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Gerlind Belke Zehn Thesen zum literarischen und sprachlichen ...

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<strong>Gerlind</strong> <strong>Belke</strong><br />

<strong>Zehn</strong> <strong>Thesen</strong> <strong>zum</strong> <strong>literarischen</strong> <strong>und</strong> <strong>sprachlichen</strong> Lernen in mehrsprachigen<br />

Lerngruppen<br />

1. Kinder in mehrsprachigen Lerngruppen erwerben unter Submersionsbedingungen<br />

relativ problemlos kommunikative Fähigkeiten für die mündliche Interaktion (bics<br />

= basic interpersonal communicative skills). Schwierigkeiten sind erwartbar beim<br />

rezeptiven <strong>und</strong> produktiven Umgang mit der Schriftsprache <strong>und</strong> dem mit der<br />

Schriftsprache verb<strong>und</strong>enen Erwerb sprachlicher Normen <strong>und</strong> sprachlicher Komplexität<br />

(calp = cognitive academic language proficiency).<br />

2. Poetische Texte sind ein wichtiger input, um den Erwerb komplexer schriftsprachlicher<br />

Strukturen zu fördern, weil sie die Aufmerksamkeit des Schülers auf das<br />

sprachliche Zeichen lenken (Autofunktionalität) <strong>und</strong> dadurch eine Haltung erzeugen,<br />

die der Sprachvermittlung <strong>und</strong> der Reflexion über sprachliche <strong>und</strong> poetische<br />

Strukturen zugute kommt. Insbesondere die „elementare Literatur“ ist durch eine<br />

spezifisch strukturierte Sprache gekennzeichnet <strong>und</strong> durch poetische Regeln, die<br />

in verschiedenen Kinderkulturen weitgehend identisch sind <strong>und</strong> deshalb das Verständnis<br />

der Texte erleichtern, insbesondere für Kinder, die noch wenig Deutsch<br />

können.<br />

3. Poetische Texte sind einerseits komplexer, vieldeutiger <strong>und</strong> weniger trivial als die<br />

Alltagssprache. Unter bestimmten Bedingungen sind sie gleichzeitig „einfacher“:<br />

Um Kindern den Einstieg in das komplexe System poetischer Regeln zu ermöglichen,<br />

muss die Strukturierung kinderliterarischer Texte einen gewissen Einfachheitsgrad<br />

haben. Einfach ist ein Text dann, wenn sich der poetische, d.h. der<br />

künstlerisch bewusste Sprachgebrauch durch das Hervortreten wichtiger Regularitäten<br />

wie Reim, Rhythmus, Parallelismus, Ketten- <strong>und</strong> Reihenbildung in markanter<br />

Weise vom funktionalen Sprachgebrauch abhebt.<br />

4. Da es sich in der Kinderliteratur um eine begrenzte Zahl auffälliger Formprinzipien<br />

handelt, wird die sek<strong>und</strong>äre Strukturierung nicht als höhere Anforderung wahrgenommen,<br />

sondern im Gegenteil vom sprachlernenden Kind als „einfach“ empf<strong>und</strong>en:<br />

„Die geringe Zahl von Regeln, nach denen der Kindervers strukturiert ist,<br />

stellt gegenüber der Vielzahl der Regeln des Sprachmaterials, das in ihm<br />

verwendet wird, eine Vereinfachung dar, besser gesagt: Die wenigen Regeln<br />

gelten als eine Art Bewältigungsinstrument, mit dessen Hilfe die Regelkomplexität<br />

der natürlichen Sprache subjektiv beherrschbar zu werden<br />

scheint. Rhythmische <strong>und</strong> klangliche Regularitäten sind leichter erkennbar<br />

<strong>und</strong> nachvollziehbar als etwa grammatikalische.“ (Lypp 1984,31)<br />

5. „Einfachheit“ in der Kinderliteratur ist nicht mit „Beschränktheit“ oder „Trivialität“<br />

gleichzusetzen. Aufgr<strong>und</strong> seiner vom Kind als „einfach“ wahrgenommenen „Überstrukturierung“<br />

entfaltet der poetische Text ein zusätzliches Sinnpotential <strong>und</strong><br />

vermag so komplexe Erfahrungen auf eine einfache Weise zu thematisieren. Kinderliteratur<br />

versucht einerseits dem kindlichen Auffassungsvermögen <strong>und</strong> andererseits<br />

der Komplexität der Welt gerecht zu werden, den kindlichen Leser nicht<br />

zu überfordern <strong>und</strong> den Gegenstand nicht zu simplifizieren. (vgl. Lypp 1984)


6. Literarische Bildung bedeutet nicht, dass Kinder poetische Verfahren <strong>und</strong> Gattungen<br />

benennen lernen sollen, wie das immer noch häufig im Literaturunterricht geschieht.<br />

Der Umgang mit Kinderliteratur sollte vielmehr eine Vorstellung von Literarizität<br />

vermitteln, indem das poetische Regelsystem gleichsam vor den Ohren<br />

oder Augen des Kindes sich entfaltet wird <strong>und</strong> die Kinder dazu animiert werden,<br />

diese Regeln selbst auszuprobieren, weiterzuführen, abzuwandeln <strong>und</strong> in das<br />

Gegenteil zu verkehren.<br />

7. Der produktionsorientierte Literaturunterricht geht davon aus, dass das Hören<br />

bzw. Lesen von Literatur beim Rezipienten produktive Verarbeitungsvorgänge in<br />

Gang setzt, die zu einem individuellen Textverständnis führen. Texte entstehen<br />

aus Texten, indem die vorgegebenen Strukturen neu arrangiert werden: Eine Überschrift,<br />

die Interesse weckt, wird <strong>zum</strong> Anlass, eine eigene Geschichte zu entwickeln;<br />

Andeutungen des Erzählers werden zu Episoden ausgestaltet; ein eigener<br />

Schluss wird erf<strong>und</strong>en; der Text wird fortgesetzt. Solche Gestaltungsaufgaben<br />

haben für den Schüler analysierenden Wert, führen <strong>zum</strong> Textsinn, ohne dass dieser<br />

abstrakt formuliert wird. Sie kommen dem Sprachunterricht zugute, wenn z.B.<br />

aus dem Text einzelne Elemente (Wörter, Satzglieder, Handlungsstrukturen) herausgehoben<br />

werden, um sie zu ersetzen, zu vervielfältigen, abzuwandeln. Der<br />

produktionsorientierte Literaturunterricht ist somit eine Möglichkeit, literarisches<br />

<strong>und</strong> sprachliches Lernen miteinander zu verbinden.<br />

8. Der Spielraum des produktionsorientierten Literaturunterrichts ist für Kinder mit<br />

Deutsch als Zweitsprache zunächst geringer als im mutter<strong>sprachlichen</strong> Literaturunterricht.<br />

Je nach den <strong>sprachlichen</strong> Voraussetzungen der Kinder wird man zunächst<br />

mit einer angeleiteten Produktivität beginnen, die eher reproduktiven Charakter<br />

haben kann. Die Strukturen <strong>und</strong> die <strong>sprachlichen</strong> Mittel werden vorgegeben,<br />

bewusst gemacht, indem einzelne Textsegmente variierend wiederholt werden,<br />

indem mit klanglichen Regularitäten, Satzmustern <strong>und</strong> Textbedeutungen experimentiert<br />

wird. Durch den spielerisch-rituellen <strong>und</strong> das heißt immer auch<br />

grammatischen Umgang mit dem Text, z.B. durch das Auswechseln eines<br />

Sprachelements kann ein anderer Textverlauf <strong>und</strong> damit ein neuer Sinn erprobt<br />

werden. Auf diese Weise kommt der produktionsorientierte Literaturunterricht dem<br />

Sprachunterricht entgegen, ohne dass dabei die poetische Qualität der Texte geopfert<br />

würde.<br />

9. Das generative Schreiben, d.h. die Produktion eines eigenen Textes auf der Basis<br />

vorgegebener ästhetischer Texte ist nicht bei allen <strong>literarischen</strong> Texten möglich.<br />

Geeignet sind kurze Texte mit einem hohen Grad an Strukturierung (Bilderbücher,<br />

Märchen, Kinderverse). Die Variationen müssen aus dem Text entwickelt<br />

werden, <strong>zum</strong> vertieften Textverständnis hinführen <strong>und</strong> nicht - was oft geschieht -<br />

von ihm wegführen. Jeder Text erfordert spezifische Methoden die von Fall zu<br />

Fall sorgfältig erarbeitet werden müssen. Die sorgfältige Orientierung am Text<br />

liegt nicht nur im Interesse der Literaturvermittlung, sondern auch dem des<br />

Sprachlernens, das ja gerade durch das gezielte Spiel mit den vorgegebenen<br />

Sprachstrukturen systematisch gefördert wird. Das generative Schreiben, erfordert<br />

eine streng textbezogene Kreativität <strong>und</strong> verbindet die grammatische Übung<br />

mit der Textanalyse <strong>und</strong> der Textproduktion.<br />

10. Guter Literaturunterricht ist immer auch guter Sprachunterricht. Guter Sprachunterricht,<br />

d.h. die gezielte Vermittlung <strong>und</strong> Übung schriftsprachlicher Strukturen, die


die Kinder nicht von selbst erwerben, ist insbesondere in mehrsprachigen Lerngruppen<br />

nur mit ästhetischen Texten sinnvoll <strong>und</strong> möglich. Sprachliche Übungen<br />

sind auf Wiederholungen angewiesen <strong>und</strong> die sollten ästhetisch motiviert sein.<br />

Die konsequente Berücksichtigung der <strong>sprachlichen</strong> Lernbedürfnisse mehrsprachiger<br />

Kinder auch <strong>und</strong> gerade im Literaturunterricht kommt nicht nur den Kindern<br />

mit Deutsch als Zweitsprache zugute, sondern auch den Kindern mit Deutsch als<br />

Muttersprache. Der gemeinsame Deutschunterricht eröffnet vielfältige Möglichkeiten,<br />

die Sprache wieder ins Zentrum unserer Bemühungen zu rücken <strong>und</strong> in allen<br />

Unterrichtsprozessen die <strong>literarischen</strong> <strong>und</strong> <strong>sprachlichen</strong> Lernmöglichkeiten auszuschöpfen.


