PSC 5-11 - FSP
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DOSSIER: Psyche und Soma<br />
PSYCHOSCOPE 5/20<strong>11</strong><br />
Ekel. Er berichtete in diesem Zustand auch von einem «komischen,<br />
scharfen Geschmack» im Mund. In diesen körperlichen<br />
und emotionalen Reaktionen können peritraumatische<br />
Erfahrungsfragmente erkannt werden (heftige Schmerzen im<br />
Hals, Todesangst und Geschmacksempfindungen, die er während<br />
des Traumas erlebt haben musste und die in der Gegenwart<br />
keinen Sinn ergeben).<br />
Ich bespreche mit dem Jungen und seinen Eltern, dass im<br />
Körper Anteile (EPs) seien, die das Trauma in sich tragen,<br />
wie «kleinere Lucas», die noch so empfinden, als ob das Trauma<br />
gerade stattfinden würde. Die «kleinen Lucas» empfinden<br />
dann entweder ganz viel des traumatischen Erlebens<br />
(Überflutung) oder gar nichts mehr, wenn zum Beispiel der<br />
Hals «ganz zu» ist und «nichts runtergeht» (Erstarrung).<br />
Die traumatherapeutische Behandlung<br />
Und nun? Wie behandeln wir die dissoziative Störung?<br />
Eine traumatherapeutische Behandlung besteht aus<br />
drei Phasen:<br />
1. Herstellen von Sicherheit und Stabilität;<br />
2. Traumabearbeitung, Prozessieren der traumatischen<br />
Erfahrungen;<br />
3. Reorientierung im Leben ohne Trauma, Ausblick<br />
und Ausrichtung in die Zukunft.<br />
Im Rahmen dieses Artikels mache ich einige Hinweise<br />
zu Phase 2: In der Traumaarbeit geht es immer um<br />
Informationstransfer zwischen den Trauma-Anteilen<br />
(EPs) und der Alltagspersönlichkeit. Dabei ist es wichtig<br />
und notwendig, dass die traumatischen Erfahrungen<br />
prozessiert werden. Das bedeutet, was im Körper<br />
dissoziiert gespeichert ist, soll im bewussten Zustand<br />
von heute nochmals durch den Körper hindurchgehen.<br />
Es ist nicht wichtig, genau alle Details des traumatischen<br />
Geschehens zu erinnern. Entscheidend ist, im<br />
Körper wieder zu spüren, was damals zu viel (Überflutung,<br />
Intrusion) oder zu wenig (Erstarrung, Schmerzunempfindlichkeit,<br />
Gefühllosigkeit) war.<br />
Für das Durcharbeiten oder Prozessieren der<br />
traumabedingten Zustände stehen uns verschiedene,<br />
für Kinder geeignete Prozesstechniken zur Verfügung.<br />
Mit welcher Technik gearbeitet wird, hängt<br />
dabei von verschiedenen Faktoren ab: Für die Wahl<br />
der Prozesstechnik ist in erster Linie der Ausbildungshintergrund<br />
der Therapeutin massgebend. Zudem<br />
soll die Prozesstechnik dem aktuellen Lebensalter<br />
des Kindes sowie dem Alter der Traumatisierung<br />
angepasst werden.<br />
Prozesstechniken für Kinder<br />
Die folgenden therapeutischen Techniken, auch kombiniert<br />
einsetzbar, eignen sich ausgezeichnet für das Prozessieren<br />
von traumatischen Erfahrungen bei Kindern:<br />
• EMDR, mit oder ohne Traumageschichten (vgl.<br />
Lovett 2000);<br />
• Sandspiel;<br />
• Dialog über Handpuppen oder über das Schreiben;<br />
• bei älteren Kindern und Jugendlichen eventuell auch<br />
verdecktes Schreiben;<br />
• Maltechniken, Comics zeichnen;<br />
• diverse Techniken aus der Kunsttherapie;<br />
• hypnotherapeutische Techniken, insbesondere<br />
Arbeiten mit Metaphern;<br />
Je früher das Trauma stattgefunden hat, umso weniger<br />
werden sprachlich orientierte Verfahren wirksam sein,<br />
da das traumatische Geschehen im frühen Kindesalter<br />
praktisch rein physisch und emotional gespeichert ist.<br />
Für das Prozessieren von ganz frühen Traumata eignet<br />
sich EMDR ausgezeichnet (vgl. Tinker, 2000; Lovett,<br />
2000).<br />
Und wie ging es weiter mit Luca?<br />
In der Phase 2 der Traumatherapie werden die traumatischen<br />
Zustände in der Therapiesituation hervorgerufen, also gezielt<br />
angetriggert. Zuerst soll Luca erkennen und annehmen können,<br />
dass da in ihm drinnen «kleinere, verletzte Lucas» (EPs)<br />
sind, die Hilfe brauchen. Luca ordnet darauf jedem seiner<br />
«kleinen Lucas» eine Puppe zu. So kann er spielerisch und<br />
über den Dialog in Kontakt kommen mit seinen inneren Anteilen.<br />
Er kann merken, dass «die Kleinen» Hilfe brauchen.<br />
Nach diesen ersten Schritten der Annäherung an die Traumata<br />
entschliesse ich mich, mit EMDR zu arbeiten. In Zusammenarbeit<br />
mit den Eltern erzählen wir dem Jungen über<br />
Traumageschichten in Etappen, was der neugeborene, der 3<br />
Monate alte und der 15 Monate alte kleine Luca erlebt hat.<br />
Gleichzeitig wende ich EMDR an. Luca prozessiert dabei seine<br />
medizinischen Traumata, was gut zu beobachten ist: Es<br />
kommt zu deutlichen physischen Reaktionen wie heftigem<br />
Schlucken, Wechsel der Atmung bis zum Anhalten des Atmens<br />
mit anschliessendem Japsen nach Luft und wiederholter<br />
Veränderung der Gesichtsfarbe von einer durchsichtig wirkenden<br />
Blässe zu starkem Erröten. Es ist, als ob der Körper<br />
nochmals erzählt, was er damals erlebt hat. Das traumatische<br />
Erleben schiesst quasi durch den Körper hindurch.<br />
Nach mehreren Sitzungen mit EMDR und dem gleichzeitigen<br />
Erzählen der Traumageschichten verringert sich die Symptomatik<br />
zusehends. Die Schluckblockierungen und der starke<br />
Ekel nehmen ab. Luca wagt es zaghaft, verschiedene feste<br />
Nahrungsmittel zu sich zu nehmen.<br />
In der Folge müssen wir uns noch um die Angst vor dem<br />
Symptom kümmern und natürlich auch systemisch in der<br />
Familie arbeiten: Schliesslich haben die Essschwierigkeiten<br />
von Luca über viele Jahre einen entscheidenden Stellenwert<br />
in der Familie eingenommen. Die Eltern arbeiten an<br />
der Veränderung ihrer Schonhaltung Luca gegenüber und<br />
Luca muss lernen, sich von seinem sekundären Krankheitsgewinn<br />
zu verabschieden, den die Schonhaltung der Erwach-