Diplomarbeit von Yvonne Mattes als PDF ... - Simple Power
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<strong>von</strong> Hans-Peter Hepe<br />
Vorwort<br />
Das erforschen des „Systems Organisation“ ist für den Menschen ein<br />
Selbstfindungsprozess, der mich immer fasziniert und inspiriert und bei der<br />
Deutung <strong>von</strong> Konflikten und Krisen, wie bei systemischen Organisationsaufstellungen,<br />
vorangebracht hat. In den Raumbildern der systemischen<br />
Organisationsaufstellung enthüllt sich ein Stück unsichtbarer,<br />
zwischenmenschlicher Gestaltungskraft, die oft mehr weiß <strong>als</strong> die<br />
offensichtlichen Gestaltungsstoffe moderner Organisationen.<br />
Die auf Fakten und Zahlen gestützten Prognosen, Vorhersagen und<br />
Beratermeinungen bringen uns überall hin, aber bestimmt nicht immer in die<br />
Mitte unserer Kraft, vielmehr tragen sie oft noch dazu bei, dass so viele<br />
Führungskräfte außer sich geraten.<br />
Angesichts dieser Situation ist es für mich beglückend, in der Autorin Y<strong>von</strong>ne<br />
<strong>Mattes</strong> eine langjährige Begleiterin in systemischen Aufstellungen und<br />
Verbündete zu finden, die mit ihrer bemerkenswerten <strong>Diplomarbeit</strong> an den<br />
Wurzeln des „Systems Organisation“ viele kostbare Schätze hebt, den<br />
berühmten „blinden Fleck“ erhellt und einen Weg durch das Dickicht der<br />
komplexen Zusammenhänge und Wechselwirkungen in Organisationen zeigt:<br />
Die systemische Organisationsaufstellung <strong>als</strong> Navigationsgerät!<br />
Y<strong>von</strong>ne <strong>Mattes</strong> macht es uns leicht, ihr zu folgen in die Welt der systemischen<br />
Arbeit in Organisationen, die Arbeitsbeziehungen in Organisationen neu zu<br />
entdecken und in den unzähligen Zusammenhängen herausfinden, wie wir<br />
selbst mit dem „System Organisation“ zusammenhängen.<br />
Hans-Peter Hepe Hamburg, Dezember 2009<br />
I
Die systemische Organisationsaufstellung:<br />
Wirklichkeit ins Bild bringen<br />
und erlebbar machen<br />
<strong>Diplomarbeit</strong> an der Hochschule für angewandte Wissenschaften<br />
Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt, Abteilung Würzburg<br />
Fakultät Betriebswirtschaft<br />
Zur Erlangung des akademischen Grades<br />
Diplom-Betriebswirtin (FH)<br />
vorgelegt <strong>von</strong>: Y<strong>von</strong>ne <strong>Mattes</strong><br />
bei: Prof. Dr. Clifford W. Sell<br />
im Fach: Unternehmensentwicklung<br />
im: Sommersemester 2009<br />
II
DANKSAGUNG<br />
Diese <strong>Diplomarbeit</strong> entstand an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt, im<br />
Fachbereich Unternehmensentwicklung. Bei Prof Dr. Clifford W. Sell bedanke<br />
ich mich für die Vergabe und Betreuung der Arbeit. Er hat es mir ermöglicht,<br />
den Prozess der Ausarbeitung dieser Arbeit zu erleben, viele Dinge auf<br />
unterschiedlichen Ebenen zu erkennen und meine Gedanken letztlich in dieser<br />
Form zu entwickeln. Mein besonderer Dank geht auch an Dr. Friedrich<br />
Assländer und Claude Rosselet für ihre interessanten und einsichtsreichen<br />
Einblicke in ihre Wirklichkeitskonstruktion. Ich danke allen systemischen<br />
Experten, die mich durch viele Denkanstöße und Einsichten aus der Praxis<br />
bereichert und mich bei dieser Arbeit unterstützt haben. Vielen Dank an Theo<br />
Brinek, Lothar Kleist, Brigitte Sachs-Schaffer <strong>von</strong> Infosyon, Hans-Peter Hepe,<br />
Ulrike Hippler und Dr. Bernd LeMar.<br />
Meinen Freunden danke ich für ihre Geduld, ihr Verständnis und ihr Interesse,<br />
insbesondere Anne, die in stundenlanger Arbeit meine Interviews transkribierte.<br />
Danke an Christian, Sabine und Markus für das Korrekturlesen der Arbeit. Nicht<br />
zuletzt danke ich <strong>von</strong> Herzen meinen Eltern, denn ohne sie wäre ich nicht auf<br />
dieser Welt, meinen Großeltern für ihre fortwährende Unterstützung und Ulrike<br />
und Jürgen, die mich seit jeher durch ihre liebevolle Art auf meinem Weg<br />
begleiten und an mich glauben.<br />
III
Inhaltsverzeichnis IV<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Inhaltsverzeichnis....................................................................................... IV<br />
Abbildungsverzeichnis............................................................................... VI<br />
1. Einleitung ..............................................................................................1<br />
1.1 Was Erdbeeren und Aufstellungen gemeinsam haben...........................2<br />
1.2 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit .........................................................3<br />
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen ...................................6<br />
2.1 Systemtheorie.........................................................................................6<br />
2.1.1 systemisches (Um-)Denken...........................................................9<br />
2.1.2 Was ist ein System? ....................................................................11<br />
2.1.3 Ausgewählte Grundbegriffe der Systemtheorie Luhmanns .........13<br />
2.1.4 Die Anwendung der Systemtheorie in Organisationen ................16<br />
2.2 Konstruktivismus ..................................................................................18<br />
2.2.1 Wie entsteht unsere Wirklichkeit?................................................19<br />
2.2.2 Was wir zu wissen glauben .........................................................21<br />
2.2.3 Konstruktivismus in Organisationen ............................................24<br />
2.3 Systemtheorie und Konstruktivismus....................................................26<br />
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen ....................................28<br />
3.1 Faktor Mensch......................................................................................28<br />
3.1.1Die neue Rolle des Managements ...............................................30<br />
3.1.2Beziehungskonstellationen <strong>als</strong> Erfolgsfaktor................................32<br />
3.2 Ordnungsmomente <strong>als</strong> Regeln im Spiel ...............................................33<br />
3.2.1 Offensichtliche Ordnungsmomente in Organisationen ................34<br />
3.2.2 Verborgene Ordnungsmomente in Organisationen .....................35<br />
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen........40<br />
4.1 Was ist die Organisationsaufstellung?..................................................40<br />
4.2 Die Entwicklung der Organisationsaufstellung hin zu neuen Formaten42<br />
4.3 Aufstellungsformen im Organisationsbereich .......................................44<br />
4.3.1 Klassische Organisationsaufstellung...........................................45<br />
4.3.2 Systemische Strukturaufstellung .................................................46<br />
4.3.3 Organisationsaufstellung innerhalb <strong>von</strong> Arbeitssystemen ...........47<br />
4.4 Die Vorgehensweise <strong>von</strong> Organisationsaufstellungen..........................48<br />
4.5 Die Umsetzung vom Lösungsbild zum Lösungsweg ............................53<br />
4.6 Das Spannungsfeld zwischen Konstruktion und Wunder .....................55<br />
4.6.1 Die abgebildete Wirklichkeit in Organisationsaufstellungen ........55<br />
4.6.2 Der Wahrheitsgehalt <strong>von</strong> Organisationsaufstellungen.................56<br />
4.6.3 Konstruktivistische Aspekte im Aufstellungsprozess ...................59<br />
4.7 Die Wirklichkeit <strong>von</strong> morgen .................................................................61
5. Untersuchungsmethodik ...................................................................63<br />
5.1 Zielsetzung und Hypothesenbildung.....................................................63<br />
5.2 Beschreibung der angewandten Erhebungsmethode...........................64<br />
5.2.1 Das leitfadenorientierte Experteninterview ..................................64<br />
5.2.2 Die Funktion des Leitfadens ........................................................65<br />
5.2.3 Abgrenzung des Expertenbegriffs ...............................................66<br />
5.2.4 Kritische Betrachtung der Interviewform......................................67<br />
5.3 Durchführung der Untersuchung ..........................................................68<br />
5.3.1 Die Auswahl der Experten – Vorabrecherche zur Identifizierung.68<br />
5.3.2 Entwicklung des Leitfadens .........................................................70<br />
5.3.3 Planung und Durchführung der Interviews ..................................71<br />
5.4 Vorgehensweise bei der Datenauswertung..........................................72<br />
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse ...............................74<br />
6.1 Darstellung der Ergebnisse ..................................................................74<br />
6.1.1 Der systemisch-konstruktivistische Ansatz..................................74<br />
6.1.2 Die Bedeutung der systemischen Grundsätze.............................76<br />
6.1.3 Organisationsaufstellungen innerhalb <strong>von</strong> Arbeitssystemen .......78<br />
6.1.4 Vom Lösungsbild zum Lösungsweg ............................................81<br />
6.1.5 What´s now: Die Organisationsaufstellung aus heutiger Sicht ....84<br />
6.1.6 What´s next: Entwicklungen der Organisationsaufstellung..........86<br />
6.2 Interpretation der Ergebnisse ...............................................................88<br />
6.2.1 Der systemisch-konstruktivistische Ansatz..................................89<br />
6.2.2 Die Bedeutung der systemischen Grundsätze.............................90<br />
6.2.3 Organisationsaufstellung innerhalb <strong>von</strong> Arbeitssystemen ...........91<br />
6.2.4 Vom Lösungsbild zum Lösungsweg ............................................92<br />
7. Schlussfolgerung ...............................................................................94<br />
Anhang ........................................................................................................96<br />
Literaturverzeichnis..................................................................................137<br />
Eidesstattliche Erklärung.........................................................................145<br />
V
Abbildungsverzeichnis VI<br />
Abbildungsverzeichnis<br />
Abbildung 1: Gedankenschritte zur Erstellung der Arbeit............................... 3<br />
Abbildung 2: Planungsschritte zur Erstellung der Arbeit ................................ 5<br />
Abbildung 3: Systemisches Weltbild. ........................................................... 10<br />
Abbildung 4: Der Systembegriff .................................................................. 12<br />
Abbildung 5: Die Wirklichkeit entsteht durch Kommunikation ...................... 20<br />
Abbildung 6: Die Wirklichkeit 1. und 2. Ordnung.......................................... 21<br />
Abbildung 7: Wirklichkeitskonstruktion am Beispiel Unternehmensfusion ... 24<br />
Abbildung 8: Sach- und Beziehungsdimensionen in Organisationen........... 33<br />
Abbildung 9: Systemische Grundsätze ........................................................ 38<br />
Abbildung 10: Wahrnehmungen <strong>von</strong> Stellvertretern in Aufstellungen .......... 50<br />
Abbildung 11: Klärende Sätze im Aufstellungsprozess................................ 51<br />
Abbildung 12: Systemisch-konstruktivistische Aufstellungsarbeit. ............... 61<br />
Abbildung 13: Multiplikatoren im Bereich der Systemaufstellung................. 70<br />
Abbildung 14: Auswertungsprozess mit MAXQDA....................................... 73<br />
Abbildung 15: Prozessbegleitung nach Assländer....................................... 82<br />
Abbildung 16: Prozessbegleitung nach Rosselet......................................... 83
1 Einleitung 1<br />
1 Einleitung<br />
„Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ Mit dieser Frage greift WATZLAWICK in seinem<br />
gleichnamigen Buch eine Annahme auf, die wir uns im „richtigen“ Leben<br />
scheinbar nicht stellen. Wir gehen da<strong>von</strong> aus, genau unterscheiden zu können<br />
was wirklich ist und was wir uns nur einbilden. Unser Bild der Wirklichkeit wird<br />
laufend an unsere Bedürfnisse und Wünsche angepasst bzw. passend<br />
gemacht. Funktioniert diese Anpassung, wie im Falle der Finanzkrise nicht,<br />
dann müssen wir schlichtweg begreifen, dass es eine neue Wirklichkeit gibt. 1 Ist<br />
es so einfach, die „alte“ Wirklichkeit gegen eine „neue“ einzutauschen? Oder ist<br />
das entscheidende Kriterium eher, wie wir das Erlebte definieren und aus<br />
welchem individuellen Blickwinkel wir es betrachten?<br />
Die Zeit der Veränderung und des schnellen Wandels birgt möglicherweise die<br />
„einmalige Gelegenheit, Dinge zu verändern“ 2 und einen Perspektivenwechsel<br />
zu vollziehen. Organisationen müssen gemeinsam festlegen, welchem Teil der<br />
Wirklichkeit sie Bedeutung geben wollen. Dazu sind alternative Sinnkriterien<br />
nötig, die jenseits der bloßen Gewinnmaximierung liegen. 3 Vielleicht brauchen<br />
Organisationen auch den Mut, vom eingeschlagenen Kurs abzuweichen, um<br />
dort nach neuen Möglichkeiten zu suchen, wo bisher (noch) wenig hingeschaut<br />
wird – ins „Innere“ der Organisation. Die verfehlten Planungen der Ökonomen<br />
während der letzten Monate machen deutlich, dass Dynamiken in Systemen<br />
wirken müssen, die scheinbar unsere Märkte direkt beeinflussen.<br />
Spätestens seit FREUD ist akzeptiert, dass das Unbewusste unser Denken und<br />
Handeln wesentlich mitbestimmt. Auch Organisationen und ihre Subsysteme,<br />
wie Abteilungen und Teams, besitzen ein Unbewusstes, d.h. eine Struktur aus<br />
komplexen Zusammenhängen und Wechselwirkungen, die im Verborgenen<br />
liegen. 4 Um mit der schwer mess- und lenkbaren 5 Eigendynamik <strong>von</strong><br />
Organisationen und menschlichen Beziehungsmustern umzugehen, sind<br />
innovative Methoden gefragt, die auch emotionale Aspekte miteinbeziehen.<br />
1<br />
„Die Wall Street muss begreifen, dass es eine neue Wirklichkeit gibt.“ Zitat des<br />
Gener<strong>als</strong>taatsanwaltes <strong>von</strong> New York zur Finanzkrise. FAZ 10.12.2008<br />
2<br />
Zitat <strong>von</strong> Mohammad Yunus. Friedensnobelpreisträger und Begründer der Mikrokredite<br />
3<br />
Vgl. Simon http://www.carl-auer.de/blog/simon/die-okonomen-in-der-sinnkrise/<br />
4<br />
Vgl. Horn, Brick (2001) S. 10 ff.<br />
5<br />
Peter Drucker prägte das Zitat „Was du nicht messen kannst, kannst du nicht lenken“
1 Einleitung 2<br />
Die Organisationsaufstellung, die Gegenstand dieser Arbeit ist, stellt eine<br />
solche innovative und außergewöhnliche Methode dar. Sie bietet<br />
Einzelpersonen und Organisationen die Möglichkeit, das Potential „ihres“<br />
Systems bewusst auf neuen Wegen zu erschließen. 6 Anhand der Darstellung<br />
<strong>von</strong> komplexen Beziehungsgeflechten in einem Raumbild, bietet die Methode<br />
einen Zugang zu latenten Strukturen wie Führung, Regeln und<br />
Grundannahmen. 7 Dadurch wird Licht in verborgene Sachverhalte gebracht und<br />
ein Stück Wirklichkeit ins Bild gebracht, um zu erleben was verbindet.<br />
1.1 Was Erdbeeren und Aufstellungen gemeinsam haben<br />
Wie würden Sie den Geschmack einer Erdbeere für jemanden beschreiben, der<br />
noch nie in den Genuss dieser Frucht kam? Eine Antwort auf diese Frage<br />
verlangt genauso viel Zeit zum Nachdenken wie eine Antwort darauf, was die<br />
Organisationsaufstellung ist. Mit Worten allein können wir weder genau den<br />
Geschmack einer Erdbeere, noch die Erfahrungsqualität einer Aufstellung<br />
beschreiben. SCHLÖTTER verweist mit dieser Metapher auf das Problem der<br />
Darstellung <strong>von</strong> Erfahrungen und Erkenntnissen aus Aufstellungen, die „kein<br />
Buch der Welt lösen kann.“ 8 Die Welt, die wir tagtäglich erschaffen, besteht aus<br />
erlebbaren Dingen und Ereignissen, aus denen letztlich unsere subjektive<br />
Erfahrung abgeleitet wird. Um uns ein Bild der Aufstellungsarbeit machen zu<br />
können, sollten wir der Empfehlung KANTS folgen, der sagt: „die Natur ist der<br />
Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung.“<br />
Die Auseinandersetzung mit der Aufstellungsmethode und dieser Arbeit setzt<br />
zudem voraus, linear-rationale Denkstrukturen zu verlassen und sich auf<br />
ungewohntes Terrain zu begeben. Dabei sollen keineswegs der Sachverstand<br />
und die Logik ausgeblendet werden, sondern lediglich mehr „innere<br />
Demokratie“ und eine gewisse Offenheit für solch intuitive Ansätze mitgebracht<br />
werden. 9<br />
6 Vgl. Rosselet, Senoner, Lingg (2007) S. 16<br />
7 Vgl. Horn, Brick (2001) S. 10 Vgl. Rüegg-Stürm, Schumacher (2007) S. 78<br />
8 Schlötter (2006) S. 153<br />
9 Vgl. Horn, Brick (2001) S.10 f.
1 Einleitung 3<br />
1.2 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit<br />
Die vorliegende Arbeit untersucht die Organisationsaufstellung <strong>als</strong> systemische<br />
Methode, um Wirklichkeitskonstruktionen zu visualisieren und für die Beteiligten<br />
erlebbar zu machen. Grundlage der Arbeit sind Gedanken und Interviews zu<br />
Wirklichkeitskonstruktionen und zur Aufstellungsarbeit. Das Ziel der Arbeit ist,<br />
dem Leser theoretische Erklärungen zur Entstehung der Wirklichkeit, zum<br />
Systemdenken und zur Bedeutung des Menschen <strong>als</strong> „Wirklichkeitsgenerator“<br />
näher zu bringen. Der Boden theoretischer Erklärungen muss allerdings immer<br />
dann verlassen werden, wenn es um Erfahrungsqualitäten und nicht nur die<br />
Betrachtung purer Theorien geht. 10 Diese Arbeit soll daher auch das Interesse<br />
wecken, die Organisationsaufstellung zum Erfahrungsgegenstand an sich zu<br />
machen, um eine intuitivere und bildhaftere Sicht auf eigene<br />
Wirklichkeitskonstruktionen zu ermöglichen.<br />
Abbildung 1: Gedankenschritte zur Erstellung der Arbeit. Eigene Darstellung<br />
Mit der Organisationsaufstellung ist eine umstrittene systemische Methode<br />
ausgewählt worden. Einerseits werden Aufstellungen sehr positiv (vgl.<br />
10 Vgl. Schlötter (2006) S. 153
1 Einleitung 4<br />
HELLINGER) 11 , fast schon verherrlichend dargestellt und andererseits werden sie<br />
in der Literatur beinahe zerrissen. 12 Die kontroverse Diskussion zur<br />
familientherapeutischen Aufstellungsarbeit HELLINGERS stellt allerdings keinen<br />
inhaltlichen Bestandteil der Arbeit dar. Vielmehr soll die Methode aus der<br />
externen Beobachterperspektive und aus der Sicht <strong>von</strong> zwei Experten, bezogen<br />
auf Arbeits- und Organisationskontexte, dargestellt werden. Im Verlauf der<br />
Arbeit wird der Begriff Organisation bevorzugt verwendet, da er auch andere<br />
arbeitsteilige Institutionen (öffentliche Verwaltungen, Gewerkschaften etc.)<br />
umfasst und damit weiter ausgelegt ist <strong>als</strong> der Begriff „Unternehmen“. 13<br />
Die Erstellung der Arbeit durchlief verschiedene Schritte, die kurz dargestellt<br />
werden sollen. Zur Vorbereitung auf diese Arbeit wurde eine Recherche bei<br />
zehn Aufstellern in Deutschland, im Hinblick auf die relevante Standardliteratur,<br />
durchgeführt. Desweiteren wurden „Kenner der Szene“ in informellen<br />
Gesprächen zur Aufstellungsmethode befragt. In der Vorbereitungsphase folgte<br />
eine schriftliche Vorabrecherche zu zwei verschiedenen Fragestellungen. Die<br />
Ergebnisse dieser Vorabrecherche bildeten wiederum die Basis zur Planung<br />
der Erhebung, in Form <strong>von</strong> Experteninterviews. 14<br />
Die Durchführung und Dokumentation umfasste die theoretische Erarbeitung<br />
des Arbeitstitels, sowie die Auswertung der Experteninterviews und der<br />
Vorabrecherche. Die Vorbereitung und Durchführung- bzw. Dokumentation der<br />
Arbeit wurde stets durch qualitätssichernde Schritte auf der Inhalts- und<br />
Metaebene begleitet.<br />
11 Vgl. Hellinger. Hellinger ist Psychoanalytiker und entwickelte unter dem Einfluss der<br />
Gruppendynamik, der Primärtherapie, der Transaktionsanalyse und verschiedener<br />
hypnotherapeutischer Verfahren die ihm eigene Form des Familien-Stellens, das heute<br />
weltweit Beachtung findet und in vielen unterschiedlichen Bereichen angewandt wird. Siehe:<br />
http://www.hellinger.com/<br />
12 Im Buch des Studentischen Sprecherrats der Uni München "Niemand kann seinem<br />
Schicksal entgehen“ wird Hellingers Weltbild und Methode in verschiedenen Aspekten scharf<br />
kritisiert<br />
13 Vgl. Rüegg-Stürm (2002) S. 22<br />
14 Die Bedeutung der Experteninterviews entspricht einer „Bodenprobe“ und stellt keine<br />
empirische Erhebung dar.
1 Einleitung 5<br />
Abbildung 2: Planungsschritte zur Erstellung der Arbeit. Eigene Darstellung<br />
Der methodische Aufbau der Arbeit gliedert sich vom „Großen ins Kleine“. Im<br />
ersten Teil der Arbeit (Kapitel 2) werden daher zunächst die<br />
erkenntnistheoretischen Grundlagen beschrieben, die eine doppelte Funktion<br />
haben. Zum einen bildet die Systemtheorie die Grundlage, Dynamiken in<br />
sozialen Systemen zu erläutern. Der Konstruktivismus legt hingegen dar, was<br />
die Wirklichkeit ist und wie diese konstruiert wird. Zum anderen stellt der<br />
systemisch-konstruktivistische Ansatz einen bewährten theoretischen Zugang<br />
zur Organisationsaufstellung und zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen dar.<br />
Das dritte Kapitel erläutert die „innere Wirklichkeit“, d.h. das Eigenleben <strong>von</strong><br />
Organisationen und geht auf die Bedeutung des Faktors Mensch und auf<br />
Ordnungsmomente in Organisationen ein. Zum Abschluss der theoretischen<br />
Grundlagen (Kapitel 4) wird die Organisationsaufstellung beschrieben, um<br />
Aspekte der Wirklichkeit in ein szenisches Raumbild zu bringen und erlebbar zu<br />
machen. Die Beschreibung der Methode erfolgt unter Berücksichtigung der<br />
systemisch-konstruktivistischen Anteile.<br />
Im Anschluss (Kapitel 5) folgen die methodische Einordnung der Erhebung und<br />
die Beschreibung der angewandten Erhebungsmethode. Das sechste Kapitel<br />
stellt die Ergebnisse der Erhebung und deren Interpretation dar. Den Abschluss<br />
(Kapitel 7) bildet die Schlussfolgerung, die die Arbeit abrundet.