Deutschunterricht in mehrsprachigen Klassen<br />

Monika Lüth<br />

„In so genannten multinationalen Regelklassen sind Kinder, deren Muttersprache nicht<br />

Deutsch ist, einem Deutschunterricht ausgesetzt, der für sie nicht konzipiert worden ist: Sie<br />

werden nach Richtlinien unterrichtet, die für einsprachige deutsche Kinder gedacht sind, [...]<br />

von Lehrkräften, die für den mutter<strong>sprachlichen</strong> Deutschunterricht ausgebildet sind.“ (<strong>Belke</strong><br />

2003, 2)<br />

<strong>Belke</strong> hat mit dem Generativen Schreiben eine eigenständige Sprachdidaktik entwickelt, in deren<br />

Kern es darum geht, Deutsch-Lernern sprachliche Strukturen implizit zu vermitteln, sie systematisch<br />

zu üben, sie bewusst zu machen <strong>und</strong> für eigene Textproduktionen zu nutzen. Für deutsche<br />

Muttersprachler ist dieser Ansatz insofern interessant, als er eine gute Möglichkeit zur Sprachbetrachtung<br />

<strong>und</strong> <strong>zum</strong> kreativen Umgang mit der eigenen Sprache bietet.<br />

Im Folgenden werden Beispiele aus der Unterrichtspraxis herangezogen, die eine Möglichkeit der<br />

Umsetzung dieses Konzepts im Schulalltag zeigen. Vorher werden Überlegungen bezüglich der<br />

Aneignung von Sprache angestellt, die den didaktisch-methodischen Ansatz des Generativen Schreibens<br />

begründen helfen.<br />

1 Sprache erwerben durch Spielen mit Sprache<br />

1.1 Sprache erwerben, Sprache lernen<br />

Seit den achtziger Jahren werden in der Fachliteratur der Erwerb <strong>und</strong> das Lernen einer Sprache begriffl<br />

ich getrennt. Mit Erwerb bezeichnet man das eher unbewusste <strong>und</strong> intuitive (sehr effi ziente) Aneignen<br />

vor allem der Erstsprache, Lernen dagegen bezieht sich auf die bewusste, durch Unterricht gesteuerte<br />

(nicht so effiziente) Aneignung von weiteren Sprachen (vgl. Apeltauer 1997, 14). In nur<br />

wenigen Jahren erwirbt also ein Kind, das unter normalen Bedingungen aufwächst, die Sprache seiner<br />

Umgebung <strong>und</strong> lernt dann eine oder mehrere Fremdsprachen in der Schule. Es gibt aber viele<br />

Kinder, die hier wie anderswo in einer zwei- <strong>und</strong> mehrsprachigen Umgebung aufwachsen, dann in<br />

eine Schule kommen, in der die Unterrichtssprache ihre noch unvollkommen ausgebildete Zweitsprache<br />

ist. Da diese Zweitsprache also auch außerhalb des Unterrichts regelmäßig in der Alltagskommunikation<br />

Verwendung fi ndet, treten so ungesteuerte <strong>und</strong> gesteuerte sprachliche Aneignungsprozesse<br />

in unterschiedlichem Ausmaß in Konkurrenz (vgl. Siebert-Ott 2003, 30). Zwangsläufi<br />

g<br />

stellt sich die Frage: Was kann dem Kind durch den einfachen Umgang mit der Zweitsprache noch<br />

zufl ießen <strong>und</strong> was muss hier der Unterricht leisten?<br />

Da in Deutschland die deutsche Sprache Gr<strong>und</strong>lage aller weiteren schulischen <strong>und</strong> berufl ichen<br />

Lernprozesse ist, ist die Schule für die Vermittlung der normgerechten Sprache – mündlich wie<br />

schriftlich – verantwortlich, d.h. die Schule muss ihre Schüler darauf vorbereiten, auch dann mit<br />

Sprachaufgaben fertig zu werden, wenn der außersprachliche Bezugsrahmen als entlastendes Moment<br />

ausfällt. Mittlerweile weiß man, dass weder bloße Sprachbetrachtung noch der herkömmliche<br />

Grammatikunterricht ausreichend sind, will man eine zweite Sprache erfolgreich anwenden lernen:<br />

„‚It‘s quicker if I explain‘ – Quicker for whom? Well-planned, and even well executed lessons cannot<br />

guarantee good learning.” (Lewis 2002, 33) Auch Spitzer, Psychologe <strong>und</strong> Neurologe, richtet sich in<br />

seinem Buch „Lernen“ gegen die Vorstellung, dass explizite Regelvermittlung Sprachkönnen zur<br />

Folge hat: „Unser Gehirn ist – abgesehen vom Hippokampus, der auf Einzelheiten spezialisiert ist –<br />

auf das Lernen von Allgemeinem aus. Dieses Allgemeine wird aber nicht dadurch gelernt, dass wir<br />

allgemeine Regeln lernen. – Nein! Es wird dadurch gelernt, dass wir Beispiele verarbeiten [...] <strong>und</strong><br />

aus diesen Beispielen die Regeln selbst produzieren.“ (Spitzer 2002, 76) „Was Kinder brauchen, sind<br />

Beispiele […] <strong>und</strong> wenn möglich die richtigen <strong>und</strong> guten Beispiele. Auf die Regel kommen sie dann<br />

schon selbst […] Nur dann, wenn die Regel immer wieder angewendet wird, geht sie vom expliziten<br />

<strong>und</strong> sehr fl üchtigen Wissen im Arbeitsgedächtnis in Können über, das jederzeit wieder aktualisiert<br />

werden kann.“ (A.a.O., 78)<br />

1.2 Mit Sprache spielen


Hier kommen die ästhetischen Texte (ob einfache Reime, Gedichte oder kleine Prosatexte) ins Spiel,<br />

die beispielgebend vorgestellt, oft gesprochen <strong>und</strong> gelesen, am besten auswendig gelernt <strong>und</strong> dann<br />

kreativ umgestaltet werden. „Auswendiglernen von Texten hat neben dem Gedächtnistraining noch<br />

einen anderen bedeutsamen Effekt: Es dient der Wortschatzerweiterung <strong>und</strong> hilft, immer sicherer<br />

<strong>und</strong> fl ießender formulieren <strong>und</strong> frei sprechen zu können. Das gilt vor allem auch für Kinder mit<br />

anderen Muttersprachen, denen automatisierte Textbausteine [...] den Umgang mit der fremden<br />

Sprache deutlich erleichtern können.“ (Brinkmann 2004, 6) Wenn von Spielen mit Sprache die Rede<br />

ist, muss klar sein, dass dies immer zweierlei meinen kann: <strong>zum</strong> einen das reine lustvolle auswendige<br />

Hersagen, das Reimen, Sprechen von Zungenbrechern, dramaturgische Vorlesen etc. (vgl.<br />

Müller in diesem Band), <strong>zum</strong> anderen das individuelle Verändern (meist) poetischer Textvorlagen.<br />

Indem hier mit Sprache bewusst umgegangen wird, also z.B. Verben, Nomen, Adjektive substituiert<br />

werden, somit ein neuer Text entsteht <strong>und</strong> dabei ganz nebenbei die Bezeichnungen für jene Wörter,<br />

die gerade ausgetauscht wurden, gelernt werden, wird dem Lerner die Funktion der Wortarten <strong>und</strong><br />

Satzteile klar, er entdeckt Regeln, ohne dass darüber ausführlich geredet werden muss.<br />

2 Beispiele aus der Praxis<br />

Während langjähriger Auslandsaufenthalte unterrichtete ich Deutsch als Fremdsprache <strong>und</strong> arbeite<br />

seither an einer Kölner Gr<strong>und</strong>schule, die vorrangig mit Kindern zu tun hat, die eine andere Herkunftssprache<br />

als Deutsch haben. Zwangsläufi g ergaben sich Überlegungen bezüglich eines effektiveren<br />

Sprachunterrichts: Wie geht man in Fördergruppen, aber auch im Regelunterricht mitden<br />

Kindern um, die einerseits eine beträchtliche sprachliche Entwicklung vorweisen können, andererseits<br />

mit erheblichen <strong>sprachlichen</strong> Unzulänglichkeiten im Deutschen zu kämpfen haben? Die Frage,<br />

welche Bedeutung die Erstsprache für den Erwerb einer weiteren Sprache hat, muss hier nicht diskutiert<br />

werden; denn in Deutschland wie in anderen Ländern bleibt es notwendig, auch einsprachige<br />

