WOLFRAM KISTNER: GERECHTIGKEIT UND VERSÖHNUNG
WOLFRAM KISTNER: GERECHTIGKEIT UND VERSÖHNUNG
WOLFRAM KISTNER: GERECHTIGKEIT UND VERSÖHNUNG
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KIRCHLICHE ARBEITSSTELLE SÜDLICHES AFRIKA<br />
<strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>:<br />
<strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
DOKUMENTATION EINER<br />
BUCHPRÄSENTATION<br />
13. NOVEMBER 2008 IN BERLIN<br />
INHALT<br />
SIMONE KNAPP<br />
VORBEMERKUNGEN<br />
RUDOLF HINZ<br />
ERÖFFNUNGSANSPRACHE FÜR DIE<br />
PRÄSENTATION DES <strong>KISTNER</strong> BUCHES<br />
„<strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong>“<br />
DR. HANNS LESSING<br />
<strong>KISTNER</strong>S GEDANKEN ALS IMPULSE<br />
FÜR AKTUELLE DEBATTEN<br />
ELISABETH <strong>KISTNER</strong><br />
DIE LANDFRAGE IN SÜDAFRIKA<br />
ALS HERAUSFORDERUNG AN DIE KIRCHEN<br />
DR. ANDREA FRÖCHTLING<br />
KALEIDOSKOPMOMENTE – ANMERKUNGEN<br />
ZU <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>S THEOLOGISCHEN<br />
BLICKWINKELN<br />
GISELA ALBRECHT<br />
ERINNERUNGEN – BEGEGNUNGEN
Vorbemerkungen<br />
Der Mensch lebt in seinen Kindern weiter,<br />
in den Bäumen, die er gepflanzt hat,<br />
in den Worten, die er ausgesprochen hat.<br />
Mündliche Überlieferung der Massongo (Zentralafrika)<br />
„Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt“<br />
Das hätte das Motto unserer Veranstaltungsreihe „Landfrage im<br />
Südlichen Afrika“ in Bezug auf die Buchpräsentation sein können<br />
mit einer kleinen inhaltlichen Abweichung:Es kommen andere als<br />
man denkt! Kurzfristig haben zwei internationale Gäste – Desmond<br />
Lesejane und Theo Kneifel – abgesagt, das Podium musste<br />
völlig neu konzipiert, die Vorträge neu geschrieben oder strukturiert<br />
werden.Doch das Ergebnis war so beeindruckend,dass die OrganisatorInnen<br />
der Veranstaltung spontan beschlossen, auch die<br />
Präsentation der Präsentation zu dokumentieren. KASA hat diese<br />
Aufgabe gerne übernommen, wie auch die Ausrichtung der Veranstaltung<br />
als solche.Denn ohneWolfram Kistner wäre auch KASA<br />
eine andere geworden.<br />
Für viele im Publikum war dieVeranstaltung einWiedersehen alter<br />
Freunde aber auch ein sich erinnern an eigene Erlebnisse mitWolfram<br />
Kistner. In diesem Sinne kann auch diese Broschüre verstanden<br />
werden:Als eigenständige Möglichkeit,sich mit Wolfram Kistner<br />
und seinem Vermächtnis auseinander zu setzten oder als Anreiz,<br />
mehr von ihm zu lesen.<br />
Simone Knapp<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
2
Eröffnungsansprache für die Präsentation des<br />
Kistner Buches „Gerechtigkeit und Versöhnung“<br />
Seien Sie herzlich willkommen, meine Damen und<br />
Herren, zur Vorstellung eines Buches mit Vorträgen<br />
Wolfram Kistners und einführenden Artikeln seiner<br />
Freundinnen und Freunde.<br />
Ich beginne – wie Wolfram Kistner es auch getan<br />
hätte – mit der Losung der Herrnhuter Brüdergemeine<br />
für diesen Tag, den 13. November 2008:<br />
Jesaja 60,1<br />
Mache dich auf und werde Licht; denn dein Licht<br />
kommt, und die Herrlichkeit des HERRN geht auf über<br />
dir!<br />
Ich füge auch den 2.Vers hinzu:<br />
Denn siehe,Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel<br />
die Völker, aber über dir geht auf der HERR und seine<br />
Herrlichkeit erscheint über dir.<br />
Diese Verse mit der Verheißung eines zukünftigen<br />
Reiches des Friedens passt gut zu unserem Vorhaben.<br />
Es ist Gott selbst, der Frieden schafft. Seine Herrlichkeit,<br />
das strahlende Licht seines Friedens wird das<br />
Dunkel, die Finsternis, die die Völker bedeckt und<br />
bedrückt, aufheben und überwinden.<br />
In seinen letzten Wochen und Tagen hat Wolfram<br />
Kistner ein Text aus den Psalmen begleitet, der den<br />
ersehnten Frieden inhaltlich definiert:<br />
Psalm 85,Vers 10 - 12<br />
Doch ist seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass<br />
in unserem Lande Ehre wohne;<br />
dass Güte und Treue einander begegnen,Gerechtigkeit<br />
und Friede sich küssen;<br />
dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom<br />
Himmel schaue.<br />
Die letzte Zeile (Vers 12) finden Sie auch unter dem<br />
Portrait Kistners auf dem hinteren Umschlagdeckel<br />
unseres Buches.<br />
Sie werden beim Blick auf’s Podium einige der<br />
angekündigten Sprecher vermissen:Bischof Kameeta<br />
aus Namibia, Desmond Lesejane aus Südafrika und<br />
Theo Kneifel konnten leider nicht zu uns nach Berlin<br />
kommen.<br />
Rudolf Hinz<br />
Ich begrüße auf dem Podium besonders herzlich Elisabeth<br />
– besser bekannt als Liz – Kistner, eine der<br />
Töchter von Adelheid und Wolfram Kistner, die<br />
zusammen mit ihrerTochter Mirjam aus Hamburg zu<br />
uns gekommen ist. Beide vertreten heute Abend<br />
zusammen mit dem Sohn Klaus Kistner, der unter<br />
Ihnen sitzt, die Familie Kistner. Im Vorwort zur englischen<br />
Ausgabe unseres Buches schreibt Eddie Makue,<br />
Generalsekretär des Südafrikanischen Kirchenrates<br />
(SACC): We recognize that he (W.K.) could not have<br />
been this witness to Jesus Christ - had it not been for<br />
the challenging children with whom he and Adelheid<br />
were blessed”. Deshalb nenne ich auch noch die<br />
Namen der anderen Kinder der Kistners, die heute<br />
nicht dabei sind: Johanna und Ulrike,die in Südafrika<br />
leben und Maria, die bei einem schrecklichen<br />
Verkehrsunfall ums Leben kam.<br />
Wir danken der ganzen Familie Kistner ganz herzlich<br />
dafür,dass sie die Entstehung unseres Buches freundschaftlich<br />
und konstruktiv begleitet haben.<br />
Wir anderen auf dem Podium sind die Mitwirkenden<br />
an diesem Publikationsprojekt:<br />
Gisela Albrecht, Journalistin aus Berlin, die Wolfram<br />
Kistner über Jahrzehnte hin immer wieder interviewt<br />
hat und uns mit einer Auswahl ihrer Interviews, die<br />
Sie auf der dem Buch beiliegenden CD hören können,<br />
beschenkt hat.<br />
Dr. habil. Andrea – besser bekannt als Drea –<br />
Fröchtling, Theologin, Pastorin der Hannoverschen<br />
Kirche. Sie lernte Wolfram Kistner kennen, als sie als<br />
Stipendiatin des Lutherischen Weltbundes (LWB) vor<br />
15 Jahren nach Pietermaritzburg ging, dort Theologie<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
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studierte und später auch dort promovierte. Ihr verdanken<br />
wir die englische Ausgabe unseres Buches,<br />
das vom SACC herausgegeben wurde. Es trägt den<br />
Titel „Justice and Righteousness like a never-ending<br />
Stream”. Wir haben es Anfang Oktober in Pretoria<br />
gemeinsam vorgestellt.<br />
Dr. Hanns Lessing , Theologe und Pastor der Westfälischen<br />
Kirchen in Dortmund. Früher war er als missionarischer<br />
Mitarbeiter der Vereinten Evangelischen<br />
Mission in Namibia Dozent im Paulinum in Windhuk.<br />
Julia Besten, Geschäftsführerin der Archiv- und Museumsstiftung<br />
in Wuppertal. Sie hatte sich bereit erklärt,<br />
die Finanzen für unser Projekt neben ihren anderen<br />
Aufgaben zu verwalten und hat uns auch beim<br />
Korrekturlesen geholfen.<br />
Ich bin Rudolf Hinz ,Theologe und Pastor der Nordelbischen<br />
Kirche, war früher Afrika-Referent der EKD<br />
und arbeite noch als Lehrbeauftragter für Mission<br />
und Ökumene an der Theologischen Fakultät der Universität<br />
Kiel.<br />
Nicht kommen konnte unser Mitherausgeber Christian<br />
Hohmann, Theologe und Pastor der Westfälischen<br />
Kirche, weil sein Vater schwer erkrankt ist.<br />
Christian ist Mitarbeiter in der Werkstatt Ökumene<br />
seiner Kirche und wohnt in Bad Oeynhausen.<br />
Wie ist unser Buch entstanden?<br />
Nicht wenige von Ihnen werden das Buch „Hoffnung<br />
in der Krise”kennen, das Lothar Engel, Jürgen Schroer<br />
und ich zum 65. Geburtstag (1987) Wolfram Kistners<br />
herausgegeben haben. Es enthält Texte, die Wolfram<br />
Kistner als Direktor der Abteilung „Gerechtigkeit und<br />
Versöhnung”des SACC geschrieben hatte.Sie alle wissen,<br />
dass er nach seiner Pensionierung 1987 zusammen<br />
mit seinem Freund und früheren Generalsekretär<br />
des SACC, Beyers Naudé, in ihrem „Ecumenical<br />
Advice Bureau” weitergearbeitet und viele<br />
Vorträge und Artikel im Blick auf die Zeit vor der<br />
südafrikanischen Wende (1994) und die ersten Jahre<br />
des neuen Südafrika geschrieben hat.<br />
Christian Hohmann und Hanns Lessing waren es, die<br />
noch vor demTodWolfram Kistners im Jahre 2006 die<br />
Idee hatten, die wichtigsten Texte Kistners aus dieser<br />
Zeit in einem zweiten Sammelband herauszugeben.<br />
Christian Hohmann hatte die Gelegenheit, mit Wolfram<br />
Kistner noch vor dessenTod über diesesVorhaben<br />
zu sprechen.Er war mit diesem Projekt einverstanden<br />
und verwies auf das von seiner Frau Adelheid eingerichtete<br />
