so durchlässig wird,<br />

dass sie nicht nur die aufgenommenen<br />

Nährstoffe in den Körper abgibt, sondern<br />

auch schädliche Stoffe ungehindert in<br />

den Blutkreislauf gelangen lässt.<br />

Ein Funktionieren dieser komplexen<br />

natürlichen Barriere ist für die<br />

Ges<strong>und</strong>heit wichtig, zumal der<br />

Verdauungstrakt mit r<strong>und</strong> 500 m2 Oberfläche<br />

r<strong>und</strong> 80 Prozent aller Immunsystemzellen<br />

beheimatet.<br />

bleibt das harmlos, wenn aber<br />

dann noch weitere Toxine hinzukommen,<br />

können auf längere Sicht<br />

Darmschädigungen die Folge<br />

sein.“ Auch fette Nahrung, Alkohol,<br />

Stress oder unregelmäßige Essenszeiten<br />

gelten als begünstigende<br />

Faktoren.<br />

Riederer <strong>und</strong> ihr Team wollen<br />

sich damit jedoch nicht zufriedengeben.<br />

Letztlich geht es ja darum,<br />

Erkrankten zu helfen. „Ziel ist es,<br />

einen wichtigen Schritt in Richtung<br />

personalisierte Medizin zu tun.<br />

Das heißt, Stammzellen eines Erkrankten<br />

zu isolieren, um den Chip<br />

mit genau diesen Darmzellen zu<br />

besiedeln <strong>und</strong> dann zu überprüfen,<br />

auf welche Substanzen die Zellen<br />

am besten ansprechen, um<br />

dicht zu bleiben.“ Ärzte gehen derzeit<br />

davon aus, dass u. a. Ballaststoffe,<br />

die Vitamine A <strong>und</strong> D,<br />

Glutamin oder auch Fettsäuren bestimmter<br />

Bakterien dazu beitragen,<br />

Lücken in der schützenden Darmwand<br />

zu schließen. Was letztlich<br />

wem am besten hilft, könnten Miniaturchip-Tests<br />

wie jene des Grazer<br />

FH-Teams aufzeigen.


SAMSTAG, 20. MAI <strong>2023</strong> WISSEN & INNOVATION W3<br />

VON CORNELIA GROBNER<br />

Es ist ein Minenfeld. Aus europäischer,<br />

weißer Perspektive<br />

über Soziale Arbeit in<br />

Afrika zu schreiben, kann ziemlich<br />

schiefgehen. Das ist Helmut Spitzer,<br />

der den Kontinent in den vergangenen<br />

25 Jahren vierzig Mal als<br />

Forscher bereist hat, mehr als bewusst.<br />

So räumt er gleich in der<br />

Einleitung ein, dass sein kürzlich<br />

bei Beltz-Juventa erschienenes<br />

Buch die Gefahr berge, eine klischeehafte<br />

Wahrnehmung der Verhältnisse<br />

hier zu verstärken.<br />

„Der sozialpädagogische Blick<br />

fokussiert in der Regel auf soziale<br />

Problemlagen <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Gruppen, die von Armut, sozialer<br />

Ausgrenzung, Gewalt <strong>und</strong><br />

Menschenrechtsverletzungen betroffen<br />

sind“, schreibt der Professor<br />

für Soziale Arbeit an der FH<br />

Kärnten. Und das alles füge sich<br />

nahtlos in das Bild von Afrika als<br />

Ort von Kriegen, Katastrophen,<br />

Korruption <strong>und</strong> Krankheiten, das<br />

in den Köpfen vieler Europäerinnen<br />

<strong>und</strong> Europäer vorherrscht.<br />

Dies stets berücksichtigend,<br />

hat Spitzer sich ans Werk gemacht<br />

<strong>und</strong> seine Erfahrungen zu den Herausforderungen<br />

der Sozialen Arbeit<br />

r<strong>und</strong> um die Großen Seen –<br />

darunter der Victoriasee <strong>und</strong> der<br />

Tanganjikasee – niederzuschreiben.<br />

Das Resultat ist ein Buch, das<br />

differenziert <strong>und</strong> (neo-)koloniale<br />

Verflechtungen reflektierend praxisnahe<br />

Einblicke in länderspezifische<br />

Kontexte bietet. Der Titel<br />

„Wenn Elefanten kämpfen, leidet<br />

das Gras“ zitiert ein Sprichwort,<br />

auf das Spitzer in der Region mit<br />

den Ländern Bur<strong>und</strong>i, Demokratische<br />

Republik Kongo, Ruanda,<br />

Uganda, Tansania <strong>und</strong> Kenia häufig<br />

gestoßen ist. Eine Metapher für<br />

die fragilen Rahmenbedingungen<br />

der Sozialen Arbeit hier.<br />

„Kindersoldaten“ rehabilitieren<br />

Eindrücklich berichtet der Forscher<br />

etwa von Projekten in Norduganda,<br />

die sich um Rückkehrerinnen<br />

<strong>und</strong> Rückkehrer aus den<br />

Reihen der Rebellengruppe LRA<br />

bemühen. Im Bürgerkrieg wurden<br />

in dem ostafrikanischen Land von<br />

1986 bis 2006 mehr als 50.000<br />

Menschen getötet <strong>und</strong> die Infrastruktur<br />

völlig zerstört. Darüber hinaus<br />

verschleppte die LRA Zigtausende<br />

Menschen, darunter viele<br />

Kinder <strong>und</strong> Jugendliche, <strong>und</strong> setzte<br />

sie im Kampf gegen das Militär<br />

<strong>und</strong> zum Terror gegen die eigene<br />

Bevölkerung ein. „Die soziale, ökonomische<br />

<strong>und</strong> ethnische Nord-<br />

Humor, Improvisation<br />

<strong>und</strong> Wir-Gefühl nutzen<br />

Soziale Arbeit. Helmut Spitzer von der FH Kärnten zieht nach<br />

25 Jahren Forschung in Afrikas Region der Großen Seen Bilanz.<br />

Die gemeinschaftliche Bewirtschaftung von Land kann Frauen aus der Armut helfen. [ John Wessels/AFP via Getty Images ]<br />