Modelle der Sprachförderung umzusetzen; denn die große Sprachenvielfalt an zahlreichen Schulen<br />

(Chlosta/Ostermann/Schroeder 2003; Fürstenau/Gogolin/ Yagmur 2003) lässt bilingualen Unterricht<br />

für jede einzelne Sprachgruppe schlichtweg nicht zu (vgl. Stanat/Müller 2005, 24).<br />

2.1 Mit Stolpersteinen umgehen<br />

Neben einigen anderen Stolpersteinen der deutschen Sprache (vgl. Rösch 2003; Benholz/Lipkowski/Iordanidou<br />

2005) ist die Deklination der Nomina eine besondere Hürde, aber auch<br />

die Eigentümlichkeit des Deutschen, dass verschiedene Präpositionen je nach Verwendung verschiedene<br />

Kasus fordern. Die betreffenden Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen empfi nden dies nicht unbedingt<br />

als Hürde, weil der alltägliche Zwang <strong>zum</strong> Deutschsprechen <strong>und</strong> die Rückmeldung, dass sie<br />

verstanden werden, den Wunsch nach Korrektur erst gar nicht aufkommen lassen. Um so wichtiger<br />

ist es, dass den Lernern täglich Gelegenheit gegeben wird, korrekte grammatische Strukturen<br />

mehrmals zu hören, damit sie „ins Ohr gehen“ <strong>und</strong> oft zu sprechen, damit sie „leicht über die Lippen<br />

gehen“ <strong>und</strong> oft zu schreiben, damit dies zur Routine werden kann. „Denn erfolgreicher Spracherwerb<br />

beruht einfach wesentlich mehr auf erworbenen Gewohnheiten als auf erklärten Strukturen.<br />

Nicht allerdings auf Gewohnheiten im Sinne jener behaviouristischen habits, die zu den alten pattern<br />

drills führten.“ (Aulmann 2006, 14) Die eigene, sehr individuelle Kreativität sollte sich dabei entfalten<br />

können. Dies kann dann möglich werden, wenn ein Satzmuster vorgegeben wird <strong>und</strong> Inhaltswörter<br />

vom Sprecher/Schreiber individuell ausgetauscht werden. Bei diesem Vorgehen wird Sprache<br />

nicht als bloßes Demonstrationsmaterial für abstrakte Sprachstruktur, sondern ihrem Wesen<br />

entsprechend als echtes Ausdrucksmittel verwendet.<br />

Zum Beispiel wird vorgegeben:<br />

Wenn ich fröhlich bin,<br />

fühle ich mich wie ein Känguru,<br />

das in einem Beutel sitzt.<br />

Die Eigenleistung kann so aussehen:<br />

Wenn du sauer bist,<br />

fühlst du dich wie ein H<strong>und</strong>,<br />

der die Katze nicht fangen kann.<br />

(Şenay)<br />

Im Folgenden soll anhand einer Übersicht deutlich gemacht werden, wann <strong>und</strong> mit wem kleine<br />

ästhetische Texte spielerisch, aber systematisch <strong>und</strong> zweckbestimmt zur Sprachförderung benutzt


werden können. Als ein Beispiel wird der „Stolperstein“ Deklination der Nomen <strong>und</strong> Pronomen herangezogen.<br />

Wenn Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler schon Erfahrung mit der Methode des Generativen<br />

Schreibens gesammelt haben, geben die „Niveaustufen“ den Lehrkräften einen Hinweis darauf,<br />

welchen „Schwierigkeitsgrad“ sie den Kindern zutrauen dürfen (Stufe 2 <strong>und</strong> 3). Falls noch nicht<br />

derart gearbeitet wurde, kann man sich an den Vorschlägen der Stufe 1 orientieren.<br />

Bei der Behandlung eines Schwerpunktes sollte aber die Komplexität von Sprache nicht aus den<br />

Augen verloren gehen; das Generative Schreiben ist daraufangelegt, „die Partialisierung im<br />

Deutschunterricht zu überwinden, indem auf der Basis eines interkulturellen Textangebots ‚das<br />

kreative Schreiben’ <strong>und</strong> ‚das richtige Schreiben’, der Literatur- <strong>und</strong> Sprachunterricht, der Grammatikunterricht<br />

als Refl exion über Sprache für deutschsprachige Kinder <strong>und</strong> als Sprachvermittlung für<br />

Kinder mit Deutsch als Zweitsprache in einem integrativen Konzept miteinander verknüpft werden“<br />

(<strong>Belke</strong>, 2006).


verwendete Texte<br />

Der kleine Affe hat auch schon<br />

zu Hause ein eigenes Telefon.<br />

Rufst du ihn an, sagt er sofort:<br />

„Hier ist der Affe. Wer spricht dort?“<br />

Wir lesen hier auf diesem Blatt,<br />

wie gern er unseren Anruf hat.<br />

Mein Vater kaufte sich ein Haus.<br />

An dem Haus war ein Garten.<br />

In dem Garten stand ein Baum.<br />

Auf dem Baum war ein Nest.<br />

In dem Nest lag ein Ei.<br />

In dem Ei war ein Dotter.<br />

In dem Dotter war eine Laus –<br />

eins, zwei, drei <strong>und</strong> du bist raus!<br />

Denkt euch nur, der Frosch ist krank.<br />

Da liegt er auf der Ofenbank.<br />

Quakt nicht mehr, wer weiß wie lang<br />

Denkt euch nur, der Frosch ist krank.<br />

Denkt euch nur, der Frosch war krank.<br />

Da lag er auf der Ofenbank.<br />

Quakte nicht mehr, wer weiß wie lang<br />

Ges<strong>und</strong> ist er jetzt – Gott sei Dank.<br />

Gehe ich in der Stadt umher,<br />

kommt ein blauer H<strong>und</strong> daher,<br />

wedelt mit dem Schwanz so sehr,<br />

nebenher,<br />

hinterher<br />

<strong>und</strong> verlässt mich gar nicht mehr.<br />

Wedelt mit den blauen Ohren,<br />

hat wohl seinen Herrn verloren.<br />

Wisper knisper Wurzelfee,<br />

wer mich sucht, dem tu ich weh:<br />

Ich beiße ihn in den großen Zeh,<br />

ich werfe ihn in den Tümpelsee,<br />

ich tunke ihn ins Glibbermoor,<br />

ich kneife ihn in sein Lumpenohr<br />

ich drehe ihm die Nase quer ...<br />

Wenn du Mut hast, komm nur her!<br />

Als die Prinzessin den Ring verlor,<br />

las ihr der Prinz aus dem Märchenbuch vor<br />

<strong>und</strong> auf der vorletzten Seite stand,<br />

wie die Prinzessin den Ring dann wieder fand.