Archiv. Andrea Fröchtling und ich wurden<br />
Mitglieder dieses Teams und sichteten zusammen<br />
mit Hanns Lessing die Texte im Kistner-Archiv, das<br />
jetzt in der Bibliothek des Lutherischen Studienzentrums<br />
an der Universität Pietermaritzburg liegt.<br />
Was in unseren beiden Ausgaben,der englischen und<br />
der deutschen,abgedruckt ist,ist aber nur eine kleiner<br />
Teil des Textmaterials, das wir aus dem Archiv in<br />
Pietermaritzburg mitgebracht haben.Wer mehr lesen<br />
will, kann sich unsere Pietermaritzburger Auswahl in<br />
der Archiv- und Museumsstiftung inWuppertal ansehen<br />
– und natürlich auch in Kopie mitnehmen.<br />
Gisela Albrecht hat – wie schon in ihrerVorstellung erwähnt<br />
– aus ihrem reichenTon-Archiv eine CD erstellt,<br />
die wir dem Buch beigelegt haben.<br />
Die bereits erwähnte englische Ausgabe ist übrigens<br />
in ihrem Textbestand nicht völlig identisch mit der<br />
deutschen Ausgabe, es lohnt sich also, beide Bücher<br />
zu kaufen!<br />
Zum Schluss möchte ich noch einen herzlichen Dank<br />
den Vertreterinnen unseres Verlages, des Lutherischen<br />
Verlagshauses Hannover (LVH) und unseren<br />
Förderern sagen.<br />
Frau Kruse-Roth und Frau Rocher – sie sind heute<br />
unter uns – haben uns bei unserem Vorhaben tatkräftig<br />
und vertrauensvoll unterstützt. Wir finden,<br />
dass das Buch wirklich schön geworden ist!<br />
Es würde zu weit führen,die vollständige Liste unserer<br />
Sponsoren vorzulesen, sie finden Sie in der Einleitung<br />
zu unserem Buch. Ich möchte nur sagen,dass es nicht<br />
schwer war, die Finanzierung des Buches zu sichern.<br />
Alle, die wir um Mithilfe baten, haben uns spontan<br />
Mittel zugesagt. Und Sie können heute durch den<br />
Kauf unserer Bücher dazu beitragen, dass der im Finanzierungsplan<br />
angesetzte Verkaufserlös erreicht<br />
wird!<br />
Jetzt möchte ich aberWolfram Kistner und meine Kolleginnen<br />
und Kollegen zu Wort kommen lassen. Sie<br />
werden Abschnitte aus dem Buch, die ihnen besonders<br />
wichtig geworden sind,vorlesen und Ihnen auch<br />
sagen,warum ihnenWolfram Kistner so viel bedeutet.<br />
Rudolf Hinz<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
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Kistners Gedanken<br />
als Impulse für aktuelle Debatten<br />
Einleitung<br />
Wolfram Kistner hat sich bis in die letzten Wochen<br />
seines Lebens in seiner nachdenklichen und entschiedenen<br />
Art immer wieder zu wichtigen Fragen<br />
geäußert,die die kirchliche und die gesellschaftliche<br />
Diskussion in Südafrika und Deutschland bis heute<br />
bestimmen. Als Herausgeber des Sammelbandes<br />
sind wir davon überzeugt, dass Kistners Gedanken<br />
wichtige Impulse geben und möchten bei dieser<br />
Buchvorstellung deshalb einige seiner Texte in den<br />
Zusammenhang von aktuellen Debatten stellen.<br />
Die Beziehungen zur deutschsprachigen<br />
Bevölkerungsgruppe im südlichen Afrika<br />
Seit Jahrzehnten werden die Beziehungen der Evangelischen<br />
Kirche in Deutschland zu den deutschsprachigen<br />
lutherischen Kirchen im südlichen Afrika<br />
heftig diskutiert. Im Kern geht es dabei um die Frage,<br />
ob eine gemeinsame Sprache, Kultur und Tradition<br />
besondere kirchliche Beziehungen begründen darf.<br />
Nach Ende des Apartheidsystems war diese Debatte<br />
etwas leiser geworden. Die EKD unterstützte die Einigungsbemühungen<br />
der lutherischen Kirchen,viele<br />
Projekte zielten nach den freien Wahlen in Namibia<br />
und Südafrika auf die Integration der deutschsprachigen<br />
Bevölkerung in die jetzt endlich befreiten Gesellschaften.<br />
In letzter Zeit hat die Diskussion aber erneut<br />
an Schärfe gewonnen, denn die EKD scheint<br />
wieder verstärkt darauf zu setzen,deutschsprachige<br />
Minderheiten im Ausland institutionell und theologisch<br />
an die Kirche in Deutschland zu binden. Während<br />
man nach dem ZweitenWeltkrieg die eigene Arbeit<br />
vorsichtig als „Auslandsarbeit“ umschrieb,<br />
spricht man nun wieder explizit von einer„deutschen<br />
Diaspora“,die zu bedienen sei. Die Frage nach einem<br />
besonderen deutschen Profil von evangelischen<br />
Christinnen und Christen deutscher Sprache im Ausland<br />
steht deshalb wieder im Zentrum einer von<br />
allen Seiten sehr leidenschaftlich geführten Debatte.<br />
Im Unterschied zu den heftigen Debatten in den<br />
80er Jahren sind heute alle Parteien bereit, sich auf<br />
Dr. Hanns Lessing<br />
eine kritische Diskussion einzulassen. Um dieser<br />
Frage die notwendige historische Tiefe zu geben,<br />
haben alle Kirchen und Missionswerke, die in Namibia,<br />
Südafrika und Deutschland an der gemeinsamen<br />
Geschichte teilhaben, einen Studienprozess in<br />
Auftrag gegeben,der die historischen Auswirkungen<br />
der deutschen evangelischen Auslandsarbeit erforschen<br />
soll.<br />
Für diesen Studienprozess hat Wolfram Kistner wichtige<br />
Anregungen gegeben. Als deutschsprachiger<br />
Südafrikaner, hat sich Kistner immer wieder kritisch<br />
mit den Versuchen seiner Kirche auseinander gesetzt,<br />
für das südlichen Afrika eine besondere deutsche<br />
Identität zu formulieren. Dabei hat er sich niemals<br />
gegen die Menschen gestellt, mit denen ihn eine gemeinsame<br />
Geschichte verband.Gleichzeitig zog er aus<br />
seinem lutherischen Glauben eine andere Konsequenz<br />
als viele Mitglieder seiner eigenen Kirche:Nach<br />
seiner Überzeugung zielt lutherische Theologie nicht<br />
auf nationale oder konfessionelleVerengung,sondern<br />
auf ökumenischeWeite. Die Rechtfertigungslehre bedeutet<br />
für ihn eine Befreiung aus der Geschlossenheit<br />
von Identitätskonstruktionen. Im Titel eines Buches<br />
von 1988 formuliert er die Position eines Christen im<br />
Verhältnis zu nationalen, religiösen und kulturellen<br />
Strukturen unter Aufnahme von Hebräer 13, 13-14:„So<br />
lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und<br />
seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende<br />
Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“<br />
Der heute hier vorgestellte Sammelband enthält ein<br />
Grußwort, das Kistner zum 150. Jubiläum der Hermannsburger<br />
Schule in Natal geschrieben hat, auf<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
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der er selbst Schüler war,und die er viele Jahre als Direktor<br />
geleitet hatte. In diesem Beitrag setzt er sich<br />
eindrücklich mit der Frage auseinander, was der<br />
deutsche Einfluss für seine eigene Biographie,für die<br />
Geschichte seiner Kirche und für die Entwicklung<br />
Südafrikas bedeutet hat:<br />
„Einige von Euch,vielleicht auch viele,werden sich fragen:Was<br />
kann er,der sich so weit von uns entfernt hat,<br />
aus diesem Anlass Sinnvolles dazu schreiben?<br />
Ich war einer von Euch. Mit Euch verbindet mich eine<br />
gemeinsame Vergangenheit [und ein gemeinsamer<br />
Glaube]. Diese gemeinsame Vergangenheit können<br />
weder ich noch Ihr auslöschen. […] Für mich aber verbanden<br />
sich mit diesem Glauben im Laufe der Zeit<br />
und sich erweiternder Erfahrungen Fragen, die mich<br />
beunruhigten und die mir kaum jemand der von dieser<br />
Tradition Geprägten beantworten konnte. […]<br />
Im Lauf der Zeit nahm ich die Spannung zwischen<br />
dem weltumspannenden Auftrag der Mission und der<br />
in die Enge führenden Konzentration auf die deutsche<br />
Sprache immer schärfer wahr.Zwar bewirkte dieWertschätzung<br />
der deutschen Sprache eine Stärkung der<br />
eigenen Identität […]. Sie hemmte aber auch das Sich-<br />
Öffnen für Menschen anderer Sprache und Kultur im<br />
allernächsten Umfeld. Die Engführung in der Betonung<br />
des lutherischen Bekenntnisses in seiner besonderen<br />
und bevorzugten Bedeutung für die deutsche<br />
Sprachgruppe hatte eine ähnlich hemmende Wirkung.<br />
Sie ließ außer Acht, dass dieses Bekenntnis auf<br />
die ganze Menschheit ausgerichtet ist und keine<br />
Sprach- und Kulturgruppe bevorzugt. […]<br />
Wem galt eigentlich die Festigkeit und Treue, die in<br />
demWappen der Hermannsburger Schule mit dem Eichenzweig<br />
und der Inschrift „Treu und Fest”hervorgehoben<br />
wird? Der Spruch „Pflegt die deutsche Sprache,<br />
wahrt das deutscheWort,denn der Geist derVäter lebt<br />
in ihnen fort“ war noch viele Jahre nach dem Krieg an<br />
der Wand des Speisesaals im Schülerheim zu lesen. Ist<br />
der„Geist der Väter“ wirklich der höchsteWert,für den<br />
wir uns als Menschen und Christen einsetzen sollen?<br />
[…]<br />
Auch in Kreisen der Hermannsburger Mission und<br />
ihrer engeren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen<br />
glaubten wir zu wissen,dass bei aller Achtung der Kultur<br />
und Sprache der einheimischen Afrikaner die „getrennte<br />
Entwicklung”unter Führung der weißen Minderheit<br />
