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Beschaffung aktuell

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» MANAGEMENT »Handelspolitik, internationale geopolitische Verhältnisse und Interessen von Staaten haben einen direkten Einfluss auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Unternehmen. Das darf man nicht unterschätzen.« Umfragen mehr in die öffentliche Debatte rücken. Sie geben einen Aufschluss nicht nur zum Status quo des Einkaufs, sondern darüber hinaus über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Der Einkauf und das Supply Chain Management sind ein wesentlicher Indikator für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, also auch für Fragen, die weit darüber hinausgehen. Zum Beispiel: Wenn Frau von der Leyen fordert, dass die EU die Beziehung zu China neu austariert und europäische Unternehmen ihre Abhängigkeiten von China abbauen sollen, dann entspricht das in vielen Unternehmen nicht der Realität. Über Jahrzehnte gewachsene Strukturen und Partnerschaften lassen sich kurz- oder mittelfristig nicht ersetzen. Unsere Untersuchung hat das bestätigt. Da sind Sie aktuell in einer guten Situation. So häufig wie derzeit war das Thema Beschaffung in den vergangenen 30 Jahren noch nie in den Medien. Melnikov: In der Tat, das ist verrückt. Vor drei Jahren kannte niemand außerhalb des Einkaufs das Wort Lieferkette. Aber wir müssen die Lage auch nutzen und uns entsprechend präsentieren – jetzt, wo der Scheinwerfer auf das U-Boot BME gerichtet ist. Bei „U-Boot“ habe ich andere Assoziationen. Melnikov: Früher hieß es, der BME sei wie ein alter Tanker: groß, schwer und träge. Ich sehe, dass der BME groß ist und es ist schwierig, ihn rasch auf einen neuen Kurs zu bringen. Aber, wenn ich mir überlege, wie viele Jahre der Bereich Einkauf und Supply Chain und damit die Lieferketten unter dem Radar waren, dann ist er kein Tanker, sondern ein U-Boot, das jetzt auftaucht, weil die Lieferengpässe, die gestörten Logistikketten und die gesetzlich gestärkten Lieferkettensorgfaltspflichten in der öffentlichen Wahrnehmung sind. Wie lautet Ihre Prognose: Was kommt auf den Einkauf in den nächsten fünf Jahren zu? Melnikov: Ich sehe hier drei starke Entwicklungen. Ein großer Faktor ist die Digitalisierung zusammen mit KI. Der andere ist die Nachhaltigkeit und der Dritte sind die politischen Einflüsse, mit denen alle Unternehmen zurechtkommen müssen. In Sachen Digitalisierung ist auch im Einkauf, im Supply Chain Management und in der Logistik jede Menge Luft nach oben, so wie generell in allen Unternehmen. Aber die Entwicklung von der Automatisierung hin zur KI, kann die Prozesse nachhaltig nach vorne bringen. Ich sehe hier, dass das intelligente Zusammenspiel von Daten und deren Auswertung durch KI neue Erkenntnisse bringt, die dann wiederum für Bestell- und Einkaufsprozesse genutzt werden können. Ich erwarte, dass beispielsweise eine Einkaufsversion von ChatGPT ganz gezielt nach Warengruppen, Lieferketten oder nach Rechnungsprozessen befragt werden kann. Das wird den Einkauf auf ein neues Level bringen. Ein zunehmend wichtiger Faktor ist die Nachhaltigkeit und die dazugehörige Dokumentation und Aktion. Wir werden konkret auf die einzelnen Glieder der Lieferkette schauen, so wie es das LkSG vorsieht. Dabei werden wir alle einzelnen Aspekte der 17 UN Sustainable Goals betrachten und alle Dimensionen der Nachhaltigkeit berücksichtigen. Auch da gibt es derzeit noch viel zu tun, beispielsweise beim Einsatz umweltschonender Materialien, beim Sourcing von Rohstoffen und den Recycling-Kreisläufen. Der dritte Punkt wird vielfach unterschätzt. Aber er ist – allerdings oft erst auf lange Sicht – essenziell: der Einfluss politischer Entscheidungen. Handelspolitik, internationale geopolitische Verhältnisse und Interessen von Staaten haben einen direkten Einfluss auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Unternehmen. Das darf man nicht unterschätzen. Wenn sich zum Beispiel der französische Präsident Macron öffentlich für eine unabhängigere Rolle Europas gegenüber den USA ausspricht, hat das auch Auswirkungen auf unsere Unternehmen. Denn die USA sind ein riesiger Markt, von dem wir uns nicht abwenden können. Wir benötigen die Unterstützung der Vereinigten Staaten nicht nur bei dem Krieg vor unserer Haustür, sondern auch, wenn es um Handelsabkommen geht. Wir verhandeln in der EU seit 20 Jahren das Mercosur-Abkommen. Dabei ist gerade erst der Handelsteil fertig, zwei andere Teile fehlen noch. Da kann man nur hoffen, dass solche Prozesse in Zukunft schneller laufen. Und wir befinden uns in einer unsteten weltpolitischen Lage, von der ich nicht sehe, dass sie sich in den nächsten Jahren beruhigt. Deswegen würde ich bei unternehmerischen Entscheidungen darauf ein großes Augenmerk legen. Abseits der großen Linien arbeiten die Unternehmen aktuell stark an einer Risiko- und Lieferkettendiversifizierung. Und auch hier unterstützen wir unsere Mitglieder. Im Rahmen von B2B-Veranstaltungen ist der BME aktuell in über 20 Ländern aktiv. So hat unser Verband frühzeitig in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung 2015 den Westbalkan ins Blickfeld 16 Beschaffung aktuell » 06 | 2023