Klasse<br />

1 <strong>und</strong> 2<br />

Klasse<br />

3 <strong>und</strong> 4<br />

Deklination der Nomen <strong>und</strong> Pronomen<br />

Niveau 1 Niveau 2 Niveau 3<br />

Text: „Der kleine Affe ...“ (s.o.)<br />

den<br />

Kindern mehrmals vorsprechen,<br />

dann für kleine Affe Namen<br />

einsetzen.<br />

1. Hürde für die Kinder: Bei<br />

Mädchennamen werden ihn<br />

<strong>und</strong> er zu sie. Danach ein Tier<br />

mit neutr. Artikel (das freche<br />

Lama/das Krokodil/...): ihn<br />

<strong>und</strong> er müssen durch es ersetzt<br />

werden. Häufi ges Sprechen<br />

der vorgeschlagenen Möglichkeiten<br />

ist ratsam.<br />

Text: „Gehe ich ...“ (s.o.)<br />

mehrmals lesen. Es bietet sich<br />

an, zuerst blauer H<strong>und</strong> <strong>und</strong> blauen<br />

ersetzen zu lassen. Dann gibt<br />

man am besten eine neue erste<br />

Zeile vor, z.B.: Läuft Emre auf<br />

dem Spielplatz umher. Meist initiiert<br />

dies sehr unterschiedliche<br />

Fortsetzungen. Der Reim sollte<br />

erhalten bleiben, deshalb sind<br />

die interessantesten Substitutionsmöglichkeiten<br />

in der 1., 2.,<br />

3. <strong>und</strong> letzten Zeile.<br />

2.2 Ein Vierzeiler wird verändert<br />

Zwei Knaben stiegen auf eine Leiter.<br />

Der obere war etwas gescheiter.<br />

Der untere war etwas dumm.<br />

Auf einma fiel die Leiter um. (B. Brecht)<br />

Text: „Denkt euch nur ...“ (s.o.)<br />

auswendig sprechen können. Mask.<br />

Nomen im Nomin. wird im weiteren<br />

Text durch das Nomin. - Pronomen<br />

wieder aufgenommen, d.h., wenn<br />

durch Austausch das Nomen durch<br />

eines mit anderem Genus ersetzt<br />

wird, muss sich das Pronomen auch<br />

ändern. (Frosch/er; Katze/sie, alle<br />

Lehrer/sie); Tempuswechsel<br />

(2.Strophe).<br />

Aufgeschriebene Variationen<br />

vortragen.<br />

Text: „Als die Prinzessin ...“ (s.o.)<br />

auswendig sprechen können. Austausch<br />

aller Nomen gut möglich<br />

(Reim bleibt!) Schwierigkeiten: - die<br />

4 unregelmäßigen Verben erschweren<br />

das Memorieren Liste mit Textbausteinen<br />

an Tafel: - verlieren mit<br />

Akkusativ - vorlesen aus mit Dativ<br />

Aufgeschriebene, korrigierte Variationen<br />

am besten auswendig vortragen.<br />

Text: „Wisper knisper<br />

...“(s.u.)<br />

auswendig sprechen<br />

können, dann – wegen<br />

gleichbleibende vorletzte<br />

Zeile - nur ihn durch euch<br />

ersetzen; 6.Zeile: aus sein<br />

wird euer – alles gut<br />

sprechen. Danach können<br />

jeweils unterschiedliche<br />

Pronomen durch<br />

die Sch. schriftlich substituiert<br />

werden – Reihenfolge<br />

wichtig: schreiben,<br />

evtl. Partnervergleich,<br />

korrigieren, vortragen<br />

Klasse<br />

Text: „Mein Vater kauft<br />

sich ...“<br />

(s.u.) Durch Verändern<br />

der ersten Zeile (z.B.<br />

Meine Tante leiht sich ein<br />

Flugzeug) müssen in<br />

jeder weiteren Zeile<br />

mindestens zwei Wörter<br />

ausgetauscht werden.<br />

Achtung: Präposition +<br />

femininer Dativ wird im<br />

Originaltext nicht vorgegeben.<br />

Achten sollte man<br />

in der vorletzten Zeile<br />

auf den Reim.<br />

Es folgt nun eine kurze Beschreibung einer kleinen Unterrichtsreihe, die ich vor einiger Zeit durchgeführt<br />

habe. Alle Kinder der Klasse (75% von ihnen waren bei der Anmeldung nach schulinternem<br />

Test als gering Deutsch sprechend ausgewiesen) wurden ab der ersten Schulwoche im 1. Schuljahr<br />

kontinuierlich <strong>und</strong> spielerisch an die Besonderheiten der deutschen Sprache herangeführt. Damit<br />

sie diese Besonderheiten nicht allzu früh nur als unbezwingbare Schwierigkeiten erfahren würden,<br />

war es mir wichtig, durch tägliches Singen, Klatschen, Reimen, Wörterordnen langsam eine<br />

Sensibilisierung für z.B. die Satzmelodie <strong>und</strong> den Aufbau der zu erlernenden Sprache zu erreichen.<br />

Darauf aufbauend begannen wir dann ab Ende des 2. Schuljahres das Wörterbuch regelmäßig zu<br />

benutzen, anfangs nur, um z.B. korrekte Pluralformen herauszufi nden, später, um u.a. die Form<br />

eines unregelmäßigen Verbs für die zu schreibende Geschichte nachzuschlagen. Zu Beginn des 4.<br />

Schuljahres wurden die Präpositionen näher beleuchtet, sodass es bald für einige Schüler zur Nor-


malität gehörte, in Zweifelsfällen bzw. nach einem Hinweis <strong>zum</strong> Hilfsplakat an die Wand zu schauen<br />

oder dieses in Kleinformat aus der Tasche zu holen.<br />

Am ersten Tag arbeiteten wir mit dem Vierzeiler eine halbe St<strong>und</strong>e, am zweiten <strong>und</strong> dritten Tag<br />

standen je eine Doppelst<strong>und</strong>e zur Verfügung.<br />

1. Tag:<br />

- Mehrmaliges Lesen des Tafeltextes (Brechts Vierzeiler), danach rhythmisches Klopfen beim Lesen.<br />

- Über das Reimschema wird gesprochen.<br />

- Die Kinder tragen den Vierzeiler (auswendig) vor.<br />

2. u. 3. Tag<br />

- Text steht noch an der Tafel, alles bis auf den Zeilenanfang wird ausgewischt. Textvariationen<br />

(mündlich) werden ausprobiert.<br />

- Thematisierung der Pluralnotwendigkeit (bei Unsicherheit die gewünschte Pluralform im Wörterbuch<br />

nachschauen<br />

Übungen dazu *<br />

- Verweis auf korrekte Tempusbildung (evtl. nachschauen im Wörterbuch, im angelegten Verbheft<br />

oder in der ausliegenden Verbliste)<br />

Übungen dazu *<br />

- Hinweis auf die adverbiale Bestimmung (Hilfsplakat an der Wand) Übungen dazu *<br />

(*) Wegen allgemein hoher Fluktuation <strong>und</strong> der Aufteilung einer Parallelklasse in diesem Schuljahr<br />

konnte ich nicht damit rechnen, dass alle Kinder ähnliche Vorkenntnisse/ähnliche „Sprachahnung“<br />

haben. Deshalb wurden Übungen vorgeschaltet, die das Nachschauen, Nachschlagen, Hilfeholen<br />

noch einmal besonders thematisierten.<br />

- Kinder schreiben einen oder mehrere Texte, allein oder zu zweit<br />

Da sie ihren Text am nächsten Tag vortragen sollten, waren sie erpicht darauf, dass ihr Text ohne<br />

Fehler dastand – für den nächsten Tag korrigierte ich, was nötig war, die Autoren lernten ihren Text<br />

<strong>und</strong> trugen ihn vor.<br />

Zwei Zauberer gingen in ein Labor. Der<br />

eine nahm eine Flasche Chlor.<br />

Der andere ging nach Haus zurück.<br />

Auf einmal waren beide ein Käsestück.<br />

Sukjit<br />

Zwei Zwerge kletterten auf einen Baum.<br />

Der eine fi el in einen Traum.<br />

Der andere legte sich auf die Lauer.<br />

Auf einmal war der erste sauer.<br />

Vural<br />

3 Ausblick<br />

Zwei Katzen stiegen auf ein Haus<br />

Die eine sah eine leckere Maus.<br />

Die andere fand ein Käsestück.<br />

Auf einmal lachten sie vor Glück.<br />

Hasan<br />

Zwei Raben fl ogen übers Land.<br />

Der eine wollte auf den Sand.<br />

Der andere wollte in ein Schloss.<br />

Doch leider war er nicht der Boss.<br />

Siham <strong>und</strong> Muhammed Ali<br />

Es gibt viele engagierte Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen, die sich um die <strong>sprachlichen</strong> Fortschritte ihrer<br />

DaZ-Lerner sorgen. Sie haben schon sehr vieles ausprobiert, vieles wieder verworfen, manches<br />

dann beibehalten, aber immer wieder sind sie verunsichert, da es ja wohl nicht das Richtige gewesen<br />

sein kann: Denn die Kinder kommen zwar voran, aber nach der anfangs recht erfolgreichen<br />

Eingansstufe eben nur sehr, sehr langsam (vgl. Weinrich in diesem Band). Nehmen wir uns doch<br />

die Freiheit <strong>und</strong> führen auch Schüler anderer Herkunftssprachen an deutsche sog. ästhetische Texte<br />

heran <strong>und</strong> nutzen diese <strong>zum</strong> Lernen des Deutschen. Machen wir dies nach dem oben beschriebenen<br />

Ansatz des Generativen Schreibens konsequent <strong>und</strong> regelmäßig, dann wird es auch möglich, einen<br />

großen Teil der in den Schulbüchern abgedruckten Grammatikübungen lernwirksamer zu ersetzen.


Literatur<br />

Apeltauer, Ernst (1997): Gr<strong>und</strong>lagen des Erst- <strong>und</strong> Fremdsprachenerwerbs. Berlin: Langenscheidt<br />

Aulmann, Georg (2006): Wie bleiben lebende Sprachen auch im Klassenzimmer noch am Leben? In:<br />

Praxis Fremdsprachenunterricht 03/06, S. 13-19.<br />

<strong>Belke</strong>, <strong>Gerlind</strong> (2003): Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht. Sprachspiele, Spracherwerb, Sprachvermittlung.<br />

Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.<br />

<strong>Belke</strong>, <strong>Gerlind</strong> (voraussichtliche Veröffentlichung Ende 2006): Mit Sprache spielen. Kinderreime,<br />

Gedichte <strong>und</strong> Geschichten für Kinder <strong>zum</strong> Nachsprechen, Selbermachen <strong>und</strong> Mitmachen. Baltmannsweiler:<br />

Schneider Hohengehren.<br />

<strong>Belke</strong>, Eva/<strong>Belke</strong>, <strong>Gerlind</strong> (2005): Das Sprachspiel als Gr<strong>und</strong>lage institutioneller Sprachvermittlung.<br />

In: Becker, Tabea/Peschel, Corinna (Hgg.): Gesteuerter <strong>und</strong> ungesteuerter Grammatikerwerb..<br />

Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 174-200.<br />

Benholz, Claudia/Lipkowski, Eva/Iordanidou, Charitini (2005): Bedingungen des Textverstehens –<br />

Stolpersteine <strong>und</strong> Fördermöglichkeiten. In: Bartnitzky, Horst/Speck-Hamdan, Angelika (Hgg.) Beiträge<br />

zur Reform der Gr<strong>und</strong>schule, Bd. 120. Hemsbach: Druckhaus Beltz, S. 242-258.<br />

Brinkmann, Erika (2004): Learning by heart. In: Gr<strong>und</strong>schule Deutsch, Heft 3, S. 4-6.<br />