für sie die beste Lösung sei. Die Mehrheit der<br />
Betroffenen selbst wurde nicht danach gefragt, ob sie<br />
es auch so sahen. Widerspruch dagegen galt als Auflehnung<br />
gegen die von Gott gesetzte Obrigkeit.<br />
Ich war beteiligt an der problematischen Entwicklung,<br />
die die schulische und erzieherische Arbeit an der Hermannsburger<br />
Schule genommen hat und spreche<br />
daher auch von eigenen Fehlern und eigener Schuld.<br />
Es fehlte mir, trotz sich anbahnender neuer Erkenntnisse,<br />
oft die Kraft und der Mut, mich durchzusetzen<br />
gegen den Widerstand aus den Reihen der Menschen,<br />
die mir lieb waren und deren Frömmigkeit ich hoch<br />
achtete. Unser Glaube kann uns gerade in seiner lutherischen<br />
Prägung gewiss machen, dass dem, der<br />
seine Schuld bekennt, ein Neuanfang aus der Vergebung<br />
geschenkt wird.“ [45-48]<br />
Das Ablegen des Mals des Unterdrückers<br />
Wer die Wirklichkeit im südlichen Afrika heute erlebt,<br />
merkt schnell: Die Befreiung Anfang der 90er Jahre<br />
hat Aufspaltung und Ungleichheit nicht überwunden.<br />
Noch immer ist die große Mehrheit der Bevölkerung<br />
arm und vom wirtschaftlichen, politischen und<br />
kulturellen Leben ausgeschlossen. Nach wie vor spielen<br />
Rasse und Ethnizität eine große Rolle. Nach einigen<br />
Jahren der Öffnung werden die Möglichkeiten der<br />
Teilnahme an der politischen Macht wieder mehr eingeschränkt.<br />
Der Einfluss von Eliten,Parteiorganisationen,<br />
Sicherheitsapparaten wird stärker.Unabhängige<br />
Stimmen, die die Bedürfnisse der Menschen vor Ort<br />
artikulieren wollen, haben es zunehmend schwer.<br />
Gerade engagierte Leute beklagen, dass die Versöhnung,<br />
von der in den 1990er Jahren so viel die Rede<br />
war, ein billiges Wort bleibt, solange so viele Menschen<br />
aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen<br />
sind. Alan Boesak hat aus diesem Grund Anfang Oktober<br />
dazu aufgerufen, die Tradition der United Democratic<br />
Front wieder zu beleben, durch die sich in<br />
den 80er Jahren zivilgesellschaftliche Gruppen und<br />
lokale Organisationen wirkungsvoll zuWort melden<br />
konnten.<br />
Wolfram Kistner hat die Befreiung Südafrikas im<br />
Jahre 1994 gefeiert. Gleichzeitig war ihm bewusst,<br />
dass die Strukturen von Ausgrenzung und Entrechtung<br />
nicht über Nacht verschwinden werden. Wie<br />
der biblische König Kyros, der dem Volk Israel nach<br />
dem Zeugnis von Jesaja 45 die Rückkehr aus dem babylonischen<br />
Exil in das Land Israel ermöglichte, hat<br />
Gott auch die Befreiungsbewegungen, die nicht in<br />
seinem Namen handelten, dazu gebraucht, um das<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
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Volk zu befreien [251]. Gleichzeitig bedeutete die politische<br />
Befreiung noch nicht das Ende von Ausbeutung<br />
und Marginalisierung. Das ganze Land ist nach<br />
seiner Überzeugung nach wie vor durch das„Mal des<br />
Unterdrückers“ gezeichnet.<br />
In einer Stellungnahme zum KAIROS Dokument<br />
hatte sich Kistner bereits 1987 mit dem Problem der<br />
tief in die Gesellschaft eingegrabenen Unrechtsstrukturen<br />
beschäftigt. Politische Befreiung kann<br />
nach seiner Überzeugung nur ein Anfang sein, dem<br />
eine tiefgreifende Transformation der Gesellschaft<br />
[207] folgen muss:<br />
„Ist es nicht die schlimmste Folge der Unterdrückung,<br />
dass der Stempel des Unterdrückers dem Unterdrückten<br />
oft unbewusst aufgeprägt wird, dass sein Denken<br />
ins Unterbewusstsein eindringt, so dass man auch,<br />
nachdem der Unterdrücker besiegt ist, davon letztlich<br />
nicht frei wird? Die Regierung nützt Meinungsverschiedenheiten<br />
in der schwarzen Bevölkerung aus,um<br />
verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen.<br />
Diese bekämpfen sich dann gegenseitig und zwar mit<br />
denselben Mitteln, die der Staat gegen sie anwendet.<br />
Er unterstützt sie sogar dabei. In diesem Zusammenhang<br />
spielt meines Erachtens die ganze Frage der Versöhnung<br />
eine große Rolle. Wie können wir diesen Zyklus<br />
durchbrechen,dass auch nach der Befreiung vielleicht<br />
der frühere Unterdrücker einen geheimen Sieg<br />
erringt, indem die Methoden, mit denen man gegen<br />
seine Gegner vorgeht,weiter Anwendung finden?Wie<br />
können wir davor bewahrt bleiben? […]<br />
In letzter Zeit habe ich mich oft mit einemText aus der<br />
Geschichte der Flucht von Jesus nach Ägypten befasst,<br />
als König Herodes Kinder ermorden ließ. Dieser Text<br />
hat mir viel zu denken gegeben: „Aus Ägypten habe ich<br />
meinen Sohn gerufen“ (Matthäus 2, 15). Im Evangelium<br />
wird ja darauf hingewiesen, dass dieser Satz ein<br />
Prophetenwort ist: Jesus musste nach Ägypten in das<br />
Land der Unterdrückung kommen – nicht nur,weil Herodes<br />
ihn verfolgt hatte,sondern weil eine Verheißung<br />
in Erfüllung gehen sollte.Die Befreiung aus der Unterdrückung<br />
in Ägypten war nicht vollständig erfolgt:<br />
Ägypten tauchte wieder auf – auch im verheißenen<br />
Land, als die Könige Israels das eigene Volk unterdrückten.<br />
Weil die damalige Befreiung nicht vollständig<br />
erreicht worden war, ist Gott in Christus selbst<br />
nach Ägypten gegangen. Er hat diesmal nicht aus der<br />
Ferne das Schreien gehört und die Unterdrückung gesehen,<br />
sondern er hat jetzt selbst geschrieen, ist ein<br />
Sklave geworden und hat so diese Gefangenschaft<br />
durchbrochen.<br />
Ich meine,dass erst im Zusammenhang dieser umfassenden<br />
Versöhnung, die für die ganze Welt geschehen<br />
ist, das KAIROS Dokument sein Gewicht bekommt.<br />
Vom KAIROS Dokument her wird aber auch deutlich,<br />
dass wir uns angesichts der Risse im Apartheidsystem<br />
überlegen müssen, welche Ziele wir für die Zeit nach<br />
dem Ende der Apartheid haben. Ich meine, dass das<br />
KAIROS Dokument unsere Aufmerksamkeit gerade<br />
auch auf wirtschaftliche Fragen lenkt:Wie kann verhütet<br />
werden,dass die Ungerechtigkeit im Land bleibt.<br />
Es genügt nicht, dass Leute, die früher unterdrückt<br />
waren, in hohe Stellungen der ehemaligen Unterdrücker<br />
vorrücken und schließlich dasselbe System fortgeführt<br />
wird.“ [112-114]<br />
Globalisierung und Menschenrechte<br />
Die aktuelle Finanzkrise hat in Deutschland eine<br />
neue wirtschaftsethische Debatte provoziert. Im Juli<br />
hat die EKD eine Denkschrift zum Thema„Unternehmerisches<br />
Handeln in evangelischer Perspektive“ veröffentlicht,<br />
in der sie dieWirtschaft in liberaler Tradition<br />
als das Ergebnis von Entscheidungen begreift,<br />
die freie Unternehmer in eigener Verantwortung<br />
treffen. Die Frage, ob der gegenwärtige Zusammenbruch<br />
unter Umständen das Produkt einer Systemkrise<br />
des neoliberalen Kapitalismus darstellt,kommt<br />
aus dieser Perspektive überhaupt nicht in den Blick.<br />
Die Gegenreaktion fiel entsprechend scharf aus. Die<br />
von Ulrich Duchrow und Franz Segbers herausgegebene<br />
Streitschrift Frieden mit dem Kapital? Wider die<br />
Anpassung der evangelischen Kirche an die Macht der<br />
Wirtschaft verortet die Denkschrift in der deutschen<br />
Tradition der Allianz von Thron und Altar und fordert<br />
in Aufnahme von Bonhoeffers berühmtem Diktum,<br />
dass die Kirche dem Rad in die Speichen fallen muss.<br />
Die Autoren dieses Buches sehen die Lösung der gegenwärtigen<br />
Probleme in der Formation einer starken<br />
Gegenmacht, die wenigstens die „gröbsten Fehlentwicklungen,<br />
Schieflagen und verheerenden sozialen<br />
und ökologischenVerwerfungen“ einzudämmen sucht.<br />
Wolfram Kistner hat sich schon vor der Befreiung<br />
Südafrikas immer wieder mit wirtschaftlichen Fragen<br />
beschäftigt.Wie die historischen Beiträge in dem<br />
Sammelband belegen, sah er die Wurzeln des Systems<br />
der Apartheid in den Strukturen des globalen<br />
Kapitalismus begründet, der Menschen nicht unter<br />
dem Gesichtspunkt ihrer von Gott geschaffenen<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
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Würde, sondern allein aus der Perspektive des Verwertungsinteresses<br />
beurteilt [79].Auch die neue Demokratie<br />
in Südafrika sah Kistner von Anfang an<br />
durch wirtschaftliche Machtstrukturen bedroht.<br />
Scharf kritisiert er in diesem Zusammenhang die<br />
Entstehung einer „neuen globalen Apartheid“ [210].<br />
Es ist deutlich,dass Kistner aus dieser Perspektive die<br />
Unternehmensdenkschrift der EKD genau so kritisiert<br />
hätte, wie er auch schon die Wirtschaftsdenkschrift<br />
von 1992 zurückgewiesen hatte [260]. Gleichzeitig<br />
präsentiert er eine ganz eigene Form der Globalisierungskritik.<br />
Die Kritik des neoliberalen Kapitalismus<br />
artikuliert sich bei ihm nicht primär in der<br />
Form einer Ablehnung des Systems oder in der Forderung<br />
