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DOSSIER<br />

meist aus politischen, ethno-nationalen,<br />

rassistischen, genderspezifischen oder religiösen<br />

Gründen ausgeübt oder angedroht<br />

wird. Im Falle von Vertreibungen,<br />

Umsiedlungen oder Deportationen organisieren<br />

und legitimieren institutionelle<br />

Akteure unter Androhung und Anwendung<br />

von Gewalt räumliche Bewegungen.<br />

Ziel ist es hierbei meist, (Teile<br />

von) Bevölkerungen zur Durchsetzung<br />

von Homogenitätsvorstellungen und zur<br />

Sicherung beziehungsweise Stabilisierung<br />

von Herrschaft zu entfernen, nicht<br />

selten aus eroberten oder durch Gewalt<br />

erworbenen Territorien.<br />

Jede Epoche hat ihre Flüchtlingsbewegungen<br />

Durch Androhung oder Anwendung von<br />

offener Gewalt bedingte räumliche Bewegungen<br />

sind kein Spezifikum der Neuzeit<br />

– ebenso wenig wie Krieg, Staatszerfall<br />

und Bürgerkrieg als wesentliche Hintergründe<br />

von Gewaltmigration. Fluchtbewegungen,<br />

Vertreibungen und Deportationen<br />

finden sich vielmehr in allen<br />

Epochen. Die heiligen Schriften des Judentums,<br />

des Christentums und des Islams<br />

sind durchsetzt mit Berichten über<br />

Flüchtlinge, deren Aufnahme oder Abweisung.<br />

Antike Schriftsteller bieten umfängliches<br />

Anschauungsmaterial über die<br />

Hintergründe, Bedingungen und Folgen<br />

von Fluchtbewegungen: Zahllose Kriege<br />

und Bürgerkriege ließen Menschen fliehen,<br />

Repressionen führten zum Ausweichen<br />

ganzer Bevölkerungen, politische<br />

Gegner wurden ins Exil geschickt: Der<br />

antike römische Dichter Vergil erzählt in<br />

seinem Epos »Aeneis« von der Flucht des<br />

Aeneas und seiner Getreuen aus dem im<br />

Krieg überwältigten Troja nach Italien.<br />

Seine Nachfahren, Romulus und Remus,<br />

hätten, so der Ursprungsmythos der Römer,<br />

die Stadt Rom gegründet und als<br />

erste Siedler einen heiligen Bezirk abgesteckt,<br />

der allen Menschen, die verfolgt<br />

wurden, Asyl und Schutz bieten sollte.<br />

Die Botschaft römischer Autoren lautete,<br />

Rom sei deshalb so mächtig geworden,<br />

weil es immer und in großer Zahl Verfolgte<br />

aufgenommen habe. Und der römische<br />

Politiker und Schriftsteller Cicero<br />

verweist in seinen Briefen aus dem römischen<br />

Bürgerkrieg auf ein existenzielles<br />

Grundproblem von Flüchtlingen: »Ich<br />

weiß wohl, vor wem ich fliehen soll, aber<br />

nicht zu wem.«<br />

Vor allem die beiden Weltkriege des<br />

20. Jahrhunderts sowie der »Kalte Krieg«<br />

bildeten elementare Katalysatoren in der<br />

Geschichte der Gewaltmigration in der<br />

Neuzeit. Die Zahl der Flüchtlinge, Vertriebenen<br />

und Deportierten allein im<br />

Europa des Zweiten Weltkriegs wird auf<br />

60 Millionen geschätzt – also auf mehr<br />

als 10 Prozent der Bevölkerung des Kontinents.<br />

Die Nachkriegszeit beider Weltkriege<br />

war zudem durch millionenfache<br />

Folgewanderungen gekennzeichnet. Dazu<br />

zählten zum einen Rückwanderungen<br />

von Flüchtlingen, Evakuierten, Vertriebenen,<br />

Deportierten oder Kriegsgefangenen<br />