Chlosta, Christoph/Ostermann, T./Schroeder, C. (2003): Die Durchschnittsschule <strong>und</strong> ihre Sprachen:<br />

Ergebnisse des Projekts Sprachenerhebung an Essener Gr<strong>und</strong>schulen. In: ELiSe: Essener Linguistische<br />

Skripte – elektronisch, 3. Jg., Heft 1, S. 43-139 .<br />

Fürstenau, S./Gogolin, I./Yagmur, K. (Hgg.) (2003): Mehrsprachigkeit in Hamburg. Münster:<br />

Waxmann.<br />

Lewis, Michael (2002): The Lexical Approach. The State of ELT and a Way Forward.<br />

O.O.:Thomson/Heinle.<br />

Rösch, Heidi et al. (Hgg.) (2003): Deutsch als Zweitsprache. Gr<strong>und</strong>lagen, Übungsideen, Kopiervorlagen<br />

zur Sprachförderung. Hannover: Schroedel, S. 213-215.<br />

Siebert-Ott, Gesa (2003): Muttersprachendidaktik – Zweitsprachendidaktik – Fremdsprachendidaktik<br />

– Multilingualität. In: Bredel, U. et al. (Hgg.) Didaktik der deutschen Sprache, Band 1. Paderborn:<br />

Schöningh. S. 30-41.<br />

Spitzer, Manfred (2002): Lernen. Gehirnforschung <strong>und</strong> die Schule des Lebens. Heidelberg/Berlin:<br />

Spektrum Akademischer Verlag GmbH.<br />

Stanat, Petra/Müller, Andrea (2005): Förderung von Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern mit Migrationshintergr<strong>und</strong>.<br />

In: Bartnitzky, Horst/Speck-Hamdan, Angelika (Hgg.) Beiträge zur Reform der Gr<strong>und</strong>schule,<br />

Bd. 120. Hemsbach: Druckhaus Beltz, S. 20-32.<br />

aus: Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik KÖBES, H. 4 / 2006


Monika Lüth<br />

Artikelsensibilisierung in den ersten beiden Schuljahren<br />

Das Genus der Nomen <strong>und</strong> das davon bestimmte Deklinationssystem gehört mit zu<br />

den größten Problemen, die DaZ- oder DaF-Lerner bewältigen müssen, wollen sie<br />

korrekt sprechen <strong>und</strong> schreiben. Zwar kann man verständlich kommunizieren, ohne<br />

die Genera zu beachten; spätestens aber bei der Produktion von Texten wird deutlich,<br />

dass kaum ein Satz korrekt zustande kommt, wenn das Genus der Nomina dem<br />

Schreiber nicht vertraut ist.<br />

Es liegt nahe, erst einmal durch unterschiedliche Methoden den Kindern zu vermitteln,<br />

dass es im Deutschen für die Nomina verschiedene Begleiter gibt.<br />

(Vergessen wir nicht, dass ein Wissen um den richtigen Artikel/Begleiter noch lange kein<br />

Anwenden-Können bedeutet. Dies heißt, dass tägliche Sprachspiele, Dialog-Übungen, Singen<br />

von ausgesuchten Liedern etc. weitaus sinnvoller sind als ein isoliertes Lernen von Artikel+Nomen.<br />

Etwas anderes ist es, Genus-Listen zu erarbeiten. Damit kann man später z.B. ein<br />

Quartett herstellen oder nach dem Genus sortierte Bildwortkarten einsetzen, um zu<br />

einem gegebenen Zeitpunkt Sprachbetrachtungen anzustellen; die Schüler finden<br />

auf diese Weise z.B. heraus, dass das Benutzen von Präpositionen recht folgenreich<br />

für den sich anschließenden Artikel sein kann.)<br />

Im Folgenden werden einige Möglichkeiten für eine Artikelsensibilisierung in den ersten<br />

Jahren der Gr<strong>und</strong>schule aufgelistet:<br />

• Nach dem Üben eines Anlauts legt der Lehrer die entsprechenden Gegenstände<br />

<strong>und</strong>/oder Bildkarten auf den Boden in die Mitte des Sitzkreises. Die Schüler sortieren<br />

sie zuerst nach unterschiedlichen Kriterien, die sie selbst vorschlagen,<br />

dann nach dem jeweiligen Genus. Dies geschieht z.B. mittels farbiger Pappen (für<br />

jedes Genus eine Farbe; die Fremdsprachendidaktik hat sich z.B. geeinigt auf:<br />

blau – Maskulinum; grün – Neutrum; rot – Femininum).<br />

• Die Wörter der Anlaut-Tabelle werden zusammen mit den Schülern farbig gekennzeichnet.<br />

Eine große Anlaut-Tabelle hängt in der Klasse <strong>und</strong> jeder Schüler hat eine an seinem<br />

Platz, die er nach <strong>und</strong> nach selbst mit den drei Farben ausmalt.<br />

• Beim Einüben des Anlaut-Rap („A wie Affe, B wie Ball, ...“ Bausteine Fibel;<br />

Diesterweg)) werden die entsprechenden Wortkarten auf die Leiste der Seitentafel<br />

gestellt <strong>und</strong> von den Kindern farbig umrahmt.<br />

• Drei weiße DIN A 2 - Bögen hängen in der Deutsch-Ecke, auf die vertraute Substantive<br />

(d.h. das entsprechende Bild) geklebt <strong>und</strong> blau oder grün oder rot umrahmt<br />

werden.<br />

• Wenn die Kinder fast alle Buchstaben lesen können, werden drei Hefte angelegt:<br />

ein der-Heft, ein das-Heft <strong>und</strong> ein die-Heft. In diese Hefte werden Bilder hochklappbar<br />

eingeklebt, so dass die Kinder die vom Lehrer vorbereiteten (blau-


en/grünen/roten) Wörter darunter kleben können. (Es hat sich bewährt, eine DIN<br />

A 5-Seite mit nicht mehr als 4 Bildern zu bestücken.)<br />

Diese Hefte werden bis <strong>zum</strong> Ende der Gr<strong>und</strong>schulzeit benutzt. Sei es, um später<br />

Pluralbildungen, die der Schüler im Wörterbuch nachgeschlagen hat, dazu zu notieren,<br />

sei es um die gesammelten, von ihm sozusagen schon vorsortierten Nomen<br />

fürs ‚Generative Schreiben’ zu nutzen u.v.m..<br />

• Natürlicherweise richten wir beim Hören unsere Aufmerksamkeit in erster Linie<br />

auf den Inhalt <strong>und</strong> nehmen die nicht bedeutungstragenden Elemente kaum wahr.<br />

Das folgende Bewegungsspiel soll diese Tendenz umkehren. Die Kinder müssen<br />

ihr Ohrenmerk gerade auf die Artikel richten:<br />

L oder S ruft z.B. „der Käfer“: die Kinder hocken sich neben ihren Stuhl<br />

L oder S ruft z.B. „das Kaninchen“: die Kinder setzen sich auf ihren Stuhl<br />

L oder S ruft z.B. „die Giraffe“: die Kinder stellen sich auf den Stuhl <strong>und</strong> recken<br />

die Arme hoch<br />

Auf (Rechtschreib-)Lernkarten werden die Nomen in der entsprechenden Farbe<br />

geschrieben.<br />

Ausgangspunkt war ein erstes Kennenlernen des ‚stummen h’ in den Verben sehen,<br />

gehen <strong>und</strong> stehen. Diese Verben boten sich an, da die Kinder einen Film<br />

gesehen hatten <strong>und</strong> ein Theaterbesuch noch bevorstand. Nach dem Prinzip ‚Lieber<br />

im Satz als isoliert’ erscheinen nun diese Verben auf der Lernkarte in einem<br />

Satz. Zu beachten ist dabei, dass einerseits die schon bekannten Nomina in ihren<br />

Artikelfarben auftauchen, andererseits für den Rest andere Farben gewählt werden<br />

- bewusst, aber noch ohne Erklärung.<br />

„Wir (braun) sehen (schwarz) einen Film (beides blau).“<br />

„Wir gehen ins (in (lila), s (grün)) Theater (grün).“<br />

„Wir stehen auf (lila) dem Hof (beides blau).“<br />

• An vielen kleinen Texten, die in erster Linie das selbständige Erlesen trainieren<br />

sollen, können im Anschluss die Nomen <strong>und</strong> ihre Begleiter farbig gekennzeichnet<br />

werden. Es hat sich bewährt, damit erst im zweiten Lernjahr zu beginnen.<br />

( Anfangs sollte man dafür nur solche Sätze verwenden, die noch keinerlei Verwirrung<br />

stiften können: „Dein Bruder (blau) geht in die Schule (rot).“<br />

Wenn das Prinzip verstanden ist, darf/soll provoziert werden:<br />

„Meine Mutter (rot) hat mich gestern von der Schule (rot) abgeholt.“ Hier muss<br />

sich das Thema „Präpositionen können zaubern“ anschließen.<br />

Ebenfalls ist Vorsicht geboten beim Plural-Artikel die, vor allem, wenn sich die<br />

Singular- von der Pluralform nicht unterscheidet: „Die Messer (grün) liegen auf<br />

dem Tisch.“ !