nach einem Regelwerk für eine gerechtere<br />
Weltwirtschaftsordnung,sondern zielt auf eine neue<br />
Betonung der Menschenrechte. Wichtig ist ihm<br />
dabei, dass menschliches Leben niemals vollständig<br />
in den Verfügungsbereich politischer oder wirtschaftlicher<br />
Macht geraten darf und gerade in dieser<br />
Unverfügbarkeit geschützt werden muss. Die Debatte<br />
um die Notwendigkeit einer Grundsicherung<br />
und die Versuche, in den aktuellen Diskussionen um<br />
Folter, Flugzeugabschüsse und medizinische Ethik<br />
den Begriff der Menschenwürde aufzuweichen, zeigen,<br />
wie aktuell Kistners Gedanken sind.<br />
Klassische Menschenrechtsformulierungen werden<br />
nach Kistners Überzeugung dadurch geschwächt,<br />
dass sich die wirklich Mächtigen, die diese Kataloge<br />
beschließen, selbst nicht an sie halten und von niemandem<br />
zu einer Einhaltung gezwungen werden<br />
können. Gerade in der südlichen Hemisphäre wird<br />
deutlich, dass sich weder die Regierungen noch die<br />
transkontinentalen Konzerne an die Rechtsordnungen<br />
halten,die sie selbst propagieren. Kistner macht<br />
sich mit Blick auf die Macht keine Illusionen: Wer<br />
wirklich souverän ist, hält sich nicht an Gesetze, sondern<br />
versucht die, die unter seiner Macht stehen, zu<br />
beherrschen und auszubeuten.<br />
Eine wirklich starke Begründung der Menschenrechte<br />
kann nach seiner Überzeugung deshalb nicht<br />
einfach in bestehende Rechtsordnungen eingetragen<br />
werden,sondern muss das Ergebnis eines neuen<br />
Exodus sein, der das menschliche Leben aus der Verfügung<br />
durch politische und wirtschaftliche Macht<br />
befreit. In einer Bibelarbeit über die Gabe der Zehn<br />
Gebote am Sinai weist Kistner darauf hin, dass die<br />
Gerechtigkeit Gottes von einem Ort in der Wüste<br />
ausgeht. Gottes Gerechtigkeit kann nie eine Gerechtigkeit<br />
der Macht sein,die den Menschen nur als Un-<br />
tertan oder als Ware kennt. In der Unwirtlichkeit der<br />
Wüste erledigt sich jeder Machtanspruch von selbst<br />
und es wird deutlich, dass sich Gottes Gerechtigkeit<br />
in der Befreiung von jeder Form der Knechtschaft<br />
ausdrückt.<br />
In einem Text zu den Bedingungen für eine wirklich<br />
tiefgreifende Entkolonialisierung des südlichen<br />
Afrika entwickelt Kistner aus diesen Gedanken eine<br />
ganze Gesellschaftskonzeption: Unabhängig davon,<br />
ob Gott in einer Verfassung erwähnt wird, zeichnen<br />
sich wirklich demokratische Gesellschaften dadurch<br />
aus, dass der Thron der Herrschaft sich an einem Ort<br />
befindet, der außerhalb der Verfügung des Menschen<br />
steht [274]. Nur dann können Gerechtigkeit<br />
und Menschlichkeit vor dem Missbrauch durch die<br />
Macht geschützt werden. Aufgabe der Kirchen ist es<br />
unter diesen Umständen, immer wieder darauf hinzuwirken,<br />
dass menschliche Macht nicht mit göttlicher<br />
Macht verwechselt wird und die Unverfügbarkeit<br />
menschlichen Lebens geachtet und geschützt<br />
wird.<br />
In seiner Auslegung der Sinaigeschichte fasst Kistner<br />
dieses Verständnis der Menschenrechte in die folgenden<br />
Worte:<br />
„Als Herrscher befreit der „Souverän“ sich selbst von<br />
den Gesetzen oder er wendet sie für sich selbst nur insofern<br />
an, als sie seinen Zwecken dienen. Innerhalb<br />
einer auf solchem Verständnis von Herrschaft beruhenden<br />
politischen und wirtschaftlichen Ordnung ist<br />
das Leben der Menschen nicht etwas, was unter allen<br />
Umständen geachtet werden muss. Menschliches<br />
Leben kann vom Herrschenden gebannt oder zerstört<br />
werden. […]<br />
Wie dem Konzept des Nationalstaates liegt auch dem<br />
Neo-Liberalismus ein besonderesVerständnis von Souveränität<br />
zugrunde, die sich hier nicht auf den Nationalstaat,<br />
sondern auf den Markt bezieht.Keine äußere<br />
Macht hat das Recht, sich in die inneren Angelegenheiten<br />
des Marktes einzumischen. […]<br />
Zu fragen ist: Wie verhält sich der christliche Glaube<br />
zum Prinzip der Souveränität und zu der Tatsache,<br />
dass in vielen Ländern Menschen gebannt und im<br />
Stich gelassen werden?<br />
Als Gott die Not seines/ihresVolkes in Ägypten sah und<br />
die Menschen aus der Sklaverei Pharaos befreite, […]<br />
führte er sie nicht unmittelbar in das Gelobte Land. Er<br />
führte sie in die Wüste.<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
8
Der Berg Sinai liegt in einem Niemandsland, das keinem<br />
Herrscher mit absoluter Macht untersteht. Dieser<br />
Ort hat symbolische Bedeutung. Israel erhält seine<br />
Anweisungen für Gerechtigkeit nicht von einem weltlichen<br />
Regenten, sondern von Gott, dem Schöpfer der<br />
Erde und dem Erhalter allen Lebens. Allein dieser Gott<br />
ist der Höchste.<br />
Gott,der die Israeliten befreit hat,hörte die Schreie der<br />
Unterdrückten, die im Dienste des Pharao, der absolute<br />
Herrschaft über ihr Leben beanspruchte,versklavt<br />
waren. […] Gerechtigkeit wird anhand dieser Richtlinien<br />
nicht aus Sicht der Mächtigen wahrgenommen,<br />
sondern aus der Perspektive der Verachteten. […] Die<br />
Wirtschaft hat nicht das letzte Wort über das Leben<br />
der Menschen und Tiere und über die Ressourcen.<br />
[…] Am Sinai wird eine Geschichtsbewegung eingeleitet,<br />
die dasVolk Gottes immer wieder dazu zwingt,sich<br />
von Strukturen und Praktiken zu trennen, die unterdrückerisch<br />
werden und zu Ungerechtigkeiten führen<br />
könnten. Die Tora darf nie ein festgelegtes Gesetz werden,<br />
das über den Willen Gottes entscheidet, ohne die<br />
sich verändernden Lebensbedingungen und die Bedürfnisse<br />
der Menschen zu berücksichtigen.Auf seiner<br />
Pilgerreise durch die Geschichte muss das Volk Gottes<br />
immer wieder zu einem neuen Auszug bereit sein. […]<br />
DasVolk Gottes gehört zum Gott der Gerechtigkeit,der<br />
Unterdrückung nicht toleriert und der die Schreie der<br />
Unterdrückten und Entrechteten hört, wo immer sie<br />
auch sind.“ [232-236]<br />
Prophetische Theologie<br />
Die Idee einer Prophetischen Theologie wird heute<br />
von vielen Menschen angegriffen. Man wirft dem<br />
Konzept mangelnde Dialogfähigkeit vor: Eine<br />
Gruppe erklärt ihre eigenen Überzeugungen zu<br />
einem status confessionis und distanziert sich auf<br />
dieseWeise von Prozessen gemeinsamerWahrheitsfindung<br />
und immunisiert sich von jeder möglichen<br />
Kritik.Wichtige südafrikanische Vertreter der Befreiungstheologie<br />
während der Apartheidzeit, wie etwa<br />
Charles Villa-Vicenzio, haben sich inzwischen von<br />
dem Begriff abgewandt.Angesichts der Komplexität<br />
der globalen Welt erscheint ihm prophetische Theologie<br />
als ein zu grobschlächtiges Instrument, das die<br />
wirklichen Probleme nicht lösen kann.In vielen kirchlichen<br />
Prozessen versucht man aus diesem Grund,<br />
die Idee dialogischer zu machen und spricht nicht<br />
mehr von einem status,sondern von einem processus<br />
confessionis, der ein eindeutiges Bekenntnis als das<br />
Ergebnis eines breiten Diskussionsprozesses zu organisieren<br />
versucht.<br />
Wolfram Kistner ist diesen Weg der Abkehr von der<br />
Idee einer prophetischen Theologie nicht mitgegangen,<br />
sondern hat bis zuletzt immer die Notwendigkeit<br />
von Bekenntnisentscheidungen betont [292].Die<br />
Armut und die wirtschaftliche Entrechtung der großen<br />
Bevölkerungsmehrheit auch im befreiten Südafrika<br />
stellte für ihn einen Bekenntnisfall dar [141].<br />
Allerdings unterscheidet sich Kistners Verständnis<br />
von Prophetischer Theologie von Konzeptionen, die<br />
durch die reformierte Bekenntnistradition beeinflusst<br />
sind. Schon Mitte der 80er Jahre wies Kistner<br />
darauf hin, dass das Prophetische nicht in einen Gegensatz<br />
zur Realität der umfassenden Versöhnung<br />
gebracht werden darf, die in Jesus Christus bereits<br />
geschehen ist [113]. Alle Strukturen, die Menschen<br />
ausschließen und separieren, stehen für Kistner vor<br />
dem Hintergrund dieser Versöhnung und der Ganzheitlichkeit<br />
der Schöpfung der Gerechtigkeit Gottes<br />
entgegen.<br />
Diese Entschiedenheit in der Sache darf nach seiner<br />
Überzeugung nicht zur Grundlage einer neuen Aufteilung<br />
der Welt in Gerechte und Ungerechte werden.<br />
Prophetische Theologie muss deshalb insofern<br />
dialogisch sein, als sie die Kontextualität und Begrenztheit<br />
aller menschlichen Entscheidungen berücksichtigt<br />
und offen ist für die Beiträge aller,die Erfahrung<br />
mit Ausgrenzung und Entrechtung gemacht<br />
haben [105]. Die Erklärung eines status confessionis<br />
zielt deshalb nicht auf den Ausschluss von<br />
bestimmten Menschengruppen und Personen, sondern<br />
auf die Stärkung ihrer Humanität.In einem Beitrag<br />
zum Verhältnis von Bekennen und Versöhnen<br />
hielt Kistner im Jahr 1996 fest:<br />