Süd-Spaltung Ugandas dauert<br />

auch Jahre nach Beendigung des<br />

Bürgerkriegs an“, so Spitzer.<br />

20.000 Kinder <strong>und</strong> Jugendliche<br />

durchliefen mittlerweile eines von<br />

mehreren Rehabilitationszentren<br />

in der Provinzhauptstadt Gulu, bevor<br />

sie wieder zu ihren Communitys<br />

stießen. Und immer noch kehren<br />

ehemals jugendliche LRA-<br />

Kämpfer als Erwachsene zurück.<br />

Der Kärntner Forscher verweist<br />

auf die Bedeutung integrativer <strong>und</strong><br />

gemeinwesenorientierter Ansätze<br />

in der Arbeit mit ihnen. Die Betroffenen<br />

bekommen medizinische<br />

Versorgung, einen Schlafplatz, Essen<br />

<strong>und</strong> zivile Kleidung.<br />

Wichtige Eckpfeiler ihrer Betreuung<br />

sind auch eine orientierungsgebende<br />

Tagesstruktur <strong>und</strong><br />

basale Unterrichtsprogramme sowie<br />

für die Älteren berufsbildende<br />

Schnellkurse etwa für Tischler<br />

oder Schneiderin. Bei der „Übergabe“<br />

der Kinder an die Familie erhielten<br />

diese Hilfspakete für den<br />

täglichen Bedarf, um ihre Armut<br />

zumindest vorübergehend abzufedern.<br />

Ebenfalls essenziell: der Aufbau<br />

von vertrauensvollen <strong>und</strong> verlässlichen<br />

Beziehungen sowie die<br />

Berücksichtigung traditioneller<br />

Formen von Versöhnung <strong>und</strong> Reintegration.<br />

Bei dieser Vorgehensweise<br />

werde den gesamtgesellschaftlichen<br />

Auswirkungen eines bewaffneten<br />

Konflikts Rechnung getragen,<br />

betont Spitzer, denn isolierte<br />

Interventionen wie etwa bei fokussierten<br />

Traumaprojekten seien weniger<br />

zielführend. Viele seiner afrikanischen<br />

Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen<br />

sehen diesen Social-Development-Ansatz<br />

generell als Handlungsmodell<br />

für die Bearbeitung<br />

gegenwärtiger Probleme. Im Zentrum<br />

stehe ein „Zusammenspiel<br />

von Einzelfallhilfe, Gemeinwesenentwicklung<br />

<strong>und</strong> Sozialplanung“.<br />

Wie das funktionieren kann, beschreibt<br />

Spitzer auch am Beispiel<br />

eines Entwicklungsprojekts im Bezirk<br />

Uvira im Osten der Demokratischen<br />

Republik Kongo.<br />

Gemeinsam das Feld bestellen<br />

Dabei geht es darum, die Lebensqualität<br />

von Frauen, die unter anderem<br />

nach den schweren Überschwemmungen<br />

im Jahr 2020 in<br />

Armut leben, zu verbessern. Der<br />

Sozialarbeitsverband ANTS konzentriert<br />

sich hier auf drei miteinander<br />

verzahnte Elemente:<br />

Agrarproduktion, Ernährungssicherheit<br />

<strong>und</strong> Einkommen schaffende<br />

Aktivitäten. Die Frauen werden<br />

in nachhaltiger Agrarproduktion,<br />

Ernährungshygiene <strong>und</strong> Unternehmertum<br />

geschult.<br />

Anschließend werden Solidaritätsgruppen<br />

gegründet, <strong>und</strong> die<br />

Frauen bewirtschaften gemeinschaftlich<br />

angemietetes Farmland.<br />

Das wiederum verbessert ihr Einkommen<br />

<strong>und</strong> die Ges<strong>und</strong>heit von<br />

ihnen <strong>und</strong> ihren Familien. So können<br />

einige zusätzlich Geld für<br />

schulische Ausgaben ihrer Kinder<br />

ansparen.<br />

Afrikanische Ethik für alle?<br />

Spitzer geht auch auf ausgewählte<br />

Aspekte im Fachdiskurs der Sozialen<br />

Arbeit ein. Er prüft etwa, inwiefern<br />

das Konzept von „Ubuntu“ –<br />

oft als afrikanischer Humanismus<br />

übersetzt – ein brauchbarer theoretischer<br />

Rahmen <strong>und</strong> Handlungsorientierung<br />

für Soziale Arbeit ist.<br />

„Im Kern verweist die Ubuntu-<br />

Ethik auf die Interdependenz des<br />

einzelnen Menschen mit der Gemeinschaft<br />

<strong>und</strong> die ihr innewohnende<br />

wechselseitige Verantwortung“,<br />

schreibt er. Diese Verortung<br />

des Menschen in einem größeren<br />

Ganzen bezieht auch Verstorbene<br />

ein <strong>und</strong> berücksichtigt die natürliche<br />

Umwelt als untrennbaren Teil<br />

der menschlichen Lebenswelt.<br />

Aber spricht der jüngere Hype<br />

um das afrikanische Konzept im<br />

internationalen Fachdiskurs tatsächlich<br />

für eine Öffnung gegenüber<br />

indigenem <strong>Wissen</strong>? Spitzer ist<br />

skeptisch, welche Botschaft durch<br />

den Wertbegriff beispielsweise bei<br />

einer Jugendamtssozialarbeiterin<br />

in Wien ankommt: „Wird damit<br />

nicht ein weiteres verklärendes<br />

Stereotyp über unseren südlichen<br />

Nachbarkontinent verbreitet?“ Der<br />

Ansatz habe zwar Potenzial für<br />

eine universale Ethik menschlichen<br />

Zusammenlebens, doch in<br />

der Sozialen Arbeit, in der sich<br />

menschliche Abgründe von Gewalt,<br />

Dehumanisierung <strong>und</strong> Exklusion<br />

auftun, auch Grenzen.<br />

Spitzers Buch gelingt es, deutlich<br />

zu machen, wie schwierig Soziale<br />

Arbeit angesichts von Armut,<br />

politischer Gewalt <strong>und</strong> Menschenrechtsverletzungen<br />

ist. Gleichzeitig<br />

begegnet man darin Menschen mit<br />

positiver Lebenseinstellung, Resilienz,<br />

großem Improvisationsvermögen<br />

<strong>und</strong> einem erstaunlichen<br />

Humor angesichts oft widriger Lebenslagen,<br />

die aus europäischer<br />

Sicht häufig aussichtslos erscheinen.<br />

In der Sozialen Arbeit, die sich<br />

auf funktionierende Bewältigungsformen<br />

von Individuen <strong>und</strong> Gemeinschaften<br />

konzentriert, kommt<br />

es nicht zuletzt genau darauf an.<br />

Helmut Spitzer<br />

„Wenn Elefanten<br />

kämpfen, leidet<br />

das Gras“<br />

Beltz-Juventa-Verlag<br />

221 Seiten; 42,50 €<br />

Jedi-Meister Yoda kann autistischen Jugendlichen helfen<br />

Neurowissenschaft. Die<br />

Faszination für das „Star<br />

Wars“-Universum soll<br />

Betroffene für Neurofeedback-Training<br />

begeistern. Dieses kann<br />

jugendlichen Autistinnen<br />

<strong>und</strong> Autisten helfen, ihre<br />

Hirnaktivität – <strong>und</strong> damit<br />

Emotionen – zu regulieren.<br />

VON CORNELIA GROBNER<br />

Gedankentraining bei Autismus. [ Neurocare Group AG, SCP-Neurofeedback mit NeuroConn Thera Prax® ]<br />