Jim Cummins<br />

Die fachliche <strong>und</strong> die politische Debatte über die Spracherziehung<br />

von Minderheiten:<br />

Behauptungen <strong>und</strong> Gegenbehauptungen über Lesen, gehobene<br />

Sprache, Pädagogik <strong>und</strong> Sprachstandsermittlung <strong>und</strong> die Beziehung<br />

all dessen zur schulischen Entwicklung zweisprachig aufwachsender<br />

Kinder<br />

Zusammenfassung eines Arbeitspapiers für die Internationale Konferenz über Bilingualismus,<br />

Bristol, 20.4.2001<br />

Die Entwicklung eines gehobenen Sprachniveaus<br />

Die naive traditionelle Sichtweise:<br />

1. Kleine Kinder können die englische Sprache ganz schnell aufschnappen;<br />

2. 1 Jahr intensiven Unterrichts unter Immersionsbedingungen reichen aus, um<br />

Englisch zu lernen.<br />

Die naive progressive Sichtweise:<br />

1. Alle zweisprachigen Kinder brauchen 5 <strong>und</strong> mehr Jahre Unterricht in Englisch<br />

als Zweitsprache oder zweisprachige Unterstützung, um ein gehobenes<br />

Sprachniveau zu erreichen.<br />

Ergebnisse der Forschung:<br />

1. Für die Entwicklung einer stufenangemessenen Ausdrucksfähigkeit brauchen<br />

die Kinder normalerweise mindestens 5 Jahre Unterricht in der Zweitsprache.<br />

2. Um die Alltagssprache der jeweiligen Altersgenossen zu erlernen, benötigt<br />

man 1-2 Jahre <strong>sprachlichen</strong> Umgangs mit diesen.<br />

3. Alltagssprachliche Ausdrucksfähigkeit ist begrifflich zu unterscheiden von der<br />

Fähigkeit zur gehobenen Sprachverwendung. Die Unterschiede sind deutlich<br />

im jeweiligen Sprachentwicklungsstand (man vergleiche 6- <strong>und</strong> 12-jährige<br />

Kinder miteinander), <strong>und</strong> in <strong>sprachlichen</strong> Formen (z.B. hochfrequenter angelsächsischer<br />

Wortschatz gegenüber dem wenig frequenten griechischlateinischen<br />

Wortschatz im Englischen; Satzbau).<br />

Lesen<br />

Die naive traditionelle Sichtweise:<br />

1. Intensive <strong>und</strong> systematisch gelehrte Wahrnehmung der Phoneme <strong>und</strong> der<br />

Lautierung im Englischen ist der Schlüssel, um Leseprobleme <strong>und</strong> schulische<br />

Misserfolge solcher Kinder zu überwinden, die aus Familien mit niedrigem<br />

Einkommen <strong>und</strong> aus zweisprachigem Umfeld kommen.<br />

Die naive progressive Sichtweise:<br />

1. Kinder lernen lesen durch Lesen. Explizite <strong>und</strong> systematische Lautierung ist<br />

überflüssig <strong>und</strong> möglicherweise schädlich ( diese Sichtweise wird von ihren<br />

Gegnern oft als Ganzheits-Einstellung im Spracherwerb bezeichnet ).


2. Lesenlernen in der Zweitsprache führt zu schulischem Versagen; deshalb sollte<br />

bei zweisprachigen Kindern der Leselernprozess in der Erstsprache erfolgen.<br />

3. Der Leseunterricht in der Zweitsprache sollte so lange aufgeschoben werden,<br />

bis die Lesekompetenz in der Erstsprache eine gute Gr<strong>und</strong>lage hat.<br />

Ergebnisse der Forschung:<br />

1. Die Fähigkeit zur korrekten Lesetechnik ist eine notwendige, aber nicht ausreichende<br />

Bedingung für die Entwicklung des Leseverständnisses; viele Schülerinnen<br />

<strong>und</strong> Schüler aus unteren sozialen Schichten, die anscheinend gut abschneiden<br />

bei standardisierten Tests in den ersten Schuljahren, erfahren in<br />

der 4. Klasse einen Leistungsabfall („grade 4 slump“), wenn bei den standardisierten<br />

Tests der Schwerpunkt stärker auf das sinnentnehmende Lesen als<br />

auf die korrekte Lesetechnik gelegt wird.<br />

2. Der effektivste Weg zur Förderung der Lesetechnik verbindet umfangreiche<br />

<strong>und</strong> vielfältige Beschäftigung mit bedeutungsvollen Drucktexten mit explizitem<br />

<strong>und</strong> systematischem Unterricht im Wahrnehmen der Phoneme <strong>und</strong> der Laut-<br />

Buchstaben-Beziehung.<br />

3. Ein systematischer Unterricht in der Lautierung kann Zweitsprachlerner befähigen,<br />

gedruckte Wörter in ihrer Zweitsprache bis zu einem relativ hohen Niveau<br />

zu erkennen <strong>und</strong> lautgerecht zu lesen, ungeachtet der Tatsache, dass<br />

ihre Kenntnisse in der Zweitsprache noch begrenzt sind. Die Fähigkeit zur korrekten<br />

Lesetechnik führt aber nicht automatisch <strong>zum</strong> Leseverstehen oder zu<br />

anderen Fertigkeiten in der Zweitsprache.<br />

4. Die Reihenfolge des Leselernens in einem bilingualen Programm (zuerst die<br />

Erstsprache / zuerst die Zweitsprache / Erst- <strong>und</strong> Zweitsprache parallel) erlaubt<br />

allein keine zuverlässige Vorhersage der späteren Leseentwicklung oder<br />

des schulischen Weiterkommens.<br />

5. Nach den Anfangsklassen hängt das Leseverstehen vor allem davon ab, wie<br />

viel die Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler tatsächlich lesen. Häufiges Lesen vermittelt<br />

einen breiten Wortschatz, der übereinstimmend als wichtigste Vorbedingung<br />

für die Lesefähigkeit betrachtet wird: psychometrisch ausgedrückt sind Wortschatzkenntnisse<br />

nicht zu unterscheiden von Leseverstehen.<br />

Bilingualer Unterricht<br />

Die naive traditionelle Sichtweise:<br />

1. Wenn Kinder Defizite in der englischen Sprache haben, müssen sie in der<br />

Schule so viel wie möglich Kontakt mit der englischen Sprache haben. Bilinguales<br />

Lernen schwächt diesen Kontakt ab <strong>und</strong> führt deshalb zu geringeren<br />

Kenntnissen in der englischen Sprache („maximum exposure / time-on-task<br />

Hypothese“).<br />

2. Kinder aus bilingualen Übergangsprogrammen sollten so schnell wie möglich<br />

in den englischsprachigen Regelunterricht eingegliedert werden, damit sie<br />

Englisch lernen.<br />

Die naive progressive Sichtweise:<br />

1. Wenn Kinder zu Hause <strong>und</strong> in der Schule unterschiedliche Sprachen sprechen<br />

<strong>und</strong> zu einem Sprachwechsel gezwungen sind, wird ihr schulisches Weiter-


kommen verlangsamt, denn Kinder können nicht in einer Sprache lernen, die<br />

sie nicht verstehen (linguistic mismatch-Hypothese).<br />

2. Der Anfangsleseunterricht sollte in der Sprache erfolgen, die die Kinder am<br />

besten können.<br />

3. Die Alphabetisierung in der Zweitsprache sollte so lange aufgeschoben werden,<br />

bis die Alphabetisierung in der Erstsprache gesichert ist.<br />

4. Die Erst- <strong>und</strong> Zweitsprache sollten in bilingualen Programmen strikt getrennt<br />

werden.<br />

Ergebnisse der Forschung:<br />

1. Unterricht in der Minderheitensprache innerhalb eines gut eingerichteten bilingualen<br />

Programms hat keine negativen Folgen für die schulische Entwicklung<br />

in der Mehrheitssprache (weder für Schüler, die die Minderheitensprache als<br />

Muttersprache haben, noch für diejenigen, die die Mehrheitssprache als Muttersprache<br />

haben).<br />

2. Übereinstimmend ist in bilingualen Programmen eine relativ deutliche Beziehung<br />

festgestellt worden zwischen Erst- <strong>und</strong> Zweitsprache bei der Entwicklung<br />

der gehobenen Ausdrucksfähigkeit. Dies gilt für verwandte wie für nichtverwandte<br />

Sprachen (z.B. Baskisch – Spanisch)<br />

(Interdependenzhypothese).<br />

3. Der Transfer von CALP – Fähigkeiten kann in beide Richtungen gehen: von<br />

der Erst- in die Zweitsprache <strong>und</strong> umgekehrt (vgl. die Untersuchungen von<br />

Verhoeven).<br />

4. Die kontinuierliche Entwicklung der Erst- <strong>und</strong> Zweitsprache in der Primarstufe<br />

ist verb<strong>und</strong>en mit einer wachsenden Fähigkeit zur Sprachwahrnehmung <strong>und</strong>,<br />

in einem geringeren Ausmaß, mit geistiger Beweglichkeit.<br />

5. Bei Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern mit einer Minderheitensprache haben sich die<br />

CALP-Fähigkeiten in der Erst- <strong>und</strong> Zweitsprache am besten in koordinierten<br />

Sprach- <strong>und</strong> Entwicklungsprogrammen entwickelt, die die Alphabetisierung in<br />

der Erstsprache während der Primarstufe in den Vordergr<strong>und</strong> stellen (z.B. die<br />