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 6<br />
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen<br />
Nichts ist so unglaubwürdig wie die Wirklichkeit.<br />
Fjodor Michailowitsch Dostojewski<br />
Um die systemische Methode der Organisationsaufstellung in ihrem<br />
Gesamtkontext erfassen zu können, bedarf es der Erläuterung der zugrunde<br />
gelegten epistemologischen 15 Grundlagen. Die Organisationsaufstellung basiert<br />
im Wesentlichen auf drei theoretischen Ansätzen: Dem Konstruktivismus, der<br />
Systemtheorie und der Phänomenologie. 16 17 Im Rahmen dieser Arbeit wird auf<br />
den Ansatz des Konstruktivismus <strong>als</strong> Erklärungsmodell zur Entstehung der<br />
Wirklichkeit eingegangen. Verbunden mit der Systemtheorie stellt der<br />
Konstruktivismus gleichzeitig die ausgewählte, theoretische Basis zur<br />
Erläuterung der Aufstellungsarbeit dar. WEBER beschreibt die systemisch-<br />
konstruktivistische Sichtweise <strong>als</strong> einen Zugangsweg zur Wirklichkeit in<br />
Organisationen, der sich in der Beratung besonders bewährt hat. 18<br />
Das folgende Kapitel führt zunächst in die Besonderheiten des systemischen<br />
Denkens ein. Die Systemtheorie im Allgemeinen und die soziologische<br />
Systemtheorie <strong>von</strong> LUHMANN im Speziellen, bilden den theoretischen<br />
Hintergrund. Anschließend werden Fragen zur Entstehung der Wirklichkeit mit<br />
Hilfe des Konstruktivismus erklärt.<br />
2.1 Systemtheorie<br />
Die Grundlagen der Systemtheorie bilden immer häufiger die Basis, soziale<br />
Phänomene und Funktionsweisen in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen<br />
Bereichen zu erklären und zu beschreiben. 19 Anhand der Systemtheorie<br />
können verschiedenste soziale Systeme aus einer neuen Perspektive<br />
betrachten werden. Der Reiz systemischer Konzepte liegt dabei in der hohen<br />
15<br />
Duden (2007): epistemē = das Verstehen; Wissenschaft] (Philos.): Wissenschaftstheorie, -<br />
lehre; Erkenntnistheorie, -lehre<br />
16<br />
Eine Beschreibung des Ansatzes der Phänomenologie erfolgt im Anhang<br />
17 Vgl. Gminder (2005) S. 67<br />
18 Vgl. Weber (2000) S. 35<br />
19 Sagebiel, Vanhoefer (2006) S. 42
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 7<br />
Abstraktion und der damit verbundenen allgemeinen Anwendbarkeit. 20 In den<br />
letzten Jahren sind systemtheoretische Ansätze und systemisches Denken<br />
regelrecht in Mode gekommen und werden zunehmend auch außerhalb der<br />
Wissenschaft verwendet. 21 Für LUHMANN, einem der Begründer der<br />
soziologischen Systemtheorie, ist die Systemtheorie gar „eine besonders<br />
eindrucksvolle Supertheorie.“ 22 Diese „Supertheorie“ 23 wie LUHMANN sie nennt,<br />
ist aber alles andere <strong>als</strong> ein Produkt der Neuzeit, so finden sich Vorläufer des<br />
Systembegriffs bereits in der Philosophie der Antike.<br />
Der Ursprung <strong>als</strong> wissenschaftliches Paradigma basiert auf wesentliche<br />
naturwissenschaftliche Erkenntnisse vor allem aus der Physik. Im Jahr 1920<br />
wird die Systemtheorie schließlich <strong>als</strong> solches konzipiert. Der Biologe<br />
BERTALANFFY legt dabei den Grundstein für den Begriff der „Allgemeinen<br />
Systemtheorie“. Seine Arbeiten bilden zusammen mit der Kybernetik und der<br />
Informationstheorie die grundlegenden Überlegungen dieses<br />
Wissenschaftsansatzes, zur Betrachtung komplexer Systeme. Weitere zentrale<br />
Forschungsergebnisse zu lebenden Systemen gehen auf MATURANA 24 und<br />
VARELA zurück, die später <strong>von</strong> LUHMANN für soziale Systeme generalisiert<br />
wurden. Die rasante Entwicklung der Systemtheorie in vielen verschiedenen<br />
Bereichen hat zur Folge, dass seit den Vorläufern des Systembegriffes<br />
unzählige systemtheoretische Ansätze herausgebildet wurden. Es wäre „ein<br />
Missverständnis […] anzunehmen, es gäbe die Systemtheorie oder die<br />
Definition für den Begriff System.“ 25 LUHMANN unterstreicht dies mit seinen<br />
Worten: „Systemtheorie ist heute ein Sammelbegriff für sehr verschiedene<br />
Bedeutungen und sehr verschiedene Analyseebenen.“ 26<br />
Bei der theoretischen Erarbeitung des Kapitels zur Systemtheorie stößt man<br />
neben den verschiedenen und komplexen Ausprägungen der Systemtheorie auf<br />
eine weitere Grenze, die besonders Personen ohne systemtheoretischen<br />
20 Vgl. Simon (2007) S. 12<br />
21 Vgl. Berghaus (2003) S. 24<br />
22 Vgl. Luhmann (1984) S. 19<br />
23 Die Systemtheorie <strong>als</strong> „Supertheorie“ erhebt laut Luhmann, für sich selbst den Anspruch,<br />
universell zu sein, das heißt „den gesamten Bereich der Wirklichkeit abzudecken. Siehe<br />
Berghaus (2003) S. 25<br />
24 Humberto Maturana prägte den Begriff der Autopoiesis (Prozess der Selbsterschaffung und-<br />
erhaltung eines Systemes<br />
25 Sagebiel, Vanhoefer (2006) S. 41 f.<br />
26 Luhmann (1984) S. 15
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 8<br />
Vorkenntnissen zu schaffen macht: die komplizierte und abstrakte Literatur.<br />
WILLKE schreibt dazu:<br />
Wer systemtheoretische Lektüre nach dem ersten Lesen verstanden<br />
hat, ist verdächtig: entweder ist er ein Genie, oder […] er hält sich<br />
nur für ein solches. 27<br />
Die Schwierigkeit der Lektüre beruht auf folgenden didaktischen und<br />
inhaltlichen Problemen:<br />
- Die Denkfiguren der Systemtheorie sind ineinander verzweigt und<br />
wiederum <strong>von</strong>einander abhängig, so dass sie alle gleichzeitig dargestellt<br />
werden müssten, was in der geschriebenen Sprache nicht möglich ist.<br />
Der Leser stößt daher auf Konzepte und Begrifflichkeiten, die er kennen<br />
müsste, um dem Fluss des Textes zu folgen.<br />
- Ein Überblick über die Eckpfeiler der Systemtheorie wäre nötig, um die<br />
Teilaspekte einordnen und verstehen zu können. Dies ist aber nur<br />
möglich, wenn zuvor eine Reihe <strong>von</strong> Grundbegriffen dargestellt wurde.<br />
- Anfänglich ist die Sprache der Systemtheorie ungewohnt. Die<br />
Entwicklung neuer Konzepte setzt allerdings voraus, dass man sich <strong>von</strong><br />
bekannten und herkömmlichen Begriffen trennt. 28<br />
Um einen angemessenen Überblick über die Denkfiguren der Systemtheorie zu<br />
erhalten, wird neben der Standardliteratur auch Sekundärliteratur<br />
herangezogen, die die Systemtheorie in verständlicher Art beschreiben, ohne<br />
deren Komplexität zu vernachlässigen. Die folgenden Ausführungen<br />
konzentrieren sich auf die Wirklichkeitsannahmen zur soziologischen<br />
Systemtheorie <strong>von</strong> LUHMANN und WILLKE, der das Theoriewerk <strong>von</strong> LUHMANN<br />
weiterentwickelte. Der Ansatz <strong>von</strong> LUHMANN ist der am weitesten entwickelte<br />
Systemtheorieansatz und in der Literatur zur systemischen Beratung <strong>von</strong><br />
Organisationen am häufigsten zu finden. 29 Er bietet den Vorteil eines hohen<br />
Erklärungswertes und kann <strong>als</strong> Basis für Handlungsstrategien, beispielsweise<br />
im Management, herangezogen werden. 30<br />
27 Vgl. Willke (1996a) S. 11<br />
28 Vgl. Willke (1996a) S. 11 f.<br />
29 Vgl. Neuberger (2005) zitiert in Niermann (2007) S. 112<br />
30 Vgl. Simon (2007) S. 87
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 9<br />
Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit den Besonderheiten systemischen<br />
Denkens. Anschließend werden dem Leser der Systembegriff, Denkfiguren der<br />
Systemtheorie und deren Bezug zur Praxis näher gebracht. Die Auswahl der<br />
dargestellten Begriffe erfolgte durch Anlehnung an gebräuchliche und oft<br />
verwendete Termini der Literatur. Die gewählte Reihenfolge der Kapitel zur<br />
Systemtheorie versucht dem Leser einen „roten Faden“ vorzugeben. Der<br />
Versuch wird allerdings laut SIMON „meist weder der tatsächlichen<br />
Entwicklungsgeschichte noch der inneren Logik einer Theoriearchitektur<br />
gerecht […].“ 31<br />
2.1.1 systemisches (Um-)Denken<br />
Um systemisches Denken zu verstehen, bedarf es einer Unterscheidung zu<br />
anderen Denkansätzen. Zur Begriffsabgrenzung des systemischen Denkens<br />
dient folgende Definition <strong>von</strong> SIMON:<br />
systemisches Denken verwendet Erklärungen, die sich aus der<br />
Systemtheorie ableiten lassen, und das heißt konkret: An die Stelle<br />
geradlinig-kausaler treten zirkuläre Erklärungen, und statt isolierter<br />
Objekte werden die Relationen zwischen ihnen betrachtet. 32<br />
Das Wesentliche im systemischen Denkansatz besteht darin, dass ein<br />
grundsätzliches Umdenken stattfindet. Lineare Ursache-Wirkungs-Ketten<br />
weichen zu Gunsten <strong>von</strong> ganzheitlichem Denken, um Wechselbeziehungen<br />
wahrzunehmen. 33 Im Gegensatz zum Ursache-Wirkungsdenken werden nicht<br />
ein Ereignis und ein Verhalten eines Elements verantwortlich gemacht für<br />
andere Zustände oder Verhaltensweisen. 34 Beim systemischen Denken<br />
entsteht vielmehr ein „zirkuläres Bild“, in dem unterschiedliche Ereignisse<br />
parallel an verschiedenen Orten auftreten bzw. zu Wirkungen führen. 35 Es wird<br />
das gesamte System <strong>als</strong> Ganzheit betrachtet. Den Untersuchungsgegenstand<br />
bilden Strukturen und Funktionen, wie beispielsweise die Beziehungsmuster<br />
<strong>von</strong> Systemmitgliedern und die Regeln ihrer Interaktion. 36<br />
31 Simon (2007) S. 7<br />
32 Simon (2007) S. 13<br />
33 Vgl. Senge (2006) S. 94<br />
34 Vgl. Simon (2007) S. 16<br />
35 Vgl. Horn, Brick (2001) S. 17<br />
36 Vgl. Simon (2007) S. 16
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 10<br />
SENGE vergleicht das Systemdenken mit einer Sprache, die es uns ermöglicht,<br />
neue Denkweisen zu entwickeln und grundlegende Strukturen komplexer<br />
Sachverhalte aufzudecken. 37 Während ein „mechanistisches Weltbild“, dem<br />
Objektivitätsglauben unterliegt, nutzt das systemische Denken das<br />
„Mehrbrillenprinzip“. Wesentliche Attribute, die ein systemisches Weltbild<br />
verkörpert, illustriert Abbildung 3: 38<br />
Abbildung 3: Systemisches Weltbild. Vgl. Königswieser, Hillebrand (2007) S. 28<br />
Damit systemisches Denken und die damit verbundenen Konzepte mehr <strong>als</strong> nur<br />
bloße Erkenntnis und „ästhetische Erfüllung“ bieten, braucht es Modelle zur<br />
Komplexitätsreduzierung im alltäglichen Gebrauch. Um den Transfer der<br />
systemtheoretischen Überlegungen in die Praxis zu erleichtern, beschreibt<br />
SIMON verschiedene systemische Denkanweisungen. Er sieht die<br />
Denkanweisungen <strong>als</strong> „Rezepte“ auf formaler Basis, die je nach Situation mit<br />
Inhalt und Leben gefüllt werden müssen. Herausgegriffen seien zum Schluss<br />
folgende systemische „Rezepte“:<br />
- Jede Aussage stammt aus der Perspektive des Beobachters: Alles<br />
was gesagt wird, ist durch die Brille des Beobachters und die jeweiligen<br />
Wahrnehmungsfähigkeit, Interessen, blinden Flecken etc. beeinflusst.<br />
37 Vgl. Senge (2006) S.89<br />
38 Vgl. Königswieser, Hillebrand (2007) S. 28
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 11<br />
- Die Landkarte entspricht nicht der Landschaft: Der beobachtete<br />
Gegenstand oder Sachverhalt ist nicht zu verwechseln mit der<br />
Bezeichnung (Abbildung, Sprache, Texte) an sich.<br />
- Information durch Unterscheidungen: Informationen werden dadurch<br />
gewonnen, indem Grenzen zwischen „innen“ und „außen“ gezogen<br />
werden. Dies geschieht entweder durch unabhängige Prozesse, die den<br />
Beobachter nicht betreffen oder durch den Beobachter selbst.<br />
- Die Beschreibung ist nicht gleich der Erklärung und Bewertung: Um<br />
neue und kreative Lösungen und Handlungsoptionen zu finden, muss die<br />
Beschreibung <strong>von</strong> der Erklärung und Bewertung gelöst werden.<br />
- Überlebenseinheit ist das System und seine relevante Umwelt: Die<br />
Möglichkeiten <strong>von</strong> Organisationen werden immer <strong>von</strong> den relevanten<br />
Umwelten (biologische bzw. psychische Systeme der Teilnehmer und<br />
soziale Systeme) begrenzt.<br />
- soziale Systeme sind Kommunikationsprozesse: Die kleinsten<br />
Einheiten eines sozialen Systems gilt es <strong>als</strong> Kommunikation zu<br />
definieren, dessen Kontinuität das System aufrechterhält. 39<br />
2.1.2 Was ist ein System?<br />
Die Wortherkunft „System“ geht auf das griechische Wort „systema“ zurück und<br />
bedeutet: „das aus mehreren Teilen zusammengesetzte und gegliederte<br />
Ganze.“ 40<br />
Auch für LUHMANN besteht ein System immer aus<br />
zusammengesetzten Elementen, d.h. kein Element kann <strong>als</strong> Einzelphänomen<br />
für sich betrachtet, untersucht werden. Neben diesem Gesichtspunkt beschreibt<br />
LUHMANN ein weiteres Kriterium, um ein System abzugrenzen. In Systemen<br />
bzw. in der Zusammensetzung <strong>von</strong> verschiedenen Elementen bestehen<br />
Wechselwirkungen. Diese Wechselwirkungen zwischen den Elementen bilden<br />
das System, bzw. den systemischen Zusammenhalt. 41 Wird in dieses<br />
„Beziehungsgeflecht“ in irgendeiner Form eingegriffen, hat dies nicht nur<br />
39<br />
Vgl. Simon (2007) S. 112 ff.<br />
40<br />
Duden (2001)<br />
41<br />
Vgl. Becker, Reinhard-Becker (2001) S. 21
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 12<br />
Auswirkungen auf das Individuum, sondern wirkt auf das ganze System. 42<br />
Anders ausgedrückt bedeutet dies: „das Zusammenwirken aller Teile<br />
beeinflusst das Verhalten, die Eigenschaften und Merkmale des Ganzen.“ 43<br />
An dem Punkt, wo keine Wechselwirkungen mehr bestehen, beginnt <strong>als</strong> drittes<br />
Abgrenzungskriterium, die sogenannte Umwelt des Systems. Systeme können<br />
nur <strong>als</strong> solche identifiziert werden, weil es eine Umwelt gibt, <strong>von</strong> der sich das<br />
System abgrenzt. Die Systemgrenzen sind notwendig, um die<br />
Unterscheidbarkeit <strong>von</strong> Systemen zu gewährleisten. Da jedes System eine<br />
eigene relevante Umwelt hat, worüber die Systemgrenzen definiert werden,<br />
ergeben sich individuelle Systemgrenzen. 44 Systeme brauchen Grenzen zur<br />
Umwelt, um unterscheidbar zu sein. Beispielsweise grenzt sich ein<br />
Führungsteam gegenüber der Personalabteilung, dem Küchenpersonal oder<br />
der Kantine, durch seine jeweils eigene Art des Zusammenwirkens ab. Die<br />
Systemgrenze entspricht der Eigenkonstruktion des Systems und ergibt<br />
systemfunktional Sinn. Relevante Systeme für ein Führungsteam sind z.B. der<br />
Markt, bestimmte Projektgruppen, Abteilungen etc., während ein Fußballverein<br />
oder eine Politische Partei keine relevanten Systeme darstellen. 45 Die Kriterien<br />
zur Bestimmung des Systembegriffs werden mit Abbildung 4 veranschaulicht:<br />
Abbildung 4: Der Systembegriff. Vgl. Becker, Reinhard-Becker (2001) S. 22<br />
42 Vgl. Maturana (1996) S. 88<br />
43 Vgl. Sagebiel, Vanhoefer (2006) S. 68<br />
44 Vgl. Sagebiel, Vanhoefer, S. 68 ff.<br />
45 Vgl. Sagebiel, Vanhoefer S. 68 f.
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 13<br />
Es lässt sich zusammengefasst sagen, dass Systeme aus Mengen <strong>von</strong><br />
Elementen bestehen, zwischen denen Wechselwirkungen bestehen. Alles was<br />
nicht dazugehört und nicht Element des Systems ist, bildet dessen Umwelt. 46<br />
Alle Systeme (biologische, soziale, psychische) folgen den beschriebenen<br />
Leitprinzipien. 47<br />
Der Systembegriff, der in dieser Arbeit verwendet wird, bezieht sich lediglich auf<br />
soziale Systeme im Sinne <strong>von</strong> Organisationen (Unternehmen, Behörden,<br />
Institute etc.). Dieser Typus ist für Fragen in Bezug auf das Management, der<br />
Beratung und des Arbeitslebens relevant und <strong>von</strong> besonderer Bedeutung. 48<br />
Bei der Annäherung an das systemisches Denken und den Systembegriff<br />
wurden einige wesentliche Begriffe der Systemtheorie gestreift. Diese werden<br />
im folgenden Kapitel näher erläutert.<br />
2.1.3 Ausgewählte Grundbegriffe der Systemtheorie Luhmanns<br />
Die Auswahl der nachfolgend dargestellten Grundbegriffe entstand, indem aus<br />
der Literatur häufig verwendete Begriffe herausgefiltert und <strong>als</strong> zentral für die<br />
Erstellung der Arbeit betrachtet wurden. Die Grundbegriffe müssten eigentlich<br />
simultan dargestellt werden, da sie „so stark ineinander verwoben und<br />
<strong>von</strong>einander abhängig“ sind. 49 Die Diskrepanz, die eher zirkuläre Denkweise<br />
LUHMANNS in einer linearen, d.h. schriftlichen Form darstellen zu müssen wurde<br />
dahingehend versucht zu lösen, dass dem Leser die ausgewählten Begriffe in<br />
alphabetischer Reihenfolge beschrieben werden.<br />
Autopoiesis<br />
Ein Zentralthema, welches in der neuen Systemforschung zunehmend an<br />
Bedeutung gewinnt, stellt die Selbstreferenz bzw. Selbstorganisation oder<br />
Autopoiesis dar. 50 Der Begriff Autopoiesis ist aus den griechischen Wörtern<br />
„auto“ = selbst und „poiein“ = schaffen zusammengesetzt und geht auf die<br />
chilenischen Biologen MATURANA und VARELA zurück. LUHMANN übertrug dieses<br />
46 Vgl. Becker, Reinhard-Becker (2001) S. 21<br />
47 Vgl. Berghaus (2003) S.40<br />
48 Vgl. Simon (2007) S. 101<br />
49 Vgl. Willke (1996a) S. 11<br />
50 Vgl. Luhmann (1998)
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 14<br />
Konzept auf die Theorie sozialer Systeme. 51 Unter Autopoiesis versteht man<br />
den Prozess der Selbsterschaffung- und Erhaltung eines Systems.<br />
Autopoietische Systeme organisieren ihre eigenen Strukturen und produzieren<br />
die Elemente, aus denen die eigentlichen Strukturen gebildet werden selbst. 52<br />
Um zu verdeutlichen, was ein selbstreferenzielles System ausmacht, verwendet<br />
BERGHAUS einen einfachen Vergleich:<br />
[man] könnte beispielsweise eine Uhr <strong>als</strong> System auffassen, weil sie<br />
aus Elementen besteht, die systemisch ineinander arbeiten. Aber die<br />
Uhr ist vom Uhrmacher gemacht, ihr Regelwerk kommt <strong>von</strong><br />
außerhalb der Uhr selbst. 53<br />
Biologische Systeme produzieren und reproduzieren sich im Gegensatz zu<br />
einer Uhr selbst, d.h. „Leben produziert Leben“, so wie im übertragenen Sinne<br />
auf soziale Systeme, Kommunikation wiederum Kommunikation hervorbringt.<br />
Die Operationen <strong>von</strong> Systemen müssen in immerwährender Folge<br />
aneinandergereiht werden, sonst kann das System nicht existieren. Die<br />
Literatur bezeichnet diesen Prozess <strong>als</strong> „Anschlussfähigkeit“ in Systemen. 54<br />
Bezieht man die Operation explizit auf soziale Systeme, so muss <strong>als</strong>o<br />
Kommunikation an Kommunikation aneinandergereiht werden, d.h. jede<br />
Kommunikation knüpft an den Sinn der bisherigen Kommunikation an, um<br />
anschlussfähig zu sein. Die Autopoiese kann so lange aufrecht erhalten<br />
werden, wie der Prozess der Kommunikation weitergeführt wird. 55<br />
Diese Sichtweisen zur Betrachtung <strong>von</strong> selbstreferenziellen Systemen sind in<br />
der Praxis <strong>von</strong> Nutzen, auch wenn kritische Meinungen behaupten, es<br />
erscheine fragwürdig, biologische Prozesse auf soziale zu übertragen. Mit Hilfe<br />
der Autopoiesis lassen sich beispielsweise Abläufe in Systemen, wie die<br />
Bildung gewisser Eigendynamiken (Kultur, Identität) und die Fähigkeit zur<br />
Selbstorganisation <strong>von</strong> Organisationen, besser verstehen. 56<br />
Komplexität<br />
Die Komplexität bezeichnet den „Grad der Vielschichtigkeit, Vernetzung und<br />
Folgelastigkeit eines Entscheidungsfeldes“. Die schnelle Entwicklung unserer<br />
51<br />
Vgl. Simon (2007) S. 32<br />
52<br />
Vgl. Simon(2007) S. 31 f.<br />
53<br />
Berghaus<br />
54<br />
Vgl. Berghaus (2003) S. 53 f.<br />
55<br />
Vgl. Simon (2007) S. 88<br />
56<br />
Vgl. Probst (1987) zit. In Gminder (2005) S. 66
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 15<br />
modernen Gesellschaft führt dazu, dass soziale Verhältnisse nicht mehr einfach<br />
und transparent, sondern vielschichtig und verstrickt sind. 57 Diese<br />
Vielschichtigkeit ist abhängig <strong>von</strong> der Anzahl an Wechselbeziehungen im<br />
System und wie dicht oder weniger dicht das „Netz“ zwischen den Elementen<br />
ist. LUHMANN verwendet für die Intensität der Vernetzung zwischen den<br />
Elementen den Begriff der Komplexität. 58<br />
Kontingenz<br />
Der Kontingenzbegriff wird in der Systemtheorie <strong>von</strong> LUHMANN häufig<br />
verwendet. 59 Er bezeichnet die Möglichkeit, dass etwas auf der einen Seite „ist“,<br />
oder auf der anderen Seite „nicht ist“. 60 LUHMANN drückt dies folgendermaßen<br />
aus: „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist, was<br />
<strong>als</strong>o so, wie es ist […] sein kann, aber auch anders möglich ist.“ 61 Jeder<br />
Beteiligte an einer Kommunikation hat die Wahlmöglichkeit, wie er Signale oder<br />
Verhaltensweisen des anderen wahrnimmt, interpretiert und welchen Sinn er<br />
diesen zuschreibt. Die Kontingenz ist dabei auf beiden Seiten vorhanden, daher<br />
verwendet LUHMANN den Begriff der doppelten Kontingenz. 62<br />
Jeder<br />
Kommunikationsteilnehmer steht <strong>als</strong>o vor dem gleichen Problem: Er muss aus<br />
zahlreichen Möglichkeiten auswählen und sich darüber im Klaren sein, dass<br />
auch der andere diese Option hat. 63<br />
Kommunikation<br />
Der Terminus Kommunikation hat eine essentielle Bedeutung in sozialen<br />
Systemen. 64 Kommunikation kann <strong>als</strong> eine Art <strong>von</strong> Operation verstanden<br />
werden, durch die sich soziale Systeme selbstreferenziell bilden,<br />
weiterexistieren, <strong>von</strong> der Umwelt abgrenzen und am Leben erhalten. Der Begriff<br />
der „Operation“ bezeichnet die entscheidende Aktivität <strong>von</strong> Systemen. 65 „Nur<br />
ein System kann operieren, und nur Operationen können ein System<br />
57 Vgl. Willke (1996a) S. 18, S. 263<br />
58 Vgl. Berghaus (1993) S. 23<br />
59 Vgl. Becker, Reinhard-Becker, S. 53<br />
60 Vgl. Willke (1996a) S. 26<br />
61 Luhmann (1984) S. 152<br />
62 Vgl. Simon (2007) S.94 f.<br />
63 Vgl. Becker, Reinhard-Becker (2001) S. 53<br />
64 Vgl. Becker, Reinhard-Becker (2001) S. 43<br />
65 Vgl. Berghaus (2003) S. 39
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 16<br />
produzieren.“ 66 Ein wichtiges Charaktermerkmal der Kommunikation ist dabei<br />
die Selektivität, d.h. man muss zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen,<br />
um zu kommunizieren. Der Sinn begrenzt dabei die Auswahl, denn nicht alles<br />
was real kommunizierbar ist, macht auch „Sinn“. 67 LUHMANN drückt sein<br />
Verständnis <strong>von</strong> Kommunikation, <strong>als</strong> das „Prozessieren <strong>von</strong> Selektion“ aus.<br />
Dieser Prozess besteht für ihn aus drei verschiedenen Selektionsstufen:<br />
Information, Mitteilung und Verstehen. 68 Im Gegensatz zu üblichen Modellen, in<br />
denen Kommunikation aus zwei Aktionen (senden und empfangen) besteht,<br />
fügt LUHMANN noch eine dritte Instanz ein. Es lassen sich „zwei Akteure und<br />
drei Akte“ beobachten und beschreiben. 69 Um Kommunikation <strong>als</strong> solche zu<br />
realisieren, sind diese drei Bestandteile nötig, die nie für sich alleine<br />
vorkommen können. Nur in einem Zusammenspiel erzeugen sie<br />
Kommunikation. 70<br />
Sinn<br />
Sinn beschreibt das fortlaufende Prozessieren sozialer Systeme zu<br />
unterscheiden, zwischen dem was ist und dem was sein könnte. Der Sinn ist<br />
ein systemspezifisches „Steuerungsprogramm“. Es bewerkstelligt, bei der Fülle<br />
<strong>von</strong> Möglichkeiten und Sinnkonstruktionen, das Passende was Sinn ergibt,<br />
auszuwählen. 71 Allen psychischen und sozialen Systemen ist „Sinnzwang“<br />
auferlegt, d.h. Sinn kann weder vermieden noch verneint werden. 72 In sozialen<br />
Systemen können Kommunikationen und Interaktionen nur dann stattfinden,<br />
wenn diese einen gemeinsamen Sinngehalt haben. Dieser Sinngehalt kann sich<br />
in Form <strong>von</strong> Weltbildern, Normen und Rollenverteilungen widerspiegeln und<br />
durch die Interaktion selbst geschaffen werden. 73<br />
2.1.4 Die Anwendung der Systemtheorie in Organisationen<br />
Die systemtheoretischen Grundlagen können in allen Bereich eingesetzt<br />
werden, in denen komplexe Wechselwirkungen vorherrschen und wo<br />
66<br />
Luhmann zitiert in Berghaus (2003) S. 39<br />
67<br />
Vgl. Berghaus (2003) S.74<br />
68<br />
Vgl. Luhmann (1984) S. 194<br />
69<br />
Vgl. Berghaus (2003) S. 76 f.<br />
70<br />
Vgl. Simon (2007) S. 93<br />
71<br />
Vgl. Sagebiel, Vanhoefer (2006) S. S. 68 u. 73<br />
72 Vgl. Luhmann (1984) S. 95<br />
73 Vgl. Willke (1996a) S. 265
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 17<br />
Entscheidungsgesteuerte Prozesse eine Rolle spielen. 74 Geht man da<strong>von</strong> aus,<br />
dass Entwicklungen bewusste Entscheidungen zwischen Alternativen und nicht<br />
„gottgegeben“ sind, so wird die Frage, welche Entscheidungen in Systemen<br />
gefällt werden, immer wichtiger. 75 Das Zusammenwachsen der Weltwirtschaft,<br />
die hohe Veränderungsdynamik sind nur zwei Einflussfaktoren, unter denen<br />
Organisationen unternehmerische Entscheidungen fällen müssen. 76 In der<br />
heutigen Welt erscheint es nicht mehr zielführend, wenn Topmanager glauben<br />
es genüge: „im Cockpit des Fliegers ‚Unternehmen‘ zu sitzen und nur auf die<br />
Anzeige zu sehen und da und dort herumzudrehen, um das Unternehmen zu<br />
steuern […].“ 77<br />
Entwicklungsdynamiken und relevante Umwelten sind weniger denn je<br />
kalkulierbar und vorhersehbar. Die Konsequenz daraus ist, dass sich<br />
Organisationen <strong>von</strong> der Vorstellung verabschieden müssen, künftige<br />
Entwicklungen rein aufgrund einer soliden Planung und eines Regelwerkes<br />
steuern zu können. Vielmehr liegt der Wettbewerbsvorteil darin, das<br />
Selbstveränderungspotential <strong>von</strong> Organisationen anzuregen, um mit<br />
unvorhergesehenen Änderungen umzugehen. Nach WIMMER besteht die<br />
Problematik allerdings darin, dass das Veränderungstempo im Inneren der<br />
Organisation, der äußeren Dynamik nicht schnell genug entsprechen kann. Die<br />
„evolutionäre Selbstentwicklungsfähigkeit“ reiche nicht mehr aus, um dem<br />
unberechenbaren Umfeld entgegenzutreten. Die gegenwärtige<br />
Wirtschaftsentwicklung macht es erforderlich, dass jahrelange, traditionelle<br />
Organisationsvorstellungen losgelassen werden. 78<br />
Das Versagen <strong>von</strong> traditionellen Methoden hat den Fokus vor allem auf die<br />
systemische Beratung <strong>von</strong> Organisationen gelenkt. Der systemische Ansatz hat<br />
sich inzwischen aus einer Nischenexistenz zu einer „salonfähigen, attraktiven“<br />
Methode in Wirtschaft und Non-Profit-Organisationen etabliert. 79 Die<br />
Besonderheit der systemischen Betrachtung <strong>von</strong> Organisationen liegt darin, das<br />
gesamte System zu beachten und stimmige Entscheidungen mit diesem zu<br />
74<br />
Vgl. Königswieser, Hillebrand (2007) S. 26<br />
75<br />
Vgl. Willke (1996a) S 28<br />
76<br />
Vgl. Wimmer (2004) S. 107 f.<br />
77<br />
Vgl. Tomaschek (2007) S. 4-8<br />
78<br />
Vgl. Wimmer (2004) S. 107 f., 137 f.<br />
79<br />
Vgl. Königswieser, Hillebrand (2007) S. 7, S. 34 f.
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 18<br />
treffen. HORN und BRICK vergleichen Organisationen sinnbildlich mit einem<br />
Spinnennetz, das sich im Ganzen bewegt, auch wenn es nur an einer Stelle<br />
berührt wird. 80 Durch das Systemdenken können Wechselwirkungen und<br />
übergeordnete Muster wahrgenommen und ein Verständnis für deren<br />
erfolgreiche Veränderung entwickelt werden. 81<br />
2.2 Konstruktivismus<br />
Die Lehre des Konstruktivismus beschäftigt sich mit der Entdeckung und der<br />
Konstruktion der Wirklichkeit. Die Ursprünge des konstruktivistischen Denkens<br />
reichen <strong>von</strong> der Antike über KANT, WITTGENSTEIN, PIAGET, um nur einige zu<br />
nennen, bis hin zur Neuzeit. 82 Die Grundthese des Konstruktivismus ist, dass<br />
die Wirklichkeit erfunden und konstruiert ist. FOERSTER drückt dies<br />
folgendermaßen aus: „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere<br />
Erfindung.“ 83 Unser Bild der Wirklichkeit ist durch gewisse Grundannahmen<br />
(Vorstellungen, Werthaltungen etc.) geprägt, <strong>von</strong> denen wir glauben, dass sie<br />
feststehende „objektive“ Aspekte der Realität sind. Stattdessen sind diese<br />
Grundannahmen die Folgen der Art und Weise, in der wir die Wirklichkeit<br />
erfassen wollen. 84 Die Konsequenz aus konstruktivistischem Denken ist, dass<br />
jedes Individuum die Welt selbst aufbaut und dafür verantwortlich ist.<br />
GLASERFELD bezeichnet solch einen Ansatz <strong>als</strong> „ungemütlich“, im Gegensatz zu<br />
Theorien, die die Verantwortung für das eigene Handeln auf die Umwelt<br />
abschieben. 85<br />
In den siebziger Jahren entwickelte sich der sogenannte „radikale<br />
Konstruktivismus“, der neben FOERSTER <strong>von</strong> GLASERFELD geprägt wurde.<br />
Populär wurde das konstruktivistische Denken u.a. durch WATZLAWICK und<br />
seine Veröffentlichungen zum Konstruktivismus. 86<br />
Der radikale<br />
Konstruktivismus versteht sich <strong>als</strong> eine Theorie des Wissens, welche sich mit<br />
80 Vgl. Horn, Brick (2003) S. 15<br />
81 Vgl. Senge (2006) S. 15 u. S. 89<br />
82 Vgl. Watzlawick (1997) S. 10<br />
83 Vgl. Foerster (1997) S.40<br />
84 Vgl. Watzlawick (1997) S. 9<br />
85 Vgl. Glaserfeld (1985) S. 16 f.<br />
86 Vgl. Watzlawick (1997), Watzlawick (2007)
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 19<br />
der subjektiven Erlebenswelt und nicht mit der Theorie des Seins (Ontologie)<br />
beschäftigt. 87<br />
Der radikale Konstruktivismus ist vor allem deswegen radikal, weil er<br />
mit der Konvention bricht und eine Erkenntnistheorie entwickelt, in<br />
der die Erkenntnis nicht mehr eine „objektive“, ontologische<br />
Wirklichkeit betrifft, sondern ausschließlich die Ordnung und<br />
Organisation <strong>von</strong> Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens. 88<br />
Der Nutzen dieses möglichen Erkenntnismodells für unser menschliches<br />
Dasein liegt darin, die Handlungen mit denen wir unsere eigene Erlebenswelt<br />
zusammenstellen, größtenteils erschließen zu können. Durch bewusstes<br />
Handeln sind wir möglicherweise in der Lage, unser Erleben anders und besser<br />
zu gestalten, um uns selbst eine relativ verlässliche Welt aufzubauen. 89<br />
2.2.1 Wie entsteht unsere Wirklichkeit?<br />
Die etymologische Definition des Begriffs „Wirklichkeit“ lautet gemäß Duden:<br />
„das <strong>als</strong> Gegebenheit oder Erscheinung fassbare.“ 90 Diese Erscheinungen<br />
erhalten wir <strong>von</strong> der Außenwelt in Form <strong>von</strong> physikalisch-chemischen Reizen,<br />
die wir im Gehirn zu Bildern, Tönen, Empfindungen umwandeln. Unser Gehirn<br />
und unsere Sinnesorgane sind beim Wahrnehmungsprozess im Grunde nicht in<br />
der Lage, die Welt in ihrer realen Gestalt zu erfassen. ROTH 91 begründet diese<br />
Annahme dadurch, dass nur wenige Ereignisse die Sinnesorgane an sich<br />
erregen und auf diese einwirken können. Die menschlichen Sinnesorgane<br />
dienen dazu festzustellen, ob etwas in der Außenwelt passiert, was für das<br />
eigene Überleben <strong>von</strong> Bedeutung ist. Gegebenheiten sind daher immer nur ein<br />
Ausschnitt <strong>von</strong> Vorhandenem, aber keine Abbildung. 92<br />
Diese Ausschnitte der Wirklichkeit werden vom Menschen verbal in Form <strong>von</strong><br />
Kommunikation ausgedrückt und erzeugen damit <strong>als</strong> Ergebnis die sogenannte<br />
Wirklichkeit. WATZLAWICK beschreibt unsere Alltagsauffassungen der<br />
87<br />
Vgl. Glaserfeld (1997) S. 34<br />
88<br />
Glaserfeld (1997) S 23<br />
89<br />
Vgl. Glaserfeld (1997) S. 17 + S. 37<br />
90<br />
Duden (2001)<br />
91<br />
Prof. Dr. Gerhard Roth ist Direktor am Institut für Hirnforschung an der Universität Bremen<br />
und untersucht wie Wahrnehmungen und geistige Zustände zu Stande kommen (Pörksen<br />
2001, S. 139)<br />
92<br />
Vgl. Roth (2001) S. 140 f.