„Die Aufgaben, vor denen wir im neuen Südafrika stehen,<br />
nötigen uns, eine oft übersehene Dimension der<br />
biblischen Versöhnungsbotschaft hervorzuheben, die<br />
in Südafrika in den 1960er Jahren dazu beigetragen<br />
hat, dass sich Christen auf Grund ihres Glaubens am<br />
Kampf gegen das Apartheidsystem beteiligten:Gottes<br />
Versöhnung, die in Christus schon geschehen ist, richtet<br />
sich auf die Heilung des Bruches in der ganzen<br />
Schöpfung und auf die Heilung der Wunden der ganzen<br />
Menschheit. Diese Einsicht verpflichtete Christen<br />
zum Kampf gegen Strukturen der Unversöhnlichkeit.<br />
Apartheid war ein System der Unversöhnlichkeit. In<br />
dem gegen dieses System gerichteten Kampf gehörten<br />
Bekennen und Versöhnen insofern eng zusammen,da<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
9
das Bekenntnis der umfassenden Versöhnung Gottes<br />
als wichtiger Inhalt der Verkündigung verstanden<br />
wurde. Ein solches Verständnis der biblischen Botschaft<br />
schützte gleichzeitig Christen vor der Versuchung,<br />
sich auf billige Versöhnungsbemühungen einzulassen.<br />
Ebenso ermutigt es sie bei aller Schärfe des<br />
Konflikts,die notwendig war,die Befreiung des Feindes<br />
als ein wichtiges Ziel nicht aus dem Auge zu lassen.<br />
Als Christen sind wir in unseren Bemühungen, Versöhnung<br />
unter Menschen zu stiften, auf die umfassende<br />
in Christus schon geschehene Versöhnung Gottes<br />
angewiesen. Sie ist nicht nur auf die Befreiung der<br />
Unterdrückten, sondern auch des Unterdrückers ausgerichtet<br />
und auch von der Sorge um den Feind be-<br />
stimmt. Sie verpflichtet uns,auf allen Gebieten für Gerechtigkeit<br />
für alle Menschen einzutreten. Die ständige<br />
Erinnerung an diese Dimension der biblischen<br />
Versöhnung kann Menschen,die in Südafrika neu mit<br />
Macht umgehen müssen, vor der Versuchung des<br />
Machtmissbrauchs schützen und ihnen helfen, das<br />
Ziel zu verwirklichen,das einige von ihnen immer wieder<br />
betont haben und sie zur Einrichtung der Wahrheits-<br />
und Versöhnungskommission veranlasste: Nie<br />
darf in Südafrika der Machtmissbrauch, den wir zur<br />
Zeit des Apartheidregimes erlebt haben, erneut eintreten.<br />
Die Geschichte darf sich nicht wiederholen.“<br />
[166-167]<br />
Dr. Hanns Lessing<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
10
Die Landfrage in Südafrika als<br />
Herausforderung an die Kirchen<br />
Diejenigen, die in den letzten Jahren bei meinem<br />
Vater,Wolfram Kistner, waren, wissen sicher, dass er<br />
oft denWunsch geäußert hat,noch mehr und besser<br />
schreiben zu können – frühere Texte und Gedanken<br />
zu überarbeiten.Er sprach davon wie schwer ihm das<br />
Schreiben fiel – Komplexität und Reflexion in Schrift<br />
festzulegen und er meinte auch er könne nicht besonders<br />
gut schreiben.Ich habe nicht widersprochen.<br />
Um so größer ist unser aller Dank an Autor/innen,<br />
Herausgeber und Mitwirkende, die eine Sammlung<br />
von Texten und Interviews jetzt zugänglich gemacht<br />
haben. Wie mühsam diese Arbeit war, kann ich nur<br />
ahnen und vielleicht ist das auch gut so.<br />
Ich bin gebeten worden einen Text, den ich mir aussuchen<br />
sollte, aus diesem Buch hier zu lesen – für<br />
eine Nicht-Theologin-und-trotzdem-Verwandte gar<br />
nicht so einfach!<br />
Mein Weg dahin führte über den Gedanken an besondere<br />
Merkmale, die ich in meinem Vater erkenne<br />
und schätze. An seine Fähigkeit, unterschiedlichste<br />
Themen und Menschen in ihrem Kontext wahrzunehmen<br />
und zu verstehen, denke ich gerne. Der Text<br />
über „Die Landfrage in Südafrika als Herausforderung<br />
an die Kirchen“ soll daran erinnern und stellt<br />
diese Buchpräsentation in den Kontext derTagung in<br />
dem sie stattfindet und drückt zugleich eine sehr aktuelle<br />
Herausforderung aus.<br />
Die Auszüge (S. 303, 310, 317)<br />
Die folgenden Auszüge stammen aus einem Vortrag<br />
der 1991 auf einem internationalen Seminar „Ganzheit,<br />
Heilung undWiderstand“ an der Universtät von<br />
Utrecht gehalten wurde.<br />
„Mitte der 1980er Jahre beginnt die Diskussion um<br />
den kirchlichen Landbesitz. Mit der Wende von 1990<br />
wird die Landfrage ein Grundsatzthema für ein zukünftig<br />
demokratisches Südafrika. Am 12. März 1991<br />
legt die Regierung von F.W.de Klerk einWeißbuch vor,<br />
Elisabeth Kistner<br />
das die Beendigung rassischer Diskriminierung im<br />
Blick auf Landbesitz und Besitznahme zum Ziel<br />
hatte.“<br />
Die Rede „spricht die Verantwortung der Kirchen an,<br />
die als Rechtsnachfolgerin der Missionsgesellschaften,<br />
die von den Enteignungen des Kolonialismus<br />
und der Apartheid profitiert hatten, selbst zu Landbesitzern<br />
geworden waren. Seit der Demokratisierung<br />
Südafrikas 1994 setzen sich die Kirchen mit der<br />
Frage auseinander, wie sie mit ihrem eigenen Landbesitz<br />
umgehen sollen.DerText wurde aus dem Englischen<br />
übersetzt.“<br />
Vorschläge für einen neuen Zugang zu Land (S. 310)<br />
In den Verhandlungen über eine neue politische und<br />
wirtschaftliche Ordnung für Südafrika wird die Landpolitik<br />
von entscheidender Bedeutung sein. Hier ist<br />
die Aufgabe nicht nur, Zugang zu Land für alle Südafrikanerinnen<br />
und -afrikaner auf gleichberechtigter<br />
Grundlage zu schaffen, so dass jede Südafrikanerin<br />
und jeder Südafrikaner das Recht hat, ein Zuhause<br />
und einen Ort zu haben, wo er verwurzelt ist.<br />
Die Aufgabe liegt auch darin, die Wunden zu heilen,<br />
die der Mehrheit der südafrikanischen Bevölkerung<br />
zugefügt wurden,deren Arbeitskraft durch die weiße<br />
Minderheit ausgenutzt und deren Existenzrecht<br />
dennoch viele Generationen lang verleugnet wurde.<br />
Ich möchte die Tiefe dieser Wunden durch ein Zitat<br />
unterstreichen, das Aninka Claasens, eine Sozialarbeiterin,<br />
die viele Gemeinschaften im Transvaal in<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
11
ihrem Kampf um Land unterstützt hat, bei einem<br />
Treffen im Ost-Transvaal aufgezeichnet hat. Ein alter<br />
Mann sagte ihr:<br />
„Das Land, unser Vorhaben mit dem Land, das ist es,<br />
was wir erreichen und verwirklichen wollen. Das<br />
Land bedeutet unser ganzes Leben,wir pflügen es für<br />
unsere Nahrung, wir bauen Häuser auf dem Land,<br />
wir leben darauf und wir sind darin begraben.Als die<br />
Weißen uns das Land wegnahmen,haben wir unsere<br />
Würde verloren. Wir konnten unsere Kinder nicht<br />
mehr ernähren. Wir wurden gezwungen, Diener zu<br />
sein.Wir wurden wie Tiere behandelt. ...“<br />
„Die Tatsache, dass Hunderttausende immer noch<br />
nicht wissen, wo sie legal einen Platz zum Leben finden,<br />
kann eine Atmosphäre der Gewalt hervorrufen.<br />
Die Art und Weise, wie führende Politiker in der Regierung<br />
auf den Schutz des Privateigentums pochen,<br />
ist immer noch sehr schmerzhaft für diese Menschen.<br />
Ich bin der Meinung, dass die Gewalt in Südafrika<br />
nicht aufhört, bevor nicht die große Zahl obdachloser<br />
Menschen einen Ort finden, wo sie sicher<br />
leben können. In dieser Situation ist die Landrückgabe<br />
eine hochsensible Angelegenheit. In vieler Hinsicht<br />
ist Rückgabe im umfassenden Sinn nicht möglich.<br />
Gemeinschaften, die zerstört wurden, Menschen<br />
die gestorben sind und andere Menschen,<br />
deren Gesundheit lebenslänglich durch Hunger und<br />
Unterernährung oder als Ergebnis wiederholter<br />
Zwangsumsiedlungen geschädigt wurde, können<br />
nicht wieder ein Leben in Fülle führen.Ich schlage vor,<br />
dass alle Anstrengungen,eine Lösung zum Landproblem<br />
zu finden, zunächst darauf abzielen, weißen<br />
Menschen bewusst zu machen, an welchen Zerstörungen<br />
menschlichen Lebens sie bewusst oder unbewusst<br />
mitgewirkt haben und dass wir in Konsultation<br />
mit den verschiedenen Gemeinschaften in<br />
den unterschiedlichen Regionen des Landes nach Lösungen<br />
suchen.“<br />
(S. 317)<br />
„Meine These zu Land als Herausforderung an die<br />
Kirchen heißt folgendermaßen: Die Landfrage fordert<br />
die südafrikanischen Kirchen nicht nur heraus,<br />
sich an den Bemühungen für eine gerechtere Landverteilung<br />
zu beteiligen, einschließlich der Bemühungen,<br />
Kirchenland zum Nutzen der Menschen zur<br />
Verfügung zu stellen. Die Landfrage fordert die Kirchen<br />
auch heraus, vergessene Dimensionen des<br />
christlichen Glaubens wieder zu entdecken und sich<br />
aktiv an der Heilung derWunden,der von ihrem Land<br />
entwurzelten Menschen und Gemeinschaften zu beteiligen,<br />
und an der Heilung derWunden des Landes<br />
selbst mitzuwirken, damit seine Fruchtbarkeit wieder<br />
hergestellt und seine Schönheit geschützt wird.“<br />
Wolfram Kistner und Theo Kneifel<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
12
Kaleidoskopmomente – Anmerkungen zu<br />