Untersuchungen von Thomas / Collier).<br />

6. Die wesentlichen Ursachen für die Minderleistungen von marginalisierten<br />

Schülern beruhen auf Machtstrukturen mit Zwangscharakter in der Gesamtgesellschaft.<br />

Eine Veränderung ist nur möglich, wenn die Schulen die Wirkungsweise<br />

dieser Machtstrukturen in Frage stellen. Es gibt „bilinguale“ Programme,<br />

die die Machtstrukturen bestärken, während Englisch-Programme<br />

die Machtstrukturen in Frage stellen können.<br />

Sprachstandsermittlung<br />

Die naive traditionelle Sichtweise:<br />

1. Die ständige Untersuchung der Fortschritte der Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler<br />

durch standarisierte Tests erhöht die Verantwortlichkeit der Schulen <strong>und</strong> verbessert<br />

die Leistungen der Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler.<br />

2. Alle Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler sollten in Testprogramme einbezogen werden,<br />

unabhängig von ihren Englischkenntnissen oder der Dauer ihres Aufenthalts.<br />

3. Die Ergebnisse standarisierter Testverfahren der einzelnen Schulen spiegeln<br />

die Qualität des Unterrichts in diesen Schulen wider.<br />

4. Rein englischsprachige Tests in den ersten Schuljahren spiegeln genau die<br />

Qualität des Unterrichts in bilingualen Programmen wider.


Die naive progressive Sichtweise:<br />

1. Standarisierte Tests messen nur „Unsinn“ <strong>und</strong> sind für alle Kinder, unter allen<br />

Umständen <strong>und</strong> für jeden Zweck ungeeignet.<br />

Ergebnisse der Forschung:<br />

1. Standarisierte Lesetests untersuchen in den ersten Schuljahren den Stand der<br />

Lesetechnik, in den höheren Klassen ab der 3. Jahrgangsstufe zunehmend<br />

das Leseverstehen. Deshalb sind die Ergebnisse in den ersten Schuljahren<br />

nicht notwendigerweise ein guter Indikator für den weiteren Fortschritt (Leistungsrückfall<br />

in der 4. Klasse „the grade 4 slump“).<br />

2. Tests, die über Versetzungen oder Abschlüsse entscheiden sollen („high stakes<br />

testing“) können in dramatischer Weise den Unterricht beschränken <strong>und</strong><br />

einen Paukunterricht verstärken (Untersuchungen von Gándara, McNeil).<br />

3. Standardisierte (oder nicht standardisierte) Tests, die nur die englischen<br />

CALP-Fähigkeiten untersuchen, unterschätzen die schulischen Fortschritte<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten bilingualer Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler mindestens 5 Jahre<br />

lang, nachdem sie mit dem Erlernen der englischen Sprache begonnen haben.<br />

4. Die Verwendung standardisierter Tests der mündlichen Fähigkeiten <strong>zum</strong><br />

Zweck der Überweisung an Sonderschulen hat zu einer deutlichen Überrepräsentierung<br />

von bilingualen Schülern <strong>und</strong> solchen mit einem anderen kulturellen<br />

Hintergr<strong>und</strong> in Sonderschulklassen geführt (Lernbehinderung) <strong>und</strong> zur Unterrepräsentation<br />

in Klassen für begabte Schüler.<br />

5. Wenn standardisierte Lesetests angemessen durchgeführt werden, ermitteln<br />

sie dieselben CALP-Fähigkeiten wie authentischere Untersuchungen, etwa C-<br />

Tests, miscue analysis zu Lesestrategien u.ä.<br />

6. Ein Teaching-to-the-test ist auf lange Sicht vermutlich weniger effektiv als die<br />

Förderung von häufigem Lesen <strong>und</strong> Schreiben <strong>und</strong> von Aktivitäten zur<br />

Sprachwahrnehmung.<br />

Übersetzung: Thomas Jaitner


Monika Lüth<br />

Einführung in das mündliche Sprachspiel<br />

1.<br />

Wenn die Annahme stimmt, dass ein normal begabter Lerner einen zu speichernden<br />

Ausdruck einige Tage lang mindestens acht Mal gesprochen haben sollte, müssen<br />

wir uns Gedanken darüber machen, wie wir diese Sprechhäufigkeit bei den Lernern<br />

erzielen können, ohne dass ermüdendes Herbeten daraus wird.<br />

Es hat sich bewährt, sogenannte chunks in Sprachspiele einzubetten.<br />

„Der Strukturalismus behauptete, dass der Lerner die Regeln des Sprachsystems<br />

beherrsche <strong>und</strong> deswegen im Stande sei, korrekte Sätze zu erzeugen. Mittlerweile<br />

scheint es aber plausibel, dass ein wichtiger Teil des Spracherwerbs in der Fähigkeit<br />

besteht, lexikalische Phrasen als unzerteilte Einheiten oder „chunks“ hervorzubringen<br />

<strong>und</strong> dass diese chunks zu den Rohdaten werden, durch welche der Lerner beginnt,<br />

Sprachmuster <strong>und</strong> Sprachformen wahrzunehmen, <strong>und</strong> all die anderen Merkmale der<br />

Sprache, die man normalerweise als Grammatik bezeichnet.“<br />

(Übersetzt aus: Michael Lewis „The Lexical Approach“, London 2002 (Erstausgabe<br />

1993), S. 95)<br />

2.<br />

Beispiele für solche chunks (dt. etwa: Brocken, große Stücke):<br />

Arm in Arm<br />

Ich war zu Hause.<br />

im Kreis herum<br />

im Park spielen<br />

gestern Nachmittag<br />

morgen früh<br />

auf den Hof gehen<br />

die Treppe herunter usw.<br />

Es geht also um Mehrwortausdrücke, die eine leidlich geschlossene semantische<br />

Einheit bilden <strong>und</strong> günstigstenfalls sogar als eigenständige Äußerungen verwendbar<br />

sind, etwa als Anweisung oder als Kurzantwort in einem Dialog. Im Einzelfall eignen<br />

sich diejenigen Fügungen am besten, die <strong>zum</strong> unmittelbaren Lebensbereich der<br />

Lerngruppe gehören.<br />

Manchmal ist als zu lernender chunk auch ein kurzer Satz sinnvoll (Wir gehen in die<br />

Schule.), dann wieder eine reduzierte (elliptische) Wendung (mit dem Bleistift). Im<br />

Laufe eines Schulvormittages kommt es wohl eher vor, dass unterschiedliche Verben<br />

(z.B. unterstreichen, schreiben, einkreisen), in infiniter oder finiter Form, an den Ausdruck<br />

mit dem Bleistift gekoppelt werden. Deshalb mag es günstiger sein, nur den<br />

präpositionalen Ausdruck als chunk zu verwenden. Dagegen kommt der Kurzsatz<br />

Wir gehen in die Schule. häufig in dieser Form vor <strong>und</strong> ist insofern als chunk geeignet.<br />

Ein weiteres Beispiel:<br />

Ich möchte, dass meine Schüler den Ausdruck auf den Hof (gehen, laufen ...) trainieren,<br />

um ihn dann bei gegebenem Anlass problemlos abrufen zu können. Entscheide


ich mich bei meinem Sprachspiel <strong>und</strong> evtl. später bei der Lernkarte für auf den Hof<br />

gehen oder Ich gehe auf den Hof ?<br />

Für den Infinitiv spricht, dass die Lerner den chunk unverändert in eine Äußerung<br />

übernehmen können, sofern diese mit einem Hilfs- oder Modalverb gebildet wird<br />

(Werden/Sollen, Dürfen wir auf den Hof gehen?).<br />

Wenn allerdings Äußerungen häufiger ohne Modal- oder Hilfsverben üblich sind, sollte<br />

man sich für die finite Form entscheiden, wobei der Schüler dann die Verbform an<br />

das gewünschte Subjekt anpassen muss.<br />

Es ist interessant <strong>und</strong> wäre sicher sinnvoll, die eigenen Äußerungen einmal unter<br />

diesem chunk - Finde - Blickwinkel zu betrachten.<br />

Wenn mit einem chunk gespielt wird, hat dies den Vorteil, dass in emotional positiver<br />

Atmosphäre eine zu lernende Wendung in immer neue Sinnzusammenhänge gestellt<br />

wird, wobei eine Differenzierung darin besteht, dass das Austauschen von Wortarten<br />

oder Satzteilen sehr individuell <strong>und</strong> mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad geschehen<br />

kann.<br />

3.<br />

Die Überlegungen zu den chunks reihen sich ein in die Gedanken über das implizite<br />

Lernen.<br />

Dazu das folgende Zitat aus: Manfred Spitzer, Lernen, Gehirnforschung <strong>und</strong> die<br />

Schule des Lebens, Hamburg / Berlin 2002:<br />

„Unser Gehirn ist – abgesehen vom Hippokampus, der auf Einzelheiten spezialisiert<br />

ist – auf das Lernen von Allgemeinem aus. Dieses Allgemeine wird aber nicht dadurch<br />

gelernt, dass wir allgemeine Regeln lernen. – Nein! Es wird dadurch gelernt,<br />

dass wir Beispiele verarbeiten (...) <strong>und</strong> aus diesen Beispielen die Regeln selbst produzieren.“<br />

(S.76)<br />

„Was Kinder brauchen, sind Beispiele, <strong>und</strong> wenn möglich die richtigen <strong>und</strong> guten<br />

Beispiele. Auf die Regeln kommen sie dann schon selbst.“ (S. 78)<br />

4.<br />

Das Lernen in chunks hat 2 Varianten:<br />

� es lädt ein zur Substitution, um durch kreatives Verändern grammatikalische<br />

Strukturen zu üben;<br />

� eine bestimmte grammatische Struktur bleibt invariant <strong>und</strong> wird unverändert<br />

immer wieder genutzt. Dazu passen chunks, die in unterschiedlichen Kontexten<br />

immer wieder eingesetzt werden (etwa: beim sozialen Lernen „Ich finde<br />

dich nett, weil...“; der Nebensatz wird dann unterschiedlich gefüllt) oder aber<br />

Kinderreime, Abzählverse etc.<br />

Beispiele<br />

Beispiel 1<br />

Was machen wir mit müden Kindern?<br />

Nach der Melodie „What shall we do with the drunken sailor?“ wird dieses Lied gesungen.<br />

Was machen wir mit müden Kindern morgens in der Schule?<br />

Klatscht in die Hände, dann seid ihr munter, morgens in der Schule.