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 20<br />
Wirklichkeit <strong>als</strong> ein „wackeliges Gerüst“, das wir ständig „flicken und abstützen“,<br />
sogar auf die Gefahr hin, „Tatsachen verdrehen zu müssen, damit sie unserer<br />
Wirklichkeit nicht widersprechen.“ 93 Neben der Aussage, dass unsere<br />
Wirklichkeitsauffassungen kein Abbild objektiver Wahrheiten sind, gehen<br />
WATZALWICK und andere radikale Konstruktivisten da<strong>von</strong> aus, dass es zahllose<br />
und widersprüchliche Konstruktionen der Wirklichkeit gibt. Sobald zwei<br />
Organismen aufeinander treffen, ist die Annahme, dass es lediglich die eine<br />
Welt gibt, nicht mehr haltbar. FOERSTER beschreibt dies mit folgendem<br />
abstrakten Beispiel:<br />
Erd- und Venusbewohner mögen übereinstimmend behaupten, im<br />
Mittelpunkt des Universums zu leben, doch würden ihre Ansprüche<br />
unhaltbar, sobald sie sich begegneten. 94<br />
WATZLAWICK betont, dass die Annahme, es gäbe nur eine Wirklichkeit die<br />
„gefährlichste all dieser Selbsttäuschungen ist.“ Es gibt seiner Meinung nach<br />
„vielmehr zahllose Wirklichkeitsauffassungen […], die sehr widersprüchlich sein<br />
können und alle das Ergebnis <strong>von</strong> Kommunikation […] sind.“ 95 Abbildung 5<br />
verdeutlicht den Ansatz, dass es individuelle Wirklichkeitskonstruktionen gibt,<br />
die durch Kommunikation ausgedrückt werden. Man kann sich die Diskussion<br />
der beiden Personen im Geiste vorstellen. Sieht der Beobachter in dem<br />
Beobachtungsgegenstand nun eine neun oder eine sechs auf dem Boden<br />
liegen?<br />
Abbildung 5: Die Wirklichkeit entsteht durch Kommunikation. Eigene Darstellung<br />
93 Vgl. Watzlawick (2007) S.7 ff.<br />
94 Vgl. Foerster (1997) S. 58 ff.<br />
95 Watzlawick (2007) S.7 ff.
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 21<br />
WATZLAWICK spezifiziert individuelle Wirklichkeitsauffassungen noch weiter und<br />
trennt die subjektiven Zuschreibungen vom eigentlichen Betrachtungsobjekt,<br />
indem er zwischen zwei Ebenen unterscheidet. Die Wirklichkeit der 1. Ordnung<br />
umfasst die wissenschaftlichen Fakten bzw. Gegebenheiten, die beispielsweise<br />
aus der eigenen Beobachtung abgeleitet werden. Die Wirklichkeit 2. Ordnung<br />
verleiht den Fakten und Aspekten der 1. Ordnung durch Zuschreibung<br />
überhaupt erst Sinn und Bedeutung. Die Farbe rot kann beispielsweise jeder<br />
Mensch 96 <strong>als</strong> solche wahrnehmen und bezeichnen. Dass ein rotes Ampellicht<br />
jedoch signalisiert, die Straße nicht zu überqueren bzw. anzuhalten, ist eine<br />
Bedeutungszuschreibung im Sinne der Wirklichkeit 2. Ordnung. 97<br />
Abbildung 6: Die Wirklichkeit 1. und 2. Ordnung. Eigene Darstellung nach Watzlawick<br />
(2001) S. 219<br />
Unsere Sinnesorgane vermitteln uns eine Wirklichkeit, die wir alle in derselben<br />
Art und Weise sehen (Wirklichkeit 1. Ordnung). „Die Tatsache dass wir<br />
dieselben Gegenstände […] wahrnehmen, lässt sich nicht leugnen.“ 98 Im<br />
Gegensatz dazu ist allerdings die Zuschreibung <strong>von</strong> Sinn, Bedeutung und<br />
Werthaltigkeit (Wirklichkeit 2. Ordnung) eine individuelle oder auch kulturelle<br />
Sache. 99<br />
2.2.2 Was wir zu wissen glauben<br />
„Ich weiß, dass ich nicht weiß“ – mit diesem wohlbekannten Zitat <strong>von</strong> SOKRATES<br />
machten sich schon die frühen Dichter und Denker Gedanken zu diesem<br />
96 Der Begriff „jeder Mensch“ bezieht sich in diesem Zusammenhang auf norm<strong>als</strong>ichtige<br />
Personen<br />
97 Vgl. Watzlawick (1997) S. 218 ff.<br />
98 Vgl. Watzlawick (2001) S. 219 f.<br />
99 Vgl. Watzlawick (2001) S. 219 f.
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 22<br />
Thema. Der Begriff des Wissens, in seinem herkömmlichen und gebräuchlichen<br />
Sinn, bringt immer noch gewisse Schwierigkeiten mit sich. In unserer Welt gilt<br />
die Auffassung, dass der erkenntnisfähige und denkende Mensch dazu<br />
imstande ist, Struktur und Gesetze der „im außen“ bestehenden Wirklichkeit zu<br />
„erkennen“. Uns erscheint es natürlich, dass es die Wirklichkeit und den<br />
Erlebenden gibt, der die Welt durch seine Sinnesorgane „wahrnimmt“. Der<br />
Mensch spielt sozusagen so lange Entdecker, bis er für sich weiß, dass er zu<br />
einem „wahren“ Weltbild gelangt ist. Wie soll allerdings nachgeprüft werden,<br />
wann man der Wahrheit wirklich näher kommt?<br />
An dieser Stelle wird zumeist die Wissenschaft <strong>als</strong> Erklärungsversuch<br />
herangezogen, die uns nach und nach immer mehr Dinge und neue<br />
Zielsetzungen ermöglicht hat und somit den Fortschritt des Wissens<br />
hinreichend belegt. GLASERFELD betont, dass er dieses Wissen nicht<br />
herabsetzen will, sondern es einer Trennung des Wissens “wie“ und des<br />
Wissens „was“ bedarf. 100<br />
„Was“ wir wissen, kann <strong>als</strong> Ergebnis unserer<br />
Entdeckung der Wirklichkeit betrachtet werden. Zur Erforschung „wie“ wir<br />
wissen, brauchen wir unsere geistigen Prozesse um, wie es WATZLAWICK<br />
beschreibt, uns sozusagen selbst bei der Arbeit zu beobachten. Der<br />
beobachtete Gegenstand ist <strong>als</strong> Konsequenz nicht vom Beobachter zu trennen,<br />
da unser Bild der Wirklichkeit unvermeidlich da<strong>von</strong> abhängt, „wie“ wir dieses<br />
„was“ beschreiben. 101 GLASERFELD beschreibt diesen Zusammenhang<br />
folgendermaßen:<br />
Der Radikale Konstruktivismus beruht auf der Annahme, daß alles<br />
Wissen, wie immer man es auch definieren mag, nur in den Köpfen<br />
<strong>von</strong> Menschen existiert und daß das denkende Subjekt sein Wissen<br />
nur auf der Grundlage eigener Erfahrung konstruieren kann. 102<br />
Jeder Mensch macht im Laufe seines Lebens andere Erfahrungen, so dass die<br />
Kenntnis eines „objektiven Wissens“ und einer „objektiven Wirklichkeit“ nicht<br />
möglich ist. 103 Der Schritt, bevor unser Bewusstsein allerdings etwas „erkennen“<br />
kann, besteht laut GLASERFELD darin, dass wir etwas „erleben“ müssen. Unsere<br />
Erlebnisse werden im nächsten Schritt im Gehirn miteinander verglichen und<br />
100 Vgl. Glaserfeld (2000) S. 12 f.<br />
101 Vgl. Watzlawick (1997) S. 9<br />
102 Vgl. Glasersfeld (1996) S. 22<br />
103 Vgl. Watzlawick (1997) S. 10
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 23<br />
auf Regelmäßigkeit sowie Konstanz überprüft. 104 Zu einer objektiven Aussage<br />
für uns selbst kommen wir <strong>als</strong>o letztlich durch die aktive Wiederholbarkeit <strong>von</strong><br />
Wahrnehmungen und deren Bestätigung. „Je verlässlicher wir eine Erfahrung<br />
wiederholen können und je mehr wir in dieser Erfahrung <strong>von</strong> anderen bestätigt<br />
werden, umso wirklicher wird sie.“ 105<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es aus konstruktivistischer Sicht<br />
unmöglich ist, ein durch die Sinne vermitteltes Bild der Wirklichkeit, mit der<br />
Wahrheit zu vergleichen. 106 Schon die Vorsokratiker vertraten die Ansicht, dass<br />
es sich niem<strong>als</strong> feststellen lässt, ob sich jemand ein „richtiges Bild“ <strong>von</strong> der<br />
Wirklichkeit macht. Es ist unmöglich die Richtigkeit, selbst wenn sie gegeben<br />
wäre, zu verifizieren. 107 Wir können nur Hypothesen <strong>von</strong> der Wirklichkeit<br />
aufstellen, wie folgende Analogie <strong>von</strong> WATZLAWICK verdeutlicht:<br />
Da muss, so nehmen wir einmal an, ein Kapitän in einer dunklen und<br />
stürmischen Nacht eine Meeresenge ohne jede Navigationshilfe<br />
durchfahren. Er kennt diese Meeresenge nicht, er hat keine<br />
Seekarten, die ihm die Orientierung erlauben. Für diesen Kapitän<br />
gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder er durchquert diese<br />
Meeresenge – und gelangt auf der anderen Seite wieder in das<br />
sichere offene Meer hinaus. Dann weiß er nur, dass der <strong>von</strong> ihm<br />
gewählte Kurs der unbekannten Wirklichkeit dieser Meeresenge<br />
entsprach. Er hat einen gangbaren Weg entdeckt, aber er weiß nicht,<br />
ob es nicht kürzere, weniger gefahrvolle Durchfahrmöglichkeiten<br />
gegeben hätte. Steuert er dagegen auf eine Klippe und verliert sein<br />
Schiff und sein Leben, dann kann er sich im letzten Augenblick<br />
lediglich sicher sein, dass der <strong>von</strong> ihm gewählte Kurs der Wirklichkeit<br />
dieser Meeresenge nicht entsprochen hat und dass er ihr nicht auf<br />
eine stimmige, überlebensmögliche Weise angepasst war. Wie diese<br />
Meerenge wirklich und in einem absoluten Sinn beschaffen ist – das<br />
vermag er weder in dem einen noch in dem anderen Fall<br />
festzustellen. 108<br />
Das Wissen im Hinblick auf die Wirklichkeit ist eine Anpassung 109 bzw. ein<br />
„Schlüssel, der uns mögliche Wege erschließt“ und keine „bildhafte<br />
Übereinstimmung“. 110 Wir „segeln alle im Dunkeln“ und können keinen<br />
Wahrheitsanspruch im absoluten Sinne erheben. Wie der Kapitän in der<br />
Analogie, können wir unsere Sinneswahrnehmung und unsere<br />
104 Vgl. Glaserfeld (1997) S. 32-36<br />
105 Daimler(2008) S. 386<br />
106 Vgl. Glaserfeld (2000) S. 12<br />
107 Vgl. Glaserfeld (2001) S. 48<br />
108 Watzlawick (2001) S. 220<br />
109 Glaserfeld bezeichnet die Anpassung <strong>als</strong> sogenannte Viabilität (Beziehung des Passens)<br />
110 Vgl. Glaserfeld (1997) S. 17
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 24<br />
Gedächtnisleistung nur so ausrichten, dass sie für zukünftige Ereignisse<br />
brauchbar und passend zu bleiben versprechen. 111<br />
2.2.3 Konstruktivismus in Organisationen<br />
Die Situation vieler Unternehmen und Organisationen ist seit dem letzten<br />
Jahrzehnt geprägt <strong>von</strong> weltweiten marktwirtschaftlichen Beziehungen. Die<br />
globalisierte Welt dreht sich immer schneller und noch nie liefen ökonomische<br />
Prozesse so schnell ab wie heute. Viele Unternehmen und<br />
Managementwissenschaftler halten allerdings an einer Art<br />
„Anpassungsorientierung“ fest, und sehen die unternehmerische<br />
Wirklichkeitswahrnehmung <strong>als</strong> Anpassung.<br />
Alle Konzepte, die <strong>von</strong> einem vorfindlichen Markt und vorfindlichen<br />
Kunden ausgehen, die „be“-obachtet werden müssen, damit<br />
Unternehmen sich ihnen anpassen oder sie erfolgreich „be“-arbeiten<br />
können, fordern <strong>von</strong> Unternehmen eine nach „außen“ gerichtete<br />
möglichst „realitätsgetreue“ Beobachtungs-, Abbildungs- und<br />
Analyseleistung. 112<br />
Der Konstruktivismus vertritt im Gegensatz zur Anpassungsorientierung die<br />
These, dass Organisationen ihre eigene Wirklichkeit konstruieren und diese<br />
ihrem Handeln zugrunde legen (vgl. Abbildung 7). 113<br />
Abbildung 7: Wirklichkeitskonstruktion am Beispiel Unternehmensfusion. Vgl. Simon,<br />
C/O/N/E/C/TA (1998) S. 23<br />
111 Vgl. Glaserfeld (2000) S. 29 f.<br />
112 Hejl, Stahl (2000) S. 13 f.<br />
113 Vgl. Hejl, Stahl (2000) S. 14
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 25<br />
Um sinnvoll handeln zu können brauchen Manager eine Art „innere Landkarte“,<br />
<strong>als</strong> Bild der Wirklichkeit. Sie entwickeln ein individuelles oder kollektives<br />
Weltbild, um sich ihr Überleben zu sichern. 114 Die Fülle an möglichen<br />
Wirklichkeitskonstruktionen wird verarbeitet, indem sich die Systemteilnehmer<br />
einigen, was die Organisation ausmacht, welche Verhaltensweisen für die<br />
eigene Existenz wichtig sind, bis am Ende ein gemeinsames Bild der<br />
Wirklichkeit entstanden ist. 115<br />
Die Sprache übernimmt bei der Erschaffung der Wirklichkeit eine gestaltende<br />
und handlungscharakteristische Funktion in Organisationen ein.<br />
Systemmitglieder einer Organisation sind darauf angewiesen, sich über eine<br />
gemeinsame Sprache zu verständigen. Jede Organisation verwendet eigene<br />
Begriffe und Abkürzungen, die nur Eingeweihte verstehen. Dadurch wird das<br />
Wir-Gefühl gestärkt und Identifikation geschaffen, um eine gemeinsame<br />
Wirklichkeit zu teilen. 116 SIMON verdeutlicht die Schlüsselrolle der Sprache in<br />
menschlichen Organisationen folgendermaßen: „Sie sorgt für die Kopplung der<br />
autonomen Einzelwesen. Mit ihrer Hilfe werden die Spielregeln der Interaktion<br />
festgelegt und aufrechterhalten.“ 117<br />
Abschließend werden fünf Thesen dargestellt, die einige der wichtigsten<br />
Auswirkungen einer konstruktivistischen Sicht auf Organisationen benennen:<br />
- Organisationen sind Sozi<strong>als</strong>ysteme, die ihre eigene Wirklichkeit<br />
erzeugen: Das Handeln der Organisation beruht auf den jeweiligen<br />
Vorstellungen darüber was relevant, dringlich oder zukunftsweisend ist.<br />
- Kenntnisse der Umwelt sind ein Systemprodukt: Alles Wissen, was<br />
Organisationen zugänglich ist, ist ihr eigenes. Interne Prozesse und die<br />
Verarbeitung <strong>von</strong> Interaktionen mit der Umwelt schaffen eine<br />
Zusammenstellung <strong>von</strong> Wirklichkeitsvorstellungen über das System und<br />
die Umwelt.<br />
- Organisationen <strong>als</strong> Wirklichkeit erzeugende Systeme betonen ihre<br />
Aktivität: Die Erzeugung und Verarbeitung <strong>von</strong> eigenen Vorstellungen<br />
114 Vgl. Simon, C/O/N/E/C/T/A (1998) S. 22<br />
115 Vgl. Wagner, Beenken, Gräser (1994) S. 34 - 38<br />
116 Vgl. Wagner, Beenken, Gräser (1994) S. 34 - 38<br />
117 Simon C/O/N/E/C/T/A (1998) S. 96
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 26<br />
ist ausschlaggebend für Handlungsregelungen <strong>von</strong> und in<br />
Organisationen.<br />
- Wirklichkeitskonstrukte zu verändern ist aufwendig und unsicher:<br />
Organisationen sind konservative Systeme, bei denen eine Veränderung<br />
der Wirklichkeit in Verbindung mit funktionaler Notwendigkeit stehen<br />
muss und der Mensch nicht <strong>als</strong> Störfaktor ausgeblendet werden darf.<br />
- Der Balanceakt Unternehmensführung: Der Manager, der die<br />
Organisation <strong>als</strong> Werkzeug zur Erfüllung seiner Ziele sieht, wird auf die<br />
Umwelt fokussiert sein. Dabei geraten die inneren Prozesse zur<br />
Wirklichkeitskonstruktion aus dem Blickfeld. Aus konstruktivistischer<br />
Perspektive wird es für das Management notwendig, sich bei der<br />
Problemlösung auf internes Handeln zu richten. 118<br />
Die Theorierichtungen des Konstruktivismus und der Systemtheorie haben in<br />
der Organisationsberatung und im Management eine zentrale Bedeutung<br />
gewonnen und sind eng miteinander verbunden. 119 Im Folgenden Kapitel wird<br />
daher die Systemtheorie LUHMANNS, mit den Ansätzen des Konstruktivismus,<br />
abrundend miteinander verknüpft.<br />
2.3 Systemtheorie und Konstruktivismus<br />
LUHMANN geht in seiner Annahme da<strong>von</strong> aus, dass es eine Wirklichkeit gibt, in<br />
der Systeme tatsächlich existieren. Das heißt es gibt Organisationen, Teams,<br />
Teammitglieder, genauso wie Aufgaben und Ziele des Teams und<br />
bereitgestellte Ressourcen. 120 Doch LUHMANN ist nicht nur Systemtheoretiker<br />
sondern auch Konstruktivist, der das Erkennen der äußeren Wirklichkeit<br />
hinterfragt. Er leugnet die Existenz der Außenwelt nicht, sondern stellt lediglich<br />
die Übereinstimmung zwischen Welt und Erkenntnis in Frage. LUHMANN gesellt<br />
sich mit seinem Ansatz des „operativen Konstruktivismus“, 121 zu anderen<br />
Konstruktivisten wie FOERSTER und GLASERFELD und geht da<strong>von</strong> aus, dass<br />
118 Vgl. Hejl, Stahl (2000) S. 16 ff.<br />
119 Vgl. Fritz (2007) hinterer Klappentext<br />
120 Vgl. Sagebiel, Vanhoefer (2006) S. 68<br />
121 Der Begriff „operativer Konstruktivismus“ ist abgeleitet aus dem Ansatz, dass<br />
Beobachtungen Operationen <strong>von</strong> psychischen und sozialen Systemen sind. Vgl. Berghaus<br />
(2003) S. 27
2. Ein Weg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 27<br />
Erkenntnisse aus Beobachtungen der Wirklichkeit abgeleitet und damit<br />
konstruiert sind.<br />
Der Schritt zum Konstruktivismus wird nun mit der Einsicht<br />
vollzogen, daß es […] für Unterscheidungen und Bezeichnungen<br />
(<strong>als</strong>o: für Beobachtungen) in der Umwelt des Systems keine<br />
Korrelate gibt. 122<br />
Auf den ersten Blick wiederspricht sich LUHMANNS Behauptung, dass etwas real<br />
existiert mit der Annahme, dass Wirklichkeit konstruiert ist. Für LUHMANN sind<br />
beide Ansichten miteinander vereinbar, da eine erfundene Wirklichkeit nie<br />
bedeutet, dass sie beliebig konstruierbar ist. Die Konstruktionen müssen der<br />
Wirklichkeit angemessen sein und passende Beschreibungen darstellen. Es<br />
stellt sich nicht mehr die Frage „ob“, sondern „wie“ konstruiert und vor allem<br />
„wie“ beobachtet wird. Beobachten heißt gleichzeitig, Unterscheidungen zu<br />
treffen. „Wie und mit welchen Unterscheidungen beobachten beispielsweise die<br />
Medien die Wirklichkeit und liefern uns ein Bild der Wirklichkeit?“ 123<br />
Die Beobachtung der Wirklichkeit bringt immer einen blinden Fleck mit sich,<br />
etwas das der Beobachter nicht sieht, weil er selber zu sehr eingebunden ist.<br />
SAGEBIEL und VANHOEFER drücken dies folgendermaßen aus: „Die Jagd nach<br />
dem blinden Fleck gleicht dem Wettlauf <strong>von</strong> Hase und Igel, der Igel (blinder<br />
Fleck) ist immer schon da.“ 124<br />
122 Luhmann zitiert in Berghaus (2003) S. 27<br />
123 Vgl. Berghaus (2003) S. 28 f.<br />
124 Sagebiel, Vanhoefer (2006) S. 81
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 28<br />
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen<br />
Das Unbewusste ist nicht in, sondern zwischen den Menschen<br />
Martin Buber<br />
Organisationen bestehen, oberflächlich betrachtet, aus zumeist materiellen<br />
Fakten wie z.B. Gebäude, Produktionsmittel, die wir für durchaus real ansehen.<br />
Diese Faktenwelt ist vergleichbar mit einem austauschbaren Rahmen, welcher<br />
die Organisation umgibt. Die Innenwelt mit all ihren komplexen sozialen<br />
Dynamiken besteht im Gegensatz zum äußeren Rahmen aus unsichtbaren<br />
Dimensionen, die Kommunikation, Hierarchien und Rollenstrukturen<br />
betreffen. 125 Um Systeme, wie Organisationen, in ihrer Ganzheit verstehen und<br />
erfassen zu können gilt es, den Blick auf das Innenleben des Systems zu<br />
lenken. 126 Im Vordergrund der Betrachtung steht dabei der Mensch mit seinen<br />
unterschiedlichen Bedürfnissen, Wünschen, Ängsten, Fähigkeiten. 127 Er hält<br />
wie HORN und BRICK es ausdrücken, <strong>als</strong> „Klebstoff“ mit seinen Handlungen das<br />
komplexe Systemgefüge zusammen. 128<br />
Der „Faktor Mensch“, die heutige Rolle <strong>von</strong> Managern und die Bedeutung der<br />
Beziehungsgefüge, in die alle Akteure eingebunden sind, werden im folgenden<br />
Abschnitt genauer erläutert. Abschließend werden Ordnungsmomente<br />
beschrieben, die das gesamte soziale Geschehen in einer Organisation<br />
bewusst bzw. unbewusst prägen und die Akteure steuern. 129<br />
3.1 Faktor Mensch<br />
In der Systemtheorie <strong>von</strong> LUHMANN spielt der Mensch bei der Betrachtung <strong>von</strong><br />
sozialen Systemen keine Rolle. LUHMANN leugnet die Existenz <strong>von</strong> Menschen<br />
nicht, sondern bezieht diese lediglich nicht <strong>als</strong> Analyseeinheit mit in seine<br />
Theorie ein. Menschen sind für ihn keine Systeme und mehrere Menschen<br />
bilden auch kein System. Soziale Systeme bestehen lediglich aus<br />
Kommunikation, d.h. der Mensch ist nicht Teil der Kommunikation (vgl. Kapitel<br />
125 Vgl. Ameln, Kramer (2007) S. 18f.<br />
126 Vgl. Maturana (1996) S. 218<br />
127 Vgl. Königswieser, Hillebrand (2007) S. 32<br />
128 Vgl. Horn, Brick (2001) S. 11 f.<br />
129 Vgl. Rosselet, Senoner, Lingg (2007) S. 74
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 29<br />
2.1.3). 130 Diese Auffassung widerspricht neurobiologischen Aussagen, da alles<br />
vom Menschen Gesagte <strong>von</strong> der individuellen Wahrnehmung und den<br />
Bedingungen menschlichen Denkens beeinflusst wird (vgl. ROTH Kapitel 2.2.1).<br />
Auch in der Literatur stößt die „Abwesenheit des Subjekts“ auf vehemente<br />
Kritik, wie beispielsweise <strong>von</strong> NEUBERGER: „Das Subjekt, vorm<strong>als</strong> der Inbegriff<br />
für Intuitionen, Gefühl, Emotionen, emotionale Intelligenz verliert seine<br />
organisationale Bedeutung.“ 131 Wie man in der systemischen Beratung <strong>von</strong><br />
Organisationen mit diesem Problem umgeht, ist nicht gelöst. Beruft man sich<br />
auf eine Autorität (wie z.B. LUHMANN), so verzichtet man automatisch auf<br />
Konzeptionen anderer, die die eigene Perspektive anregen und erweitern<br />
könnten. 132 In Bezug auf diese Arbeit wird daher die Sichtweise LUHMANNS um<br />
den Faktor Mensch erweitert, der <strong>als</strong> Akteur in sozialen Systemen lebt und<br />
arbeitet. 133 Damit werden die Gedankenmodelle <strong>von</strong> LUHMANN zu einem<br />
ganzheitlich systemischen Ansatz erweitert, bei dem der Mensch <strong>als</strong> Ressource<br />
und Potential mit gestalterischer Kraft gesehen wird. 134<br />
Interne Faktoren wie moderne Technologien, eine gute Betriebsausstattung und<br />
werden auch in Zukunft eine wichtige und tragende Rolle spielen. Der Mensch<br />
<strong>als</strong> Bestandteil immaterieller Werte in Organisationen, wird jedoch immer mehr<br />
zum Erfolg beitragen. 135 HORN und BRICK sprechen in diesem Zusammenhang<br />
<strong>von</strong> einem Gut, das weder zahlenmäßig zu erfassen noch beliebig vermehrbar<br />
ist und führen die Bezeichnungen „Humankapital“ und „Unternehmenskultur“ <strong>als</strong><br />
„weiche Faktoren“ an. 136<br />
Die Ergebnisse einer globalen Studie „Aligned at the Top“ <strong>von</strong> Deloitte und der<br />
Intelligence Unit <strong>von</strong> Economist bestätigen, dass „people management“ immer<br />
wichtiger wird. Die über verschiedene Branchen und globale<br />
Wirtschaftsstandorte angelegte Studie aus 2007 umfasste 468 Befragte, d.h.<br />
Führungskräfte und Personalleiter aus verschiedenen Unternehmen. Über 85 %<br />
der Befragten gaben an, dass der Mensch entscheidend zur<br />
Geschäftsentwicklung, insbesondere zur strategischen Entscheidungsfindung,<br />
130<br />
Vgl. Berghaus (2003) S.33 u. S. 62<br />
131<br />
Niermann (2007) S. 115<br />
132<br />
Vgl. Neuberger (2007) S. 14<br />
133<br />
Vgl. Forrester zitiert in Niermann (2007) S. 115<br />
134<br />
Vgl. Niermann (2007) S. 119<br />
135<br />
Vgl. Vorwort der Dokumentation „Wissensbilanz – made in Germany“ des BMWi (2008) S. 4<br />
136 Vgl. Horn, Brick (2001) S. 12
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 30<br />
beiträgt. In den nächsten drei bis fünf Jahren werden Angelegenheiten, die den<br />
Menschen an sich betreffen, immer wichtiger, so 88 % der<br />
Studienteilnehmer. 137<br />
HORN und BRICK betonen, dass allerdings nicht nur die richtigen Mitarbeiter zum<br />
immateriellen Vermögen gehören, sondern auch die richtigen Chefs, die <strong>als</strong><br />
Entscheider auf den systemischen Ausgleich achten müssen. Im Folgenden<br />
Abschnitt wird daher die neue Rolle des Managements dargestellt.<br />
3.1.1 Die neue Rolle des Managements<br />
Die Wirklichkeit mit der Organisationen konfrontiert sind, hat sich in den letzten<br />
Jahren merklich gewandelt. Neue Arbeitsformen, veränderte<br />
Leistungserstellungsprozesse und wirtschaftliche Verhältnisse schaffen neue<br />
Organisationssituationen, die mit einer hohen Eigenkomplexität verbunden sind.<br />
Die Führungsphilosophie der meisten Organisationen stammt hingegen noch<br />
aus vergangenen Organisationsrealitäten und ist immer weniger im Einklang mit<br />
den realen und komplexen Verhältnissen. 138 Organisationen reagieren häufig<br />
mit kennzahlenbasierten Steuerungsinstrumenten, um den Überblick über die<br />
Vielzahl an komplexen Prozessen zu bewahren. Dadurch soll dem<br />
Management ermöglicht werden, Risiken besser einzuschätzen, Norm- und<br />
Zielabweichungen frühzeitig zu erkennen und den Überblick über die Vielzahl<br />
an simultanen Prozessen zu bewahren. 139 Die Fakten- und Zahlenlage ist meist<br />
gestützt auf Prognosen, Vorhersagen und Beratermeinungen. Dies kommt<br />
Managern entgegen, um sich selbst aus der „Schusslinie“ zu nehmen,<br />
Unsicherheit zu absorbieren und sich in der Entscheidungsverantwortung zu<br />
entlasten. 140 Geht man nun da<strong>von</strong> aus, dass in Zeiten des Wandels eine<br />
Organisation schnell vom „Normalbetrieb“ in einen Veränderungsmodus<br />
umschalten muss, reichen standardisierte und zahlenfokussierte<br />
137<br />
Vgl. Deloitte Studie „Alligned at the top“ (2007)<br />
138<br />
Vgl. Wimmer (2004) S. 145<br />
139<br />
Vgl. Stey (2007a) S. 173 ff.<br />
140<br />
Vgl. Groth, Wimmer (2004) S. 239
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 31<br />
Steuerungstools nicht mehr aus, um die Organisation an den Märkten<br />
reaktionsfähig zu halten. 141<br />
Die Schwierigkeit der Unternehmensführung besteht weniger aus der<br />
Steuerung <strong>von</strong> Maschinen, die dank Technologien halbwegs in den Griff zu<br />
