14.04.2013 Views

IN MEMORIAM JOSÉ SARAMAGO - Alia Vox

IN MEMORIAM JOSÉ SARAMAGO - Alia Vox

IN MEMORIAM JOSÉ SARAMAGO - Alia Vox

SHOW MORE
SHOW LESS

You also want an ePaper? Increase the reach of your titles

YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.

Worte des Propheten vergessen: „Ich, der Herr, gelange in das Innerste des Menschen, prüfe<br />

sein Herz und gebe Jedem, was ihm gebührt“? Jedenfalls bin ich Diener meines<br />

Versprechens, dieser Mann wird mit mir kommen, vor deinem Tor erscheinen, und du, Gott,<br />

Vater, Herr, wenn du mich empfangen möchtest, wirst auch ihn empfangen müssen, denn ich<br />

werde nicht allein eintreten. Ehre das Versprechen, das ich geleistet, da du mich mit dieser<br />

Qual entehrt hast.<br />

DRITTES WORT<br />

Gott, Vater, Herr, als du die Sprache der Menschen verwirrtest, um den Hochmut derer zu<br />

strafen, die jenen Turm bauten, der bis zum Himmel reichen sollte, hast du vielleicht nicht<br />

alle Folgen dieser Tat in Erwägung gezogen, zu der dich die gleiche Wut wie die des Herrn<br />

des Weinberges bewog, als er die Bösewichte entdeckte, die ihn ausrauben wollten. Vielleicht<br />

ist dieser anscheinend unangemessene Gedanke eine Folge des Wahns, der Angst und der<br />

schrecklichen Schmerzen, die mich peinigen, doch zu dieser letzten Stunde meines Daseins<br />

auf Erden wäre es ungut, dass sich Vater und Sohn Dinge verschweigen. Diese Frau, die du<br />

dort siehst, zwischen Johannes und Maria Magdalena, ist meine Mutter, das weißt du wohl am<br />

besten. Während all dieser Jahre habe ich nicht bemerkt, dass du dich jemals um sie gesorgt<br />

hättest, doch möchte ich nicht darüber mit dir sprechen. Meine Gedanken liegen woanders.<br />

Als du die Sprache der Menschen verwirrtest, gab es Worte, die verloren gingen, andere<br />

nahmen einen falschen Weg und andere wiederum gehörten nicht mehr ihren ehedem<br />

rechtmäßigen Herren. Es gab eine Zeit, vielleicht im goldenen Zeitalter, als die Sprache<br />

gesprochen wurde, die du verwirrtest, in der die Frauen genau so gerecht und fromm wie die<br />

Männer sein konnten, doch es nicht mehr waren, als ich auf die Welt kam, denn im<br />

Hebräischen beispielsweise gibt es keine weibliche Form für gerecht und fromm. Wurde ich<br />

doch unweigerlich aus einer Frau geboren, wie kann es denn sein, Gott, Vater, Herr, dass du<br />

nicht bemerkt hast, dass sie meiner Zeugung nicht würdig war, da sie weder fromm noch<br />

gerecht ist? Ich bitte dich um eine Erklärung, wenn wir einander begegnen.<br />

Ich sehe keinen meiner Brüder. Und dieser Johannes, ich weiß nicht mehr, ob er mein Jünger,<br />

ob er der Sohn des Zebedäus ist, der den selben Namen trägt. Wie dem auch sei, ich werde die<br />

Worte sprechen, die von mir erwartet werden: „Frau, siehe, das ist dein Sohn! Johannes,<br />

siehe, das ist deine Mutter!“ Hoffentlich kommen sie gut miteinander aus.<br />

VIERTES WORT<br />

Gott, Vater, Herr, die Worte drängen sich in meinem Kopf, und ich weiß nicht einmal, ob sie<br />

von mir entstammen oder ich sie woanders gelesen oder gehört habe und sie jetzt wie ein<br />

Kind, dass mühsam sprechen lernt, einfach mechanisch wiederhole. Wenigstens habe ich die<br />

Gewissheit, dass die Worte, die ich nun sprechen werde, nicht bloß von meinem Mund zu<br />

hören sein werden, damit morgen verkündet werden kann, dass die Schriften wieder einmal<br />

erfüllt wurden. Höre sie und sage, ob ich Recht habe: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du<br />

mich verlassen?“ Wer mich hört, wird glauben, dass es das erste Mal ist, dass du jemanden<br />

verlässt und es daher rechtens sei, dass diese Frage gleich einer Warnung an die Menschen<br />

von diesem Kreuze hoch in alle Himmelsrichtungen gestellt wird. Denn du, Gott, Vater, Herr,<br />

hast seit dem Anfang der Welt nichts Anderes getan als uns zu verlassen. Denke an Jene, die<br />

du wegen eines Apfels und einer Schlange vom Paradies auf Erden vertrieben hast, denke an<br />

die Rachsucht, mit der du die Cherubim vor die Tür gesetzt hast, und mit ihnen ein

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!