Bald fallen den Kindern Varianten ein, z.B.:<br />

Was machen wir mit lauten Kindern ...<br />

Flüstert doch alle, dann seid ihr leiser ...<br />

Was machen wir mit albernen Kindern ...<br />

Setzt euch ruhig hin, dann seid ihr schon ernster ...<br />

Wichtig ist hier: die Adjektivendung -(e)n darf nicht verschluckt werden.<br />

Beispiel 2<br />

(Amseln, Kohlmeisen, ... sitzen, hocken, zwitschern, ...) auf dem Ast.<br />

Wenn im Rahmen des Sachunterrichts z.B. „Vögel im Frühling“ als Thema ansteht,<br />

lassen sich gegen Ende noch einmal alle Vogelnamen benutzen <strong>und</strong> werden reihum<br />

mit dem entsprechenden Satz genannt.<br />

Leistungsstärkere Schüler steuern ganz von selbst Variationen bei.<br />

Alle Lehrer sitzen auf dem Ast.<br />

100 Elefanten hocken auf dem Ast.<br />

Aber Achtung: Verben der Bewegung mit Ziel dürfen nicht verwandt werden, denn<br />

sie erfordern den Akkusativ (klettern auf den Ast).<br />

Beispiel 3<br />

im Kreis herum<br />

Irgendwo in der Klasse wird ein Stuhl o.ä. so hingestellt, dass ein Kind um ihn herum<br />

laufen kann. Die Lehrerin zeigt - ohne dass das Kind es sieht – wie oft seine Mitschüler<br />

im Kreis herum singen :<br />

„Du läufst jetzt im Kreis herum,<br />

im Kreis herum, ...<br />

<strong>und</strong> bleibst stehen!“<br />

Das mag simpel erscheinen, ist aber sehr beliebt.<br />

Ähnlich umgehen können wir mit Ausdrücken wie<br />

mit (d)einem Fre<strong>und</strong><br />

mit (d)einer Fre<strong>und</strong>in:<br />

Zwei Kinder gehen Arm in Arm, Hand in Hand oder mit dem Arm um die Schulter<br />

des/der anderen in der Klasse umher, in ihrer Nähe steht eine „Bank“.<br />

Die Mitschüler singen:<br />

„Du gehst mit (d)einer Fre<strong>und</strong>in spazieren,<br />

du gehst ...<br />

<strong>und</strong> ihr setzt euch auf die Bank!“<br />

Beispiel 4<br />

gestern Nachmittag / heute Morgen / am Abend / morgen früh<br />

Einzelne Schüler stellen einem Klassenkameraden je eine Frage. Der Gefragte muss<br />

immer mit „Gestern Nachmittag.“ antworten.


(z.B.: Wann hast du einen Marsmenschen gesehen? „Gestern Nachmittag.“<br />

Wann hast du ... geküsst? „Gestern Nachmittag.“<br />

usw.)<br />

Interessanterweise achten die Kinder bei der Frage oft automatisch auf den richtigen<br />

Tempusgebrauch.<br />

Das Futur kommt so gut wie nie vor, wenn die Antwort heißen soll „Am Abend.“ oder<br />

„Morgen früh.“, da es umgangssprachlich auch nicht notwendig ist<br />

(Wann isst du Pudding mit Tomatensoße? „Am Abend.“).<br />

Beispiel 5<br />

ohne mich <strong>und</strong> ohne meinen ... ( ‚blaue’ Bildkarte; d.h. maskulines Substantiv)<br />

mein ... ( ‚grüne’ Bildkarte; d.h. Neutrum - Substantiv)<br />

meine ... ( ‚rote’ Bildkarte; d.h. feminines Substantiv)<br />

Ein Schüler wird z.B. gefragt „Kommst du mit uns ins Kino?“ <strong>und</strong> er antwortet :<br />

„Ohne mich <strong>und</strong> ohne meinen ... (dabei nimmt er wahllos eine Bildkarte aus der<br />

blauen Kiste) ... Tiger.“<br />

usw.<br />

Natürlich lässt sich dies auch ohne die Bildkarten durchführen. Mit den Karten wird<br />

jedoch für die Schüler deutlicher, dass dieses meinen in Zusammenhang mit der<br />

blauen Kiste steht, d.h., dass die Veränderung des possessiven Artikelwortes mit<br />

dem Genus des benutzten Substantivs zu tun hat.<br />

Beispiel 6<br />

Fingerspiele<br />

In der Gruppe werden gemeinsam gesprochen <strong>und</strong> dazu geklatscht oder mit den<br />

Zeigefingern auf den Tisch getrommelt:<br />

1.<br />

„1 2 3 4 5 6 7 (!)<br />

wo ist denn mein Fre<strong>und</strong> geblieben (Fre<strong>und</strong>in, Tante, Opa etc., meine Fre<strong>und</strong>e, ...)<br />

Er ist nicht hier,<br />

er ist nicht da,<br />

er ist wohl in Amerika.“<br />

(Nomen mit Personalpronomen)<br />

2.<br />

ebenso:<br />

„1 2 3 4 5 6 7<br />

in der Schule wird geschrieben,<br />

in der Schule wird gelacht,<br />

so dass die ganze Schule kracht.“<br />

(Präposition mit Dativ)


3.<br />

„Denkt euch nur der Frosch ist krank, (die Katze, der H<strong>und</strong>,<br />

da liegt er auf der Ofenbank. das Kind, ...)<br />

Er quakt nicht mehr, wer weiß wie lang.<br />

Denkt euch nur, der Frosch ist krank.“<br />

(Nomen mit Personalpronomen)<br />

Beispiel 7<br />

Wechselgesang<br />

Im Wechselgesang wird in der Klasse gesprochen:<br />

Wer hat den Keks aus der Dose gestohlen? (das Bonbon, den Lolli, die Brause,...)<br />

Emina! (Emina <strong>und</strong> Maria)<br />

Emina hat den Keks aus der Dose gestohlen!<br />

Wer? Ich?<br />

Ja! Du!<br />

Ich war es nicht!<br />

Wer war es denn?<br />

Robert!<br />

Robert hat den ... (aus der Tasche, ... dem Beutel, ...<br />

dem Korb, ... dem Fach etc.)<br />

Die Schüler sammeln eigene Wörter, setzen sie ein, ein S schreibt sie an, beim Sortieren<br />

erkennen sie die Regel Nominativ-Akkusativ, Präposition aus).<br />

Beispiel 8<br />

Artikulationsübung (-ch)<br />

10 Fische im Teich<br />

versteckten sich nicht gleich.<br />

Da kam der Storch gegangen<br />

<strong>und</strong> wollte einen fangen.<br />

9 Fische im Teich<br />

(alle möglichen Tiere, Personen)<br />

Ein Fisch im Teich<br />

versteckte sich nicht gleich.<br />

Da kam ... gegangen<br />

<strong>und</strong> hat den letzten gefangen.<br />

Beispiel 9<br />

Wer kann reimen?<br />

Lehrer/in spricht den Satz vor, die Schüler/innen ergänzen den Reim („glatt“, „satt„...)<br />

Was nicht rau ist, das ist glatt.


Wer nicht hungrig ist, ist satt.<br />

Was nicht groß ist, das ist klein.<br />

Was nicht schmutzig ist, ist rein.<br />

Was nicht hart ist, das ist weich.<br />

Wer nicht arm ist, der ist reich.<br />

Was nicht warm ist, das ist kalt.<br />

Wer nicht jung ist, der ist alt.<br />

Was nicht schmal ist, das ist breit.<br />

Was nicht eng ist, das ist weit.<br />

Wer nicht schlau ist, der ist dumm.<br />

Was nicht gerade ist, ist krumm.<br />

Was nicht dunkel ist, ist hell.<br />

Wer nicht langsam geht, geht schnell.<br />

Was nicht unwichtig ist, ist wichtig. (Versuch einer doppelten Verneinung �)<br />

Was nicht falsch ist, das ist richtig.<br />

Was nicht grob ist, das ist fein.<br />

wer sich nicht wäscht, der ist ein Schwein.<br />

(oder: Wer es nicht raten will, lässt’s sein.)

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