bekommen sind, <strong>als</strong> vielmehr in der Führung <strong>von</strong> Menschen. Für Manager stellt<br />
sich immer mehr die Frage: Wie können diese „komplizierten Menschen“ dazu<br />
gebracht werden, auf eine gemeinsame Organisationsrealität hinzuarbeiten? 142<br />
Die Rolle des Managers <strong>als</strong> reiner „Macher“ hat sich in systemtheoretischen<br />
Ansätzen zu einem „Designer <strong>von</strong> Kommunikationsprozessen“ gewandelt, der<br />
eine Kommunikationsbasis schaffen muss, die allen Beteiligten erlaubt, eine<br />
gemeinsame Sicht auf die Wirklichkeit zu haben. Manager müssen heutzutage<br />
die Organisation, mit Blick nach innen und außen, in Zeiten des schnellen<br />
Wandels wettbewerbsfähig halten und Auswirkungen <strong>von</strong> Veränderungen<br />
proaktiv vorwegnehmen. 143 Die Anforderungen, die in diesem Zusammenhang<br />
an Führungskräfte gestellt werden, sind immens hoch. KÖNIGSWIESER und<br />
HILLEBRAND zählen neben Fach- und Prozesswissen vor allem „weiche“<br />
Attribute wie Offenheit, Fähigkeit zur Sinnstiftung, Reflektiertheit, Rücksicht,<br />
Umsicht und Einfühlungsvermögen auf. Für STEY ist die Entwicklung <strong>von</strong><br />
Sensitivität und einer „ganzheitlichen Sensorik“ gefragt. Dies setzt voraus, dass<br />
Organisationen und damit auch ihr Management, ganzheitlich denkt und die<br />
Fähigkeit ausbildet, „explizite und latente Zusammenhänge“ wahrzunehmen<br />
und zu reflektieren. 144<br />
Das Management steht nun vor dem Problem, umsichtig und mit weiser<br />
Voraussicht innerhalb des Beziehungsgeflechtes des Systems zu handeln und<br />
gleichzeitig kurz- und mittelfristige Interessen der Organisation zu<br />
verwirklichen. 145 Um diesem „Balanceakt“ gerecht zu werden, liegt es für<br />
Organisationen und deren Management nahe, sich intensiv mit<br />
Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Kommunikationsfragen auseinander zu<br />
141<br />
Vgl. Stey (2007a) S. 175<br />
142<br />
Vgl. Königswieser, Hillebrand (2007) S. 114<br />
143<br />
Vgl. Stey (2007a) S. 173 ff.<br />
144<br />
Vgl. Stey (2007a) S. 173 ff.<br />
145<br />
Vgl. Königswieser, Hillebrand (2007) S. 112
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 32<br />
setzen. Für das Management ist es aus konstruktivistischer Sicht notwendig,<br />
die Lösung <strong>von</strong> Problemen, die bisher der Umwelt zugeschrieben wurden, auch<br />
im internen Handeln zu suchen. Dazu braucht es Wissen über Prozesse<br />
innerhalb und außerhalb <strong>von</strong> Organisationen 146 , sowie Interventionspraktiken,<br />
die die Wahrnehmungsfähigkeit ausbilden. RÜEGG-STÜRM und SCHUMACHER<br />
setzen bei Praktiken an, die sich nicht nur auf kognitive und analytische<br />
Prozesse konzentrieren, sondern die menschliche Wahrnehmung an sich<br />
miteinbeziehen. 147<br />
3.1.2 Beziehungskonstellationen <strong>als</strong> Erfolgsfaktor<br />
In Organisationssystemen gibt es nach RÜEGG-STÜRM materiell-formelle<br />
Strukturen (z.B. Infrastruktur, Organigramme), sowie immateriell-informelle<br />
Strukturen (z.B. Wissen und Beziehungen). Zwischen Organisationen und<br />
ihren, durch die Systemgrenze definierten Anspruchsgruppen (Mitarbeitende,<br />
Kapitalgeber, Kunden, Konkurrenz), gibt es vielfältige Interaktionen und<br />
Austauschbeziehungen. 148 Die Interaktionen können bewusst in Form <strong>von</strong><br />
Sitzungen oder Geschäftsprozessen und unbewusst in Form <strong>von</strong><br />
Kommunikation (verbal und nonverbal) stattfinden. „Viele der unbewussten,<br />
informellen Interaktionen betreffen Arbeits- und Geschäftsbeziehungen.“ 149<br />
RUPPERT geht da<strong>von</strong> aus, dass jedes Arbeitshandeln in den Kontext <strong>von</strong><br />
Arbeitsbeziehungen eingebettet ist. Er unterstreicht, dass Probleme und<br />
Konflikte in Organisationen oftm<strong>als</strong> auf Störungen dieser<br />
Beziehungskonstellationen zurückzuführen sind. 150 Auch GMINDER ist der<br />
Ansicht, dass Geschäftsbeziehungen in der heutigen globalisierten Welt<br />
wichtiger sind denn je. Jeder Akteur sollte sich bewusst sein, welchen<br />
Stellenwert Beziehungen und Loyalitäten in der Wirtschaftswelt besitzen. 151<br />
Doch auch für das Innenleben <strong>von</strong> Organisationen haben Rollenzuteilungen,<br />
geteilte Sinnbilder, Hierarchien eine wichtige Funktion, denn sie steuern die<br />
146 Vgl. Hejl, Stahl (2000) S. 9 f.<br />
147 Vgl. Rüegg-Stürm, Schumacher (2007) S. 65 u. S. 78 f.<br />
148 Vgl. Rüegg-Stürm (2002) S. 33<br />
149 Gminder (2005) S. 40<br />
150 Vgl. Ruppert (2000) S. 157<br />
151 Vgl. Gminder (2005) S. 41
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 33<br />
Organisation und reduzieren Komplexität. Durch Konsens und Differenz werden<br />
ständig Unterscheidungen (Selektionen) getroffen was wichtig – unwichtig oder<br />
relevant – irrelevant ist. 152 Die Sachdimension (Management, Geschäfts- und<br />
Unterstützungsprozesse, Ablaufroutinen etc.) und die Beziehungsdimension<br />
(Grundhaltungen, Beziehungsformen, Interaktionsmuster etc.). werden in<br />
Abbildung 8 veranschaulicht.<br />
Abbildung 8:Sach- und Beziehungsdimensionen in Organisationen. Vgl. Rüegg-Stürm<br />
(2007) S. 59 und Gminder (2005) S. 41<br />
Organisationen verfügen über relativ viele Werkzeuge, um interne Abläufe auf<br />
der Sachebene zu analysieren. Mit Hilfe <strong>von</strong> externen Experten oder Beratern<br />
kann beispielsweise geprüft werden, wie groß die Absatzchancen eines<br />
geplanten Produktes sind oder wie die strategische Ausrichtung der<br />
Organisation sein soll. Betrachtet man allerdings die Beziehungsebene, so ist<br />
es schwieriger das interne Geflecht an zwischenmenschlichen Strukturen zu<br />
erfassen. Es reicht nicht aus, allein aufgrund <strong>von</strong> materialisierten Ordnungen<br />
(z.B. Organigramme, Leitlinien zur Zusammenarbeit) auf die in der Organisation<br />
wirkenden Beziehungsgeflechte zu schließen. 153<br />
3.2 Ordnungsmomente <strong>als</strong> Regeln im Spiel<br />
Die unternehmerischen Wertschöpfungen laufen in „mehr oder weniger<br />
geordneten Bahnen“ ab, wobei die Muster, die sich hinter Handlungen und<br />
Kommunikationen verbergen, oftm<strong>als</strong> nicht einfach zu erkennen sind. Um die<br />
152 Vgl. Königswieser, Hillebrand (2007) S. 32<br />
153 Vgl. Rüegg-Stürm (2007) 59 ff.
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 34<br />
Handlungen <strong>von</strong> Organisationen auf entsprechende Ziele und Ergebnisse<br />
auszurichten gibt es „Ordnungsmomente“, die sich strukturierend auf die<br />
Organisation auswirken. 154 Ordnungsmomente schaffen Orientierung, stiften<br />
Identität und halten die „Welt der Organisation“ zusammen. Sie „sind so etwas<br />
wie Regeln, die ein Spiel gestalten.“ 155 Organisationen arbeiten nach selbst<br />
aufgestellten Ordnungen und werden gleichzeitig <strong>von</strong> Unbewussten „Gesetzen“<br />
bestimmt, die im Verborgenen wirken. 156 ROSSELET ET AL 157 drücken es<br />
folgendermaßen aus: „der weitaus größere Teil der Regeln liegt im Dunkeln. Sie<br />
sind Teil des impliziten Wissens und sie entfalten ihre Wirkung, ohne dass die<br />
Akteure sich ihrer bewusst sind.“ 158<br />
In dieser Arbeit wird daher eine Unterscheidung zwischen offensichtlichen und<br />
verborgenen Ordnungsmomenten einer Organisation unterschieden, die im<br />
Folgenden erläutert werden. Basis der offensichtlichen Ordnungsmomente<br />
bildet das neue St. Galler Management-Modell.<br />
3.2.1 Offensichtliche Ordnungsmomente in Organisationen<br />
Das Alltagsgeschehen <strong>von</strong> Organisationen läuft in Form <strong>von</strong> Prozessen<br />
(Management, Geschäfts- und Unterstützungsprozesse) ab und verlangt nach<br />
einer Ausrichtung und Sinngebung. Diese Funktion erfüllen die<br />
Ordnungsmomente. RÜEGG-STÜRM definiert im neuen St. Galler Management-<br />
Modell drei Ordnungsmomente (Strategie, Struktur, Sinnhorizont bzw. Kultur),<br />
damit ein Unternehmen im wirtschaftlichen Sinne „lebensfähig“ ist. Die<br />
Ordnungsmomente generieren sich aus dem Alltagsgeschehen, <strong>als</strong>o aus den<br />
Prozessen und strukturieren dieses wiederum.<br />
Um die Organisation fortwährend auf Erfolgskurs zu halten, muss stets neues<br />
„strategisches Orientierungswissen“ aufgebaut werden. Die Strategie ermöglicht<br />
es, Aktivitäten auf erfolgsentscheidende Aspekte auszurichten, d.h. sich im<br />
Sinne der Strategie zu entscheiden, „die richtigen Dinge zu tun“. Dazu braucht<br />
es ein hohes Maß an Feinabstimmung und Koordination aller<br />
154 Vgl. Rüegg Stürm (2002) S. 23<br />
155 Vgl. Rosselet, Senoner, Lingg (2007) S. 68<br />
156 Vgl. Horn, Brick (2001) S. 25<br />
157 ET AL entspricht der Bezeichnung “und andere”<br />
158 Rosselet, Senoner, Lingg (2007) S. 74 f.
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 35<br />
unternehmerischen Tätigkeiten in Bezug auf die Strukturen, um sicherzustellen<br />
„die Dinge richtig zu tun“. 159 Die Struktur der Organisation findet sich in der<br />
„Aufstellung der Mannschaft“. 160 Diese wird durch ständiges Prozessieren <strong>von</strong><br />
Entscheidungen erhalten und geändert. 161 Der dritte Ordnungsmoment besteht<br />
in einem gemeinsamen Sinnhorizont, der Antworten auf das „warum“ und<br />
„wozu“ liefert. Der Sinnhorizont kann durch Visionen und stimmigen kollektiven<br />
Identitäten äußern und wird in Form einer Kultur verkörpert. 162 Die Kultur<br />
verdichtet das „Selbstverständnis“ der Organisation in inneren<br />
Sinnkonstruktionen und Weltbildern, die nach außen projiziert werden. Diese<br />
Sinnkonstruktionen und inneren Ordnungsstrukturen (vgl. Kapitel 3.2) geben<br />
der Organisation Sicherheit und machen sie stabil, indem sie die<br />
Selbstbehauptung der Organisation gegenüber ihrer Umwelt stärken. 163<br />
3.2.2 Verborgene Ordnungsmomente in Organisationen<br />
Organisationen arbeiten nicht nur nach selbst aufgestellten Ordnungen,<br />
Aufgaben und Zielen. Sie reagieren zudem auf Systemgesetze, die „im<br />
Verborgenen“ wirken und die den Menschen in Organisationen meist nicht<br />
bewusst sind.<br />
In der praktischen Arbeit mit Unternehmen, Abteilungen, Teams und<br />
anderen Organisationen haben sich immer wieder bestimmte<br />
Ordnungsprinzipien […] gezeigt, nach denen diese systemisch<br />
funktionieren. 164<br />
Zur Erläuterung der verborgenen Ordnungsmomente werden diese im weiteren<br />
Verlauf mit „systemischen Grundsätzen“ bzw. Prinzipien bezeichnet. Dies<br />
entspricht der Bezeichnung <strong>von</strong> VARGA VON KIBED und SPARRER, auf deren<br />
Literatur die Darstellung basiert. Im Gegensatz zu anderen Autoren haben<br />
VARGA VON KIBED und SPARRER die systemischen Grundsätze<br />
systemtheoretisch umdefiniert und auf soziale Systeme anwendbar gemacht.<br />
Sie ordnen die Grundprinzipien in eine konstruktivistische Sichtweise ein, was<br />
dem Kontext dieser Arbeit entspricht.<br />
159 Vgl. Rüegg-Stürm (2002) S. 37<br />
160 Vgl. Rosselet, Senoner, Lingg (2007) S. 71<br />
161 Vgl. Groth, Wimmer (2004) S. 228 f.<br />
162 Vgl. Rüegg-Stürm (2002) S. 38<br />
163 Vgl. Königswieser, Hillebrand (2007) S. 33 f.<br />
164 Horn, Brick (2001) S. 26
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 36<br />
Allen Grundsätzen liegt das übergeordnete Prinzip: „Anerkennen was ist“<br />
zugrunde, bei dem Handlungen in Systemen auf dem gegebenen Ist-Zustand<br />
aufbauen sollten. Organisationen brauchen einen Überblick über den Zustand<br />
des Systems (z.B. Organisation, Teams, Projekte) und das Bewusstsein, dass<br />
jeder Eingriff eine Wirkung auf die Systemmitglieder und die Systemelemente<br />
(z.B. Projekte, Werte) hat. Werden Gegebenheiten verdrängt oder missachtet,<br />
können langfristig Schwierigkeiten auftreten. Die wesentlichen Themen wie<br />
Werte, Regeln etc. sollten daher klar kommuniziert werden.<br />
Das „Prinzip der Zugehörigkeit“ legt fest, wer zum System dazugehört und wer<br />
nicht. Es leitet sich aus der Grundannahme ab, dass die Existenz eines<br />
Systems mit der Definition seiner Grenzen verbunden ist. Durch die Festlegung<br />
der Systemteilnehmer werden Grenzen im System und die Zugehörigkeit zu<br />
einem System bestimmt. Dieses Prinzip gilt nicht nur für Familiensysteme,<br />
sondern auch für Organisationen und führt bei einer Verletzung zu Konflikten,<br />
Verwirrung und Unzufriedenheit innerhalb des Systems. Ein Mangel an<br />
Verbindlichkeit kann zu einer eingeschränkten Produktivität führen, weil die<br />
Mitarbeiter damit beschäftigt sind, ihren Platz im System zu sichern, finden oder<br />
darum zu kämpfen.<br />
Das zweite Prinzip der „direkten Zeitfolge“ würdigt den Vorrang <strong>von</strong> Mitgliedern,<br />
die dem System länger <strong>als</strong> andere angehören. Bei wachsenden Systemen<br />
verlieren die Mitglieder an Raum, die schon länger dazugehören und<br />
sozusagen Platz machen für diejenigen, die später kommen. Um eine<br />
Missachtung der direkten Zeitfolge in Organisationen zu vermeiden, kann durch<br />
Würdigung früherer Mitarbeiter ein Ausgleich geschaffen werden. In der Praxis<br />
kann dies umgesetzt werden, indem die Erfahrungen der zuerst da gewesenen<br />
Mitglieder des Systems miteinbezogen und berücksichtigt werden.<br />
Beim dritten Prinzip der „inversen Zeitfolge“ haben neue Systeme Vorrang vor<br />
dem älteren, wenn sich das System fortpflanzt, d.h. ein neues System ähnlicher<br />
Art gebildet wird. Dieses Prinzip spielt beispielsweise bei der Gründung einer<br />
Tochtergesellschaft eine Rolle. Die Tochterfirma <strong>als</strong> neues System ist<br />
schwächer <strong>als</strong> die ältere Mutterfirma und muss in seiner Bildungsphase
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 37<br />
unterstützt werden (z.B. durch mehr Ressourcen, mehr Personal etc.) bis sie<br />
stark genug ist, die eigenen Systemgrenzen zu bilden.<br />
Das Prinzip des „Vorrangs des höheren Einsatzes“ würdigt Systemteilnehmer,<br />
die einen großen Einsatz leisten und sich besonders einbringen.<br />
Organisationen sind einem ständigen Wandel ausgesetzt, bei dem der<br />
besondere Einsatz <strong>von</strong> Mitarbeitern überlebensnotwendig ist. Die<br />
Wertschätzung des höheren Einsatzes sollen explizit in Form einer<br />
Auszeichnung oder der bloßen Erwähnung geachtet und gewürdigt werden, um<br />
die Krisenbewältigungsfähigkeit <strong>von</strong> Organisationen zu stärken.<br />
Beim letzten Prinzip des „Leistungs- und Fähigkeitsvorrangs“ gilt es,<br />
Systemmitglieder zu würdigen, die höhere Leistungen und Fähigkeiten<br />
einbringen. Organisationen, die stabil aufgestellt sind und sich weiterentwickeln<br />
wollen, um am Markt zu überleben, sollten sich um die Fähigkeiten ihrer<br />
Mitarbeiter kümmern. Dadurch wird die individuelle Weiterentwicklung und<br />
Ausbildung besonderer Qualitäten der Mitarbeiter gefördert und manifestiert.<br />
Für die systemische Arbeit spielt das Ergänzungsprinzip „Ausgleich zwischen<br />
Geben und Nehmen“ neben den beschriebenen Prinzipienebenen<br />
(Zugehörigkeit, Reihenfolge, Einsatz, Fähigkeiten) eine besondere Rolle. VARGA<br />
VON KIBED hat das Ausgleichsprinzip noch weiter ausformuliert und ergänzt. Der<br />
Ausgleich im Guten sollte beispielsweise ein vermehrter sein. Für<br />
Organisationen ist es sinnvoll, günstige Handlungen zu betonen und verstärkt<br />
zurückzugeben, während für Pannen und Fehler genau das Gegenteil gilt. Der<br />
Ausgleich „im Üblen“ sollte ein verminderter sein. 165<br />
165 Vgl. Sparrer (2000) S. 91 - 98, Sparrer, Varga <strong>von</strong> Kibéd (2008) S.44 – 54
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 38<br />
Abbildung 9: Systemische Grundsätze. Eigene Darstellung nach Sparrer, Varga <strong>von</strong><br />
Kibéd (2008) S. 39-54<br />
VARGA VON KIBED und SPARRER haben den Ordnungsrahmen aus dem<br />
Familiensystem erweitert und zu einem allgemeinen systemischen Modell <strong>von</strong><br />
Grundsätzen entwickelt, welches für beliebige soziale Systeme nützlich ist. Der<br />
Rahmen, den die Grundsätze bieten, ermöglicht der Organisationsberatung<br />
bisher „nicht fassbares“ Verhalten <strong>von</strong> Systemteilnehmern nachvollziehbar zu<br />
machen. Verschiedene Ansätze, wie das neue St. Galler Management<br />
Management-Modell (vgl. Kapitel 3.2.1), beleuchten zwar implizite<br />
Handlungsvoraussetzungen wie die Kultur, wollen diese aber letztlich<br />
„managen“. 166 Die systemischen Grundsätze nach SPARRER und VARGA VON<br />
KIBED, zielen nicht darauf ab zu „managen“, sondern sie bieten einen Rahmen<br />
zur Umsetzung und dienen dazu, Nützliches (z.B. Anerkennung, Würdigung) zu<br />
vermehren. 167<br />
Kritische Stimmen aus der Praxis werfen den systemischen<br />
Ordnungsmomenten vor, dass sie der Komplexität <strong>von</strong> Organisationen nicht<br />
gerecht werden. GROTH kritisiert: „wenn am Ende hauptsächlich Alter,<br />
Zugehörigkeit und Wichtigkeit der Person <strong>als</strong> Indizien für eine gute Ordnung<br />
genommen werden, ist es zweifelhaft, ob dies der Komplexität einer<br />
166 Vgl. Pacher (2006) S. 126<br />
167 Sparrer, Varga <strong>von</strong> Kibéd in Daimler, Sparrer, Varga <strong>von</strong> Kibéd (2003) S. 198
3. Die innere Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen 39<br />
Organisation gerecht wird.“ 168 VARGA VON KIBED und SPARRER sehen die<br />
systemischen Grundsätze allerdings nicht <strong>als</strong> richtungsbestimmend, sondern<br />
lediglich richtungsweisend. Sie betonen, dass die systemischen Grundsätze mit<br />
einer dogmatischen Auffassung „so muss es sein und so funktioniert es“ den<br />
vielfältigen Möglichkeiten, die Systeme entwickeln, um ihre Existenz zu sichern<br />
nicht gerecht werden. 169<br />
168 Groth (2007) S. 92<br />
169 Varga <strong>von</strong> Kibéd, Sparrer (2008) S. 39 f.
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 40<br />
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins<br />
Bild bringen<br />
„Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung“<br />
Antoine de Saint-Exupéry<br />
Mit Hilfe der Organisationsaufstellung kann die Wirklichkeit mit ihren komplexen<br />
sozialen Beziehungen visualisiert und erlebbar gemacht werden. 170 Unsere<br />
Wortbilder im Kopf werden dazu in ein räumliches Bild übertragen bzw.<br />
aufgestellt. 171 Die Aufstellungsarbeit greift eine Redensart auf, die wir vom<br />
Sport genauso wie <strong>von</strong> der Wirtschaft kennen – Die Bedeutung der<br />
Mannschaftsaufstellung. Unternehmen, die eine starke Marktposition vertreten,<br />
wie Führungskräfte, die gekonntes Beziehungsmanagement betreiben, nennt<br />
man heute „gut aufgestellt“. Die richtige „Aufstellung“ beeinflusst maßgeblich<br />
den Erfolg oder Misserfolg unseres Handelns und spiegelt die Bedeutung <strong>von</strong><br />
Netzwerkkonstellationen in zwischenmenschlichen Systemen (vgl. Kapitel 3)<br />
wider. Die Organisationsaufstellung <strong>als</strong> „Navigationsgerät“ schafft einen Weg<br />
durch das Dickicht der komplexen Zusammenhänge und Wechselwirkungen in<br />
Organisationen. 172 Dadurch entstehen neue Blickrichtungen die „blinde<br />
Flecken“ erhellen und Raum für neue Wirklichkeitskonstruktionen ermöglichen.<br />
Der nächste Abschnitt beschreibt die Organisationsaufstellung in einem<br />
Kurzportrait. Nach einer Erläuterung der Entstehung und Weiterentwicklung der<br />
Organisationsaufstellung wird auf die verschiedenen Formen der Methode und<br />
deren Ablauf eingegangen. Den Abschluss des Kapitels bilden die systemisch-<br />
konstruktivistische Sichtweise auf die Methode der Aufstellung, sowie der<br />
Ausblick auf die Wirklichkeit <strong>von</strong> morgen.<br />
4.1 Was ist die Organisationsaufstellung?<br />
Die Organisationsaufstellung stellt eine systemische 173 Methode und ein<br />
Prozessinstrument dar, um bestimmte Problem- und Themenstellungen in<br />
170 Vgl. Ameln <strong>von</strong>, Kramer (2007) S. 18<br />
171 Vgl. Schlötter (2006) S. 141<br />
172 Vgl. Horn, Brick (2001) S. 10<br />
173 Eine Definition des Begriffs „systemisch“ in Bezug auf die systemische Methode der<br />
Organisationsaufstellung erfolgt im Anhang
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 41<br />
Unternehmenskontexten zu analysieren, bearbeiten, simulieren und<br />
Lösungsanreize zu schaffen. 174 Sie ermöglicht dem Management, Risiken in<br />
unübersichtlichen Entscheidungssituationen besser einschätzen zu können,<br />
sowie Orientierung zu schaffen. 175 Die Organisationsaufstellungen kann<br />
entweder „In-house“ im Unternehmen mit den Mitarbeitern, oder im Rahmen<br />
eines offenen Seminars mit Externen durchgeführt werden. Mit Hilfe der<br />
Methode werden verschiedene Problem- und Themenstellungen, sogenannte<br />
Anliegen bearbeitet, die sich auf ein menschliches Organisationssystem<br />
beziehen. Die Anliegen können allgemeiner Natur sein, d.h. sie betreffen<br />
beispielsweise die Zielerreichung, die Entscheidungsfindung, die<br />
Problemlösung, die Simulation <strong>von</strong> zukünftigen Situationen, sowie die Analyse<br />
<strong>von</strong> Arbeitsbeziehungen. Genauso ist es möglich, individuelle Anliegen einer<br />
Einzelperson (Klient) und Gruppen- oder Organisationsthemen auf der Sach-<br />
und Beziehungsebene aufzustellen. 176<br />
Die Methode ermöglicht einen Blick auf das Innere der Organisation und liefert<br />
„handlungsnahe Beschreibungen <strong>von</strong> Wirkungszusammenhängen in lebenden<br />
Systemen, <strong>als</strong>o beispielsweise in Organisationen.“ 177<br />
Organisationsaufstellung bildet dazu tatsächliche Ereignisse in „Raum und<br />
Zeit“, d.h. in einer Szene ab, um so Rückschlüsse auf Systemdynamiken zu<br />
ziehen. 178 Die räumliche Darstellung des inneren Bildes erfolgt durch zumeist<br />
reale Personen, sogenannte Stellvertreter oder Systemrepräsentanten, die<br />
stellvertretend im Raum für Elemente eines sozialen Systems (Mitarbeiter,<br />
Abteilungen etc.) positioniert werden. 179 „Die Stellvertreter stehen nun quasi in<br />
einem lebensgroßen Bericht mittels einer räumlichen Zeichensprache.“ 180<br />
Die Organisationsaufstellung ist eine junge Methode, der „ein großes Potential<br />
inne [wohnt], das noch bei Weitem nicht ausgeschöpft ist.“ 181 Abschließend<br />
sollen zwei Potentiale aus dem Blickwinkel des Konstruktivismus und der<br />
Systemtheorie dargestellt werden:<br />
174<br />
Vgl. Gminder (2005) S. 18<br />
175<br />
Vgl. Rosselet (2003) S. 47<br />
176<br />
Vgl. Gminder (2005) S. 18<br />
177<br />
Vgl. Rosselet (2005) S. 16 ff.<br />
178<br />
Vgl. Rosselt, Senoner, Lingg (2007) S.31 f.<br />
179<br />
Vgl. Groth (2007) S. 82<br />
180<br />
Vgl. Schlötter (2006) S. 141<br />
181<br />
Vgl. Groth (2007) S. 93<br />
Die
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 42<br />
- Aufstellungen besitzen auf dem Beratermarkt durch die Visualisierung<br />
komplexer Strukturen und die Einbringung neuer<br />
Wirklichkeitsbeschreibungen ein Alleinstellungsmerkmal, so GROTH.<br />
Versteht man Organisationsaufstellungen <strong>als</strong> „Lieferanten möglicher<br />
andersartiger Wirklichkeiten“, dann können sie dazu beitragen, dass<br />
Organisationen kreativer mit sich und ihrer Umwelt umgehen. 182<br />
- Die Organisationsaufstellung fördert das „Kontingenzbewusstsein“. Sie<br />
führt zu einer Unterscheidung, wie die Zusammenhänge zwischen<br />
Personen, Gegenständen und Ereignissen wahrgenommen werden,<br />
bzw. wie diese noch anders denkbar wären. Organisationen wird mit<br />
dieser Methode ermöglicht, die Anteile, die der eigenen Beobachtung<br />
verborgen bleiben, einer Reflexion zugänglich zu machen.<br />
Führungskräfte schaffen damit die: „übliche Unterscheidung zwischen<br />
sich selbst (<strong>als</strong> Außenstehenden) zu überwinden und sich <strong>als</strong> aktives<br />
Element des Veränderungsprozesses mit neuen<br />
Handlungsmöglichkeiten zu beobachten.“ 183<br />
4.2 Die Entwicklung der Organisationsaufstellung hin zu<br />
neuen Formaten<br />
Die Organisationsaufstellung hat ihre Wurzeln, wie auch andere<br />
Managementmodelle, in der modernen Psychologie. Forscher wie BATESON,<br />
WATZLAWICK und andere beeinflussten durch ihre ganzheitliche Sicht der<br />
menschlichen Seele wiederum Therapeuten, ihre Perspektive auf das gesamte<br />
Familiensystem, auszuweiten. Mit der Zeit begannen Familientherapeuten das<br />
System mittels Grafiken und Figuren (und später auch durch Stellvertreter)<br />
abzubilden, um einen besseren Überblick über die Beziehung der<br />
Systemmitglieder zu erhalten. Es entwickelten sich verschiedene Ansätze, so<br />
auch die Skulpturarbeit der amerikanischen Familientherapeutin SATIR. 184<br />
Im Jahr 1995 wurde unter der Leitung <strong>von</strong> HELLINGER zum ersten Mal die<br />
familientherapeutische Aufstellungsarbeit in einem Seminar für Mitarbeiter auf<br />