Mit der Populärkultur, ihren Filmen<br />

<strong>und</strong> Serien, Stars <strong>und</strong> Persönlichkeiten,<br />

Alltagspraktiken <strong>und</strong><br />

Modeerscheinungen ist es so eine<br />

Sache. Zum einen begeistert <strong>und</strong><br />

verbindet sie die Massen, zum anderen<br />

tummeln sich hier stereotype<br />

<strong>und</strong> klischeehafte Darstellungen.<br />

Betroffen davon sind viele<br />

marginalisierte Gruppen, darunter<br />

auch Autistinnen <strong>und</strong> Autisten.<br />

Anders als Filme wie „Rain <strong>Mai</strong>n“<br />

oder Serien wie „The Big Bang<br />

Theory“ glauben lassen, haben<br />

nicht alle Menschen im Autismus-<br />

Spektrum eine geniale Inselbegabung,<br />

die sie im Casino oder in der<br />

<strong>Wissen</strong>schaftscommunity unverzichtbar<br />

macht.<br />

Popkultur-Phänomen nutzen<br />

Das ABC Brain Lab an der Uni-Klinik<br />

für Kinder- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />

der Med-Uni Wien zeigt<br />

nun, wie man die Kraft der Populärkultur<br />

beim Vermitteln eines<br />

neuen Therapieangebots für autistische<br />

Jugendliche nutzen kann.<br />

Die Neurowissenschaftlerinnen<br />

<strong>und</strong> Neurowissenschaftler setzen<br />

auf die Faszination für „Star Wars“,<br />

jene berühmte Fantasy-Filmreihe<br />

über den Kampf zwischen Gut <strong>und</strong><br />

Böse. Sie ließen es ihre jugendlichen<br />

Probandinnen <strong>und</strong> Probanden<br />

der „Star Wars“-Figur Meister<br />

Yoda gleichtun, die Objekte mit<br />

der Kraft der Gedanken bewegen<br />

kann.<br />

Insgesamt 20 diagnostizierte<br />

Autistinnen <strong>und</strong> Autisten zwischen<br />

12 <strong>und</strong> 18 Jahren durchliefen bisher<br />

ein auf diese „Superkraft“ abgestimmtes<br />

intensives Neurofeedback-Training.<br />

„Ironie, Schmunzeln,<br />

Augenzwinkern, kurz, alles,<br />

was zwischen den Zeilen des Gesagten<br />

transportiert wird, wird nicht<br />

im herkömmlichen Sinn – oder anders<br />

– verstanden“, beschreibt Lilian<br />

Konicar, die das ABC Brain Lab<br />

seit 2017 leitet, die Herausforderung<br />

für Betroffene im Alltag.<br />

„Das schränkt die abgestimmte<br />

Kommunikation stark ein, wobei<br />

manche das wie eine schwierige<br />

Fremdsprache lernen können.“<br />

Die Symptome von Autismus können<br />

unterschiedlich ausgeprägt<br />

sein. Neue Situationen sind aber<br />

für viele schwer zu bewältigen.<br />

Willentlich das Hirn lenken<br />

Im Wiener Labor fokussiert man<br />

darauf, Verhalten, Gefühle <strong>und</strong><br />

Denken gemeinsam zu betrachten.<br />

Die Ergebnisse der vom <strong>Wissen</strong>schaftsfonds<br />

FWF geförderten Studie<br />

zur Therapie mit Neurofeedback<br />

zeigen, dass Jugendliche mit<br />

Autismus-Spektrum-Störung lernen<br />

können, das Aktivitätsniveau<br />

ihres Gehirns im präfrontalen Cortex<br />

willentlich zu verändern. Dieses<br />

Areal ist für die Regulierung<br />

von Emotionen <strong>und</strong> sozialem Verhalten<br />

mitverantwortlich.<br />

„Die meisten mögen die Idee<br />

mit der Gedankenkraft“, resümiert<br />

Konicar. Mit nur wenigen Elektroden<br />

– eine EEG-Haube kann gerade<br />

für diese Jugendlichen unangenehm<br />

sein – wurden die Gehirnströme<br />

im präfrontalen Cortex abgenommen,<br />

verstärkt <strong>und</strong> bildlich<br />

zurückgespielt. Die Jugendlichen<br />

sollten anschließend versuchen,<br />

einen Fisch auf ihrem Bildschirm<br />

gezielt nach oben oder unten<br />

schwimmen zu lassen. Die Bewegungsrichtung<br />

repräsentierte die<br />

entsprechende Aktivierung oder<br />

das Herunterregeln der Hirnaktivität<br />

im Zielareal. Daten zur Erfolgsmessung<br />

wurden auf drei Ebenen<br />

erhoben: subjektiv, physiologisch<br />

<strong>und</strong> im Verhalten.<br />

Das Projekt liefert die wissenschaftliche<br />

Evidenz, dass die Therapie<br />

mit EEG-basiertem Neurofeedback<br />

gerade für junge Autistinnen<br />

<strong>und</strong> Autisten vielversprechend<br />

ist. Extraplus: Die nicht invasive<br />

Behandlung kommt ohne Medikamente<br />

aus. „Wir geben Starthilfe,<br />

aber das Ziel ist wie bei jeder Therapie,<br />

den Input langsam auszuschleichen“,<br />

so die Forscherin.


W4 WISSEN & INNOVATION SAMSTAG, 20. MAI <strong>2023</strong><br />

TECHNIK<br />

FÜRS<br />

KLIMA<br />

Spaß am Recycling:<br />

Plastikflaschen mit<br />

Blockchain-Technik<br />

Rücklaufquote bei Plastikmüll<br />

wird spielerisch gesteigert.<br />

Müll vermeiden <strong>und</strong> Bonuspunkte<br />

sammeln – das vereint ein Projekt der<br />

Uni Klagenfurt, dessen Ergebnisse im<br />

International Journal of Production<br />

Economics publiziert wurden. Der Bonus<br />

wurde in diesem spielerischen<br />

Ansatz in Form von Tokens mit Blockchain-Technologie<br />

angespart.<br />

Das Team um Christian Wankmüller<br />

testete mit Konsumentinnen<br />

<strong>und</strong> Konsumenten, wie gut ein Ansporn<br />

zur Rückgabe von Plastikflaschen<br />

klappt, wenn jedes Produkt<br />

einen eigenen QR-Code hat, der von<br />

den Sammelmaschinen erkannt wird.<br />

Jede Form des Anreizes (Gewinnspiel,<br />

wohltätiger Zweck oder Darstellung<br />

des eigenen Recyclingerfolgs) erhöhte<br />

die Rücklaufquote der Plastikflaschen<br />

zur Wiederverwertung. (vers)<br />

Künstliches Blatt<br />

produziert E-Fuels<br />

aus Sonnenlicht<br />

Die Technik gibt Alkohole ab, die<br />

klimafre<strong>und</strong>licher Treibstoff sind.<br />

Es schaut aus wie ein Computerchip<br />

im Jausensackerl: Das künstliche Blatt<br />

kann Sonnenlicht in Energie verwandeln<br />

<strong>und</strong> wurde vom Team um Erwin<br />

Reisner im Christian-Doppler-Labor<br />

an der Uni Cambridge entwickelt.<br />

Bisherige Prototypen des grünen<br />

Blatts in wasserdichter Hülle konnten<br />

aus Licht <strong>und</strong> CO2 ein spezielles Syngas<br />

herstellen, das als sauberer Kraftstoff<br />

gilt. Nun haben die Forschenden<br />

einen Katalysator in dieser Technik<br />

adaptiert <strong>und</strong> können mit dem künstlichen<br />

Blatt E-Fuels gewinnen. In Nature<br />

Energy präsentieren sie die Herstellung<br />

eines Gemischs aus Ethanol<br />

<strong>und</strong> n-Propanol – im Labormaßstab.<br />

Diese Alkohole sind energiereiche<br />

Brennstoffe, die gut transportiert <strong>und</strong><br />

gelagert werden können. (APA/vers)<br />

Reportage. Die Niederlande<br />

haben geschafft, wonach<br />

Österreich schon lang strebt:<br />

Sie sind „<strong>Innovation</strong> Leader“.<br />

Aber wie machen sie das?<br />

Ein Besuch im vielleicht<br />

amerikanischsten Land<br />

Europas.<br />

VON ALICE SENARCLENS DE GRANCY<br />

So recht mag noch keiner der r<strong>und</strong><br />

40 Gäste aus Österreich an die Vision<br />

von der neuen Mobilität glauben. Sie<br />

stehen bei bewölktem Himmel <strong>und</strong> Wind vor<br />

einer 30 Meter langen Stahlröhre mit r<strong>und</strong><br />

drei Metern Durchmesser. Hier, bei Hardt<br />

Hyperloop in Rotterdam, wurden die ersten<br />

erfolgreichen Tests für den Spurwechsel des<br />

futuristisch anmutenden Verkehrssystems<br />

durchgeführt. Mittels Magneten soll ein autonomes<br />

Fahrzeug, das außen an einen Zug<br />

<strong>und</strong> innen an ein Flugzeug erinnert, durch<br />

den nahezu luftleeren Raum gleiten. „Theoretisch<br />

wären 1000 km/h möglich, Ziel sind<br />

aktuell 700 – das ist vergleichbar mit einem<br />

Flugzeug“, sagt die gebürtige Deutsche Julia<br />

Oomens-Meer, die seit drei Monaten dabei<br />

ist. In Tests schafft man derzeit 300 km/h.<br />

2017 entschieden 36 Studierende der TU<br />

Delft den von Milliardär Elon Musk ausgeschriebenen<br />

Wettbewerb für ein Hyperloop-<br />

System für sich. „Sie haben gewonnen, weil<br />

sie den Motor anders gebaut haben“, erzählt<br />

Oomens-Meer. Im selben Jahr gründeten<br />

vier von ihnen Hardt Hyperloop. Vergangenes<br />

Jahr übersiedelte das Unternehmen<br />

nach Rotterdam, um dort weiterzuwachsen.<br />

Mit einer Förderung der Europäischen Kommission<br />

baut es derzeit eine drei Kilometer<br />

lange Teststrecke in Groningen im Nordosten<br />

der Niederlande. Klappt alles, könnte<br />

IN ZAHLEN<br />

2,3<br />

Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts<br />

gaben die Niederlande 2021 für Forschung<br />

aus. In Österreich lag dieser Wert mit 3,2 Prozent<br />

etwas höher. Dennoch lagen die Niederlande zuletzt<br />

als „<strong>Innovation</strong> Leader“ im „European <strong>Innovation</strong><br />

