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IN MEMORIAM JOSÉ SARAMAGO - Alia Vox

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selber zurechtgebildet hast, da es sonst niemand tun könnte? Bin ich das Lamm, das Abel dir<br />

zum Opfer brachte, während du den Weizen und Roggen abwiesest, den dir Kain bot?<br />

Warum? Warst du es vielleicht, Gott, Vater, Herr, der Kains Hand bewaffnete, damit bereits<br />

das erste Kapitel der Geschichte der Menschheit eine Ankündigung der Zukunft sein sollte,<br />

die sie erwartete, nämlich Blut, Tod, Zerstörung und Folter von da an und für immer? Und<br />

warum blieb Kains Verbrechen ungestraft? Warum musste Abel sterben? Weißt du, Gott,<br />

Vater, Herr, was das Gewissen ist? Warum durfte der Mörder entgegen der eindeutigen<br />

Gerechtigkeit in Wohlstand leben und sogar eine Stadt gründen und Nachkommen haben wie<br />

jeder gewöhnliche Mensch, dessen Hände frei von fremdem Blut sind? Ohne dir näher treten<br />

zu wollen, aber du bist immer ein doppeldeutiger Gott mit zwei Gesichtern, zwei<br />

Waagschalen und zwei Maßstäben gewesen.<br />

Ich glaube nicht, dass mein Tod dazu dienen wird, die Menschen zu retten, noch dass ohne<br />

diesen sie noch verdorbener würden, als sie schon sind. Du kannst dir nicht vorstellen, Gott,<br />

Vater, Herr, wie kompliziert und unverständlich die Menschen sind. Wie dem auch sei, ich<br />

habe alles getan, was du mir geboten hast. Daher stirbt jetzt ein Mann am Kreuze.<br />

SIEBENTES WORT<br />

Gott, Vater, Herr, ich befehle meinen Geist in deine Hände, denn das Fleisch, das ihn trug,<br />

das bleibt am Holz haften, solange meine Überreste nicht in das Grab gelegt werden, von wo<br />

ich am dritten Tage wieder auferstehen werde, sofern die Worte stimmen, die du mir in den<br />

Mund legtest, auf dass sie meine Anhänger hörten. Petrus rügte mich, rief mich zur Seite und<br />

sprach zu mir: „Gott bewahre dich davor. So etwas wird nie zustande kommen.“ Und ich<br />

antwortete ihm: „Geh weg von mir, Satan! Du bist mir ein Ärgernis, denn du verstehst nicht<br />

die Dinge gemäß Gottes Bestimmungen, sondern so wie die Menschen.“ Das sagte ich ihm,<br />

doch jetzt, Gott, Vater, Herr, jetzt, da mein Geist in deinen Händen sein wird, möchte ich<br />

auch danach trachten, die Dinge so wie die Menschen zu verstehen. Wird mein Körper ohne<br />

einen ihn beseelenden Geist imstande sein aufzustehen, den Stein zu verschieben, der den<br />

Eingang zum Grab versperrt, und herauszutreten? Und noch eine Frage: Was wird mir<br />

während dieser drei Tage geschehen? Werde ich verderben? Werde ich, mit den ersten<br />

Anzeichen des Verderbs in Gesicht und Händen, vor Maria Magdalena erscheinen? Dreißig<br />

Jahre lang lebte ich auf der Welt als Mensch, zunächst ein Kind, dann ein Jugendlicher, dann<br />

ein Erwachsener, bis zu diesem Tag. Wenn ich dir Dinge sage, die du bestens kennst, so ist es,<br />

damit du verstehst, weshalb ich zu allererst vor Maria Magdalena erscheinen werde.<br />

Kommen wir zum Schluss. Ich habe meine Rolle gespielt, so gut ich konnte. Die Zukunft<br />

wird weisen, ob dieses Schauspiel der Mühe wert war. Und jetzt, Gott, Vater, Herr, noch eine<br />

letzte Frage: Wer bin ich? Jetzt wirklich, allen Ernstes: Wer bin ich?<br />

Übersetzung: Gilbert Bofill i Ball

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