182 Vgl. Groth (2007) S. 93<br />
183 Vgl. Rüegg-Stürm (2007) S. 79 f.<br />
184 Vgl. Horn, Brick (2003) S. 36 ff.
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 43<br />
Organisationen und Unternehmen übertragen. 185 Die Methode wurde seither<br />
vor allem durch WEBER und VARGA VON KIBED aus dem Bereich der<br />
Familientherapie nach HELLINGER, auf berufliche Fragestellungen übertragen. 186<br />
Genau wie Familien <strong>als</strong> Systeme gelten, so können im Sinne der<br />
soziologischen Systemtheorie auch Organisationen <strong>als</strong> solche verstanden<br />
werden. 187 Die dahinterliegende Grundidee ist, dass viele Systeme entstehen<br />
die an Familienstrukturen angelehnt sind. In Organisationen suchen<br />
beispielsweise Arbeitnehmer oftm<strong>als</strong> Positionen, die dem Platz im<br />
Familiensystem ähneln. 188 Organisationen sollen aber nicht wie<br />
verallgemeinerte Familienstrukturen betrachtet werden, sondern es geht um<br />
eine gemeinsame Basis, die den beiden Systemen zugrunde liegt. Auf der<br />
Grundlage einer „gemeinsamen Grammatik“ haben VARGA VON KIBED und<br />
SPARRER das Verfahren der systemischen Strukturaufstellungen, mit vielen<br />
verschiedenen Aufstellungsformaten, entwickelt (siehe Kapitel 4.3.2). 189<br />
Der Aufstellungsansatz hat sich über die Jahre unter anderem durch<br />
Arbeitskreise und Fachtagungen weiterentwickelt und professionalisiert. Im Jahr<br />
2003 wurde ein selbstständiger Verein, d.h. ein „Internationales Forum für<br />
System-Aufstellungen in Organisationen und Arbeitskontexten“, kurz<br />
„INFOSYON“ 190 gegründet. Die Ziele des Vereins basieren auf der<br />
Weiterentwicklung und Etablierung der Methode, der Beratervernetzung, der<br />
Forschung und Qualitätssicherung. 191<br />
Im Zuge der Professionalisierung und Weiterentwicklung wurde sich vorsichtig<br />
an neue Methoden und Konzepte herangetastet, um den Anforderungen <strong>von</strong><br />
Unternehmen gerecht zu werden. Die Organisationsaufstellung stellt auch<br />
heute zum Teil immer noch ein Novum für Manager dar, an dass sie sich nicht<br />
wagen. Zu groß ist oftm<strong>als</strong> die Unsicherheit, wie man mit einer Methode<br />
umgehen soll, die scheinbar unberechenbar und in einer ungewohnten Art und<br />
Weise, Wirklichkeiten ans Licht bringt.<br />
185<br />
Vgl. Weber (2000) S. 7<br />
186<br />
Vgl. Assländer, Kohlhäuser (2005) S. 52 f.<br />
187<br />
Vgl. Ameln, Lames (2007) S. 139<br />
188<br />
Vgl. Erb (2001) S. 100<br />
189<br />
Vgl. Varga <strong>von</strong> Kibéd (2000) S.11<br />
190<br />
Weitere Informationen zur INFOSYON: www.infosyon.com<br />
191<br />
Vgl. Assländer, Kohlhäuser (2005) S. 52 f.
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 44<br />
In diesem Zusammenhang kommt dem Systemaufstellungsformat der<br />
„Management Constellations“ in der Weiterentwicklung der Aufstellungsarbeit<br />
eine besondere Bedeutung zu. WEBER beschreibt die Arbeit rund um die<br />
Management Constellations, <strong>als</strong> „einen Meilenstein in der Entwicklung der<br />
Organisationsaufstellungen.“ Die Besonderheit dieses Formates ist, dass die<br />
Systemaufstellungen innerhalb der Organisation direkt mit den Beteiligten<br />
stattfinden. 192<br />
4.3 Aufstellungsformen im Organisationsbereich<br />
Aus der Bezeichnung „Organisationsaufstellung“ geht nicht hervor, in welcher<br />
Form (öffentliches Seminar, innerhalb der Organisation) gearbeitet wird und in<br />
welchen Kontext die Fragestellung (persönliches Anliegen, Team) eingebettet<br />
ist. Eine differenzierte Darstellung ist allerdings notwendig, da sich aus den<br />
jeweiligen Formen und Fragestellungen verschiedene Möglichkeiten und<br />
Grenzen ergeben. 193 Was alle Aufstellungsformen gemeinsam haben, ist die<br />
Notwendigkeit eines klaren Rahmens, in dem die Aufstellungen stattfinden.<br />
ROSSELET nennt hier drei Voraussetzungen:<br />
- 1. Bereitschaft für das Experiment Aufstellung: Es ist eine Anzahl <strong>von</strong><br />
Menschen notwendig, die sich auf den repräsentativen<br />
Wahrnehmungsprozess einlassen und ihrerseits <strong>als</strong> Stellvertreter für<br />
unbekannte Thematiken stehen.<br />
- 2. Offenheit für ungewöhnliche Lösungsfindung: Die an<br />
Aufstellungen teilnehmenden Personen brauchen eine gewisse<br />
Bereitschaft, mit unkonventionellen Methoden zur Lösungsfindung zu<br />
gelangen.<br />
- 3. Notwendigkeit einer „Aufstellungsleitung“: Um die Aufstellung <strong>von</strong><br />
außen durch Fragen zum Anliegen und zum Aufstellungsprozesses zu<br />
begleiten, ist es erforderlich, einen für den Gesamtablauf verantwortliche<br />
Person mit dabeizuhaben. 194<br />
192 Weber (2007) S. 9 f.<br />
193 Vgl. Groth (2007) S. 90 f. und Weber (2000) S. 39<br />
194 Vgl. Rosselet (2005) S. 16 ff.
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 45<br />
Im nächsten Absatz werden verschiedene Formen, in denen<br />
Organisationsaufstellungen stattfinden können, dargestellt. Die Auswahl<br />
erfolgte anhand in der Literatur häufig erwähnter Formate.<br />
4.3.1 Klassische Organisationsaufstellung<br />
Die Organisationsaufstellung in ihrer ursprünglichen und puristischen Form<br />
findet meist mit sogenannten „stranger groups“, d.h. in offenen Seminaren mit<br />
Teilnehmern aus verschiedenen Organisationen statt. Die Aufstellung findet mit<br />
Hilfe der übrigen Teilnehmer statt, die für den „Thementräger“ <strong>als</strong> Stellvertreter<br />
bzw. Repräsentant stehen. 195 Werden Bereiche einer Organisation aufgestellt,<br />
so spricht man laut SPARRER <strong>von</strong> Organisationsaufstellungen im engeren Sinn.<br />
Die Teilbereiche, die aufgestellt werden können sind Einzelpersonen, Teams<br />
mit besonderen Anliegen, eine bzw. mehrere Projektgruppen, unterschiedliche<br />
Hierarchieebenen und Mischformen aus den genannten Teilaspekten <strong>von</strong><br />
Organisationen. 196<br />
Der Vorteil der klassischen Organisationsaufstellung in offenen Seminaren ist,<br />
dass die Teilnehmer sich gegenseitig nicht kennen und in der Rolle des<br />
Repräsentanten keinerlei Vorwissen zum abgebildeten System haben. Die<br />
Repräsentanten können sich unabhängig des eigenen Arbeitskontextes zeigen<br />
und sich frei und eher unverfälscht ausdrücken, ohne auf die Basis <strong>von</strong><br />
Erinnerungen zurückzugreifen. 197<br />
Für WEBER ist diese Form der<br />
Organisationsaufstellung daher die „intensivste, aussagekräftigste und auch<br />
effektivste“. Die Nachteile dieser Aufstellungsform sind, dass jeder Teilnehmer<br />
der sich zu einem Aufstellungsseminar angemeldet hat, auch da<strong>von</strong> ausgeht,<br />
eine Aufstellung zu seinem Anliegen zu machen. Es bedarf allerdings immer<br />
einer Prüfung, ob eine Aufstellung die geeignetste Methode für ein bestimmtes<br />
Anliegen ist. 198<br />
ROSSELET ET AL kritisieren, dass Seminare zu Organisationsaufstellungen in der<br />
Vergangenheit mehrheitlich <strong>von</strong> Beratern und Supervisoren genutzt wurde, um<br />
195 Vgl. Ameln, Kramer (2007) S. 281<br />
196 Vgl. Sparrer (2000) S. 101 ff.<br />
197 Vgl. Groth (2007) S. 91 und Weber (2000) S. 39<br />
198 Vgl. Weber (2000) S. 39
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 46<br />
die eigene Aufstellungsarbeit zu reflektieren und um sich selbst methodisch<br />
aus– und weiterzubilden. Zusätzlich besteht das Problem, dass vielbeschäftigte<br />
Manager aufgrund eines knapp bemessenen Zeitbudgets nur vereinzelt in<br />
öffentlichen Aufstellungsseminaren teilnehmen. 199<br />
4.3.2 Systemische Strukturaufstellung<br />
In der Praxis <strong>von</strong> Organisationsaufstellungsseminaren werden systemische<br />
Strukturaufstellungsformate (z.B. Tetralemmaaufstellung, Lösungsaufstellung,<br />
Glaubenspolaritätenaufstellung) mit eingesetzt, die <strong>von</strong> VARGA VON KIBED und<br />
SPARRER entwickelt wurden. 200 Die Systemischen Strukturaufstellungen (Syst),<br />
stellen eine Interventionsmethodik dar, in der Systeme simuliert abgebildet und<br />
verändert werden. 201 Bei der Systemischen Strukturaufstellung geht es, wie bei<br />
anderen Aufstellungsverfahren darum, Beziehungsstrukturen des Systems<br />
durch Repräsentanten im Raum darzustellen, um diese zu verstehen und zu<br />
modifizieren. Dadurch können innere Bilder <strong>von</strong> Situationen, räumlich in äußere<br />
Bilder übertragen werden, mit dem Ziel das System des Klienten<br />
funktionsfähiger zu machen. 202 Eine Besonderheit der Strukturaufstellungen ist,<br />
dass dieses Verfahren eine breite Palette an verschiedene Aufstellungsformen<br />
bietet, um Fragestellungen in Organisationen zu bearbeiten. 203 Je nach<br />
Anliegen des Klienten können sowohl Personen die zum System gehören, <strong>als</strong><br />
auch abstrakte Teile wie Probleme, Ziele, Projekte, und innere Anteile<br />
aufgestellt werden. 204<br />
Für die Arbeit mit Organisationen hat sich insbesondere das Format der<br />
sogenannten Organisationsstrukturaufstellung entwickelt, welches auf den<br />
Grundlagen der Systemischen Strukturaufstellung basiert.<br />
Organisationsstrukturaufstellungen können unterteilt werden in Aufstellungen im<br />
engeren und weiteren Sinn:<br />
199<br />
Vgl. Rosselet, Senoner, Lingg (2007)<br />
200<br />
Vgl. Weber (2000) S. 34 und S. 39<br />
201<br />
Vgl. Sparrer (2006) S. 9<br />
202<br />
Vgl. Sparrer (2006) S. 9<br />
203<br />
Nähere Informationen zu weiteren Aufstellungsformaten der Syst in der Literatur <strong>von</strong> Sparrer<br />
und Varga <strong>von</strong> Kibéd<br />
204<br />
Vgl. Ameln, Kramer (2007) S. 282 und Daimler, Sparrer, Varga <strong>von</strong> Kibéd (2007) S. 12
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 47<br />
- Im engeren Sinn: Strukturaufstellungsarbeit zu verschiedenen<br />
unternehmensinternen Themen sowie mit den Systemteilnehmern des<br />
Unternehmens (<strong>als</strong> Beispiele werden genannt: Team, Abteilung,<br />
Projektgruppe).<br />
- Im weiteren Sinn: Strukturaufstellungsarbeit zu Themen des beruflichen<br />
Umfelds (<strong>als</strong> Beispiele werden genannt: Entwicklung eines Logos,<br />
Überprüfung einer Marketingstrategie). 205<br />
Die vielen verschiedenen Aufstellungsformate lenken den Blick auf formale<br />
Aspekte in Organisationen und bringen eine neue Begrifflichkeit ins Spiel, die<br />
sich gut in die Geschäftswelt einbringen lässt. Der Kontext in dem die neuen<br />
Formate Anwendung finden ist jedoch so ROSSELET ET AL, immer noch die<br />
Form des „seminaristischen Rahmens“. Die Lösung sehen die Autoren in einer<br />
Adaptierung des Formats, d.h. weg <strong>von</strong> „stranger groups“ und hinein in die<br />
Organisation selbst. 206 Diese Form betrifft die Aufstellungsarbeit im System mit<br />
den direkt Betroffenen und wird im Folgenden erläutert.<br />
4.3.3 Organisationsaufstellung innerhalb <strong>von</strong> Arbeitssystemen<br />
Die Aufstellungsarbeit mit Mitgliedern der Organisation wird in der Literatur<br />
kontrovers diskutiert. 207 Bei vielen Aufstellern stößt die Arbeit mit<br />
Systemteilnehmern seit jeher auf vehemente Gegenstimmen. Kritiker werfen<br />
den Aufstellern vor, betroffene Mitglieder einer Organisation selbst <strong>als</strong><br />
Repräsentanten aufzustellen, wäre eine unzulässige Vorgehensweise. 208 Die<br />
Bedenken sind darauf begründet, dass im Rahmen des eigenen Arbeitssystems<br />
Abhängigkeiten, Hierarchien und Ängste vor vermeintlichen Konsequenzen eine<br />
Rolle spielen. 209 Dadurch könnten „Scheinprobleme“ thematisiert werden, weil<br />
zu viele eigene Systemteilnehmer anwesend sind. Um solche möglichen<br />
Dynamiken weitestgehend zu verhindern, bedarf es qualifizierter Berater mit<br />
Erfahrung. 210<br />
205<br />
Vgl. Daimler (2008) S. 221 ff.<br />
206<br />
Vgl. Rosselet, Senoner, Lingg (2007)<br />
207<br />
Vgl. Ameln; Kramer (2007) S. 282 f.<br />
208<br />
Rosselet (2007) S.98<br />
209<br />
Vgl. Weber (2000) S. 41<br />
210<br />
Vgl. Groth (2007) S. 92
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 48<br />
WEBER beschreibt die Arbeit in Organisationen <strong>als</strong> „Oberstufe“ der<br />
Aufstellungsarbeit und rät Organisationsaufstellern daher zu einer fundierten<br />
Ausbildung. Die „Avantgarde“ der Aufsteller, die sich über die aufgezählten<br />
Bedenken und Warnungen hinweg setzten und die Aufstellungsarbeit in<br />
Managementkontexte übertrugen, stellen ROSSELT, SENONER und LINGG dar.<br />
Sie entwickelten das Format der sogenannten Management Constellations, um<br />
die Arbeit in Organisationen, den unternehmensrelevanten Anforderungen und<br />
Rahmenbedingungen anzupassen. 211<br />
Das Format ist in einen Interventionsprozess in der Organisation eingebettet<br />
und arbeitet direkt mit dem Management bzw. Führungs- und Projektteams. Im<br />
Blickpunkt der Aufstellungsarbeit stehen nur die Thematiken, die ein<br />
Managementteam betreffen und nicht die Arbeitsbeziehungen innerhalb eines<br />
Teams. Die Regel, Betroffene nicht <strong>als</strong> Stellvertreter aufzustellen wird damit laut<br />
ROSSELET ET AL respektiert. Im Gegensatz zu anderen Aufstellungsformaten<br />
verlagert die Management Constellation den Fokus <strong>von</strong> Beziehungsaspekten<br />
zwischen den einzelnen Systemteilnehmern, hin zur Gesamtbetrachtung der<br />
Organisation. Die Vorteile eines solchen Formats bestehen u.a. in der<br />
gemeinsamen Erlebbarkeit <strong>von</strong> Lernschritten, Dynamiken in die das Team<br />
eingebunden ist und Konsequenzen die Entscheidungen nach sich ziehen. 212<br />
4.4 Die Vorgehensweise <strong>von</strong> Organisationsaufstellungen<br />
Der Aufstellungsablauf lässt sich unabhängig der vorgestellten Formen in<br />
verschiedene Phasen einteilen, die in der Literatur variiert dargestellt sind. Im<br />
Folgenden werden die wichtigsten und am häufigsten genannten Schritte<br />
beschrieben:<br />
Interview<br />
Der Aufstellungsleiter führt zu Beginn ein Vorgespräch mit dem Klienten durch,<br />
um das Anliegen zu spezifizieren und die relevanten Informationen zum Kontext<br />
der Aufstellung zu identifizieren. 213 Durch Fragen wie z.B.: „welches System<br />
stelle ich mit welchen Elementen auf?“, wird das Anliegen spezifiziert und das<br />
211 Vgl. Weber (2007) S. 10<br />
212 Vgl. Rosselet, Senoner, Lingg (2007) S.88 - 101<br />
213 Vgl. Ameln v., Kramer (2007) S. 284 f.
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 49<br />
Systemdenken gefördert. 214 Es ist wichtig in dieser Anfangsphase den Focus<br />
der Aufstellung klar zu definieren, um im Verlauf ziel- und lösungsorientiert<br />
arbeiten zu können. 215 Zur Frage, wie viel Vorabinformationen seitens des<br />
Klienten für eine Aufstellung nötig sind, existieren in der Literatur verschiedene<br />
Auffassungen. WEBER verzichtet auf eine ausführliche Informationsphase vor<br />
der Aufstellung und beschränkt sich auf die nötigsten Informationen zum<br />
Anliegen und der Zusammensetzung des Systems, welches aufgestellt werden<br />
soll. Nach der Klärung des Anliegens wird die Aufstellungsart<br />
(Problemaufstellung, Organisationsaufstellung etc.) und die Personen, die<br />
aufgestellt werden sollen, definiert. 216<br />
Ausgangsbild<br />
Die Ausgangssituation des Anliegens wird im nächsten Schritt <strong>als</strong> Bild in den<br />
Raum gebracht. Dazu werden aus den Mitgliedern der Gruppe Stellvertreter<br />
ausgewählt, die die Personen des „Heimatsystems“ und des Klienten<br />
repräsentieren. Die Stellvertreter werden gemäß dem inneren Bild, welches der<br />
Klient vom Anliegen hat, intuitiv im Raum positioniert, d.h. „aufgestellt“. 217 Die<br />
Auswahl der Stellvertreter und das Aufstellen sollten konzentriert und zügig<br />
erfolgen, um ein authentisches Bild und keine kopflastig geplante Anordnung<br />
der Stellvertreter zu erhalten. Nachdem alle Stellvertreter im Raum angeordnet<br />
sind, bekommen diese Zeit, um sich in die Position einzufühlen und<br />
wahrzunehmen, welche Empfindungen sich zeigen. 218<br />
Im ersten Schritt lässt der Aufstellungsleiter das aufgestellte Bild wirken und<br />
achtet auf nonverbale Reaktionen der Stellvertreter. Im nächsten Schritt werden<br />
die jeweiligen Empfindungen und das Erleben der Situation bei den<br />
Stellvertretern abgefragt. 219 Typische Wahrnehmungen und Äußerungen <strong>von</strong><br />
Stellvertretern im Aufstellungsprozess werden in Abbildung 10 beschrieben.<br />
214 Vgl. Gminder (2005) S. 63<br />
215 Vgl. Erb (2001) S. 32 f.<br />
216 Vgl. Weber (2000) S. 45<br />
217 Vgl. Ameln v., Kramer (2007) S. 285 f.<br />
218 Vgl. Weber (2000) S. 46, Erb (2001) S. 36<br />
219 Vgl. Horn, Brick (2001) S. 47
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 50<br />
Abbildung 10: Wahrnehmungen <strong>von</strong> Stellvertretern in Aufstellungen. Vgl. Gminder (2005)<br />
S. 23<br />
Die Wahrnehmungen der Stellvertreter 220 dienen <strong>als</strong> Seismograph, um die<br />
Dynamiken im System deutlich zu machen. Unter Berücksichtigung der<br />
nonverbalen und verbalen Aspekte, die sich im Ausgangsbild zeigen, wird zur<br />
Stellungs- und Prozessarbeit übergegangen. 221<br />
Stellungs- und Prozessarbeit<br />
Ausgehend vom Anfangsbild, werden durch Umstellungen der Stellvertreter,<br />
durch Dazustellen <strong>von</strong> Systemteilnehmern und durch sprachliche Interaktionen,<br />
Veränderungen initiiert, um die Befindlichkeit der Stellvertreter zu verbessern.<br />
Indem die aufgestellten Stellvertreter ihre Veränderungs- oder Dialogwünsche<br />
dem Aufstellungsleiter kommunizieren und selbst ausführen können, wird die<br />
Selbstorganisation des Systems umgesetzt. 222<br />
Bei der Stellungsarbeit geht es darum zu unterscheiden, welche Reaktionen<br />
beispielsweise bestimmte Umstellungen auslösen. Stellvertreter, die die<br />
Position des Chefs in der Aufstellung einnehmen, fühlen sich auf dem Platz<br />
rechts <strong>von</strong> ihren Mitarbeitern meist besser, weil dies dem für sie adäquaten<br />
Platz entspricht. Weitere Interventionen seitens des Aufstellungsleiters<br />
220 Die Besonderheit des Körpers <strong>als</strong> systemisches Wahrnehmungsorgan wird im Anhang näher<br />
erläutert.<br />
221 Vgl. Horn, Brick (2001) S. 50<br />
222 Vgl. Gminder (2005) S. 66
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 51<br />
bestehen in angebotenen Gesten und klärenden Sätzen, um alte<br />
gewohnheitsmäßige Vorstellungen loszulassen sowie um zu<br />
Lösungsbewegungen zu kommen. 223 Einen Überblick über klärende Sätze,<br />
bietet Abbildung 11:<br />
Abbildung 11: Klärende Sätze im Aufstellungsprozess. Vgl. Gminder (2005) S. 26 f.<br />
Der Aufstellungsleiter formuliert solche, aus seiner Perspektive, entlastenden<br />
Sätze, welche ein verbales Angebot darstellen. Die Stellvertreter prüfen, ob die<br />
Formulierungen für sie stimmig sind, bzw. ihrer Wahrnehmung entsprechen,<br />
bevor die Sätze übernommen werden. Durch das verbale und nonverbale<br />
Feedback der Stellvertreter, sucht der Aufstellungsleiter eine „richtige Ordnung“<br />
für das System. Diese ist dann erreicht, wenn alle Stellvertreter auf Plätzen<br />
stehen, die sie für stimmig erachten. 224<br />
Einige Aufsteller wie WEBER orientieren sich bei ihren Beobachtungen des<br />
Aufstellungsprozesses an systemischen Ordnungsprinzipien (vgl. Kapitel 3.2.2).<br />
WEBER versteht die Prinzipien <strong>als</strong> Leitlinien, die dem Aufstellungsleiter zu einem<br />
Lösungsbild 225 verhelfen können und im Einklang mit Rückmeldungen der<br />
Stellvertreter und des Gesamtsystems stehen sollen. Das Vorgehen des<br />
223<br />
Vgl. Weber (2000) S. 50 ff., Erb (2001) S. 38 f., Sparrer (2000) S. 99<br />
224<br />
Vgl. Horn, Brick (2001) S. 51<br />
225<br />
Die Frage, ob systemische Grundannahmen bei der Entwicklung einer Lösung eine zentrale<br />
Rolle spielen, untersuchte Lehmann in einer Studie. Die Untersuchungsrundlage bildeten<br />
über 50 Aufstellungen mit unterschiedlichen Personengruppen. Die Ergebnisse der Studie<br />
belegen, dass die Aufstellungsleiter mit 43 % den systemischen Grundsätzen eine hohe<br />
Bedeutung beimessen. Die Studie bekräftigt die Annahme, dass die „Grammatik“ <strong>von</strong><br />
Organisationsaufstellungen der Lösungsentwicklung dient und es ermöglicht bestimmte<br />
Muster im Aufstellungsprozess zu verdeutlichen. Vgl. Lehmann (2006) S. 80 f. und S. 183
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 52<br />
Aufstellungsleiters ist, auch wenn er wiederkehrende Muster erkennt, „ein<br />
tastendes Probehandeln im Dunkeln“, da jedes System und natürlich auch jeder<br />
Aufstellungsleiter verschieden ist. 226<br />
Lösungsbild<br />
Die Stellungsarbeit wird beendet, wenn der Klient hinsichtlich seines Anliegens<br />
über genügend „erhellende“ Informationen verfügt, bzw. eine neue Perspektive<br />
für seine Situation bekommt. Dabei ist es wichtig, einen guten Zeitpunkt für die<br />
Beendigung der Prozessarbeit zu finden, um die Aufstellung nicht zu<br />
„zerfasern“. Für den Klienten besteht gegen Ende der Aufstellung die<br />
Möglichkeit, sich selbst ins Lösungsbild zu stellen, d.h. der Stellvertreter wird<br />
abgelöst und der Aufstellende steht an dessen Position. Manchmal ist es für<br />
den Klienten allerdings zu viel, den eigenen Platz einzunehmen, weil sehr tief<br />
gearbeitet wurde und die Lösungsschritte noch nicht selbst vollzogen werden<br />
können. Dann genügt es, die Situation <strong>von</strong> außen mitzubekommen. Dem<br />
Aufstellungsleiter kommt in dieser Phase eine besondere Rolle zu, da er intuitiv<br />
und unter Berücksichtigung des bereits erarbeiteten abwägen muss, was<br />
sinnvoll für den Klienten ist. 227<br />
Zum Schluss der Aufstellungsarbeit legen die Stellvertreter ihre repräsentierten<br />
Rollen wieder ab. In der Praxis spricht man bei diesem Vorgang vom<br />
„Entrollen“, welcher auf verschiedene Art und Weisen ausgeführt werden kann.<br />
Der Stellvertreter kann z.B. an die frische Luft gehen, sich bewusst aktiv<br />
bewegen oder die Rolle - im wahrsten Sinne des Wortes - <strong>von</strong> sich<br />
abzustreifen. ERB empfiehlt, sich nach der Aufstellungsarbeit bei den<br />
Stellvertretern zu bedanken mit den Worten: „und die Repräsentanten entrollen<br />
sich wieder gut und gehen ins eigene Leben zurück.“ 228<br />
Abschluss und Transfer<br />
In der Literatur wird der Abschluss und der Transfer des Lösungsbildes in den<br />
Organisationsalltag wenig thematisiert und es herrscht keine einheitliche<br />
Meinung, ob und in welcher Form Nachbesprechungen statt finden sollen. 229 Je<br />
226 Vgl. Weber (2000) S. 50 f.<br />
227 Vgl. Weber (2000) S. 59 f., Vgl. Erb (2001) S. 41<br />
228 Vgl. Erb (2001) S. 42 f., Gminder (2005) S. 28<br />
229 Vgl. Gminder (2005) S. 28
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 53<br />
nach Aufstellungsverlauf kann es entweder sinnvoll sein nicht über das erlebte<br />
zu sprechen oder im Dialog mit Klient und Stellvertreter, Beobachtungen und<br />
wichtige Rückmeldungen auszutauschen. 230 Das Grundprinzip <strong>von</strong> WEBER<br />
bezüglich der Besprechung nach offenen Aufstellungsseminaren ist: „Anstoßen<br />
statt Durcharbeiten.“ 231 Andere Aufsteller wie ROSSELET ET AL verdichten die<br />
Eindrücke aus Management Constellations im Rahmen eines Dialogs.<br />
Eindrücke der Teilnehmer können so „vergemeinschaftet“ und erste<br />
Umsetzungsschritte überdacht bzw. festgehalten werden. 232<br />
4.5 Die Umsetzung vom Lösungsbild zum Lösungsweg<br />
Der Aufstellungsprozess einer Organisationsaufstellung ist zwar mit dem<br />
Lösungsbild beendet, doch stellt sich die Frage wie diese möglichen Lösungen<br />
nun in der Realwelt verwirklicht werden können. SPARRER führt vier<br />
Voraussetzungen und Gegebenheiten an, damit Aufstellungen ihre Wirkung<br />
entfalten können:<br />
- Anschlussfähigkeit der Lösung: Die im Aufstellungsprozess<br />
gefundene Lösung soll dem „Gegebenen“, d.h. der Ausgangssituation<br />
ähnlich sein. 233 Um neue Lösungsmöglichkeiten in Organisationen<br />
erfolgreich einzubetten, müssen diese kompatibel zu bestehenden<br />
Wirklichkeitskonstruktionen des Unternehmens sein und in den Rahmen<br />
der konstruierten Wirklichkeit passen. 234<br />
- Wahrnehmbarkeit der Lösung: Der Klient muss die Lösung<br />
wahrnehmen und sich an die Prozessarbeit der Aufstellung erinnern<br />
können. 235 SPARRER spricht den Aspekt der Erfahrungsqualität <strong>von</strong><br />
Aufstellungen an, den auch SCHLÖTTER für wichtig erachtet. „Der Mensch<br />
lernt hauptsächlich aus Erfahrung, mehr <strong>als</strong> nur aus Worten.“ 236<br />
230 Vgl. Erb (2001) S. 43 f.<br />
231 Vgl. Weber (2000) S. 61<br />
232 Vgl. Rosselet, Senoner, Lingg (2007) S. 223<br />
233 Vgl. Sparrer (2000) S. 121 f.<br />
234 Vgl. Gminder (2005) S. 54 f.<br />
235 Vgl. Sparrer (2000) S. 121 f.<br />
236 Vgl. Schlötter (2006) S. 153
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 54<br />
- Erinnerung an die Lösung: Um sich besser an das Lösungsbild<br />
erinnern zu können, schlägt SPARRER vor, nach der Aufstellung weitere<br />
Termine zu vereinbaren. 237 Diesen Ansatz greifen verschiedene<br />
Aufsteller (vgl. ASSLÄNDER; ROSSELET) auf, indem sie die Aufstellung in<br />
einen Interventionsprozess einbetten, bei dem Führungskräfte und<br />
Organisationen bei der Umsetzung der Lösung begleitet werden. 238<br />
- An- und Verwendung der Lösung: Der Klient sollte aus dem<br />
Lösungsbild selbst handeln und diese in den Alltag integrieren. 239 Dabei<br />
bleibt es dem Klient selbst überlassen, in wieweit er die Lösung umsetzt,<br />
seinen Zustand beibehält oder abändert. Aus systemtheoretischer Sicht<br />
kann kein System direktiv und planvoll in ein anderes eingreifen.<br />
Therapeuten und Berater ändern durch Interventionen damit kein<br />
System, sondern regen die Selbstbestimmung und Selbstveränderung<br />
an. GROTH und WIMMER schreiben dazu: „jede Veränderung muss<br />
Selbständerung sein.“ 240<br />
RÜEGG-STÜRM und SCHUMACHER setzt eine methodisch professionelle<br />
Unterstützung voraus, um den unternehmerischen Herausforderungen auf der<br />
Sach- und Beziehungsdimension zu begegnen. Es wäre umgekehrt allerdings<br />
„ein Fehlschuss zu glauben, dass sich aufgrund der Wirkmächtigkeit einer<br />
systemischen [Organisationsaufstellung] alle Probleme […] sozusagen <strong>von</strong><br />
selbst lösen können.“ 241 Solides Grundwissen in Sachen Management und<br />
Branchenkenntnisse sind wichtig und „geradezu unabdingbar“. Die<br />
Aufstellungsarbeit läuft ansonsten Gefahr, eine Umgebung des “happy people<br />
on a sinking boat“ zu schaffen, wenn Berater keine Grundkenntnisse auf der<br />
relevanten Sachebene (z.B. Kenntnisse zum strategischen Management)<br />
besitzen. Daher sollte der Methodenkoffer eines Beraters Praktiken und<br />
Werkzeuge beinhalten, die sowohl die Beziehungs- <strong>als</strong> auch die Sachebene<br />
bearbeiten können, um die Organisation zu begleiten. 242<br />
237<br />
Vgl. Sparrer (2000) S. 121 f.<br />
238<br />
Vgl. Auswertung Experteninterviews, Kapitel 6<br />
239<br />
Vgl. Sparrer (2000) S. 121 f.<br />
240<br />
Vgl. Groth, Wimmer (2004) S. 232 f.<br />
241<br />
Rüegg-Stürm, Schumacher (2007) S. 76<br />
242<br />
Vgl. Rüegg-Stürm, Schumacher (2007) S. 76 f.