Wolfram Kistners theologischen Blickwinkeln<br />
„Just check it out!”<br />
Josephs Hand gleitet über die Deckel der Archivkästen.<br />
Die ein oder die andere Kiste öffnet er, stöbert<br />
darin, zieht Dokumente hervor und legt andere wieder<br />
zurück.<br />
„I accidentally bumped into this guy,” erklärt er, „I<br />
bumped into this Kistner when I was looking for totally<br />
different stuff. And then I got curious –<br />
this huge pile of boxes, all of them filled with articles,<br />
newspaper cuttings, lectures, reports, you name it –<br />
just filled to the brim. I kind of got hooked when I<br />
started reading that stuff.I mean,Kistner,he may have<br />
been an old guy, but he was not old-fashioned, definitely<br />
not. Actually, his theology was like a kaleidoscope<br />
that offered you a new outlook, a new vision on<br />
reality – and it made you work towards that vision.”<br />
Joseph, ein Theologiestudent im 2. Semester, zu Besuch<br />
in Pietermaritzburg, ist fasziniert von den Spuren<br />
eines Lebenswerkes, die er in der Bibliothek des<br />
Lutheran Theological Institutes vor sich sieht. Und er<br />
ist fasziniert von dem, was er zwischen den Zeilen<br />
entdeckt: bewegende Visionen, die aus einer eschatologischen<br />
Weitsicht heraus das Hier und Jetzt herausfordernd<br />
beleuchten. In Josephs Worten:<br />
„I don’t know, this guy, this Kistner, he sees things that<br />
most people don’t want to see. I mean, let’s face it:<br />
Most of us, we just close our eyes when things get uncomfortable.<br />
He was just the other way round: He<br />
would open his eyes,see through whatever guises and<br />
smokescreens and just call by name whatever he sees,<br />
injustice,racism,neocolonialism,apartheid,gender issues,<br />
land – you name it. He seemed to have a knack<br />
for seeing those people, suffering somewhere down<br />
there, that not many else would bother to see. I guess<br />
he was quite a visionary for that.“<br />
Ich möchte diese spontane Laudatio von Joseph als<br />
Ausgangspunkt nehmen, um einen kurzen Blick auf<br />
unterschiedliche theologische Blickwinkel zu werfen,<br />
die Wolfram Kistners Sehen, Denken, Urteilen und<br />
Handeln bestimmt haben.<br />
Dr. Andrea Fröchtling<br />
Kaleidoskop I: Ägypten/Babylon<br />
Kaleidoskope liefern Momentaufnahmen, fragmentarisch,<br />
wandelbar. Je nach betrachtender Perspektive,<br />
je nach Dreh- und Angelpunkt fällt das Gesehene<br />
anders aus. Der Dreh- und Angelpunkt von<br />
Wolfram Kistners Theologie war ein dialektischer,<br />
war die Sichtweise von den Menschen, die sonst nur<br />
wenige als GesprächspartnerInnen ernst genommen<br />
haben und war immer wieder ein klarer Blick<br />
auf sie fokussiert. Kistner, so hat es Tinyiko Maluleke<br />
einmal formuliert, „Kistner did not sit down to become<br />
a scribe at the Pharaoh’s court – he was up and<br />
about to see through the eyes of the victims of Egypt.<br />
In this regard,Kistner’s perspective was unwavering.“<br />
Der Blickwinkel Ägypten/Babylon ermöglichte es<br />
Kistner, ausgehend vom Empire-Begriff, biblische<br />
Passagen als konversen Spiegel realer sozio-politischer<br />
Gegebenheiten zu sehen – und als Gegenbild<br />
derselben. Ein Beispiel aus seinem Vortrag ‘Creator<br />
Spirit suffering with Creation: The Struggle for the<br />
New South Africa‘. In der nachfolgenden Passage<br />
setzt sich Kistner mit dem Beginn der Schöpfungsgeschichte<br />
auseinander und kommentiert:<br />
„‘In the beginning God created heaven and earth‘ does<br />
not refer to the beginning of the earth but to the beginning<br />
of God’s activity in creating space for life that<br />
was oppressed and threatened.The background of this<br />
story is Israel’s experience during the Babylonian exile.<br />
In the story [...] reference to time [...] pertains to a specific<br />
time of political domination by a world power<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
13
and to a specific political region in which that world<br />
power is located. At the same time, the story conveys<br />
the following message: God’s concern for the liberation<br />
of all oppressed people and for the whole of creation<br />
is the underlying principle of all history“ (Kistner<br />
2008:108).<br />
Wolfram Kistner hat in seiner Theologie die Opfer<br />
von Ägypten und Babylon immer wieder unter der<br />
hermeneutischen Prämisse der bevorzugten Option<br />
für die Armen in den Blick genommen.<br />
Kaleidoskop 2: Exodus/Wüste<br />
Wolfram Kistner hat einmal am Rande eines Vortrags<br />
beim South African Council of Churches (SACC)<br />
Exodus beschrieben als ‚movement towards change’<br />
und als ‚bridge between exile and home‘. In seinem<br />
theologischenWerk führt der analytische Blick auf die<br />
Lebenssituation im Empire, sei es Ägypten und Babylon,<br />
Apartheid-Südafrika oder der global space einer<br />
sogennanten freien Marktwirtschaft, in ein ‚movement<br />
towards change‘. Kistner ist über lange Jahre<br />
hinweg Brückenbauer gewesen; ein Brückenbauer<br />
‚between exile and home‘, der Wüstenerfahrungen<br />
mit der Gerechtigkeit Gottes kontrastiert hat.<br />
Unterschiedliche ‚movements towards change’<br />
haben zu weitenTeilen Kistners gelehrte und gelebte<br />
Theologie bestimmt: Seien es die kleinen Schritte<br />
(und oft Rückschritte) mit der Gemeinschaft von Mogopa<br />
in der Auseinandersetzung um Zwangsumsiedlungen<br />
und Rückkehr, seien es die deutlichen<br />
Worte im Zusammenhang mit der Eloff-Kommission,<br />
die ‚change’ deutlich einfordern, oder seien es Überlegungen<br />
und Anregungen zu wirtschaftlichen<br />
Sanktionen in den 80ern und Kritik einer neoliberalen<br />
ökonomischen Globalisierung in den 90ern.<br />
Sichtweisen aus Exodus und Wüste heraus sind<br />
dabei bei Kistner durchaus theonom motiviert,denn<br />
die Wüste, so Kistner,„is a place beyond the reach of<br />
those humans who claim to have sovereignty over<br />
humans and resources“ (Kistner 2008:165). Solche<br />
theonom determinierten Orte haben dann das Potential,<br />
durch‚den Ganz Anderen‘ zum ganz anderen<br />
herauszufordern. Darüber hinaus bietet die Wüste<br />
Ausblick und Rückblick auf Befreiungserfahrungen<br />
und ermöglicht Raum zu Umkehr da, wo befreites,<br />
gerechtes Leben noch nicht so ganz Raum greifen<br />
konnte. Nach Kistner:<br />
„The pilgrimage of God’s people through the desert or<br />
the wilderness has a further symbolic connotation.<br />
Some of the Exodus stories are meant to warn believers<br />
how easily people internalize the mindset of their<br />
oppressors.God’s people, therefore,have to be brought<br />
back again to the place where their liberation started.<br />
The memory of this liberation [...] must be nurtured. It<br />
is re-activated and re-appropriated in rituals of repentance,<br />
confession, forgiveness and empowerment<br />
for the tasks that lie ahead“ (Kistner 2008:165).<br />
Kaleidoskop 3: Fata Morgana<br />
Eine Fata Morgana zeichnet sich dadurch aus, dass<br />
sie auf eine sehr überzeugende Art und Weise eine<br />
Scheinrealität darstellt – und Leben dort verspricht,<br />
wo Strukturen des Todes das Sagen haben. Eddie<br />
Makue, General Secretary des SACC, bemerkt im<br />
Rückblick auf die Zusammenarbeit mitWolfram Kistner:<br />
„He was always a person of vision and of farsightedness,<br />
for that matter.Trust him to spot a fata morgana<br />
at the horizon where many others would not be able<br />
to see beyond a certain smokescreen that was skilfully<br />
set up.“<br />
Kistner hat sich im Laufe seines Lebens mit vielen<br />
Fata Morganen auseinandergesetzt, die Leben vorgaukelten<br />
und Leid undTod bedeuteten.Die Oase,die<br />
der Mehrheit der südafrikanischen Bevölkerung zu<br />
Apartheidzeiten in den Homelands versprochen<br />
wurde, ist ein Eckposten der Auseinandersetzung –<br />
die klare Kritik am vielbeschworenen Schlaraffenland<br />
der freien Marktwirtschaft ein anderer. Eine<br />
Fata Morgana ist ein oft recht schwammiges Erscheinungsbild,<br />
umso wichtiger war es Kistner, eine<br />
deutliche Abgrenzung vorzunehmen und einen bekennenden<br />
Standpunkt einzunehmen, der Leben in<br />
Gerechtigkeit und Shalom nicht aus dem Blick verliert.<br />
Und weil die Dinge oft anders sind,als sie auf den ersten<br />
Blick erscheinen, ist Kistner ein postkolonialer<br />
Blick auf sozio-politisches Geschehen, aber auch auf<br />
biblische Texte, immer wichtiger geworden. Texte<br />
(lat. textus) sind ein Gewebe. Je dichter ein solches<br />
Gewebe ist, desto schwieriger wird es, darunter die<br />
Strömungen zu entdecken,die rassistisch,paternalistisch<br />
oder imperialistisch Geschichte festschreiben<br />
und in dem ohnehin engen Raum der ehemaligen<br />
Kolonien keinen Platz lassen für die Wiederentdek-<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