Scoreboard“ vor Österreich, das mittlerweile<br />

immerhin als „Strong Innovator“ gilt.<br />

17,5<br />

Millionen Menschen leben auf einer<br />

Fläche, die halb so groß ist wie<br />

Österreich. Ohne Deiche würden zwei Drittel der<br />

Niederlande von der Nordsee verschlungen – auch<br />

Städte wie Amsterdam, Rotterdam oder Den Haag.<br />

Mit 1000 km/h in<br />

Richtung Zukunft<br />

der Hyperloop in wenigen Jahren die großen<br />

Städte der Niederlande miteinander verbinden<br />

<strong>und</strong> bis 2050 Europa abdecken, schildert<br />

Oomens-Meer. Und: Die <strong>Innovation</strong> soll helfen,<br />

ökologische Ziele zu erreichen. Unter<br />

anderem, weil in den pipeline-artigen Röhren<br />

kein Luftwiderstand zu brechen ist, soll<br />

sie ungleich weniger Energie brauchen als<br />

Autos oder Flugzeuge. Freilich, Hardt ist<br />

nicht das einzige Unternehmen, das der Hyperloop-Vision<br />

nachjagt. Doch es zeigt sich<br />

überzeugt vom eigenen Ansatz. Und auch<br />

wenn sehr viele Fragen noch offen sind, präsentiert<br />

man sich überaus selbstbewusst.<br />

Weniger reinstecken, mehr rausholen<br />

Vielleicht wäre das schon etwas, von dem<br />

man in Österreich lernen könnte. Die Institute<br />

der Austria Cooperative Research<br />

(ACR), die vor allem die Entwicklungsarbeit<br />

kleiner <strong>und</strong> mittlerer Unternehmen unterstützen,<br />

besuchen jedes Jahr im Rahmen ihrer<br />

Studienreise ein Land, um sich anzuschauen,<br />

wie es an Forschung <strong>und</strong> Entwicklung<br />

herangeht. Auch Vertreterinnen <strong>und</strong><br />

Vertreter von Fördereinrichtungen <strong>und</strong> Ministerien<br />

sind dabei. Man will sehen, wie andere<br />

ihre Strukturen gestalten, <strong>und</strong> was sich<br />

bewährt – <strong>und</strong> was nicht. Die Gretchenfrage<br />

dieser Reise ist: Was macht die Niederlande<br />

zum „<strong>Innovation</strong> Leader“, der Österreich so<br />

gern wäre? Immerhin, man ist im „European<br />

<strong>Innovation</strong> Scoreboard“ mittlerweile zum<br />

„Strong Innovator“ aufgerückt, aber was<br />

macht den Erfolg des halb so großen Landes<br />

aus, das mit r<strong>und</strong> 2,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts<br />

weniger für F&E ausgibt als<br />

Österreich mit circa 3,2 Prozent?<br />

„Ein offener Geist <strong>und</strong> Kollaboration“,<br />

sagt Michiel Sweers, der im Wirtschafts- <strong>und</strong><br />

Klimaministerium in Den Haag für Unternehmen<br />

<strong>und</strong> <strong>Innovation</strong> zuständig ist,<br />

schmunzelnd. Das sei kein Geheimnis, aber<br />

doch wichtiger Bestandteil. Es scheint also,<br />

als wären einmal mehr kulturelle Unterschiede<br />

Teil des Erfolgsrezepts eines Landes.<br />

Stolz präsentiert man etwa die „Triple Helix“:<br />

<strong>Wissen</strong>schaftseinrichtungen, Unternehmen<br />

<strong>und</strong> Regierung erarbeiteten gemeinsam<br />

die <strong>Innovation</strong>sstrategie, erzählt Sweers. Am<br />

Schluss unterschreiben alle einen Vertrag.<br />

Mit den gemeinsam festgelegten Zielen will<br />

man die Niederlande in Richtung einer<br />

nachhaltigen, widerstandsfähigen, ges<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> sicheren Gesellschaft führen.<br />

„Es wird auch bei uns viel wichtiger werden,<br />

zusammenzuarbeiten“, sagt ACR-Präsidentin<br />

Iris Filzwieser. Um sich für die Herausforderungen<br />

der Zukunft zu wappnen,<br />

müssten alle an einem Strang ziehen. Außerdem<br />

sei in den Niederlanden Unternehmertum<br />

weit positiver besetzt: Un-<br />

Ein Foto von Bambi, Klopfer <strong>und</strong> Co, aus der Luft aufgenommen<br />

Waldökologie. Mit Hightech-Methoden tragen Forschende aus Oberösterreich dazu bei, seltene Wildtierarten vor dem Aussterben zu bewahren <strong>und</strong><br />

den Erhalt der Biodiversität zu sichern. Drohnen, künstliche Intelligenz (KI) <strong>und</strong> eine spezielle Fototechnik sollen es ermöglichen.<br />