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 55<br />
4.6 Das Spannungsfeld zwischen Konstruktion und Wunder<br />
Da es nach wie vor an schlüssigen Modellen zur Erklärung <strong>von</strong><br />
Aufstellungsphänomenen mangelt, vermuten viele Aufsteller „geheimnisvolle<br />
Kräfte“, die auf Stellvertreter in Aufstellungen einwirken und die, die<br />
Übereinstimmung zwischen Re<strong>als</strong>ystem und Aufstellung schaffen. GROTH merkt<br />
kritisch an, dass sich in der Semantik der Aufstellung vielleicht nur die<br />
„Hoffnung auf ein umfassendes Erklärungssystem, das Klient wie Berater <strong>von</strong><br />
Deutungslasten befreit“, zeigt. Seiner Einschätzung nach zu Folge, erscheint es<br />
zukunftsweisender: „die Methode konstruktivistisch zu wenden.“ 243<br />
Dieser Ansatz wird im folgenden Kapitel aufgegriffen, um die Aufstellungsarbeit<br />
durch die systemisch-konstruktivistische Brille zu betrachten. Zunächst wird<br />
dargestellt, welche Wirklichkeit im Aufstellungsprozess visualisiert und wie der<br />
Wahrheitsgrad einer Aufstellung zu bewerten ist.<br />
4.6.1 Die abgebildete Wirklichkeit in Organisationsaufstellungen<br />
Mit Hilfe der Aufstellungsarbeit ist es möglich, Zugang zu Aspekten der<br />
Wirklichkeit zu bekommen, die uns umgibt. 244 Eine Frage, die sich früher oder<br />
später stellt ist: welche Wirklichkeit wird mit Organisationsaufstellungen<br />
dargestellt?<br />
RÜEGG-STÜRM und SCHUMACHER greifen diese Frage auf und geben eine<br />
Antwort:<br />
Aus unserer Sicht wird […] weder die subjektive Realität der<br />
aufstellenden Person noch die objektive Realität des dargestellten<br />
Systems inszeniert [...] sondern vielmehr die Wirkung der<br />
Strukturmomente des fraglichen Systems. 245<br />
Die Wirkung der Strukturmomente, im Sinne einer latenten Struktur wird in der<br />
Art und Weise dargestellt, wie sie <strong>von</strong> der aufstellenden Person alltäglich<br />
erfahren, benutzt und reproduziert wird. 246 Der Zugang zu impliziten Strukturen<br />
hat im Sinne eines konstruktivistischen Verständnisses der<br />
Organisationsaufstellung nichts mit der Enthüllung <strong>von</strong> „objektiven“<br />
243 Vgl. Groth (2007) S. 83<br />
244 Vgl. Varga <strong>von</strong> Kibéd (2008) S. 26<br />
245 Rüegg-Stürm, Schumacher (2007) S. 66<br />
246 Vgl. Rüegg-Stürm, Schumaher (2007) S. 66
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 56<br />
Wirklichkeiten zu tun. Dazu passend die Aussage <strong>von</strong> FOERSTER: „Objektivität<br />
ist die Illusion, dass Beobachtungen ohne einen Beobachter gemacht werden<br />
können.“ 247<br />
Auch DAIMLER geht da<strong>von</strong> aus, dass die Bilder in Aufstellungen nicht objektiv<br />
sein können. Es gibt keine objektiv richtigen und f<strong>als</strong>chen Handlungsweisen,<br />
sondern allenfalls passendere und unpassendere. 248 Die Aussagen eines<br />
Beobachters bzw. dessen innere Bilder, die in ein externes Raumbild gebracht<br />
werden, sind durch die spezifische Wahrnehmung der Welt geprägt.<br />
Aufstellungen dürfen nicht <strong>als</strong> eine Art „Mikroskop oder Indizienbeweis“ für<br />
familiäre und berufliche Zusammenhänge verstanden werden. Auf der anderen<br />
Seite zeigen unzählige Aufstellungen eine verblüffende Übereinstimmung mit<br />
der Wirklichkeit des Klienten.<br />
Diese Diskrepanz erklärt die Systemische Strukturaufstellung, indem sie da<strong>von</strong><br />
ausgeht, dass innere Bilder in Aufstellungen in ein Raumbild gebracht werden,<br />
die über das offensichtlich bewusste hinausgehen. Die repräsentierende<br />
Wahrnehmung 249 , die unter geeigneten Bedingungen Zugang zum impliziten<br />
Wissen verschafft, wird <strong>von</strong> vielen Aufstellern <strong>als</strong> Erklärung herangezogen. 250<br />
4.6.2 Der Wahrheitsgehalt <strong>von</strong> Organisationsaufstellungen<br />
Die Organisationsaufstellung <strong>als</strong> Diagnosetool zur Lösungs- und<br />
Entscheidungsfindung muss sich, wie jedes andere Verfahren, irgendwann<br />
damit auseinandersetzen, wie hoch die Übereinstimmung der Aufstellungsbilder<br />
mit der Wirklichkeit ist. 251 Die Wissenschaft versagt hinsichtlich der Frage, wie<br />
wahr Organisationsaufstellungen sind, wenn man eine „naturwissenschaftlich<br />
geprägte Objektivität“ fordert. Betrachtet man beispielsweise eine Person, die<br />
eine bestimmte Situation aus seinem Arbeitszusammenhang erklärt, dann kann<br />
der Bericht über die Beziehungssituation niem<strong>als</strong> objektiv verifiziert oder<br />
f<strong>als</strong>ifiziert werden.<br />
247 Vgl. Rüegg-Stürm, Schumacher (2007) S. 79<br />
248 Vgl. Daimler (2008) S. 386 ff.<br />
249 Eine Charakterisierung der repräsentierenden Wahrnehmung befindet sich im Anhang.<br />
250 Vgl. Daimler, Sparrer, Varga <strong>von</strong> Kibéd (2008) S. 386 ff. u. Varga <strong>von</strong> Kibéd (2008) S. 26<br />
251 Vgl. Rosselet (2006) S. 57 f.
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 57<br />
Das gleiche gilt, wenn die Person die Situation mit der „räumlichen<br />
Zeichensprache“ darstellt. Es sind immer Beobachter und subjektive<br />
Interpretationen notwendig, um eine Bewertung vorzunehmen. Man muss sich<br />
<strong>als</strong>o auf subjektive Wahrnehmungen berufen, wenn man<br />
Beziehungszusammenhänge in Organisationen bearbeiten will. 252 VARGA VON<br />
KIBED betont, dass die Bilder, die durch Aufstellungen visualisiert werden, nur<br />
„Modellsysteme“ erzeugen.<br />
Wir sehen ein Bild aus der inneren Landschaft unserer KlientInnen<br />
und vielleicht noch einiges darüber hinaus, aber wir können niem<strong>als</strong><br />
behaupten, dass das „die Wahrheit über das dargestellte System“<br />
sei. 253<br />
Anders ausgedrückt geht es um das „Erfahrungswissen“, welches unsichtbar ist<br />
und sich erst im tatsächlichen Vollzug einer Handlung manifestiert. Durch den<br />
Aufstellungsprozess wird dieses Erfahrungswissen sichtbar gemacht, allerdings<br />
darf das Abbild der Erfahrung keineswegs mit der eigentlichen Erfahrung<br />
verwechselt werden. ROSSELET macht dies deutlich durch die Analogie: „Die<br />
Spur im Schnee ist nicht das flüchtende Tier […].“ 254 Der „geübte Fährtenleser“<br />
d.h. der Berater, kann aus dem Lösungsbild einer Aufstellung viel über das<br />
System, das den Abdruck hinterlassen hat, herauslesen. 255<br />
Zum Erfahrungswissen bzw. der Erfahrungsvalidität aus Aufstellungen<br />
existieren verschiedene wissenschaftliche Studien. LEHMANN untersuchte<br />
beispielsweise in einer Forschungsfrage zur Dissertation, in wie weit das durch<br />
Aufstellungen dargestellte Systemwissen mit der erlebten Wirklichkeit der<br />
Klienten übereinstimmt. Die untersuchten Aufstellungskonstellationen stimmten<br />
in hohem Maße (durchschnittlich bei 8 Punkten auf einer Skala <strong>von</strong> 1-10) mit<br />
der erlebten Wirklichkeit der Klienten überein. Weiterhin zeigte sich eine große<br />
Übereinstimmung mit den Stellvertretern (7-8 Punkte auf einer Skala <strong>von</strong> 1-10).<br />
LEHMANN bezeichnet die Aufstellung daher <strong>als</strong> „lebensnahes<br />
Simulationsmodell.“ 256<br />
252 Vgl. Schlötter (2006) S. 151 f.<br />
253 Varga <strong>von</strong> Kibéd (2008) S. 31<br />
254 Vgl. Rosselet (2007) S. 57<br />
255 Vgl. Rosselet (2007) S. 57 f.<br />
256 Vgl. Lehmann (2006) S. 171
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 58<br />
Auch SCHLÖTTER führte im Rahmen seiner Dissertation eine empirische Studie<br />
durch. Er untersuchte die Semantik <strong>von</strong> systemischen Aufstellungen mit fast<br />
4000 Einzelversuchen und 250 Personen. Die hohe wissenschaftliche Relevanz<br />
der Forschungsleistung <strong>von</strong> SCHLÖTTER drückt SIMON in einem Kommentar zur<br />
Studie folgendermaßen aus: „Der Autor hat ein Versuchsdesign entwickelt, das<br />
den Anspruch erhebt, sich in seiner Härte an naturwissenschaftlichen<br />
Standards messen lassen zu können.“ 257<br />
SCHLÖTTER belegt in seiner Studie, 258 dass Systemaufstellungen „kein<br />
Zufallsprodukt“ sind. Er untersuchte, dass die Wahrnehmung der Stellvertreter<br />
einer gewissen Semantik folgt, die mit einer Sprache zu vergleichen ist. Die<br />
Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass Wahrnehmungsäußerungen der<br />
Stellvertreter mit denen des Klienten mit hoher Signifikanz überstimmen.<br />
SCHLÖTTER betont allerdings, dass diese nicht zwangsläufig übereinstimmen<br />
müssen. Einzelne Äußerungen im Aufstellungsprozess können <strong>als</strong> etwas<br />
tatsächlich „Gesagtes“ definiert werden (vgl. 2.2.1). Ob die Äußerungen<br />
allerdings mit der Wahrheit korrespondieren, das kann höchstens im und für<br />
einen Einzelfall verifiziert werden. Letztlich kann nur der „Urheber“ selbst, d.h.<br />
der Klient, der sein Anliegen aufstellt, <strong>als</strong> maßgebliche Wahrheitsinstanz gelten.<br />
Nur der Klient kann bestenfalls entscheiden welches Wissen er annimmt und<br />
welches er <strong>als</strong> unzutreffend ablehnt. 259<br />
Um die etymologische Wortherkunft des Begriffs Wahrheit (Wahrheit = „richtige<br />
Erkenntnis“) an dieser Stelle abschließend anzuführen, bedeutet dies, nur der<br />
Klient kann entscheiden, welche Wahrheit bzw. „richtige Erkenntnis“ er für sich<br />
selbst <strong>als</strong> stimmig erachtet.<br />
In Kapitel 2.2.3 wurde der Konstruktivismus allgemein auf Organisationen<br />
bezogen. Im folgenden Abschnitt soll die Bedeutung des Konstruktivismus<br />
speziell für die Organisationsaufstellung dargelegt werden.<br />
257 Simon zur Forschungsarbeit <strong>von</strong> Schlötter http://www.p-schloetter.de<br />
258 Film zur Studie: http://www.p-schloetter.de<br />
259 Vgl. Schlötter (2005) S. 197 ff.
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 59<br />
4.6.3 Konstruktivistische Aspekte im Aufstellungsprozess<br />
Der Aufstellungsprozess (vgl. Kapitel 4.4) wird <strong>von</strong> einigen Aufstellern wie<br />
beispielsweise WEBER, <strong>als</strong> „professionelles Übergangsritual“ beschrieben. 260<br />
Andere Aufsteller lehnen solch eine ritualisierte Haltung ab. Sie gestalten die<br />
Aufstellung mehr <strong>als</strong> „offenen Erkenntnisprozess“ und vergleichen die<br />
Aufstellungsarbeit mit „konstruktivistische Laboratorien, die öffnend wirken,<br />
indem sie Reflektionsmöglichkeiten und Irritationen zur Umschreibung <strong>von</strong><br />
Wirklichkeitskonstruktionen zulassen.“ 261<br />
LAMES und KRAMER begründen ihre Haltung u.a. dadurch, dass<br />
Organisationsaufstellungen in einem sozialen Kontext stattfinden. Neben der<br />
Dynamik des Klienten und der Beratungssituation, beeinflusst auch der<br />
Aufstellungsleiter den Aufstellungsprozess und das Ergebnis. Die<br />
Entscheidungen des Aufstellungsleiters sind durch eigene Werthaltungen,<br />
Erfahrungen und „blinder Flecken“ geprägt. Dadurch können unbewusst<br />
bestimmte Aufstellungskonstellationen hergestellt oder vermieden werden.<br />
Aufstellungen sollten daher <strong>als</strong> „reflektionsbedürftige Konstruktion“ betrachtet<br />
werden. 262<br />
Auch GROTH ist kritisch eingestellt in Bezug auf die Unterstellung, es gäbe<br />
direkte Kopplungen, die belegen, dass die Aufstellung quasi ein objektives<br />
Bedingungsgefüge bzw. „Übergangsritual“ sei. Betrachtet man den<br />
Aufstellungsprozess mit der systemisch-konstruktivistischen „Brille“, dann<br />
werden feste Erklärungsmuster gelockert und man erhält „statt objektiver<br />
Kausalität eine konstruierte Kausalität.“ 263 Diese konstruierten Kausalitäten<br />
bzw. konstruktivistischen Aspekte im Aufstellungsprozess werden nun,<br />
angefangen <strong>von</strong> der Ausgangssituation bis hin zum Abschlussbild, dargestellt:<br />
Ausgangsbild<br />
Das Ausgangs – bzw. Problembild zeigt konstruktivistische Eigenschaften, da<br />
ein Problem darauf begründet ist, wie wir dieses interpretieren und in Bezug<br />
260<br />
Vgl. Weber (1995) zit. in Lames, Kramer (2007) S. 300<br />
261<br />
Vgl. Ameln, Kramer (2007) S. 300<br />
262<br />
Vgl. Lames, Kramer (2007) S. 300<br />
263<br />
Vgl. Groth (2007) S. 85
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 60<br />
setzen. Das Problem an sich stellt noch im eigentlichen Sinne keines dar. 264<br />
Das Ausgangsbild ist daher kein reales Abbild der bestehenden Wirklichkeit,<br />
sondern vielmehr eine konstruierte Realität des Klienten. Ein Problem oder<br />
Konflikt kann <strong>von</strong> verschiedenen Personen gänzlich unterschiedlich verstanden<br />
und interpretiert werden. Aus diesen individuell geprägten<br />
Wahrnehmungsperspektiven entstehen unterschiedliche<br />
Wirklichkeitskonstruktionen und Aufstellungsbilder. 265<br />
Im Sinne der<br />
systemischen Strukturaufstellungen geht man daher „<strong>von</strong> der Welt [der]<br />
KlientInnen aus und übernimmt ihre Definition der Wirklichkeit und damit des<br />
Problems.“ 266<br />
Stellungs- und Prozessarbeit<br />
Durch die Aufstellungsarbeit wird ausgehend <strong>von</strong> der Problemsituation hin zur<br />
Lösungssituation eine „neue Systemwirklichkeit“ gestaltet und diese<br />
simuliert.“ 267 Es gibt immer mehrere Lösungen in einer Aufstellung und es geht<br />
darum, die „Wahlmöglichkeiten zu nehmen.“ 268 Die mögliche Lösung ist auch<br />
nicht <strong>als</strong> ultimativ anzusehen, sondern steht am Anfang eines neuen<br />
Prozesses. SPARRER drückt dies konstruktivistisch „<strong>als</strong> Beginn einer neuen<br />
Konstruktion der Wirklichkeit“ aus. 269<br />
Abschlussbild<br />
Die neue Wirklichkeitskonstruktion, die sich durch den Aufstellungsprozess<br />
ergeben hat, ist ein Angebot für den Aufstellenden, eine „veränderte<br />
Systemkonstruktion“ zu verinnerlichen und damit in den Alltag zurückzukehren.<br />
Sie stellt eine Möglichkeit dar, veränderte und neue Realitäten zu schaffen und<br />
in Arbeitskontexte einzubringen. 270 Durch den Aufstellungsprozess und die<br />
Möglichkeit eine Beobachterposition einzunehmen, wird die<br />
„Wirklichkeitsvorstellung“ des Klienten erweitert und er erhält Gelegenheit, eine<br />
umfassendere Sichtweise zu entwickeln. 271<br />
264 Vgl. Sparrer (2001) S. 85 ff.<br />
265 Vgl. Gminder (2005) S. 55<br />
266 Vgl. Daimler (2008) S. 387<br />
267 Vgl. Gminder (2005) S. 55<br />
268 Vgl. Daimler (2008) S. 388<br />
269 Vgl. Sparrer (2001) S. 85 ff.<br />
270 Vgl. Gminder (2005) S. 55 ff.<br />
271 Vgl. Daimler (2008) S. 388
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 61<br />
Abbildung 12 dient abschließend und zusammenfassend zur Verdeutlichung<br />
einer systemisch-konstruktivistisch orientierten Aufstellungsarbeit.<br />
Abbildung 12: Systemisch-konstruktivistische Aufstellungsarbeit. Eigene Darstellung nach<br />
Simon (2005) S. 64 f. und Ameln, Kramer (2007) S. 280<br />
4.7 Die Wirklichkeit <strong>von</strong> morgen<br />
Die Organisationsaufstellung stellt inzwischen eine etablierte<br />
Interventionsmethode in sozialen Systemen dar und setzt sich immer mehr in<br />
der Beratung <strong>von</strong> Unternehmen durch. Die Zeiten, in denen die<br />
Aufstellungsarbeit diskreditierend <strong>als</strong> Humbug bezeichnet wurde, sind vorbei. 272<br />
Diese Meinung <strong>von</strong> GROTH und STEY lässt sich durch die Ergebnisse der<br />
INFOSYON Fachtagung <strong>von</strong> 2008 bestätigen. Die Tagung hat eine Entwicklung<br />
klar aufgezeigt: „Systemaufstellungen in Organisationen haben mittlerweile ein<br />
eigenständiges professionelles Profil entwickelt.“ 273 Es geht nicht mehr nur<br />
darum, die Methode und ihre Potentiale bekannt zu machen. Heute steht die<br />
Frage im Vordergrund, in welchen Kontexten und auf welche Art und Weise<br />
Aufstellungen in Organisationen erfolgreich eingesetzt werden können.<br />
Neben der Einbindung der Aufstellungsarbeit in vertraute Bereiche, wie dem<br />
Coaching, hat es sich <strong>als</strong> besonders wirkungsvoll und zukunftsweisend<br />
272 Vgl. Groth, Stey (2007) S. 7 + S. 81<br />
273 Vgl. INFOSYON Tagungsbericht (2008) http://www.infosyon.com/fachtagung.html
4. Die Organisationsaufstellung – Wirklichkeit ins Bild bringen 62<br />
erwiesen, Aufstellungen in laufende Organisationsprozesse zu integrieren und<br />
mit Managementmethoden zu verknüpfen. Faktenorierentierte Kernbereiche wie<br />
das Projektmanagement, können genauso wie die „lernende Organisation“,<br />
Themen sein, in denen die Aufstellungsarbeit in Zukunft miteinbezogen werden<br />
kann. 274<br />
Obwohl die ersten Schritte zur Professionalisierung getan sind, gibt es auch in<br />
Zukunft weiteren Professionalisierungsbedarf in Bezug auf die Methode. Damit<br />
die Organisationsaufstellung ihre „bisherige Nischenexistenz“ verlassen kann,<br />
ist es für GROTH erfolgsentscheidend: „eine für Unternehmenskontexte<br />
anschlussfähige Konzeption und Sprache zu entwickeln […] und <strong>von</strong><br />
mystischen Anklängen, Heilsversprechen oder auch Vorstellungen einer ‚guten<br />
Ordnung‘ abzukommen.“ 275<br />
Auch für STEY liegt die Zukunft der Professionalisierung darin, <strong>von</strong> der<br />
fachlichen Fokussierung der Systemaufstellung <strong>als</strong> Methode der<br />
Familientherapie, Abstand zu nehmen. Das schränkt die Brauchbarkeit für<br />
Klienten ein. Vielmehr müssen konkrete Organisationsphänomene in einer<br />
verständlichen Sprache beschrieben werden, um sie differenziert beobachten<br />
zu können und damit wirksame Interventionen zu erzielen. Möglicherweise<br />
entwickeln sich durch zukünftige Erklärungsmodelle der Systemaufstellung<br />
weitere Beschreibungsformen für organisationale Systeme wie beispielsweise<br />
„eine Phänomenologie <strong>von</strong> Organisationsstrukturen“. 276<br />
274 Vgl. INFOSYON Tagungsbericht (2008)<br />
275 Vgl. Groth (2007) S. 93<br />
276 Vgl. Stey (2007a) S. 187
5. Untersuchungsmethodik 63<br />
5. Untersuchungsmethodik<br />
In den nächsten Kapiteln wird die zugrunde gelegte Untersuchungsmethodik<br />
der Arbeit, verbunden mit der Zielsetzung der Erhebung und der<br />
Hypothesenbildung, dargestellt. Anschließend folgen einige Ausführungen zum<br />
methodischen Vorgehen und der angewandten Erhebungsmethode. Die<br />
Durchführung der Untersuchung und die Beschreibung der Datenauswertung<br />
schließen den Methodikteil ab.<br />
5.1 Zielsetzung und Hypothesenbildung<br />
Die Zielsetzung der Erhebung bestand darin, die bestehenden Gedanken zur<br />
Arbeit mit Meinungen <strong>von</strong> Experten aus der Praxis zu ergänzen. Zur<br />
Vorbereitung auf die Erhebung wurden Hypothesen 277 formuliert, die auf der<br />
Literatur, informellen Gesprächen mit Organisationsaufstellern und den<br />
Ergebnissen der Vorabrecherche basierten. Folgende Hypothesen bildeten das<br />
dahinterliegende Grundgerüst für die Leitfadenerstellung zum<br />
Experteninterview.<br />
1. Hypothese: Wenn sich die Organisationsaufstellung <strong>als</strong> Methode etablieren<br />
will, dann kann der systemisch-konstruktivistische Ansatz dazu maßgeblich, im<br />
Sinne eines passenden Erklärungsmodells für Organisationen, beitragen.<br />
2. Hypothese: Je stärker die Fokussierung auf systemische<br />
Ordnungsprinzipien, die Organisationen zu Grunde gelegt werden, desto höher<br />
ist die Gefahr einer schematisierten Anwendung <strong>von</strong><br />
Organisationsaufstellungen.<br />
3. Hypothese: Je weiter die Entwicklung der Organisationsaufstellung<br />
voranschreitet, desto verstärkter wird die Methode organisationsintern mit den<br />
Systemteilnehmern angewendet.<br />
4. Hypothese: Wenn Organisationen <strong>als</strong> Selbstorganisierende soziale Systeme<br />
gesehen werden, dann können diese die Lösungsbilder einer Aufstellung selbst<br />
umsetzen.<br />
277 Hypothesen können <strong>als</strong> „theoretisch abgeleitete, noch unüberprüfte bzw. noch nicht<br />
widerlegte Vermutungen darüber, wie sich der gesuchte Sachverhalt darstellen könnte“<br />
definiert werden. Vgl. Näf, Mieg (2005) S. 12
5. Untersuchungsmethodik 64<br />
5.2 Beschreibung der angewandten Erhebungsmethode<br />
Im folgenden Teil wird auf die Erhebungsmethode des leitfadenorientierten<br />
Experteninterviews eingegangen. Dabei werden explizit die Bedeutung des<br />
Leitfadens in der Befragung und die Rolle des Experten vorgenommen. Zum<br />
Schluss folgt eine kritische Betrachtung der Befragungsmethode, um diese<br />
methodisch einordnen zu können.<br />
5.2.1 Das leitfadenorientierte Experteninterview<br />
Das Experteninterview zählt zu den qualitativen und informatorischen<br />
Interviews, welche mündlich und schriftlich durchgeführt werden können, um<br />
bereichsspezifische Wissensbestände zu erfassen. In dieser Interviewform gilt<br />
der Befragte <strong>als</strong> Experte und Informationslieferant für Sachgebiete, die den<br />
Forscher interessieren. 278 Die Besonderheit zu anderen Interviewformen<br />
besteht darin, dass nicht die Gesamtperson und dessen Lebenszusammenhang<br />
im Forschungsinteresse stehen. Es werden nur bestimmte Ausschnitte, die mit<br />
dem Gegenstand der Analyse zusammenhängen, erfragt. 279<br />
Das Experteninterview kann wiederum in verschiedene Typen unterteilt werden,<br />
die in der Literatur variiert dargestellt werden. Für die in dieser Arbeit verfolgten<br />
Zwecke erscheint es am sinnvollsten, auf die Typologie <strong>von</strong> MEUSER und NAGEL<br />
zurückzugreifen. Sie differenzieren zwischen zwei Arten <strong>von</strong> Wissen, welches<br />
erfragt werden kann. Der erste Fall bezeichnet das erhobene Erfahrungswissen<br />
<strong>als</strong> „Betriebswissen“, bei dem die Experten die Zielgruppe der Untersuchung<br />
bilden und Auskunft über ihr eigenes Handlungsfeld geben. Im zweiten Fall<br />
repräsentieren die Experten „eine zur Zielgruppe komplementäre<br />
Handlungseinheit“. Die Interviews zielen darauf ab: „Informationen über die<br />
Kontextbedingungen des Handelns der Zielgruppe zu liefern.“, d.h. sie<br />
generieren „Kontextwissen.“ 280<br />
Ungeachtet der Typologisierung benötigt jedes Experteninterview eine gewisse<br />