geholt und seither in neun Veranstaltungen über 3000 B2B-Gespräche im Rahmen der Einkaufsinitiative Westbalkan möglich gemacht. Kern ist weiterhin Europa, aber wir unterstützen auch ASEAN, China und Nordafrika. Sie sprechen da hoch komplexe Entwicklungen an. Bietet der BME dazu Fortbildungsmaßnahmen, Seminare oder Diskussionsrunden? Melnikov: Zum wichtigen Thema Nachhaltigkeit bieten wir unseren Mitgliedern eine ganze Reihe interessanter Veranstaltungsformate mit geschäftspraktischem Nutzwert. Aktuelle Fragen zur internationalen Handelspolitik und deren Auswirkungen auf die Märkte behandeln unsere Global-Sourcing-Veranstaltungen. Weiter könnte man in den Fokus nehmen: Was bedeutet der zunehmende Protektionismus einzelner Staaten, der Inflation Reduction Act der Biden-Administration oder eine positive Entscheidung für ein Handelsabkommen mit einem Drittstaat? Was bedeutet das für Zölle? Wie wirken sich Sanktionen auf die Preise, Verfügbarkeiten von Rohstoffen, Komponenten et cetera aus? Da muss man ja gar nicht lange nachdenken, um zu einem Impact auf den Einkauf zu kommen. Insofern erweitern wir unser Veranstaltungsportfolio kontinuierlich. Welche Rolle fällt der Politik zu, die globalen Handelsströme aufrechtzuhalten? Melnikov: Die Politik hat die entscheidende Rolle, ein ausgewogenes Umfeld zu schaffen: Sie muss die deutsche Wirtschaft durch erstklassige Standortbedingungen unterstützen, gezielte Partnerschaften mit klug gewählten Drittländern eingehen und rasch effektive Handelsabkommen abschließen, um unseren Unternehmen einen reibungslosen Zugang zu globalen Märkten zu ermöglichen. Sie kann die Exporteure vor Ort unterstützen, indem sie beispielsweise eine Exportkreditversicherung anbietet oder bestimmte Finanzierungsprogramme aufsetzt, die den Import fördern, sodass die Waren in beide Richtungen fließen. Das sind Parameter, die die Politik setzen kann, wenn sie das wirtschaftliche Wachstum begünstigen will. Das ist, was die Wirtschaft braucht. Was würden Sie einem jungen Menschen sagen, um ihn für eine Tätigkeit im Einkauf zu begeistern? Melnikov: Junge Menschen wollen sich oft erst ausprobieren und Neues kennenlernen, um auch mal »Herausgekommen ist ein neuer, frischer, moderner , zeitgemäßer BME, der für die Zukunft steht.« Dr. Helena Melnikov ist seit September 2021 Hauptgeschäftsführerin des BME. Von 2014 bis zur ihrem Wechsel in den BME hatte sie das Amt der Hauptgeschäftsführerin des Waren-Vereins der Hamburger Börse e.V. inne und fungierte als Geschäftsführerin der dort angeschlossenen Fachverbände. Zuvor war die im Wirtschaftsstrafrecht promovierte Rechtsanwältin beim Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e.V. (BGA) in Berlin als Leiterin der Abteilung Recht und Wettbewerb sowie als Leiterin der Agrarpolitik tätig. Helena Melnikov wurde im heutigen Usbekistan geboren und wuchs in der ehemaligen Sowjetunion auf. Sie spricht Deutsch, Englisch und Russisch. zu schauen: Wo will ich denn überhaupt hin? Der Einkauf ist sehr vielseitig, so vielseitig wie kaum eine andere Funktion. Im Einkauf kann ich mein Verhandlungsgeschick ausprobieren und entwickeln, auch Kenntnisse über Märkte kann ich trainieren. Und wenn ich mich für Politik interessiere – wir hatten es ja gerade –, erfahre ich wie sich internationale geopolitische Verflechtungen auswirken. Viele sagen: Ich möchte etwas mit Menschen machen. Lieferantenmanagement ist zu einem großen Teil Beziehungspflege. Bin ich hierin gut, kann ich manches bewegen. Dann ist da noch die Frage nach dem Sinn der Tätigkeit. Und da kommen wir wieder zum Thema Nachhaltigkeit in der Lieferkette: Ich kann in dieser Rolle wirklich was bewirken. Das habe ich nicht überall, insofern ist der Einkauf ein Geheimtipp. Auf welche Entwicklung Sie besonders stolz sind? Melnikov: Beim BME bin ich besonders stolz darauf, dass wir Einkauf und Supply Chain Management schon heute zu einer größeren Sichtbarkeit verholfen haben als noch vor ein paar Jahren. Und ich bin sehr stolz darauf, dass verbandsintern eine so gute Stimmung herrscht, dass wir als Team in der Geschäftsstelle alle hinter unseren Zielen stehen, und dass wir auch auf der Regionsseite alle hinter dem gemeinsamen Kurs vereint haben. Die Fragen stellten Alexander Gölz und Sabine Schulz-Rohde von Beschaffung aktuell. Beschaffung aktuell » 06 | 2023 17

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