VON MICHAEL LOIBNER<br />

Wenn sie feststellen wollen, welches<br />

Getier sich im Wald tummelt, tun<br />

sich selbst erfahrene Jäger <strong>und</strong><br />

Wildbiologen schwer. Denn Rehe, Hirsche,<br />

Wildschweine oder Gämsen sind scheue<br />

Tiere. Sie sind flink <strong>und</strong> Meister im Tarnen.<br />

David Schedl vom Campus Hagenberg der<br />

Fachhochschule Oberösterreich will sich<br />

nun mit neuester Technologie auf die Spuren<br />

von Bambi <strong>und</strong> Co. heften. Drohnen<br />

kreisen in etwa 50 Metern Höhe über den<br />

Baumwipfeln <strong>und</strong> fotografieren, was sich am<br />

Boden, im Gestrüpp oder auf den Lichtungen<br />

so abspielt. Hört sich relativ einfach an,<br />

hat aber seine Tücken.<br />

„Zum einen können herkömmliche Kameras<br />

von oben nicht durch die Vegetation<br />

hindurchsehen“, gibt der Experte für Visual<br />

Computing zu bedenken. „Zum anderen<br />

wäre es selbst damit nicht so einfach, festzustellen,<br />

wie viele Exemplare von welcher<br />

Tierart in einem bestimmten Waldgebiet leben.“<br />

Genau das aber gilt es herauszufinden,<br />

um einerseits seltene Tiere wie den Luchs<br />

<strong>und</strong> andererseits Überpopulationen anderer<br />

Arten zu erkennen <strong>und</strong> entsprechende Maßnahmen<br />

zu ergreifen. Sie sollen helfen, das<br />

ökologische Gleichgewicht zu bewahren<br />

<strong>und</strong> die Biodiversität sicherzustellen. Was<br />

bisher die Forstexperten in detektivischer<br />

Kleinarbeit mithilfe von Fotofallen oder anhand<br />

von Verbissspuren zu bewerkstelligen<br />

versuchten, soll nun „Inspektor KI“ weniger<br />

aufwendig <strong>und</strong> vor allem präziser erledigen.<br />

Klarer Blick durch das Gestrüpp<br />

„Um das Zählen der Tiere zu ermöglichen,<br />

sind die Drohnen mit Wärmebild- <strong>und</strong> mit<br />

Farbkameras bestückt“, erklärt Schedl. „Die<br />

Wärmebildkameras spüren die Tiere anhand<br />

von deren Körperwärme auf <strong>und</strong> fertigen<br />

Infrarotaufnahmen an. Ergänzt werden<br />

IN ZAHLEN<br />

1<br />

Million<br />

Rehe gibt es schätzungsweise in<br />

Österreich.<br />

1/2<br />

Million Wildtiere wurden im Vorjahr von<br />

österreichischen Jägern erlegt. Mehr als<br />

die Hälfte davon waren Rehe, dazu kamen 93.000<br />

Hasen, 68.000 Füchse <strong>und</strong> 54.000 Hirsche. In der<br />

Jagdstatistik scheinen auch 20 Waschbären auf.<br />

30.000<br />

Wildschweine leben derzeit<br />

allein im Burgenland. Vor 15<br />

Jahren gab es in ganz Österreich nur 10.000. Damit<br />

sind sie die Wildtiere mit dem schnellsten Zuwachs.<br />

diese Fotos von der Lichtfeldtechnologie,<br />

die im Rahmen dieses Projekts erstmals bei<br />

der Wildtierzählung zum Einsatz kommt.“<br />

Diese Technologie beruht darauf, dass die<br />

handelsüblichen Drohnen während des<br />

Überflugs zahlreiche Fotos aus unterschiedlichen<br />

Winkeln erstellen. „Verknüpft man<br />

diese Aufnahmen mit den jeweiligen Positionsdaten<br />

der Drohne <strong>und</strong> mit den über Laserscanning<br />

erfassten Terrain-Daten über<br />

die Gegebenheiten des Geländes, dann entstehen<br />

synthetische, berechnete Bilder, die<br />

es erlauben, die Baumkronen weitgehend<br />

auszufiltern <strong>und</strong> unter die Äste <strong>und</strong> Blätter<br />

zu schauen“, sagt Schedl.<br />

Mit diesen Bildern macht sich dann die<br />

künstliche Intelligenz an die Arbeit: Sie soll<br />

die Tiere identifizieren <strong>und</strong> deren Anzahl im<br />

Wald berechnen. Dafür freilich muss sie Hirsche,<br />

Wildschweine <strong>und</strong> Gämsen voneinander<br />

unterscheiden können. Die findigen<br />

Forschenden behalfen sich mit einem Trick:<br />

Sie ließen die Drohnen – natürlich mit Einverständnis<br />

der Verantwortlichen – über<br />

ausgewählte Tierparks mit naturnah strukturierten<br />

Gehegen schweben <strong>und</strong> die dort lebenden<br />

Wildtiere ablichten. Knapp 70 Flugst<strong>und</strong>en<br />

haben die Drohnen bisher absolviert,<br />

teilweise auch über einem Waldstück<br />

in der Nähe des FH-Geländes – stets mit Bedachtnahme<br />

darauf, die Tiere möglichst<br />

nicht zu stören. „Derzeit sind wir in unserem<br />

Projekt, das von der Forschungsförderungsgesellschaft<br />

FFG unterstützt wird, dabei,<br />

diese Fotos der KI vorzulegen <strong>und</strong> sie zu<br />

trainieren. Dahinter steht ein selbstlernender<br />

Algorithmus. In der Praxis wird sich<br />

dann herausstellen, wie zuverlässig die Klassifizierung<br />

funktioniert“, sagt Schedl.<br />

Software übernimmt die Auswertung<br />

Wenn das Projekt in Zusammenarbeit mit<br />

dem Büro für Wildökologie <strong>und</strong> Forstwirtschaft,<br />

mit dem Dienstleister Umweltdata<br />

<strong>und</strong> mit dem Drohnenspezialisten View-<br />

Copter in zwei Jahren zu Ende geht, hofft<br />

Schedl den Prototyp einer Software vorzulegen,<br />

die auch die statistische Auswertung<br />

der Daten schafft. „Die Daten sowie die Ergebnisse<br />

sollen veröffentlicht <strong>und</strong> anderen<br />

Expertinnen <strong>und</strong> Experten für wissenschaftliche<br />

Zwecke zur Verfügung gestellt werden“.<br />

Schedl weiß, dass der Kampf gegen<br />

den drohenden Verlust der Biodiversität,<br />

u. a. eine Folge des Klimawandels, der gemeinsamen<br />

Anstrengungen vieler Forschungsrichtungen<br />

bedarf. Erweist sich das<br />

System für Wildtiere als tauglich, sollen später<br />

auch andere im Wald lebende Arten aufgespürt<br />

<strong>und</strong> dokumentiert werden.