Vorbereitung seitens des Interviewers. MIEG und NÄF setzen beispielsweise<br />
278 Vgl. Lamnek (2005) S. 333<br />
279 Vgl. Meuser, Nagel (2005) S. 72<br />
280 Vgl. Meuser, Nagel (2005) S. 75 f.
5. Untersuchungsmethodik 65<br />
voraus, sich mit dem Fachgebiet (Fachausdrücke, Forschung etc.) der<br />
Befragung vertraut zu machen, sich über das eigene Forschungsinteresse klar<br />
zu werden und einen konkreten Leitfaden zu erstellen. 281<br />
5.2.2 Die Funktion des Leitfadens<br />
Unter dem Begriff „Leitfaden“ versteht man ein mehr oder weniger grob<br />
strukturiertes Frageschema, mit allen Themen- und Frageblöcken. Der<br />
Leitfaden soll Orientierung bieten, wie die Frageblöcke eingeleitet werden bzw.<br />
wie die Überleitungen erfolgen. 282 Der Aufbau des Leitfadens wird in der<br />
Literatur auf verschiedene Art und Weise dargestellt. MIEG und NÄF schlagen<br />
vor, den Leitfaden mit Einstiegsfragen zu beginnen, gefolgt <strong>von</strong> einem Hauptteil<br />
mit Fragen zu den Themenblöcken und dem Abschluss, verbunden mit einem<br />
Aus- und Rückblick. 283<br />
Bei der Formulierung der Fragen sollten bestimmte „Faustregeln“, wie das<br />
Vortesten der Fragen auf Verständlichkeit und Relevanz eingehalten werden.<br />
Die Fragen sollen einfache Wörter enthalten, offen, präzise und neutral<br />
formuliert werden, keine doppelten Negationen beinhalten und keine bestimmte<br />
Beantwortung provozieren. 284<br />
Dem Leitfaden kommt bei der eigentlichen Durchführung der Befragung eine<br />
zentrale Bedeutung zu. Er wird dem Experten und dem Interesse des<br />
Interviewers, der seinen Fokus auf ein begrenztes Themengebiet lenkt,<br />
gleichermaßen gerecht. Durch die Erstellung des Leitfadens im Vorfeld wird<br />
gewährleistet, dass der Interviewer <strong>als</strong> kompetent dargestellt wird. Die<br />
Orientierung am Leitfaden ermöglicht zudem die Konzentration auf die<br />
Interviewthemen und schließt weitestgehend aus, dass sich das Interview in<br />
Aspekten verliert, die nichts mit dem Gegenstand der Befragung zu tun<br />
haben. 285<br />
281 Vgl. Mieg, Näf (2005) S. 10<br />
282 Vgl. Mieg, Näf (2005) S. 14<br />
283 Vgl. Mieg, Näf (2005) S. 15 f.<br />
284 Vgl. Atteslander (2006) S. 146<br />
285 Vgl. Meuser, Nagel (2005) S.77
5. Untersuchungsmethodik 66<br />
Die vorformulierten Fragen des Leitfadens schaffen dabei eine gewisse Struktur<br />
bzw. geben einen Rahmen, in dem das Gespräch stattfinden soll. Gleichzeitig<br />
kann die Reihenfolge und die Formulierung der Fragen individuell dem<br />
Gesprächsverlauf und der Sprache des Experten angepasst werden, was eine<br />
offene Gesprächssituation schafft. 286 Den Sichtweisen des Interviewten wird bei<br />
der Gesprächsführung dadurch mehr Beachtung geschenkt. 287 Im Hinblick auf<br />
die spätere Datenerhebung ermöglicht der Leitfaden die Vergleichbarkeit der<br />
Äußerungen aus verschiedenen Interviews. 288<br />
5.2.3 Abgrenzung des Expertenbegriffs<br />
In der sozialwissenschaftlichen Literatur herrscht keine Übereinstimmung, wer<br />
und was Experten sind. Als zentrale Elemente zur Feststellung <strong>von</strong><br />
Expertenkompetenz können die Bereichsabhängigkeit der Experten und die<br />
langjährige Erfahrung genannt werden. MIEG und NÄF verstehen unter einem<br />
Experten, im Zusammenhang mit Experteninterviews, eine Person: „der/die<br />
aufgrund langjähriger Erfahrung über bereichsspezifisches Wissen/Können<br />
verfügt.“ 289 Für BOGNER und MENZ ist der Begriff Experte folgendermaßen<br />
umschrieben:<br />
Der Experte verfügt über technisches, Prozess- und<br />
Deutungswissen, das sich auf sein spezifisches professionelles oder<br />
berufliches Handlungsfeld bezieht. Insofern besteht das<br />
Expertenwissen nicht allein aus systematisiertem, reflexiv<br />
zugänglichem Fach- oder Sonderwissen, sondern es weist zu großen<br />
Teilen den Charakter <strong>von</strong> Praxis- oder Handlungswissen auf […].<br />
Das Wissen des Experten, seine Handlungsorientierungen,<br />
Relevanzen usw. weisen zudem die Chance […] zur (zumindest<br />
partiellen) Durchsetzung seiner Orientierungen […]. 290<br />
Der Begriff des Experten ist konstruktivistisch umschrieben ein „relationaler<br />
Status“, d.h. es wird sich auf die Experten bezogen, die selbst Teil des<br />
Handlungsfeldes sind, das die Erhebung ausmacht. Der Status des Experten, in<br />
Bezug auf eine konkrete Fragestellung, kann durch den Interviewer in diesem<br />
Sinne in Form einer Zuschreibung verliehen werden. 291 Die vorgenommene<br />
286 Vgl. Lamnek (2005) S. 352 f.<br />
287 Flick (2007) S. 194<br />
288 Vgl. Meuser, Nagel (2005) S.77<br />
289 Vgl. Mief, Näg (2005) S. 6 f.<br />
290 Bogner, Menz (2005) S. 46<br />
291 Vgl. Meuser, Nagel 2005 S. 73
5. Untersuchungsmethodik 67<br />
Definitionsabgrenzung dient dazu, einen häufigen Fehler beim<br />
Experteninterview zu vermeiden: nämlich Personen <strong>als</strong> Experten zu<br />
identifizieren, die zu einem bestimmten Sachverhalt zwar eine Meinung, aber<br />
keine Erfahrung haben. 292<br />
5.2.4 Kritische Betrachtung der Interviewform<br />
Das Experteninterview ist ein Paradebeispiel, dass die Alltagspraxis der<br />
Sozialforschung und deren methodische Ausarbeitung und Weiterentwicklung<br />
nicht immer parallel verlaufen. Die Anwendung des Experteninterviews ist in der<br />
Praxis zwar weit verbreitet; Literatur ist dazu im Gegensatz dazu, aber nur<br />
spärlich vorhanden. 293 MENZ und BOGNER erklären die unterentwickelte<br />
Methodenreflexion damit, dass die Stärken und Vorteile dieser Befragungsform<br />
zu wenig Beachtung und Anerkennung finden. 294<br />
Neben der fehlenden theoretischen Reflexion und Systematisierung, besteht bei<br />
dieser Befragungsart die Gefahr, dass sich zu stark auf das abzufragende<br />
Wissen der speziell ausgesuchten Experten fokussiert wird. Die<br />
Ausgangssituation des Experteninterviews ist, in begrenzter Zeit, einen<br />
gezielten Zugang zum Wissen und Erfahrungsschatz des Befragten zu<br />
bekommen. Es besteht die Gefahr, dass der Rahmen dabei zu eng gefasst<br />
ist. 295 Ein weiteres Problem liegt in der Überprüfbarkeit des Wahrheitsgehalts<br />
der Expertenmeinung. Es ist nicht sicher, ob der Experte in einem Interview mit<br />
einem anderen, "eine andere Geschichte" berichten würde. 296 MEUSER und<br />
NAGEL vertreten allerdings die Ansicht, dass Experten damit rechnen, dass<br />
auch andere Wissensträger in ihrem Sachgebiet interviewt werden und somit<br />
ein „immanenter Hang zur Wahrheit“ besteht. 297<br />
Im Hinblick auf die Auswertung und Interpretation des erhobenen Materi<strong>als</strong><br />
ergeben sich weitere spezifische Probleme, da dieser Prozess stark durch die<br />
persönliche Kompetenz des Interviewers geprägt ist. Die Glaubwürdigkeit und<br />
292 Vgl. Mieg, Näf (2005) S. 7<br />
293 Vgl. Bogner, Menz (2005), Meuser, Nagel (2005) S. 71<br />
294 Vgl. Bogner, Menz (2005) S. 34<br />
295 Vgl. Flick (2007) S. 218 f.<br />
296 Vgl. Mieg, Näf (2005) S. 6<br />
297 Vgl. Meuser, Nagel (2005) S. 91
5. Untersuchungsmethodik 68<br />
Akzeptanz kann erhöht werden durch eine saubere Darstellung der Ergebnisse<br />
und der Offenlegung der Einzelschritte, die die Untersuchung durchlaufen<br />
hat. 298 Bei Problemen im Auswertungsprozess muss sich an andere<br />
vergleichbare qualitative Verfahren gehalten werden, da dieser Bereich<br />
methodisch gänzlich nicht aufgearbeitet ist. 299<br />
5.3 Durchführung der Untersuchung<br />
Zur Erhebung der Daten wurden eine Vorabrecherche bei verschiedenen<br />
Aufstellern sowie zwei Experteninterviews durchgeführt, deren<br />
Rahmenbedingungen im Folgenden dargestellt werden. Weiter wird auf die<br />
Konzipierung des Leitfadens und die Planung der Interviews eingegangen.<br />
Abschließend wird die EDV-gestützte Aufarbeitung der Daten mittels MAXQDA<br />
dargestellt.<br />
5.3.1 Die Auswahl der Experten – Vorabrecherche zur Identifizierung<br />
Das Ziel einer Vorabrecherche besteht im Allgemeinen darin, die für das<br />
Untersuchungsziel geeigneten Experten zu identifizieren. In der Regel ist dabei<br />
der Einsatz <strong>von</strong> wenig strukturierten Befragungen die Voraussetzung. 300 Um<br />
dieser Anforderung gerecht zu werden, bestand die erste Phase des<br />
methodischen Vorgehens darin, die für die Forschungsfrage geeigneten<br />
Experten durch eine Vorabrecherche zu definieren. Die Auswahl der zu<br />
befragenden Personen erfolgte über einen kontrollierten Zufallsprozess. Die<br />
Grundgesamtheit bestand dabei aus Adressenverzeichnissen folgender<br />
Quellen:<br />
- Deutsche Gesellschaft für Systemforschung<br />
- Internationales Forum für Systemaufstellungen in Organisationen und<br />
Arbeitskontexten<br />
- MCV GmbH CO KG, Management- und Organisationsentwicklung<br />
- Wiener Akademie für Organisationsentwicklung<br />
298 Vgl. Lamnek (2005) S. 406 f.<br />
299 Vgl. Meuser, Nagel (2005) S. 71<br />
300 Vgl. Atteslander (2006) S. 129 f
5. Untersuchungsmethodik 69<br />
Bei der Stichprobenauswahl wurden Personen aus Deutschland, Österreich und<br />
der Schweiz ausgewählt, die systemische Aufstellungsarbeit in Organisations –<br />
und Arbeitskontexten durchführen. Im nächsten Schritt wurden 50 E-Mails an<br />
den zuvor definierten Datenpool versendet. Zu der Definition des<br />
Expertenstatus diente folgende Frage:<br />
- Wer sind Ihrer Meinung nach die 3-5 Multiplikatoren, die die<br />
Systemaufstellungen maßgeblich durch Ihre jeweiligen Ansichten,<br />
Meinungen und Entwicklungen beeinflussen? D.h. Wer setzt die Trends<br />
und treibt die Branche voran?<br />
Weiterhin wurde eine zweite Frage zum Zukunftspotential der Aufstellung<br />
gestellt:<br />
- Wie sehen Sie die Zukunft <strong>von</strong> Systemaufstellungen im Berufs- und<br />
Unternehmenskontext? D.h. Welche Zukunftspotentiale,<br />
Weiterentwicklungen etc. gibt es?<br />
Der Rücklauf hinsichtlich der versendeten E-Mails lag bei 13 Antworten. 301<br />
Dabei beantworteten zwei Personen die erste Frage unzulänglich, d.h. es<br />
wurden keine konkreten Namen genannt, so dass nur 11 Antworten verarbeitet<br />
bzw. ausgewertet werden konnten. Die teilweise unpräzisen oder gänzlich<br />
fehlenden Antworten in Bezug auf die erste Frage können auf den fehlenden<br />
Vorabtest (Pretest) zurückgeführt werden. Im Vorfeld hätte ein Pretest<br />
stattfinden müssen, um Unklarheiten in der Frageformulierung zu vermeiden.<br />
Die Ergebnisse der Vorabrecherche zeigen, dass primär WEBER und VARGA VON<br />
KIBED den Bereich der Systemaufstellungen im Organisations- und<br />
Arbeitskontext maßgeblich beeinflussen.<br />
301 Die gesamten Antworten der E-Mail Rückläufe befinden sich im Anhang
5. Untersuchungsmethodik 70<br />
Abbildung 13: Multiplikatoren im Bereich der Systemaufstellung. Eigene Darstellung auf<br />
Basis der Ergebnisse der Vorabrecherche<br />
Aufgrund der Ergebnisse der Vorabreche wurde ein Interview mit WEBER und<br />
VARGA VON KIBED angestrebt, <strong>als</strong> führende Multiplikatoren der „Aufstellerszene“.<br />
Zwei weitere Interviewpartner sollten mit ROSSELET und ASSLÄNDER gewonnen<br />
werden. Beide Experten weisen einen betriebswirtschaftlichen Hintergrund<br />
sowie langjährige Praxiserfahrung in der Aufstellungsarbeit mit Organisationen<br />
und Führungskräften vor, was dem Kontext dieser Arbeit entspricht. Die<br />
Interviews mit WEBER und VARGA VON KIBED konnten aufgrund <strong>von</strong><br />
Terminengpässen, im Rahmen dieser Arbeit leider nicht realisiert werden.<br />
5.3.2 Entwicklung des Leitfadens<br />
Für die Durchführung der Befragung wurde ein Leitfaden entwickelt (vgl.<br />
Anhang). Die konkrete Ausarbeitung durchlief im Einzelnen folgende<br />
gedanklichen Schritte:<br />
- Wissensbasis bilden: Zur inhaltlichen Erarbeitung des<br />
Themenkomplexes wurde eine intensive Literaturrecherche vollzogen<br />
und verschiedene Aufsteller informell befragt. Dieses Vorgehen diente<br />
dazu, eine breit aufgestellte Basis an Theoriewissen sowie Meinungen,<br />
Ideen und Anregungen aus der Praxis zu erhalten.
5. Untersuchungsmethodik 71<br />
- Hypothesen und Denkansätze bilden: Im nächsten Schritt wurden,<br />
aufbauend auf der Wissensbasis, konkrete Hypothesen formuliert, die im<br />
Interview abgeprüft werden sollten.<br />
- Themenblöcke mit Leitfragen formulieren: Zu den Hypothesen<br />
wurden anschließend korrespondierende Leitfragen entwickelt. Bei der<br />
Ausarbeitung der Fragen wurde darauf geachtet, offene W-Fragen zu<br />
formulieren und Suggestivfragen zu vermeiden. Die Fragen wurden<br />
anschließend zu Themenblöcken zusammengesetzt und in zwei<br />
Bereiche geteilt. Der Ein- und Ausstieg in das Interview wurde durch<br />
chronologische Fragen gestaltet, während der Hauptteil eine thematische<br />
Annäherung vollzog.<br />
Der ausgearbeitete Leitfaden wurde an drei verschiedene Personen mit<br />
Aufstellungskenntnissen zugesendet, um die Fragen inhaltlich bezüglich der<br />
Qualität und Relevanz, sowie auf der Metaebene auf ihre Verständlichkeit, zu<br />
überprüfen. Die Verbesserungen und Anregungen wurden in einem ständigen<br />
Prozess in den Leitfaden ein gepflegt. Im nächsten Schritt wurde ein Pretest<br />
durchgeführt, um die Interviewmethode auf ihre Tauglichkeit zu testen und die<br />
Haupterhebung zu simulieren. 302 Die Auswahl des Experten für die<br />
Durchführung des Pretests erfolgte durch die Auswahlparameter:<br />
Praxiserfahrung und eine gewisse Unabhängigkeit zu verschiedenen „Lagern“<br />
im Aufstellerbereich. 303<br />
5.3.3 Planung und Durchführung der Interviews<br />
Der erste Planungsschritt der Interviews bestand in der Kontaktaufnahme mit<br />
den Experten. ASSLÄNDER und ROSSELET wurden vorab per E-Mail über den<br />
Hintergründe und den Ablauf der Experteninterviews informiert. Nach erfolgter<br />
Zusage der Experten, für ein Interview zur Verfügung zu stehen, wurde jeweils<br />
ein Gesprächstermin vereinbart. Den Experten wurde der Leitfaden zur<br />
inhaltlichen Vorbereitung ca. eine Woche vor dem Gesprächstermin per E-Mail<br />
zugesendet. Die Versendung des Leitfadens vor dem Gesprächstermin sollte<br />
302 Atteslander (2006) S. 277 ff.<br />
303 Es gibt verschiedene Schulen und Lager mit unterschiedlichen Meinungen,<br />
Herangehensweisen in der „Aufstellerszene“.
5. Untersuchungsmethodik 72<br />
gleichzeitig Vorbereitungsqualität und Kompetenz seitens des Interviewers<br />
zeigen.<br />
Die Durchführung der Interviews fand mit ASSLÄNDER in Würzburg und mit<br />
ROSSELET in Zürich, in der jeweils gewohnten Umgebung statt. Beide<br />
Gespräche wurden auf einem Tonbandgerät für die spätere Transkription<br />
aufgenommen. Basis des Gesprächs bildete der Leitfaden, an dem sich das<br />
Interview orientierte. Zur Dokumentation der Rahmenbedingungen fungierte das<br />
Post-Skriptum (vgl. Anhang), in dem Auffälligkeiten und der Verlauf des<br />
Interviews stichpunktartig festgehalten wurde.<br />
5.4 Vorgehensweise bei der Datenauswertung<br />
Die Auswertungsstrategie der Interviews orientierte sich am Modellvorschlag<br />
<strong>von</strong> MEUSER UND NAGEL, das aus sechs Stufen besteht und durch einen<br />
thematischen Vergleich, neben dem Individuellen, die Gemeinsamkeiten<br />
(Relevanzen, geteiltes Wissen etc.) herausarbeiten soll. Bei der Auswertung<br />
wurde auf inhaltliche und thematische Einheiten während des gesamten<br />
Interviews geachtet. Die Schritte des Auswertungsprozess werden nun kurz<br />
dargestellt:<br />
Im ersten Schritt der Auswertung fand eine Transkription des auf Tonband<br />
aufgenommenen Materi<strong>als</strong> statt. Um eine inhaltlich saubere und vollständige<br />
Dokumentation zu gewährleisten, wurde die Konversation vollständig<br />
dokumentiert. Dabei wurden allerdings keine Analysen hinsichtlich nonverbaler<br />
Elemente vorgenommen. Die Paraphrase stellte den nächsten Schritt des<br />
Verdichtens des Textmateri<strong>als</strong> dar. Das aufgenommene Wissen wurde dazu<br />
entsprechend dem Gesprächsverlauf textgetreu in eigenen Worten<br />
wiedergegeben. Der Paraphrase folgte das thematisches Ordnen bzw.<br />
Kodieren, d.h. den paraphrasierten Passagen wurden Überschriften<br />
zugeordnet. Anschließend fand ein thematischer Vergleich statt, indem<br />
Passagen aus verschiedenen Interviews zusammengestellt und die<br />
Überschriften vereinheitlicht wurden. Anschließend wurden bei der<br />
Konzeptualisierung Gemeinsamkeiten und Differenzen in wissenschaftliche<br />
Sprache umformuliert. Im letzten Schritt fand eine theoretische Generalisierung
5. Untersuchungsmethodik 73<br />
statt. Dabei wurden Theorien und Wissensbestände zu den Ergebnissen<br />
hinzugezogen. 304<br />
Um die empfohlenen Auswertungsschritte möglichst korrekt und exakt<br />
ausführen zu können, erfolgte der Auswertungsprozess mit MAXQDA - einem<br />
führenden Softwareprogramm zur qualitativen Analyse <strong>von</strong> Daten. Mit Hilfe des<br />
Programms konnten dem transkribierten Text frei gewählte Codierungen<br />
unterlegt werden.<br />
Abbildung 14: Auswertungsprozess mit MAXQDA. Eigene Darstellung<br />
Die verschiedenen Codierungen wurden im nächsten Schritt durch das<br />
Programm nach Themenbereichen sortiert und in Form einer Word- oder Html<br />
Datei exportiert. Anhand der Dateien konnten die Ergebnisse schnell<br />
miteinander verglichen und in wissenschaftliche Sprache umformuliert werden.<br />
304 Vgl. Meuser, Nagel (2005) S. 80 ff.
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 74<br />
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse<br />
Das folgende Kapitel stellt die Ergebnisse der beiden Experteninterviews und<br />
der im Vorfeld durchgeführten Vorabrecherche bei verschiedenen Aufstellern<br />
dar und interpretiert diese. Die Untersuchung entspricht dem Stellenwert einer<br />
„Bodenprobe“ und kann nicht <strong>als</strong> empirische Auswertung betrachtet werden.<br />
6.1 Darstellung der Ergebnisse<br />
Die Ergebnisdarstellung erfolgt gemäß den theoretisch erarbeiteten Inhalten. Im<br />
Vordergrund der Darstellung stehen die Relevanz des systemisch-<br />
konstruktivistischen Ansatzes, die Visualisierung <strong>von</strong><br />
Wirklichkeitskonstruktionen, die Lösungsverarbeitung innerhalb <strong>von</strong><br />
Organisationen sowie der Einfluss <strong>von</strong> systemischen Grundsätzen.<br />
Abschließend werden das Potenzial der Organisationsaufstellung, damit<br />
verbundene Herausforderungen und Entwicklungstendenzen der Methode<br />
dargelegt. Für eine bessere Übersicht der Ergebnisse werden die Kapitel in<br />
Teilfragen untergliedert.<br />
6.1.1 Der systemisch-konstruktivistische Ansatz<br />
Welche Relevanz hat der systemisch-konstruktivistische Ansatz?<br />
Der systemisch-konstruktivistische Ansatz ist für beide Experten in der Arbeit<br />
mit Organisationen und Managementteams hilfreich. Der Ansatz bietet ein<br />
Erklärungsmodell <strong>von</strong> der Wirklichkeit, welches nach ASSLÄNDER eine hohe<br />
Relevanz in der betrieblichen Welt hat, in der es oft um Themen wie z.B.<br />
Konflikte und um die Wahrnehmung dessen, was passiert, geht. Mit der<br />
Systemtheorie und dem Konstruktivismus lassen sich viele Situationen<br />
beschreiben, aber nicht alle. Der Ansatz kann <strong>als</strong> Landkarte nützlich sein so<br />
ROSSELET, aber nicht <strong>als</strong> einzig wahrer Zugang zur Welt. ROSSELET betont,<br />
dass Manager mehr an Lösungen und Plausibilitäten, <strong>als</strong> an<br />
erkenntnistheoretischen Erklärungen interessiert sind.
