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DOSSIER //<br />
Die globale Flüchtlingsfrage<br />
und Deutschland: eine Geschichte<br />
der Gegenwart<br />
Europa hat viel Erfahrung mit Flucht und Vertreibung. Eine historische Einordnung<br />
ermöglicht es, Hintergründe für die jüngste Fluchtbewegung nach Deutschland<br />
zu beleuchten und Handlungsoptionen abzuleiten.<br />
Von Jochen Oltmer<br />
S<br />
eit mehr als einem Jahr beherrscht<br />
das Thema »Flucht«<br />
die politischen, medialen und<br />
gesellschaftlichen Diskussionen<br />
in ganz Europa. In Deutschland<br />
dominierten lange Zeit positive Zukunftserwartungen<br />
und Zuversicht. Im<br />
Herbst 2015 drehte sich die Perspektive<br />
allerdings auf die Abwehr von Flüchtlingen.<br />
Manche der Institutionen erwiesen<br />
sich als überfordert, Instrumentarien<br />
und Konzepte der Flüchtlingspolitik<br />
entsprachen nicht den neuen Herausforderungen.<br />
Intensiv wird debattiert, ob<br />
und inwieweit sich flüchtlingspolitische<br />
Maßnahmen – wie etwa der »Flüchtlingsdeal«<br />
der EU mit der Türkei, das<br />
Ausweisen von »Sicheren Herkunftsstaaten«<br />
oder das Einrichten von »Hotspots«<br />
in Griechenland und Italien – mit demokratischen<br />
Grundwerten und Zielvorstellungen<br />
vereinbaren lassen. Die Beobachtung<br />
der aktuellen Situation ruft nach<br />
einer Einordnung in den Kontext der<br />
globalen Flüchtlingsfrage und in das Gewaltmigrationsgeschehen<br />
des 20. Jahrhunderts.<br />
Zugleich gilt es, den Wandel<br />
von Politik und Praxis bei der Aufnahme<br />
jener Menschen in den Blick zu nehmen,<br />
die vor Gewalt ausweichen und andernorts<br />
Schutz suchen.<br />
Gewalt forciert Migration<br />
Migrationen sind räumliche Bewegungen<br />
von Menschen. Jedoch wird keineswegs<br />
jede dieser Bewegungen als Migration<br />
verstanden, wie etwa touristische<br />
GEWALT MIGRATION IST EINE<br />
NÖTIGUNG ZUR RÄUMLI-<br />
CHEN BEWEGUNG, DIE KEINE<br />
HANDLUNGSALTERNATIVE<br />
ZUZULASSEN SCHEINT.<br />
Unternehmungen, Reisen oder das tägliche<br />
Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort.<br />
Gemeint sind vielmehr jene<br />
Formen regionaler Mobilität, die weitreichende<br />
Konsequenzen für die Lebensverläufe<br />
der Wandernden haben – und<br />
aus denen sozialer Wandel resultiert.<br />
Migrantinnen und Migranten streben in<br />
der Regel danach, ihre Handlungsmacht<br />
durch einen dauerhaften oder temporären<br />
Aufenthalt andernorts zu vergrößern.<br />
Das gilt für die Suche nach Erwerbs- oder<br />
Bildungschancen ebenso wie für das Streben<br />
nach Autonomie, Sicherheit oder die<br />
Wahrung beziehungsweise Umsetzung<br />
spezifischer Selbstkonzepte.<br />
Formen von Gewaltmigration zeigen<br />
sich dann, wenn staatliche, halb-, quasiund<br />
zum Teil auch nicht-staatliche Akteure<br />
das Leben von Einzelnen oder Kollektiven<br />
weitreichend beschränken. Da<br />
deren (Über-)Lebensmöglichkeiten und<br />
körperliche Unversehrtheit, Rechte und<br />
Freiheit, politische Partizipationschancen,<br />
Souveränität und Sicherheit bedroht<br />
werden, sehen sie sich zum Verlassen ihrer<br />
Herkunftsorte gezwungen. Gewaltmigration<br />
kann dann als eine Nötigung<br />
zur räumlichen Bewegung verstanden<br />
werden, die keine realistische Handlungsalternative<br />
zuzulassen scheint.<br />
Der Begriff der Flucht verweist dabei<br />
auf das Ausweichen vor Gewalt, die zu-<br />
28 DJI IMPULSE 3 . 2016