SAMSTAG, 20. MAI <strong>2023</strong> WISSEN & INNOVATION W5<br />

UMWELT<br />

NEWS<br />

So könnte es aussehen, wenn der<br />

Hyperloop durch die flache Landschaft<br />

des Nordens flitzt. [ Hardt Hyperloop ]<br />

ternehmerinnen <strong>und</strong> Unternehmer seien<br />

hoch angesehen <strong>und</strong> würden nicht an den<br />

Pranger gestellt wie in Österreich, berichtet<br />

der österreichische Wirtschaftsdelegierte,<br />

Michael Spalek. Überdies sei man hier viel<br />

risikofreudiger: „Die Niederländer gehen<br />

mit einem zu 70 Prozent fertigen Produkt in<br />

den Markt <strong>und</strong> passen es dann an. Bei uns<br />

macht man das erst, wenn es fast fertig ist.“<br />

Das schlägt sich auch in der Zahl der Unternehmensgründungen<br />

nieder. Während in<br />

den Niederlanden auf eine Million Menschen<br />

1800 Start-ups kommen, sind es in<br />

Österreich gerade einmal 600. Man traut<br />

sich einfach. Trial and Fail (Versuch <strong>und</strong> Irrtum,<br />

engl., Anm.) gehörten dazu, so Spalek.<br />

Die Niederlande seien damit das „amerikanischste<br />

Land in Europa“.<br />

Künstlicher Hai soll Plastik fressen<br />

Ähnliches lässt sich auch im RDM <strong>Innovation</strong><br />

Dock Rotterdam beobachten. Mehr als<br />

60 Unternehmen, aber auch Schülerinnen<br />

<strong>und</strong> Schüler sowie Studierende haben sich<br />

in der ehemaligen U-Boot-Werft am Südufer<br />

der Maas angesiedelt. Sie tüfteln in riesigen<br />

Hallen an der Umsetzung ihrer Ideen, testen<br />

Entwicklungen wie einen plastikfressenden<br />

künstlichen Hai oder neue Recyclingkonzepte<br />

– <strong>und</strong> tauschen sich aus. Eine Unternehmensgründung<br />

wird so früh zur Option.<br />

Auch Hardt prüft hier Maschinenteile. Drei<br />

junge Ingenieure wachen vor mehreren Monitoren<br />

über die Tests. Frauen sieht man in<br />

diesen von Technik geprägten Räumen<br />

KLIMA<br />

IM<br />

WANDEL<br />

kaum – eine Parallele zu Österreich, die freilich<br />

niemanden freut.<br />

Eine weitere Station ist das Building <strong>Innovation</strong><br />

Lab der niederländischen Organisation<br />

für angewandte Forschung TNO. Die<br />

Gruppe aus Österreich besichtigt riesige Klimakammern,<br />

in denen Wärmepumpen getestet<br />

werden. Sie müssen selbst bei der extremen<br />

Feuchtigkeit funktionieren, die in<br />

den Niederlanden herrscht. Auch Asphalt<br />

soll sich unter speziellen Bedingungen bewähren<br />

– r<strong>und</strong> ein Drittel des Landes liegt<br />

unter dem Meeresspiegel. Das Wasser wölbt<br />

den Straßenbelag von unten auf, bis er<br />

bricht. Im Labor bei TNO forscht man an<br />

biobasierten Alternativen: Lignin, wie es in<br />

Pflanzen vorkommt, soll Erdöl ersetzen. Die<br />

Bedrohung durch den Klimawandel schürt<br />

den Ehrgeiz. In einer weiteren Versuchshalle<br />

testen Forschende Materialien: für nachhaltig<br />

gebaute Häuser, aber auch für emissionsfreie<br />

Schiffe, die minus 253 Grad kalten Wasserstoff<br />

in ihren Tanks transportieren sollen.<br />

Labors <strong>und</strong> Ausstattung beeindrucken,<br />

die Schwerpunkte tun es weniger. Fast ein<br />

wenig beruhigt stellen die Gäste aus Österreich<br />

fest, wie gut man mit dem eigenen<br />

Know-how, etwa in Klimatechnik oder Holzforschung,<br />

liegt. Visitkarten werden ausgetauscht,<br />

eventuell gibt es für die Niederlande<br />

auch etwas von Österreich zu lernen. Kooperationen<br />

bestehen ohnehin bereits. Die<br />

Institute der ACR arbeiten mit niederländischen<br />

Einrichtungen u. a. beim Kunststoffreycling<br />

oder bei der Entwicklung von Wärmespeichersystemen<br />

zusammen.<br />

Die „Silos“ sollen miteinander tanzen<br />

Das Resümee? Was die Niederlande voranbringt,<br />

sei der dort verankerte große Pragmatismus,<br />

sagt Henriette Spyra, Sektionschefin<br />

für <strong>Innovation</strong> <strong>und</strong> Technologie im<br />

österreichischen Klimaschutzministerium.<br />

Wer eine coole Erfindung gemacht habe <strong>und</strong><br />

damit auf den Markt geht, müsse etwa nicht<br />

auch der CEO sein oder derjenige, der es<br />

vermarktet. Der Technologietransfer von<br />

TNO hilft, jemanden zu finden. „Bei uns ist<br />

der Druck groß, alles selbst können zu müssen<br />

– aber wer kann schon alles?“, gibt sie zu<br />

bedenken. Hindert sich Österreich durch<br />

Schrebergartendenken mitunter selbst am<br />

Erfolg? „Wir schaffen unsere Klimaziele<br />

nicht aus ,Silos‘ hinaus. Wir müssen sie zum<br />

Tanzen bringen, nicht aufbrechen. Tiefgehende<br />

Expertise ist sehr wichtig, aber sie<br />

muss gut miteinander kombiniert werden.“<br />

Zumindest in diesem Kreis scheint man<br />

sich einig. „Die beste Forschung hilft nichts,<br />

wenn sie nicht auf dem Markt ankommt“,<br />

sagt ACR-Präsidentin Filzwieser. Zwischendurch<br />

wird noch debattiert, ob der Hyperloop,<br />

wenn er denn kommt, überhaupt in<br />

Österreich halten würde. Wie auch immer:<br />

Für die Strecke von Graz nach Wien würde<br />

er 22 Minuten brauchen.<br />

Compliance-Hinweis:<br />

Die Reise in die Niederlande wurde von Austrian<br />

Cooperative Research (ACR) finanziert.<br />

Schmatz! Pandas sind bei<br />

Bambus wählerisch<br />

Der Tiergarten Schönbrunn bezieht<br />

das Futter für die Pandas aus dem<br />

Burgenland <strong>und</strong> aus Südfrankreich.<br />

Ein Team in China testete im Schutzzentrum<br />

Dujiangyan, welche Sorten<br />

Bambus die Tiere bevorzugen (Nature<br />

Scientific Reports). Unter den 14 Probanden<br />

war ein 2013 in Schönbrunn<br />

geborenes Männchen. Die Pandas<br />

fressen lieber frische Blätter <strong>und</strong> Stängel<br />

(kurze Transportwege) von sonniger<br />

Hanglage. Das <strong>Wissen</strong> hilft, die<br />

Futtersuche beim Großen Panda zu<br />

verstehen <strong>und</strong> bei Tieren in Haltung<br />

für artgerechte Ernährung zu sorgen.<br />

Flott! Genom von Gepard<br />

genau entschlüsselt<br />

Der Gepard ist mit 105 km/h Spitzengeschwindigkeit<br />

das schnellste Landtier.<br />

Ein Team um Sven Winter vom<br />

Wildtierinstitut der Vet-Med-Uni<br />

Wien hat nun Referenzgenome dieses<br />

gefährdeten Raubtiers im Journal of<br />

Heredity veröffentlicht. Solche Vergleichswerte<br />

sind für den Schutz bedrohter<br />

Arten notwendig <strong>und</strong> machen<br />

evolutionäre Anpassungen sowie den<br />

Inzuchtstatus der Tiere sichtbar. Das<br />

internationale Team setzte die DNA-<br />

Daten auf Chromosomenebene zusammen<br />

<strong>und</strong> lieferte auch Infos zu<br />

langen DNA-Molekülen. Der Gepard<br />

Acinonyx jubatus kommt (mit drei<br />

Unterarten) in ganz Afrika, auf der<br />

Arabischen Halbinsel <strong>und</strong> im Südwesten<br />

Asiens vor.<br />

Klick! Graz Europameister<br />

bei Artendokumentation<br />

Bei der „City Nature Challenge“ konnten<br />

vier Tage lang alle Leute bei der<br />

Dokumentation von Artenvielfalt mitmachen.<br />

Jetzt liegen die Auswertungen<br />

vor: Graz hat wie voriges Jahr den<br />

Platz eins in Europa erreicht. Über<br />

33.300 Tier-, Pflanzen- oder Pilzfotos<br />

wurden im Umkreis von Graz in die<br />

Bestimmungsapp hochgeladen. Diese<br />

gehörten zu über 3700 Arten, das ist<br />

weltweit Platz fünf (es machten 482<br />

Städte mit). Österreichweit wurden<br />

80.000 Beobachtungen verzeichnet.<br />

Die 960 Interessierten dokumentierten<br />

damit 4800 Arten. Unter den Neuentdeckungen<br />

war diesmal die Raubwanze<br />

Zelus renardii (erstmals in Österreich<br />

dokumentiert).<br />

Mahlzeit: Regionale Algenproduktion bringt Farbe auf den Tisch<br />

Lebensmittelwissenschaft. Ein zweijähriges Projekt bestätigt, dass alltägliche Speisen mit Algen als Zutat gut akzeptiert werden. Wenn die Sensorik<br />

mit Aspekten wie Geschmack <strong>und</strong> Optik passt, steht dem Verkauf von Algen-Burgern, Knödeln, Müsli <strong>und</strong> Aufstrichen in Österreich nichts im Wege.<br />

VON VERONIKA SCHMIDT<br />

Spinatknödel haben sehr gut funktioniert<br />

bei der Verkostung der Lebensmittel<br />

mit Algen. Denn Speisen, die von<br />

Haus aus grün sind, kommen bei den Konsumentinnen<br />

<strong>und</strong> Konsumenten gut an mit<br />

den Algen als Zutat. Wenn man aber bestimmte<br />

Nahrungsmittel in anderen Farben<br />

gewohnt ist, gibt es eine kleine Hürde bei<br />

der Verkostung: Der grüne Burger wird vom<br />

Optischen her eher abgelehnt. „Aber nach<br />

dem Kosten merkt man: Das ist ja wirklich<br />

gut“, sagt Gernot Zweytick von der Fachhochschule<br />

Wiener Neustadt.<br />

Er leitet am Campus Wieselburg in Niederösterreich<br />

den Studiengang „Lebensmittelproduktentwicklung<br />

<strong>und</strong> Ressourcenmanagement“<br />

<strong>und</strong> Teile des Projekts „Algae4Food“,<br />

das von der Forschungsförderungsgesellschaft<br />

FFG finanziert wurde.<br />

„Ich habe alle Produkte gekostet, <strong>und</strong> mir<br />

hat alles geschmeckt“, sagt Zweytick überzeugt.<br />

Knödel <strong>und</strong> Teigtaschen mit Algen<br />

statt Spinat, grüner Brotaufstrich, grünliche<br />

Weckerln oder Frühstück-Cerealien, die<br />

dann grün werden, wenn man die Milch<br />

dazugießt.<br />

Die Palette der Lebensmittel, die das<br />

große Team in „Algae4Food“ entwickelte,<br />

war breit. Auch die Partner für diese angewandte<br />

Forschung waren vielfältig aufgestellt:<br />

Geleitet vom Kompetenzzentrum Best<br />

(Bioenergy and Sustainable Technologies)<br />

waren Forschende der Boku Wien <strong>und</strong> Lebensmittel-Unternehmen<br />

dabei, die sich um<br />

umweltschonende <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitsfördernde<br />