14
kung eigener Geschichte(n). Postkoloniale Kritik hat<br />
es sich daher zur Aufgabe gesetzt, solche Unterströmungen<br />
in Texten zu untersuchen und sich ihnen<br />
entgegenzusetzen. Konstruktionen von Rasse, Empire,<br />
Ethnizität und Diaspora bilden dabei zentrale<br />
hermeneutische Punkte innerhalb der postkolonialen<br />
Kritik (Sugirtharajah 1999:15). Kistner hat diesen<br />
Punkten sein verstärktes Augenmerk immer wieder<br />
zugewandt.<br />
Kaleidoskop 4: Golgatha<br />
Die Via Dolorosa erstreckt sich über eine ganze Reihe<br />
von Stationen,alles Orte,an denen unterschiedlicher<br />
Aspekte des Leidens Christi gedacht wird. Anamnesis<br />
geschieht dann in Prozessionen, die immer wieder<br />
innehalten und sich das Geschehene vor Augen<br />
führen.Wolfram Kistner hat in seinem Leben Kreuzwege<br />
immer wieder bewusst beschritten, als Theologe,<br />
als christlich motivierter Aktivist und als engagiertes<br />
Gemeindeglied.Dabei ging es ihm immer um<br />
mehr als nur ein Besichtigen von Orten und Strukturen<br />
der Unterdrückung, der Ausbeutung und des<br />
Todes: Es ging ihm um ein Mit-gehen und um ein<br />
Mit-sehen dessen,was Menschen als crossbearers erleben,<br />
in Südafrika und im globalen Süden. Visionärer<br />
Blickwinkel ist dabei für Kistner derjenige geblieben,<br />
den Simon Maimela als‚the crucified among the<br />
crossbearers’ beschrieben hat. Der Blick von Kreuzweg<br />
und Golgatha auf die Auferstehung hin,das war<br />
Ermutigung zum Aufstand gegen das,was Leben zerstört.<br />
Wolfram Kistner hat diesen Aufstand geprobt.<br />
Ich habe Wolfram Kistner auf vielfache Weise als<br />
einen mit-leidenden Menschen erlebt,auch in Bezug<br />
auf seine Kirche, die lutherische Kirche, die als Leib<br />
Christi auch unter dessen Kreuz ein zerspaltener Organismus<br />
war und dies partiell noch immer ist. Ausgehend<br />
vom Kreuz als horizontal und vertikal verbindender<br />
Größe hat Kistner an der Einheit des Leibes<br />
Christi festgehalten und diese immer wieder eingefordert.<br />
Erinnerungen an Kreuzweg und Golgatha sind gefährliche<br />
Erinnerungen, sind memoria passionis im<br />
Sinne von Metz.Vielleicht trägt hier der englische Begriff<br />
des ‚remembering’ mehr aus als das deutsche<br />
‚erinnern’:Re-membering,das erzählt von Menschen,<br />
die dis-memberment erlebt haben – auf ganz unterschiedlichen<br />
Ebenen. Re-membering ruft dann nach<br />
dem, was wieder zusammenfügt; nach dem, was<br />
ganz macht, was zerschlagen war; nach dem, was<br />
leben lässt – in Würde und in Gemeinschaft. Remembering,Versöhnung<br />
und Gerechtigkeit werden<br />
so zu einer herausfordernden Trias angesichts des<br />
Kreuzes.<br />
Kistner hat re-membering eingefordert und dies<br />
konkret im Kontext der bevorzugten Option für die<br />
Armen getan:<br />
„We cannot remember and rely on the biblical God of<br />
liberation without getting into conflict with the economic,<br />
political and ideological systems and structures<br />
which enslave people and destroy fellowship and<br />
solidarity between humans (Duchrow & Glück<br />
1994:12). Following Jesus on the road to the poor and<br />
to other victims of exclusion and joining them means<br />
following him on the road to the cross“ (227).<br />
Golgatha ruft in ein confessing movement hinein,<br />
weil hier auf paradoxe Art undWeise Strukturen des<br />
Todes durchkreuzt worden sind.<br />
Kaleidoskop 5: Jenseits von Golgatha<br />
Jenseits von Golgatha, so hat es Kistner einmal beschrieben,<br />
jenseits von Golgatha ist Leben in Gerechtigkeit,<br />
Liebe und Versöhnung, das ausstrahlt in das<br />
Hier und Jetzt und das sich immer wieder,manchmal<br />
nur ganz klein, in Szene setzt und sichtbar wird.<br />
Diese‚glimpses from beyond’sind Kistner zeitlebens<br />
wichtige Einblicke gewesen.<br />
In Auseinandersetzung mit Giorgio Agamben,Walter<br />
Benjamin, Jürgen Moltmann und Martin Luther<br />
versteht Kistner das Jenseits von Golgatha nicht als<br />
etwas, auf das passiv zu warten ist, sondern als<br />
etwas, das konkrete Erwartungen an uns stellt. Ein<br />
Beispiel. Kistner schreibt:<br />
„In Luther’s theology, one finds a strong confidence<br />
that the final goal of history and the consummation<br />
of the kingdom of God rests in the hands of God, although<br />
humans, knowingly or unknowingly, play a<br />
role in it.Such confidence can help people to persevere<br />
in the struggle for justice in situations that appear to<br />
be hopeless. The eschatological dimension does not<br />
weaken, but strengthen human responsibility”(197).<br />
Jenseits von Golgatha lässt etwas durchblicken von<br />
dem, was biblische Tradition immer wieder bestimmt<br />
hat, in aller Vorläufigkeit, aber auch in aller<br />
Bestimmtheit.Gerechtem Leben in horizontalen und<br />
vertikalen Bezügen wird Lebensraum eingeräumt.<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
15
Ägypten/Babylon,Exodus/Wüste,Fata Morgana,Golgatha<br />
und Jenseits von Golgatha haben Wolfram<br />
Kistners theologische Blickrichtung bestimmt. Und<br />
sie haben zugleich seine Aktionsrichtung festgelegt,<br />
denn,so Kistner,„Theologie treiben,das heißt Herzen,<br />
Hände und Füße von Menschen bewegen,hin zur Gerechtigkeit.“<br />
Drea Fröchtling<br />
Bibliographie:<br />
Duchrow, U & Glück, M 1994. Economic alternatives:<br />
Responding to the fifty years of the dominant financial<br />
systems established at Bretton Woods.<br />
Heidelberg: Kairos Europa.<br />
Kistner, W 2008. Justice and righteousness like a<br />
never-ending stream:Essays,reflections and discussion<br />
documents. Johannesburg: South<br />
African Council of Churches.<br />
Sugirtharajah,R S 1999. Asian biblical hermeneutics<br />
and postcolonialism: Contesting the interpretations.<br />
Sheffield: Sheffield Academic Press.<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
16
Erinnerungen – Begegnungen<br />
Wenn ich Dr. Kistner in den 80er Jahren in die townships<br />
oder in die Umsiedlungsgebiete auf dem Land<br />
begleitete, konnte ich immer wieder beobachten,<br />
dass er ein besonderes Verhältnis zu jungen Menschen<br />
hatte.<br />
Er ging sehr behutsam mit ihnen um, nahm sie ernst,<br />
vertraute ihnen, traute ihnen auch etwas zu und ermächtigte<br />
sie dadurch zu Selbstvertrauen. Sie ihrerseits<br />
brachten ihm tiefen Respekt und unbedingtes<br />
Vertrauen entgegen, verehrten und liebten ihn.<br />
Und wenn man sich an die Zeit der 80er Jahre erinnert,<br />
an den berechtigten,oft ungezügelten Zorn der<br />
rebellierenden schwarzen Jugendlichen, dann ist es<br />
nicht selbstverständlich,dass ein Mann wieWolfram<br />
Kistner,der ein Mann der Kirche, ein zutiefst spiritueller<br />
Theologe war,dessen Denken und Handeln sich<br />
immer auf die biblische Botschaft bezog, dass dieser<br />
sanftmütige,ruhige Mann mit der leisen,nachdenklichen<br />
Stimme so großes Vertrauen besaß unter<br />
Menschen, die angetreten waren, auf die Barrikaden<br />
zu gehen, das Land unregierbar zu machen und sei<br />
es unter Einsatz physischer Gewalt.<br />
Ich habe ihn mehrmals erlebt in äußerst gefährlichen<br />
Situationen der Konfrontation zwischen bewaffnetenVertretern<br />
staatlicher Gewalt und schwarzen<br />
Jugendlichen, in denen er zwischen den Fronten<br />
und doch nah bei den Menschen auf jeder der beiden<br />
Seiten war.<br />
Er war Anwalt der Menschen, die Schutz brauchten,<br />
aber er reduzierte auch die Gegner nie auf ein Feindbild,<br />
und diese völlige Abwesenheit von Feindseligkeit<br />
– so schien es mir – übertrug sich auf die Menschen<br />
um ihn herum und veränderte die Situation.<br />
Ich erinnere mich an einen Trauer-Gottesdienst im<br />
Township Sebokeng bei Johannesburg, den er für<br />
einen von der Polizei getöteten schwarzen Jugendlichen<br />
hielt. Die Kirche war zum Bersten voll mit jungen<br />
Schwarzen, die außer sich waren vor Wut und<br />
Verzweiflung und um die Kirche herum war ein Ring<br />
bewaffneter Hilfssoldaten postiert,mit dem Gewehr<br />
im Anschlag.Die Stimmung war explosiv.Auf beiden<br />
Seiten hitzköpfige junge Leute – die in der Kirche ver-<br />
Gisela Albrecht<br />
zweifelt und vollerTrauer, die anderen draußen nervös,<br />
unerfahren und voller Angst. Ich hatte das Gefühl,<br />
ein einziger Funke würde genügen, um die Situation<br />
in Gewalt umkippen zu lassen.<br />
Dr. Kistner blieb völlig gelassen. Mitten im Hexenkessel<br />
der aufgewühlten Emotionen sprach er, wie<br />
immer, ruhig und nachdenklich.<br />
Ausgehend von einem Matthäus-Text erzählte er<br />
von Konfliktsituationen der Menschen damals in Galiläa,<br />
er erzählte von reichen Großgrundbesitzern<br />
und armen Bauern;von Habgier,Unterdrückung und<br />
Landraub, und zuletzt erzählte er von den Zeloten,<br />