und zum anderen Ausweisungen,<br />

ALLEIN IM EUROPA DES<br />

ZWEITEN WELTKRIEGS GAB<br />

ES SCHÄTZUNGSWEISE<br />

60 MILLIONEN FLÜCHTLINGE,<br />

VER TRIEBENE UND<br />

DEPORTIERTE.<br />

Vertreibungen oder Fluchtbewegungen<br />

von Minderheiten aufgrund der Bestrebungen<br />

von Siegerstaaten, die Bevölkerung<br />

ihres (zum Teil neu gewonnenen)<br />

Territoriums zu homogenisieren. Aber<br />

auch der langwährende und weitreichende<br />

Prozess der Dekolonisation brachte<br />

insbesondere von den späten 1940er- bis<br />

zu den frühen 1970er-Jahren weltweit<br />

umfangreiche Fluchtbewegungen und<br />

Vertreibungen mit sich.<br />

Nach dem Abschluss des Prozesses<br />

der Dekolonisation und nach dem Ende<br />

des »Kalten Kriegs« blieb im späten 20.<br />

und frühen 21. Jahrhundert die globale<br />

Flüchtlingsfrage im Kontext der Szenarien<br />

von Krieg, Bürgerkrieg und Staatszerfall<br />

in vielen Teilen der Welt bestehen –<br />

in Europa (Jugoslawien), im Nahen Osten<br />

(Libanon, Iran, Irak, Syrien, Jemen),<br />

in Ostafrika (Äthiopien, Somalia, Sudan/<br />

Südsudan), in Westafrika (Kongo, Elfenbeinküste,<br />

Mali, Nigeria), in Südasien<br />

(Afghanistan, Sri Lanka) oder auch in<br />

Lateinamerika (Kolumbien).<br />

Flüchtlingsschutz per Konvention<br />

»Flüchtlinge« sind laut der im Jahr 1951<br />

verabschiedeten Genfer Flüchtlingskonvention<br />

jene Migrantinnen und Migranten,<br />

die vor Gewalt über Staatsgrenzen<br />

ausweichen, weil ihr Leben, ihre körperliche<br />

Unversehrtheit, Freiheit und Rechte<br />

direkt oder sicher erwartbar bedroht<br />

sind. Die von inzwischen 147 Staaten<br />

unterzeichnete Genfer Flüchtlingskonvention<br />

wurde entwickelt, um einen<br />

Rechtsrahmen für den Umgang mit der<br />

europäischen Flüchtlingsfrage des Zweiten<br />

Weltkriegs zu finden. Sie war deshalb<br />

zunächst weder auf globale Fluchtbewegungen<br />

ausgerichtet noch auf die Zukunft.<br />

Eine Erweiterung der Konvention<br />

über europäische Flüchtlinge und über<br />

Fluchtbewegungen nach dem Jahr 1949<br />

erfolgte erst 1967 im Kontext der weitreichenden<br />

Kämpfe um die Ablösung der<br />

europäischen Kolonialherrschaft. Das<br />

heißt: Europa bildete im 20. Jahrhundert<br />

lange das Hauptproblem der globalen<br />

Flüchtlingsfrage – Europa als Kriegsschauplatz<br />

und Europa als Träger eines<br />

weltumspannenden Kolonialismus.<br />

Trotz der Regelungen der Genfer<br />

Flücht lingskonvention und der Etablierung<br />

regionaler Schutzregime, wie sie<br />

beispielsweise auch in der Europäischen<br />

Union entwickelt wurden, entscheiden<br />

weiterhin Staaten mit weiten Ermessensspielräumen<br />

über die Aufnahme von Migrantinnen<br />

und Migranten und den Status<br />

jener, die als schutzberechtigte Flüchtlinge<br />

anerkannt werden. Die Bereitschaft,<br />

Schutz zu gewähren, ist dabei immer ein<br />

Ergebnis vielschichtiger Prozesse des<br />

Aushandelns durch Individuen, Kollektive<br />

und (staatliche) Institutionen, deren<br />

Beziehungen, Interessen, Kategorisierun-<br />

3 . 2016 DJI IMPULSE 29

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