Ideen für ihre Produkte kümmern.<br />

„Bisher werden die meisten Produkte<br />

auf Algenbasis in Asien produziert“, sagt<br />

Zweytick. Das Ziel des Konsortiums war, auf<br />

diese langen Lieferwege zu verzichten <strong>und</strong><br />

Algen-Nahrungsmittel aus heimischer, regionaler<br />

Produktion zu bekommen. Das<br />

Unternehmen Rohkraft Green zwischen<br />

Wien <strong>und</strong> St. Pölten liefert genau das, was<br />

hier gesucht wurde: Spirulina-Algen, die für<br />

unterschiedlichste Lebensmittel geeignet<br />

sind.<br />

Es schmeckt nach Eiklar oder Gemüse<br />

Diese essbaren Algen gelten auch als Superfood,<br />

weil sie positive ges<strong>und</strong>heitliche Eigenschaften<br />

haben. „Eine Annahme war,<br />

dass die Algen einen fischigen Geschmack<br />

haben. Doch das bestätigt sich hier überhaupt<br />

nicht. Die Assoziationen der Verkostung<br />

gingen eher in Richtung Ei, Eiklar oder<br />

Das Burger-Weckerl<br />

enthält außer Mehl<br />

<strong>und</strong> Wasser auch<br />

Spirulina-Algen.<br />

Bei Verkostungen<br />

schnitt es gut ab.<br />

[ FHWN ]<br />

zu grünem Gemüse“, sagt Zweytick. Die<br />

Teams der Forschungseinrichtungen tüftelten<br />

an der Trocknung <strong>und</strong> Haltbarkeit der<br />

Rohmasse sowie an der Entwicklung neuer<br />

Produkte. „Die Herstellung des Burger-Buns<br />

war eine Herausforderung, weil sich auch<br />

die Porenstruktur <strong>und</strong> Luftigkeit ändern“,<br />

erzählt der Lebensmitteltechnologe. Im<br />

Endeffekt hat es geklappt, dass das ein bisschen<br />

grünliche Algen-Weckerl gut gelingt.<br />

Die Akzeptanz für Spirulina-Produkte ist<br />

in Österreich hoch, bestätigt die Studie: vor<br />

allem, wenn die erste Skepsis aufgr<strong>und</strong> der<br />

ungewohnten Farbe überw<strong>und</strong>en wurde.<br />

LEXIKON<br />

Spirulina heißen die spiralförmigen Mikroalgen, die<br />

im FFG-Projekt „Algae4Food“ als Lebensmittelzusatz<br />

verwendet wurden.<br />

Botanisch gesehen zählen Spirulina zu den Cyanobakterien,<br />

die auch als Blaualgen oder blau-grüne<br />

Algen bekannt sind.<br />

Im Gewässer kommen solche Algen, die eigentlich<br />

Bakterien sind, natürlich vor. Sie betreiben Fotosynthese<br />

<strong>und</strong> sind Teil des Phytoplanktons<br />

(pflanzliches Plankton). Cyanobakterien färben das<br />

Wasser grünlich, wenn sie in großer Zahl auftreten.


W6 WISSEN & INNOVATION SAMSTAG, 20. MAI <strong>2023</strong><br />

WISSENSWOCHE<br />

Ein Fre<strong>und</strong>, ein guter Fre<strong>und</strong>:<br />

Der Science Talk in Wien<br />

Fre<strong>und</strong>schaft bedeutet für jede <strong>und</strong> jeden<br />

etwas anders. Der Science Talk am<br />

Montag, 22. 5. um 19 Uhr beleuchtet<br />

Fre<strong>und</strong>schaft aus der Sicht von Germanistik,<br />

Philosophie <strong>und</strong> Soziologie (Aula<br />

der <strong>Wissen</strong>schaften, Wollzeile 27a, 1010<br />

Wien; Eintritt frei). Unter dem Titel „Wozu<br />

sind Fre<strong>und</strong>e/Fre<strong>und</strong>innen da?“ sprechen<br />

Donata Romizi <strong>und</strong> Karin Wozonig<br />

(Uni Wien) <strong>und</strong> Frank Welz (Innsbruck).<br />

Live im Stream: www.science-talk.at<br />

Ein Bier, ein Cola, ein Saft:<br />

Pint of Science in vier Städten<br />

<strong>Wissen</strong>schaft <strong>und</strong> Wirtshaus bringt das<br />

Festival Pint of Science zusammen. In<br />

Graz, Salzburg, Innsbruck <strong>und</strong> Wien setzen<br />

sich Forschende direkt ins Beisl ums<br />

Eck, erzählen aus ihrer Arbeit <strong>und</strong> freuen<br />

sich auf Dialoge mit Interessierten. Von<br />

Montag, 22. 5. bis Mittwoch, 24. 5. gibt es<br />

Vorträge, Workshops oder gemütliches<br />

Zusammenkommen bei freiem Eintritt.<br />

Das ganze Programm: https://pintofscience.at<br />

Ein Glas, ein Krug, ein Bach:<br />

„Wasser teilen“ im Museum<br />

Die Künstlerin Regina Hügli (Neptun<br />

Staatspreis für Wasser) hat das große<br />

Event „Wasser teilen“ initiiert. Im <strong>und</strong><br />

um das Volksk<strong>und</strong>emuseum Wien wird<br />

der Donnerstag, 25. 5. dem Thema Wasser<br />

gewidmet: Mitmachstationen im Museum,<br />

ein Wasser-Spaziergang durch die<br />

Josefstadt, Experimente im Schönbornpark<br />

<strong>und</strong> Wasserverkostung im Museumsgarten<br />

(Laudongasse 15–19, 1080<br />

Wien) sind nur einige der Highlights.<br />

Infos: www.volksk<strong>und</strong>emuseum.at/wasserteilen<br />

BUCHTIPP<br />

Über die bösen Geister im<br />

europäischen Mittelalter<br />

Die Existenz des Bösen in der Welt sei<br />

zwar eine allgemeinmenschliche Erfahrung,<br />

kirchliche Schriften der Gegenwart<br />

würden Dämonen <strong>und</strong> den Teufel allerdings<br />

ängstlich meiden, konstatiert Rudolf<br />

Simek. Der gebürtige Österreicher ist<br />

Professor für Ältere Germanistik an der<br />

Uni Bonn <strong>und</strong> widmet sich in seinem<br />

Buch einer Welt, in der noch jedermann<br />

von der dämonischen Präsenz mitten<br />

unter den Menschen völlig überzeugt<br />

war. Lebendig wird diese Welt durch Illustrationen<br />

<strong>und</strong> Zitate.<br />

So entführt der Mediävist seine Leserschaft<br />

effektvoll in die Geistes- <strong>und</strong><br />

Mentalitätsgeschichte des Mittelalters,<br />

die wir vielleicht weit weg fantasieren,<br />

aber dessen Ende kaum viel mehr als<br />

15 Generationen zurückliegt. Und deren<br />

Vorstellungen, betont Simek, „uns oft näherstehen,<br />

als wir glauben wollen“. (cog)<br />

Rudolf Simek<br />

„Dämonen, Teufel,<br />

Hexenglaube“<br />

Böhlau-Verlag<br />

329 Seiten<br />

42 Euro<br />

Andreas Stollwitzer baut Brückenabschnitte auf dem Versuchsgelände der TU Wien nach <strong>und</strong> versetzt sie in Schwingung. [ Clemens Fabry ]<br />