den in die Berge geflohenen jungen Leuten, die zu<br />
Befreiungskämpfern wurden.<br />
Er erzählte diese biblische Geschichte in schlichten<br />
Worten,aber er erzählte sie so,als passiere sie gerade<br />
in unserer Gegenwart. Und dann beschrieb er fast<br />
nüchtern die Situation in den vom Militär besetzten<br />
townships, sodass jeder im Raum seine eigene Geschichte<br />
darin erkennen konnte; aber seine Predigt<br />
wandte sich auch an die Hilfspolizisten draußen vor<br />
der Kirche, als er davon sprach, dass in der bedingungslosen<br />
Annahme des Menschen durch Gott<br />
auch der Aufruf an den Menschen enthalten sei zur<br />
Bereitschaft der bedingungslosen Annahme des<br />
Menschen neben ihm.<br />
Die Situation entspannte sich und die an den Gottesdienst<br />
sich anschließende Beerdigung fand ohne<br />
einen Zwischenfall statt.<br />
In dem folgenden Text aus einem Gepräch mit Jabu<br />
Ngwenya, einem in den 80er Jahren jungen Freund<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
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Dr. Kistners, mit dem er viel zusammengearbeitet<br />
hat, wird deutlich, wie sehr Dr. Kistner damals den<br />
jungen Aktivisten Ratgeber, Lehrer und väterlicher<br />
Freund war.<br />
In dem an das Gespräch mit Jabu Ngwenya anschließenden<br />
Kistner-Interview beschäftigt sich Wolfram<br />
Kistner anhand eines Textes aus Hosea mit der drängenden<br />
Frage, warum die Gefangenschaft das Volk<br />
Israel auch nach der Befreiung immer wieder neu im<br />
Griff behält, warum der vom Opfer-Sein befreite<br />
Mensch die eigene Geschichte wiederholt , indem er<br />
andere zu Opfern macht.<br />
Aus einem Gespräch mit Jabu Ngwenya :<br />
Jabu Ngwenya: Dr. Kistner war nicht einfach ein gewöhnlicher<br />
Mensch. Er war absolut einzigartig, er<br />
war ein Mensch für andere Menschen. Was ich heute<br />
bin, das bin ich durch ihn geworden.<br />
Und er hat mich so vieles über die Bibel gelehrt für<br />
mich war die Bibel vorher ein abstraktes Buch gewesen,<br />
das waren eher erfundene Geschichten als Realität;<br />
durch ihn bevölkerte sie sich für mich zum ersten<br />
Mal mit Menschen aus Fleisch und Blut; Dr.Kistner<br />
half mir zu verstehen, dass es um konkrete Menschen<br />
ging, er half mir, ihre Geschichte zu sehen und<br />
Ähnlichkeiten zu entdecken zwischen ihnen und uns.<br />
Durch Dr. Kistner hat sich mir eine neue Welt aufgetan.<br />
Er hat niemals versucht,uns vorzuschreiben,was wir<br />
tun sollten;er hat dir immer geholfen,deine eigenen<br />
Lösungen zu finden und zwar dadurch, dass er dir<br />
Fragen stellte.<br />
Bis heute hab ich nie mehr jemanden gefunden, der<br />
wie er Fragen so stellt, dass man eine Lösung findet.<br />
Er öffnete sein Haus für alle von uns, als wir auf der<br />
Flucht waren vor der Polizei. Er hat uns versteckt, als<br />
wir untertauchen mussten. Er gab uns zu essen,<br />
einen Platz zum Schlafen. Er gab uns alles – in meinem<br />
ganzen Leben habe ich niemals mehr einen solchen<br />
Menschen getroffen.<br />
Besonders auch die Frau von Dr. Kistner. Einen Menschen<br />
wie sie findest du kein zweites Mal; wir waren<br />
wie ihre Kinder, ihre wirklichen Kinder; wir kamen<br />
um 2 Uhr nachts, und sie machte uns Tee, machte<br />
uns etwas zu essen, es war unglaublich: Wir waren<br />
überwältigt.Hier war eine weiße Familie,die uns mit<br />
weit mehr Fürsorge umgab als unsere eigenen Eltern<br />
und so wurden sie meine wirklichen Eltern für mich.<br />
Von einem bestimmten Zeitpunkt an haben sie angefangen,<br />
sein Haus zu beobachten. Am Anfang war<br />
er keine öffentliche Figur gewesen, er hielt sich<br />
immer im Hintergrund,bis ihn der Kontakt zu uns ins<br />
Fadenkreuz der Sicherheitspolizei rückte.So viele von<br />
uns, die verhaftet wurden, waren vorher regelmäßig<br />
zu seinem Haus gegangen.<br />
Die Situation verschärfte sich immer mehr,sie wurde<br />
so schlimm,dass wir Angst bekamen,sie könnten Dr.<br />
Kistner töten, denn die Sicherheitspolizei hatte ihre<br />
Strategie geändert, sie fing an, die Leute, die ihnen<br />
gefährlich wurden, zu ermorden. Deshalb mussten<br />
wir anfangen, uns woanders zu treffen.<br />
Was ich auch von Dr.Kistner gelernt habe: Es gibt das<br />
Böse, die Mächte der Dunkelheit eben.<br />
Früher haben wir zusammen gehalten, wir hatten<br />
ein gemeinsames Ziel und es war klar, wer der Feind<br />
war. Ich wusste,dass die Schmerzen,die ich unter der<br />
Folter ertrug, auch die anderen Menschen mitnahmen.<br />
Wir wollten etwas in Bewegung bringen,damit<br />
es besser wird im Leben der Menschen. Wir haben<br />
darum gekämpft, das Monster Apartheid loszuwerden,<br />
alle zusammen.<br />
Jetzt hat sich alles verändert,jetzt spielt das Geld die<br />
beherrschende Rolle.<br />
Jetzt ist jeder für sich allein; wir können das Monster,<br />
das uns heute beherrscht,nicht mehr durchschauen,<br />
wir wissen nicht mehr, wer der Feind ist, deshalb<br />
können wir ihn auch nicht mehr bekämpfen.<br />
Dr. Kistner war jemand, der den Menschen gedient<br />
hat. Für mich ist er ein Heiliger im wahrsten Sinn des<br />
Wortes.Niemals hat er versucht,irgendjemanden zu<br />
betrügen, irgendeinem Menschen zu schaden. Er<br />
war unkorrumpierbar bis zum Ende.<br />
Er hat den Menschen selbstlos gedient, bis zu seinem<br />
Tod.<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
18
Wolfram Kistner :<br />
Wir haben in den Kirchen viel mit dem Exodus-Motiv<br />
gearbeitet,hinter uns liegt Ägypten,seit 1990 befinden<br />
wir uns noch auf dem Weg durch die Wüste.Vor<br />
uns liegt das verheissene Land – ein neues Südafrika.<br />
Aber bevor die Menschen das Gelobte Land betreten<br />
können, müssen sie von der Denkweise und Mentalität<br />
des Unterdrückers befreit werden.<br />
Ich weiß noch, wie wir damals in der Zeit des Kampfes<br />
– da haben wir immer Bibelarbeiten gehalten. Ein<br />
Text,den ich sehr gern mochte,aus Hosea,glaube ich,<br />
war der Satz: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen...<br />
dann immer wieder die Frage: zieht Ägypten<br />
nicht mit uns? Nehmen wir nicht Ägypten mit uns<br />
in das verheissene Land? Auch in die verheissene Zukunft?<br />
Im Augenblick merkt man, viele Leute, die derartig<br />
gelitten haben, sind fasziniert von Macht,Reichtum,<br />
Glanz, politischem Einfluss in einer Lage, in der ein<br />
ganz großer Teil der Bevölkerung nach wie vor leidet.<br />
Es hat ein Prozess stattgefunden, in dem Teile der<br />
schwarzen Führungsschicht genau in die Stellen gekommen<br />
sind, auch wirtschaftlich, die früher Weiße<br />
gehabt haben; aber man spürt nicht, dass sie nun<br />
heute etwas anderes praktizieren.<br />
Und zwar sind das Menschen, die auch aus der<br />
Armut kommen,die selbst gefoltert worden sind, die<br />
aus einem langen Kampf stammen – da geht es für<br />
mich um die Frage nach dem Menschen – was ist eigentlich<br />
der Mensch, dass sich das immer wieder<br />
wiederholt?<br />
Das ist bei vielen Menschen, auch bei vielen Unterdrückten,<br />
immer wieder die Erfahrung – wenn sie in<br />
eine Machtstellung kommen, ob weiß oder schwarz,<br />
dann wiederholt sich der Prozess.<br />
Wie können wir diesen Zyklus durchbrechen, dass<br />
auch nach der Befreiung der frühere Unterdrücker<br />
einen geheimen Sieg erringt, indem die Methoden,<br />
mit denen er vorgegangen ist, weiterleben?<br />
Wie können wir davor bewahrt bleiben, dass das<br />
Ägypten immer wieder bei uns auftaucht, kollektiv<br />
aber auch in uns persönlich und wie nehmen wir diesen<br />
Kampf auf? Auch im persönlichen Kampf mit<br />
uns selbst?<br />
Ich glaube, da geht es fast um eine religiöse Frage.<br />
Für mich geht es um den Prozess des Menschwerdens.<br />
Ich komme immer wieder auf die Frage zurück:Was<br />
macht uns eigentlich zum Menschen? Und hab keine<br />
endgültige Antwort, selber nicht.<br />
DOKUMENTATION EINER BUCHPRÄSENTATION <strong>WOLFRAM</strong> <strong>KISTNER</strong>: <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>UND</strong> <strong>VERSÖHNUNG</strong><br />
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Impressum<br />
Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika KASA<br />
Ecumenical Service for Advocacy Work on Southern Africa<br />
Obere Seegasse 18<br />
69124 Heidelberg<br />
Telefon +49-(0)6221-4333612<br />
Telefax +49-(0)6221-4333629<br />
simone.knapp@woek.de<br />
www.kasa.woek.de<br />
Redaktion: Simone Knapp<br />
Gestaltung: Hantke & Partner, Heidelberg<br />
Wir danken der Evangelischen Kirche im Rheinland und der<br />
Evangelisch-lutherischen Kirche Hannover für Ihre Unterstützung.<br />
Heidelberg, Februar 2009<br />
330 Seiten, kartoniert<br />
e 24,90<br />
ISBN 978-3-7859-0988-1<br />
Mit Audio-CD:<br />
Interviews mit Wolfram Kistner<br />
geführt und bearbeitet von<br />
Gisela Albrecht