„Schwingt wie eine Gitarrensaite“<br />

Der Bautechniker Andreas Stollwitzer analysiert das Dämpfungsverhalten von Zugbrücken<br />

für Hochgeschwindigkeitsstrecken. Im Vordergr<strong>und</strong> steht die Sicherheit der Tragwerke.<br />

VON WOLFGANG DORNER<br />

Über sieben Brücken musst Du geh’n<br />

– so lautet der Refrain des gleichnamigen<br />

Lieds aus den Achtzigern.<br />

Sitzt man in einem Railjet der ÖBB, der mit<br />

einer Höchstgeschwindigkeit von mehr als<br />

200 St<strong>und</strong>enkilometern die Westbahnstrecke<br />

entlangfährt, passiert man sage <strong>und</strong><br />

schreibe 300 Brücken. Die Reisenden merken<br />

kaum etwas davon, weil die Bauwerke<br />

einerseits in den Gleisanlagen gut integriert<br />

<strong>und</strong> anderseits ausreichend dimensioniert<br />

sind. So dringen keine Stöße oder Schwingungen<br />

bis zu den Fahrgästen durch.<br />

Die früheren Höchstgeschwindigkeiten<br />

lagen bei 120 km/h. Damit die EU ihre Klimaziele<br />

erreicht, hat sie sich unter anderem<br />

auf die Fahnen geheftet, das Hochgeschwindigkeitsnetz<br />

bis 2030 zu verdreifachen. Deshalb<br />

gehören die bestehenden Eisenbahnbrücken<br />

überprüft, ob sie diesen Geschwindigkeiten<br />

standhalten.<br />

Der Schotteroberbau im Visier<br />

„Der Kern meiner Dissertation war jener,<br />

dass ich den Dämpfungsbeitrag des Schotteroberbaus<br />

auf Basis von Versuchen quantifiziert<br />

<strong>und</strong> in einen einfachen Rechenansatz<br />

integriert habe“, sagt Andreas Stollwitzer,<br />

Bauingenieur <strong>und</strong> Universitätsassistent<br />

am Institut für Tragkonstruktionen der TU<br />

Wien. Der Schotteroberbau bestehe aus<br />

Schienen, Schwellen <strong>und</strong> einem 55 Zentimeter<br />

hohen Schotterbett. Welche Dämpfungscharakteristik<br />

der Schotteroberbau<br />

habe <strong>und</strong> wie man diese am besten in Rechenmodelle<br />

implementiert, sei noch die<br />

große Unbekannte.<br />

Ein Ziel der Forschungsarbeit des<br />

32-Jährigen ist es nun, einen effizienten Mittelweg<br />

zwischen einfachen <strong>und</strong> komplexen<br />

Rechenmodellen zu finden, um künftig<br />

langwierige Berechnungen <strong>und</strong> kostenintensive<br />

Messungen an der Brücke einzusparen.<br />

Es gehe auch darum, die in der praktischen<br />

Brückendynamik bestehende Diskrepanz<br />

zwischen Berechnung <strong>und</strong> Messung zu<br />

schließen, so Stollwitzer.<br />

Für die Erkenntnisse seiner wissenschaftlichen<br />

Arbeit erhielt der Forscher bereits<br />

mehrere Preise <strong>und</strong> Auszeichnungen.<br />

2021 bekam er den Award of Excellence, den<br />

Staatspreis für die besten Dissertationen<br />

JUNGE FORSCHUNG<br />

Das Ziel wäre, dass meine<br />

Erkenntnisse in Normen <strong>und</strong><br />

Regelwerke übernommen<br />

werden, aber das wird noch<br />

etwas dauern.<br />

vom <strong>Wissen</strong>schaftsministerium <strong>und</strong> im November<br />

2022 den von der Boku Wien ausgeschrieben<br />

VCE – <strong>Innovation</strong>spreis für Exzellenzforschung<br />

im Ingenieurbau. Schon seine<br />

Diplomarbeit beschäftigte sich mit dem<br />

Thema, sie wurde 2018 mit dem FSV-Preis<br />

der Forschungsgesellschaft Straße-Schiene-<br />

Verkehr ausgezeichnet.<br />

Ein großer Teil von Stollwitzers Arbeit<br />

besteht darin, dass er auf Basis von Versuchen<br />

die Dämpfungseigenschaften des<br />

Schotteroberbaus bestimmt. In der Forschungspraxis<br />

wird dazu ein Brückenabschnitt<br />

im Maßstab 1:1 auf dem Versuchsgelände<br />

der TU Wien – in St. Marx im dritten<br />

Bezirk – nachgebaut <strong>und</strong> in Schwingung versetzt.<br />

Auf Basis dieser Versuche können realitätsnahe<br />

Modelle abgeleitet werden, um<br />

die Biegelinie einer Brücke zu berechnen.<br />

„Man muss sich die Biegelinie einer Brücke<br />

wie das Schwingen einer Gitarrensaite vorstellen.<br />

Je präziser wir diese Kennlinie für<br />

eine Brücke berechnen können, desto genauere<br />

Rückschlüsse können wir ziehen, ob<br />

eine Brücke für den Hochgeschwindigkeitsbetrieb<br />

zulässig ist.“ Mittelfristig werden Ingenieurbüros<br />

die Ergebnisse von Stollwitzers<br />

wissenschaftlicher Arbeit für den Eisenbahnbrückenbau<br />

<strong>und</strong> für das Überprüfen<br />

bestehender Brücken heranziehen. Idealerweise<br />

würden seine Erkenntnisse freilich<br />

gleich in Normen <strong>und</strong> Regelwerke übernommen:<br />

„Aber das wird noch etwas dauern.“<br />

Vom Lego-Spiel zur Bautechnik<br />

Alles, was mit Bautechnik zu tun hatte, interessierte<br />

den Kärntner seit frühester Jugend,<br />

der mit einem Schmunzeln auf sein Spiel<br />

mit Lego-Bausteinen verweist. Eine HTL für<br />

Bautechnik in Villach war deshalb die logische<br />

Konsequenz – <strong>und</strong> schließlich auch Beginn<br />

seiner bautechnischen Forscherkarriere.<br />

Stollwitzer ist glücklich darüber, dass er<br />

seine Arbeit als <strong>Wissen</strong>schaftler im Rahmen<br />

einer Laufbahnstelle an der TU Wien fortsetzen<br />

kann. In seiner Freizeit spielt er Fußball<br />

oder hält sich mit dem Boden- <strong>und</strong> Geräteturnen<br />

fit.<br />

ZUR PERSON<br />

Andreas Stollwitzer (32) wurde in Villach geboren<br />

<strong>und</strong> hat an der TU Wien Bauingenieurwesen<br />

studiert. Für seine 2021 abgeschlossene<br />

Dissertation erhielt er den Award of Excellence des<br />

<strong>Wissen</strong>schaftsministeriums <strong>und</strong> 2022 den VCE-<br />

<strong>Innovation</strong>spreis für Exzellenzforschung im<br />

Ingenieurbau. Er forscht am Institut für Tragkonstruktionen<br />

der TU Wien.<br />

Alle Beiträge unter: diepresse.com/jungeforschung<br />

IMPRESSUM: WISSEN & INNOVATION<br />

„<strong>Wissen</strong> & <strong>Innovation</strong>“ wird von der „Presse“-Redaktion in völliger Unabhängigkeit inhaltlich gestaltet <strong>und</strong> erscheint mit finanzieller Unterstützung 0 Redaktion: Mag. Alice Senarclens de Grancy, MSc (Leitung),<br />

Dr. Cornelia Grobner, Dr. Veronika Schmidt 0 wissen@diepresse.com

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