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 75<br />
Im Hinblick auf die Frage, ob der systemisch-konstruktivistische Ansatz zu mehr<br />
Akzeptanz der Aufstellungsmethode führe, sind sich beide Experten einig. Die<br />
Akzeptanz seitens der Manager hängt nicht <strong>von</strong> bestimmten<br />
erkenntnistheoretischen Grundlagen ab. Vielmehr spielt die Effektivität des<br />
Instruments, persönliche Fähigkeiten und das Leistungsportfolio der Berater<br />
sowie positive Erfahrungen aus Aufstellungen, eine Rolle. Die Akzeptanz der<br />
Aufstellungsmethode kann <strong>als</strong>o nicht an der systemisch-konstruktivistischen<br />
Sichtweise festgemacht werden.<br />
Welche Wirklichkeit wird in Aufstellungen visualisiert?<br />
Beide Experten beschreiben die dargestellte Wirklichkeit in Aufstellungen <strong>als</strong><br />
eine Art „kollektive Wirklichkeit“. Der Erklärungsansatz beider Experten ist<br />
allerdings unterschiedlich und wird differenziert dargestellt.<br />
Für ASSLÄNDER besteht ein systemischer Kontext, was bedeutet, dass auch der<br />
Aufstellungsleiter neben dem Klienten ein Teil des Systems ist. Gerade bei der<br />
Organisationsaufstellung, die Beziehungszusammenhänge <strong>von</strong> Elementen<br />
darstellen, entscheidet der Leiter der Aufstellung, welche Elemente für die<br />
Aufstellung überhaupt relevant sind. Nur wenn der Leiter entsprechende<br />
Kompetenzen hat, werden bestimmte Problemaspekte sichtbar.<br />
Wenn Sie aufstellen, zu mir kommen und sagen, dass Sie einen<br />
Konflikt mit ihrem Vorgesetzten haben. Dann kommt das Interview,<br />
und ich habe die Idee mal nachzufragen: „wie ist ihre Beziehung zu<br />
ihrem Vater?“ Da gebe ich dem ja eine ganz bestimmte Richtung, ich<br />
beeinflusse das ja was jetzt geschieht. Von daher fließe ich <strong>als</strong><br />
Aufsteller immer wieder auch im Sinne <strong>von</strong> konstruieren mit ein. 305<br />
ROSSELET versucht diesen „Moment des Persönlichen“ außen vor zu lassen,<br />
indem er <strong>von</strong> zwei Personen desselben Managementteams aufstellen lässt. Die<br />
Stellvertreter werden <strong>von</strong> den beiden Personen ausgesucht und gemeinsam an<br />
ihren Platz gestellt. Daher ist das Bild, was in Aufstellungen visualisiert wird, für<br />
ihn eine kollektive Sicht auf etwas. Die möglicherweise verschiedenen<br />
Wahrnehmungen der beiden Personen, in Bezug auf die gleiche<br />
Problemsituation, sieht ROSSELET nicht <strong>als</strong> Problem. Aufkommende<br />
Diskrepanzen können, seiner Meinung nach, im Verlauf der Aufstellung<br />
aufgedeckt werden.<br />
305 Zitat <strong>von</strong> Assländer im Experteninterview
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 76<br />
Wie hoch ist der Wahrheitsgehalt <strong>von</strong> Aufstellungen?<br />
Die Experten beschreiben aus ihrer Praxis, dass Manager durchaus die Frage<br />
nach dem Wahrheitsgehalt bzw. der Überprüfbarkeit <strong>von</strong><br />
Organisationsaufstellung stellen. ROSSELET bemerkt im Interview, dass ihn<br />
solche Fragen stets begleiten, er aber sehr pragmatisch mit dem Gehalt und<br />
den Lösungen <strong>von</strong> Aufstelllungen umgehe.<br />
Für mich ist es eine Gradwanderung <strong>von</strong> Zweifel und dann doch<br />
wieder Vertrauen zu haben in die Methode. Für mich ist es dann<br />
auch wieder Motivation, weiter hinzu schauen und weiter zu<br />
forschen. 306<br />
ASSLÄNDER lehnt ab, dass es überhaupt um Wahrheit geht, denn was ist<br />
Wahrheit überhaupt (vgl. Kapitel 2.2.2). Der Fokus liegt mehr auf bestimmten<br />
Aspekten eines Problems oder Phänomens, welche sich entweder zeigen oder<br />
verborgen bleiben, je nachdem was aufgestellt wird. Die<br />
Bedeutungszuschreibung dieser Aspekte, die sichtbar gemacht werden,<br />
geschieht erst durch einen gemeinsamen Dialog im Anschluss an die<br />
Aufstellung.<br />
6.1.2 Die Bedeutung der systemischen Grundsätze<br />
Welche Bedeutung haben systemische Grundsätze?<br />
Die Auswertung der Interviews ergab übereinstimmend, dass beide Experten<br />
die systemischen Grundsätze in ihre tägliche Arbeit integrieren, sich daran<br />
orientieren und diese <strong>als</strong> wichtig erachten. ASSLÄNDER misst den systemischen<br />
Grundmechanismen bzw. Prinzipien sogar eine sehr hohe Bedeutung bei, da<br />
sie die Lösungsfindung in der Aufstellung erleichtern. Er unterscheidet dabei<br />
zwischen dem systemisch-konstruktivistischem und dem phänomenologischen<br />
Denken. Vor allem HELLINGER und WEBER haben Gesetzmäßigkeiten<br />
aufgedeckt, die sehr umfassend gelten.<br />
Zum Beispiel der Ältere steht vor dem Jüngeren oder […] das<br />
jüngere steht vor dem älteren System. Da gibt es eine ganze Reihe<br />
<strong>von</strong> Prinzipien, deren Einhaltung den Unternehmen gut tut und ein<br />
zuwiderhandeln dann merkwürdige Störungen hervor rufen kann. 307<br />
306 Zitat <strong>von</strong> Rosselet im Experteninterview<br />
307 Zitat Assländer im Experteninterview
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 77<br />
Die Frage, ob Attribute wie Alter, Zugehörigkeit und Wichtigkeit der Person <strong>als</strong><br />
Indizien für eine „gute Ordnung“, der Komplexität <strong>von</strong> Organisationen gerecht<br />
werden können, beantworteten die Experten unterschiedlich. ROSSELET<br />
kritisiert, solche Attribute sind: „Vereinfachungen aus der Pionierzeit der<br />
Organisationsaufstellung, wo man ein Team und eine Aufgabe aufgestellt und<br />
dann geschaut hat, wie ist da die Ordnung.“ Er betont, dass es bei<br />
Aufstellungen zu Managementthemen oder bei Entscheidungsfragen, die es mit<br />
den Managern zu klären gilt, um andere Größen wie Strategien, Strukturen,<br />
Zielsetzungen und Ressourcen geht. Die systemischen Ordnungen werden in<br />
der Aufstellungsarbeit mit Ordnungen aus Managementmodellen verknüpft, z.B.<br />
dass die normative Ebene wichtiger <strong>als</strong> die strategische ist.<br />
Im Gegensatz dazu sagt ASSLÄNDER, dass es nicht darum geht zu prüfen, ob<br />
diese Attribute der Komplexität der Organisation gerecht werden, sondern sie<br />
werden erfahrbar gemacht. Das entscheidende Kriterium in der Aufstellung ist<br />
die phänomenologische Wahrnehmung, d.h. es wird nachgeprüft, wie es den<br />
einzelnen Stellvertretern an ihrem Platz geht. Fühlen sich die Personen wohl<br />
und entsteht ein stimmiges Miteinander im Aufstellungsbild?<br />
Ich kann mich <strong>als</strong> Chef links oder rechts vor meine Mitarbeiter stellen<br />
und mal nach spüren, wie geht es den Mitarbeitern, wie geht es mir.<br />
Und damit kann man entdecken, dass der richtige Platz in der<br />
Aufstellung eine ganz entscheidende Rolle für das Funktionieren des<br />
Systems spielt. 308<br />
ROSSELET testet wie ASSLÄNDER die Ordnungsprinzipien und verfolgt deren<br />
Wirkung im Aufstellungsprozess. Allerdings ist ROSSELET der Meinung, dass<br />
manche Prinzipien in der Aufstellung eher einengen, während andere hilfreich<br />
sind.<br />
Also z.B. dass das, was einen Einfluss ausübt eher auf der rechten<br />
Seite <strong>von</strong> dem steht, auf das Einfluss ausgeübt wird. Das Prinzip<br />
leitet mich, das teste ich dann immer auch aus, um zu schauen, wie<br />
wirkt es sich sozusagen aus. Die Situation die ja da entsteht, die<br />
Konstellation die man zum Klingen bringt, wie schaut es da aus? 309<br />
ASSLÄNDER sieht die Systemgrundsätze im Aufstellungsprozess eher bestätigt<br />
und bewahrheitet. In den Fällen wo es sich anders zeigt, ist es interessant<br />
hinzuschauen, was wurde übersehen oder vergessen. Es gibt bestimmte<br />
308 Zitat Assländer im Experteninterview<br />
309 Zitat Rosselet im Experteninterview
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 78<br />
Tabuthemen in Systemen (z.B. durch Fahrlässigkeit entstandene Unfälle), bei<br />
denen die Aufstellung dazu führen kann, dass man nachhakt was noch fehlt<br />
und nicht beachtet wurde.<br />
Die Ansicht <strong>von</strong> ROSSELET ist dahingehend etwas kritischer, da seiner Meinung<br />
nach die systemischen Grundsätze aus der Vergangenheit geprägt sind. Es<br />
wäre ein Mehrwert, wenn man die Dynamik und das Potential der Situationen<br />
im Aufstellungsprozess, wirklich aus der Situation entspringend wahrnehmen<br />
kann. Er bezieht sich auf KRISHNARMURTI 310 , dessen Buch ihm einen anderen<br />
Zugang zur Thematik beschert hat:<br />
Und [Krishnarmurti] sagt ja, dass wir der Welt nie unverstellt<br />
begegnen, weil uns die Vergangenheit und die Bilder der<br />
Vergangenheit und auch die Begrifflichkeit aus der Vergangenheit<br />
immer ein Stück den Blick auf das was ist, verstellen. Also wir sehen<br />
das was ist, durch all das was wir in der Vergangenheit erfahren<br />
haben. Konzepte, Modelle usw. 311<br />
6.1.3 Organisationsaufstellungen innerhalb <strong>von</strong> Arbeitssystemen<br />
Welche Aufstellungsformen haben sich in der Arbeit direkt mit Organisationen<br />
entwickelt?<br />
Die Arbeit in Organisationen und mit Managern selbst ist bei ROSSELET<br />
sozusagen „aus der Not“ heraus entstanden. Die Erkenntnis, dass sich<br />
Manager nicht die Zeit nehmen können und wollen, um in mehrtägigen<br />
Seminaren ihre Probleme offenzulegen und zu bearbeiten, brachte die Form<br />
der Arbeit in Organisationen mit sich. Auch ASSLÄNDER formuliert das Problem<br />
mit offenen Seminaren ähnlich: „Führungskräfte sagen: ‚warum soll ich mich 2<br />
½ Tage in einen Kurs setzen, wenn mein eigenes Thema in einer Stunde<br />
bearbeitet wird‘?“ Aus dieser Problematik heraus haben sich bestimmte Formen<br />
entwickelt, um in Organisationen mit den Systemteilnehmern direkt zu arbeiten.<br />
ASSLÄNDER beschreibt im Interview drei mögliche Arbeitsformen:<br />
- Aufstellung mit Organisationsfremden Stellvertretern: Es besteht die<br />
Möglichkeit, fremde Stellvertreter zu Aufstellungen in Unternehmen<br />
310 Krishnarmurti war ein indischer Brahmane, Autor und spiritueller Lehrer und thematisierte in<br />
seinen Veröffentlichungen spirituelle, religiöse und philosophische Themen.<br />
311 Zitat Rosselet im Experteninterview
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 79<br />
mitzubringen. Der Vorteil dieser Form besteht darin, dass die<br />
Stellvertreter keine Informationen über das aufzustellende System haben<br />
und nicht ins Denken gehen können. Fremde Stellvertreter machen auch<br />
keine „Politik“, d.h. die Stellvertreter müssen sich nicht überlegen, wie<br />
stelle ich mich vor meinem Chef möglichst gut dar.<br />
- Skulpturaufstellung: Bei dieser Aufstellungsform vertreten sich die<br />
Mitarbeiter selbst und suchen sich bei der Aufstellung einen Platz im<br />
Raum. Die Personen kennen in der Regel die Systemprinzipien nicht, so<br />
dass sie ihrer Intuition folgen. Aus dem aufgestellten Bild kann der<br />
Berater viel über die Dynamik die im System abläuft, sagen. In einer<br />
Aufstellung <strong>von</strong> ASSLÄNDER, mit der Geschäftsleitung eines großen<br />
Handelsunternehmens mit 28 Personen, wurde den Mitarbeitern bewusst<br />
gemacht, welche Rolle der Chef hat. Der Chef wurde während der<br />
Aufstellung an den f<strong>als</strong>chen Platz, mitten zwischen die Mitarbeiter<br />
gestellt. Die Folge war, dass die Mitarbeiter aufschrien, dass der Chef da<br />
an diesen Platz nicht hin gehört. Neben der diagnostischen Arbeit kann<br />
man <strong>von</strong> diesem Ausgangsbild in die Prozessarbeit einsteigen und<br />
Lösungen anstoßen. Die Personen bekommen ein anderes Bild und<br />
zusätzlich die Erfahrung, wie es sich anfühlt, am richtigen Platz zu<br />
stehen.<br />
- Aufstellung <strong>von</strong> Sachthemen: Mit Systemteilnehmern die ein<br />
gemeinsames Sachthemen (z.B. lohnende Unternehmensziele,<br />
zukunftsträchtige Geschäftsideen) haben, kann man laut ASSLÄNDER gut<br />
arbeiten. Bei Themen die Mitarbeiter untereinander betreffen, ist es<br />
wichtig, keine betroffenen Mitarbeiter <strong>als</strong> Stellvertreter zu nehmen.<br />
Welche Chancen und Risiken bringen Aufstellungen im Arbeitssystem mit sich?<br />
Die Arbeit mit den Führungskräften direkt in den Organisationen bringt<br />
ungeachtet des Aufstellungsformats viele Chancen mit sich, die in den<br />
Interviews deutlich zu identifizieren waren. Die Arbeit im Unternehmen kann<br />
Klarheit und Ordnung schaffen und diagnostisch Sachthemen überprüfen. Die<br />
Besonderheit der Aufstellungsarbeit in Organisationen besteht in der direkten<br />
und vor allem gemeinsamen Erfahrbarkeit <strong>von</strong> stimmigen Lösungen.<br />
ASSLÄNDER erzählt in diesem Zusammenhang folgendes Beispiel:
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 80<br />
Eine meiner ersten und beeindruckensten Aufstellungen war der<br />
Krankenstand in einem Unternehmen. Ein Betrieb hatte einen<br />
Krankenstand <strong>von</strong> 7,6%. Durchschnitt in dieser Branche ist eigentlich<br />
unter 4 %. Wo kommt das her? In der Aufstellung wurde sichtbar<br />
woran es liegt. Dann haben wir die Werte aufgestellt, die gelebt<br />
werden müssen. Wir haben einfach mal eine Ideensammlung<br />
gemacht, welche Werte könnten relevant sein und dann kam ganz<br />
eindeutig durch die Stellvertreter heraus: „Wertschätzung“ – <strong>als</strong> der<br />
relevante Faktor, um den Krankenstand zu reduzieren. Das kann<br />
man logisch auch herleiten, nur die Erfahrung in der Aufstellung ist<br />
etwas ganz anderes. 312<br />
Auch ROSSELET beschreibt die Erfahrung in Aufstellungen <strong>als</strong> einen Aspekt, der<br />
einen riesen Unterschied zu klassischen Konzepten und Modellen bildet. Der<br />
Willensbildungsprozess durch eine Aufstellung ist ein anderer <strong>als</strong> durch<br />
„normale“ rationale Entscheidungsfindungen. Oftm<strong>als</strong> wird dieser<br />
Willensbildungsprozess in Entscheidungssituationen ausgeblendet und man<br />
geht da<strong>von</strong> aus, dass alle das gleiche wollen, was eine Illusion ist.<br />
Die Aufstellung trägt bei der gemeinsamen Betrachtung <strong>von</strong> Problemen dazu<br />
bei, zu Lösungen zu kommen, die sich nicht mehr gegenseitig ausschließen<br />
sondern stimmiger und letztlich auch einfacher umzusetzen sind. Es gibt keine<br />
Transferproblematik nach der Aufstellung, wie beispielsweise bei offenen<br />
Seminaren, wo folgende Situation eintreten kann:<br />
Man hat dann eine wunderbare Lösung, die sehr plausibel und<br />
sinnhaft ist, kommt dann zurück und die Leute schauen einen an und<br />
sagen: spinnst du? Wenn man das mit dem Team selber macht,<br />
dann gibt es einfach diese Transferproblematik nicht. 313<br />
Die Arbeit direkt mit den Systemteilnehmern erleichtert diese Umsetzung, ist<br />
aber nicht ohne Risiken. Die Grenzen der Arbeit mit Systemteilnehmern liegen<br />
für beide Experten darin, dass nicht die einzelnen betroffenen Stellvertreter für<br />
einzelne Teammitglieder aufgestellt werden können. Bei Themen die eher die<br />
Teamentwicklung betreffen, d.h. wo es darum geht Beziehungen und<br />
Befindlichkeiten im Team zu klären, da wird es schwierig in diesem Rahmen zu<br />
arbeiten. ASSLÄNDER beschreibt in diesem Zusammenhang eine Form des<br />
verdeckten Arbeitens. Er selbst schätzt diesen „Trick“ allerdings <strong>als</strong> „sehr<br />
gefährlich“ ein, weil die Aufstellungsarbeit dadurch noch mystischer wirkt.<br />
312 Zitat Assländer im Experteninterview<br />
313 Zitat Rosselet im Experteninterview
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 81<br />
Man kann die einzelnen Personen oder Elemente auf Karten<br />
schreiben. […] Relevant ist, dass ich die Karten umdrehe, mische<br />
und dann durchnummeriere z.B. Geschäftsidee 1,2,3,4,5,6,7. Keiner<br />
weiß, welche Idee zu welcher Nummer gehört. Anschließend werden<br />
die Karten werden zusammen gefaltet und in die Tasche gesteckt.<br />
Der Stellvertreter weiß jetzt nur, ich stehe für 1 und ich stehe für 2,<br />
aber man weiß nicht mehr für wen. 314<br />
ROSSELET versucht durch eine sorgfältige Auftragsklärung im Vorfeld<br />
auszuschließen, dass bestimmte Konflikte im System ursächlich sind für ein<br />
Problem auf der Sachebene.<br />
In wie weit geht der Trend zu Aufstellungen innerhalb <strong>von</strong> Organisationen?<br />
Ob der Trend zur Arbeit in den Unternehmen bzw. mit den Managern selbst<br />
geht, konnten beide Experten nicht eindeutig mit ja oder nein beantworten.<br />
Während ROSSELET nicht klar definieren kann, ob die Entwicklung in diese<br />
Richtung geht, sieht ASSLÄNDER es <strong>als</strong> ein „sowohl <strong>als</strong> auch“. Auf der einen<br />
Seite wird direkt in den Firmen gearbeitet, zum Teil auch mit fremden<br />
Stellvertretern. Auf der anderen Seite gehen Manager nach wie vor in offene<br />
Seminare. ASSLÄNDER löst die Zeitproblematik der Manager dahingehend, dass<br />
die Führungskräfte für ein paar Stunden in einen Fortbildungskurs kommen<br />
können, um ihr Thema aufzustellen. Die Stellvertreter sind Personen, die bei<br />
ASSLÄNDER eine Ausbildung im Rahmen einer Fortbildung machen. Allerdings<br />
gibt es Ängste, wenn in einem offenen Seminar aufgestellt wird. Was dringt<br />
nach außen? Wer kriegt alles etwas mit?<br />
6.1.4 Vom Lösungsbild zum Lösungsweg<br />
Welche Bedeutung hat das Lösungsbild?<br />
Um vom Lösungsbild zu einem Lösungsweg zu kommen, müssen die<br />
Ergebnisse <strong>von</strong> Aufstellungen zunächst differenziert betrachtet werden, da es<br />
zwei unterschiedliche Aufgabenstellungen gibt. Wenn in der Aufstellung ein<br />
persönlicher Prozess in Gang gesetzt wird, wenn sich mit einer Situation<br />
ausgesöhnt wird die nicht zu ändern ist oder wenn es um seelische Arbeit (z.B.<br />
Trauer) geht, dann ist die Aufstellung an sich ausreichend bzw. der Verweis auf<br />
Weiterarbeit in Form <strong>von</strong> z.B. Coaching das Ergebnis. Arbeitet man allerdings<br />
sachdienend, d.h. in Bezug auf konkrete Sachthemen, ist ein anderes Vorgehen<br />
314 Zitat Assländer Experteninterview
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 82<br />
ratsam. Bei der Arbeit in Managementkontexten hört die Arbeit nicht beim<br />
Lösungsbild auf, sondern dort beginnt die Prozessarbeit mit den Organisationen<br />
und den Führungskräften.<br />
Welche Bedeutung hat die Prozessbegleitung vom Lösungsbild zum<br />
Lösungsweg?<br />
Beide Experten messen der Begleitung, um vom Lösungsbild zum Lösungsweg<br />
zu kommen, eine hohe Bedeutung bei. Denn oftm<strong>als</strong> ist das Lösungsbild einer<br />
Aufstellung ein Zwischenschritt in einem Prozess, aber noch nicht die Lösung<br />
an sich. Um so einen Prozess zu begleiten gibt es verschiedene Wege und<br />
Ansätze in der Arbeit mit Organisationen. Der folgende Abschnitt gibt einen<br />
Überblick über die Prozessbegleitung, die ASSLÄNDER und ROSSELET in ihrer<br />
Praxis anwenden.<br />
Prozessbegleitung nach ASSLÄNDER<br />
Der erste Schritt vor Durchführung der Aufstellung besteht in der Klärung des<br />
Anliegens des Klienten. Für ASSLÄNDER ist ein „brennendes“ eigenes Anliegen<br />
und vorhandenes Handlungs- und Umsetzungspotential seitens des Klienten<br />
Voraussetzung, für eine gelungene Aufstellung und dessen Transfer. Während<br />
der Aufstellung wird mit protokolliert, um die Aussagen der Stellvertreter zu<br />
dokumentieren.<br />
Nach der Aufstellung tauschen sich Klient und die Stellvertreter miteinander<br />
über die Aufstellung aus und legen individuell fest, was z.B. die nächsten drei<br />
Schritte sind. Bei Bedarf können die Ergebnisse der Aufstellung mit den<br />
Führungskräften erneut in einer Geschäftsführerbesprechung durchgesprochen<br />
werden. Als weiterführende Begleitung bietet ASSLÄNDER auch die telefonische<br />
Nachbearbeitung und persönliche Besprechung an. Er sieht den Blick <strong>von</strong><br />
außen <strong>als</strong> hilfreich, da Ergebnisse die sichtbar geworden sind, oftm<strong>als</strong> für die<br />
Klienten durch eine „Systemblindheit“ nachträglich wieder ausgelöscht werden.<br />
Abbildung 15: Prozessbegleitung nach Assländer. Eigene Darstellung auf Basis des<br />
Interviews
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 83<br />
Als Ergänzung, bzw. neue und sinnvolle Prozessbegleitung testet ASSLÄNDER<br />
Anfang Mai 2009 zum ersten Mal eine Art vertiefte Begleitung. Nach den<br />
Aufstellungen konferieren die Klienten mit einem Beraterteam aus angehenden<br />
Aufstellern aus dem Fortbildungsseminar und besprechen weitere Schritte.<br />
Prozessbegleitung nach ROSSELET<br />
Die Aufstellung wird bei ROSSELET in einen kompletten Interventionsprozess<br />
eingebettet. Die Prozessbegleitung in Verbindung mit konkreten Workshops<br />
bildet die Voraussetzung, damit das Lösungsbild der Aufstellung in den Alltag<br />
transferiert werden kann.<br />
Die Interventionsarchitektur besteht im ersten Schritt in einer ausführlichen<br />
Auftragsklärung mit dem Management. Dabei wird konkret ausgearbeitet was<br />
das Anliegen und was eine gute Lösung ist. Anschließend definiert ROSSELET<br />
zusammen mit dem involvierten Managementteam das aufzustellende System<br />
und seine Elemente. Der nächste Schritt besteht in der eigentlichen Aufstellung,<br />
die gewichtet im ganzen Prozess<br />
nur ca. 30% beträgt. Der Rest (70%) besteht aus Klärungsarbeit, d.h.<br />
beschließen <strong>von</strong> Maßnahmen aufgrund des Einigungsprozesses, der aus der<br />
Aufstellung hervorgegangen ist. Dies geschieht in einem gemeinsamen Dialog<br />
im Anschluss und der Festlegung <strong>von</strong> konkreten Maßnahmen.<br />
Abbildung 16: Prozessbegleitung nach Rosselet. Eigene Darstellung auf Basis des<br />
Interviews<br />
Der gemeinsame Austausch nach der Aufstellung ist ein ganz anderer <strong>als</strong><br />
davor. Offenbar wird durch das Verlangsamen, das Perspektiven einnehmen<br />
etwas ausgelöst, was sich dann fruchtbar im gemeinsamen Dialog auswirkt. In<br />
dieser Dialogsituation kommt meistens eine Verfestigung der Lösungsrichtung<br />
zustande. Es empfiehlt sich, eine solche Interventionsarchitektur öfter zu<br />
durchlaufen.
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 84<br />
ROSSELET schlägt vor, die Aufstellungsarbeit <strong>als</strong> „strategisches Controlling“<br />
einzusetzen, mit der Maßnahmen, Entscheidungen und Hindernisse<br />
kontinuierlich überprüft werden können. ASSLÄNDER betont, dass die Aufstellung<br />
bzw. das Lösungsbild eine Momentaufnahme einer Situation ist, welche weitere<br />
Aspekte und Informationen, aber keine konkreten Handlungsanweisungen<br />
liefert. Die Ergebnisse und Lösungen sollten letztlich immer mit einem<br />
gesundem Menschenverstand hinterfragt werden.<br />
6.1.5 What´s now: Die Organisationsaufstellung aus heutiger Sicht<br />
In wie fern stellt die Organisationsaufstellung eine etablierte Methode dar?<br />
Die Frage ob Aufstellungen in Organisationen und Unternehmen eine etablierte<br />
Methode sei, wurde kontrovers beantwortet. Für ASSLÄNDER ist die Methode<br />
eine bewährte, deren Bekanntheitsgrad innerhalb seiner Klientel deutlich<br />
zugenommen hat. Die Wahrnehmung aus der Praxiserfahrung <strong>von</strong> ROSSELET<br />
ist hingegen eine andere. Viele Manager kennen die Methode gar nicht oder nur<br />
aus dem Kontext der Familienaufstellung. Dass die Aufstellungsarbeit eine<br />
etablierte Methode ist, die wie andere klassische Methoden hilft,<br />
Entscheidungsprozesse voranzutreiben und ein Stück Unsicherheiten in Teams<br />
zu kompensieren, das sieht ROSSELET derzeit nicht.<br />
Die Antworten der Vorabrecherche spiegeln die kontroverse Meinung der<br />
beiden Experten wider. Lediglich eine befragte Person der Vorabrecherche<br />
formulierte eindeutig, dass die Methode zunehmend an Akzeptanz in<br />
Unternehmenskontexten gewinnt. Eine andere Person beschrieb, dass die<br />
Systemaufstellung zwar ein anerkanntes Werkzeug in der<br />
Unternehmensberatung darstellt, sich die Methode <strong>als</strong> ultimatives Instrument<br />
allerdings nicht durchsetzen konnte.<br />
Die Frage, in wie weit sich die Aufstellungsarbeit in Organisationen in Zukunft<br />
noch mehr etablieren kann, ist an dieser Stelle nicht zu beantworten. ROSSELET<br />
ist sich nicht sicher, ob sich die Methode in 4-5 Jahren wirklich etabliert haben<br />
wird. Auch ASSLÄNDER merkt an, dass es noch eine Weile dauern kann, bis es<br />
eine größere Akzeptanz geben wird. Im Moment ist die Selbstverständlichkeit,<br />
die Methode bei guten Erfahrungen wieder einzusetzen, noch nicht da. Eine
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 85<br />
Aussage aus der Vorabrecherche geht sogar soweit zu sagen, dass die<br />
Methode zwar langsam in die Organisationen diffundiert, aber nie einen<br />
herausragenden Platz im Methodenkanon belegen, sondern immer add-on sein<br />
wird.<br />
Welche Potentiale hat die Organisationsaufstellung?<br />
Die Experten und befragten Aufsteller im Rahmen der Vorabrecherche<br />
konstatieren Aufstellungen in Organisationskontexten eine große Zukunft mit<br />
vielen ungenützten Potentialen, die den Kunden noch nicht nachhaltig bekannt<br />
sind. Gerade jetzt in Krisenzeiten suchen Führungskräfte nach effizienten<br />
Techniken. Gleichzeitig schränkten befragte Aufsteller in vielen Antworten<br />
dieses Potential ein, bzw. verknüpften die mögliche Nutzung der Möglichkeiten<br />
an Herausforderungen, die zukünftig bewältigt werden müssen.<br />
Welche Herausforderungen gilt es zu bewältigen?<br />
Die Ergebnisse der Vorabrecherche und der Interviews zeigen, dass eine der<br />
größten Herausforderung in Zukunft darin besteht, konkrete und plausible<br />
Erklärungsmodelle zu entwickeln, um die Aufstellungsarbeit Führungskräften<br />
und Managern näher bringen zu können. Zwei Befragte der Vorabrecherche<br />
nannten explizit die Systemtheorie und insbesondere die Theorie sozialer<br />
Systeme <strong>als</strong> Basis, um die Methode weiterentwickeln zu können. Allerdings<br />
müssen Erklärungsmodelle in einer „gemeinsamen Sprache“ sein, die Manager<br />
und systemische Berater gleichermaßen verstehen und die in die kausal-<br />
analytische Wirtschaftswelt passt.<br />
Zusätzlich müssen Aufstellungen in Arbeitsprozesse <strong>von</strong> Unternehmen<br />
integriert werden und Erkenntnisse aus Lösungen anschlussfähig für das<br />
wirtschaftliche Leben gemacht werden. Beide Experten sehen bei der<br />
Weiterentwicklung der Organisationsaufstellung das Thema<br />
Öffentlichkeitsarbeit und vor allem wissenschaftliche Untersuchungen und<br />
Studien <strong>als</strong> sehr wichtig.<br />
Ein weiteres Hindernis besteht in der derzeitigen Mentalität der Manager, die<br />
scheinbar mit Halbwahrheiten besser umgehen können, <strong>als</strong> mit einer totalen<br />
Unsicherheit. ROSSELET zitiert im Interview einen Manager der sagt:
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 86<br />
Es ist manchmal einfacher mit einer Lösung zu leben, <strong>von</strong> der ich<br />
weiß dass sie nicht ganz richtig ist. Aber sozusagen aus diesem<br />
Wissen was nicht ganz richtig ist in diese Unsicherheit<br />
hineingeworfen zu werden, das ist doch ein Schritt vor dem ich mich<br />
etwas scheue. 315<br />
Das Problem der Unsicherheit in Bezug auf fehlende Erklärungsmodelle taucht<br />
in den Antworten der Vorabrecherche neben der Unsicherheit, was die<br />
Organisationsaufstellung genau ist, öfter auf. Die Angst, dass man bei<br />
Verwendung der Methode in die „esoterische“ Ecke gestellt wird, ist scheinbar<br />
für Unternehmen immer noch existent. Es wird kritisiert, dass Berater oftm<strong>als</strong><br />
nur einen therapeutischen, aber keinen betriebswirtschaftlichen Hintergrund<br />
besitzen und damit andere Arbeitsinteressen verfolgen. Um dieser Entwicklung<br />
vorzubeugen wollen die „Gesellschaften für Systemaufstellungen […] schlecht<br />
ausgebildeten Beratern entgegentreten und ein seriöses Berufsbild nach außen<br />
tragen.“ 316 Auch ROSSELET beschreibt im Interview, dass die Richtung in die die<br />
Aufstellungsarbeit driftet, stark <strong>von</strong> der Aufstellerszene selbst geprägt sein wird.<br />
6.1.6 What´s next: Entwicklungen der Organisationsaufstellung<br />
Welche Trends lassen sich bei der Entwicklung der Methode feststellen?<br />
Nachfolgend sind drei Entwicklungstendenzen aufgeführt, die aus den<br />
Experteninterviews und der Vorabrecherche identifiziert wurden:<br />
1.) Die Aufstellung <strong>als</strong> Fachspezifische Anwendung im Methodenkoffer<br />
Die Meinungen aus der Vorabrecherche und den Interviews deuten einheitlich<br />
darauf hin, dass die Formate der Aufstellungsarbeit in Zukunft fachspezifischer<br />
angewendet und stärker auf das jeweilige Sachgebiet ausgelegt (z.B.<br />
Marketingaufstellung, spezielle Strategieaufstellungen) werden. ASSLÄNDER<br />
nennt im Interview ein Beispiel im Hinblick auf die sachorientierte<br />
Aufstellungsarbeit:<br />
Typisches Beispiel: Hamburg. Wir planen neue Filialen, wir haben<br />
uns acht Standorte ausgesucht, aber können nicht acht Filialen<br />
eröffnen. Was sind denn die lohnenden Standorte? Da gibt es die<br />
315 Rosselet zitiert einen Manager im Experteninterview<br />
316 Zitat einer befragten Person aus der Vorabrecherche
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 87<br />
Kaufkraft, die Konkurrenzsituation, haben wir dort geeignete<br />
Mitarbeiter? 317<br />
Die Organisationsaufstellung wird vermehrt im professionellen Kontext<br />
eingesetzt, d.h. weg vom „Guru-Image“ hin zur Expertenanwendung <strong>als</strong> eine<br />
Methode bzw. Technik in Prozessen. Viele Antworten betonten in diesem<br />
Zusammenhang, dass die Aufstellung ein Werkzeug <strong>von</strong> vielen im<br />
Methodenkoffer des Beraters ist, aber nicht „die“ Methode schlechthin. Die<br />
bloße Fokussierung des Beraters auf Techniken, <strong>als</strong> Sinnstiftendes Element in<br />
Organisationen, hat auf lange Sicht wenig Erfolg.<br />
Die Tendenz scheint auch dahin zu gehen, dass zum einen vermehrt<br />
Fachexperten ausgebildet werden, die einen qualifizierten<br />
Organisationshintergrund vorweisen können. Zum anderen gibt es<br />
Weiterbildungen für Organisationsinterne, die keine Beratung mehr in Anspruch<br />
nehmen, sondern ihr Wissen in das interne Management know-how<br />
übernehmen.<br />
2) Kombination mit anderen Modellen und Methoden<br />
Die Methode wird im Gegensatz zu früher mehr in einen Prozess eingebettet,<br />
bei dem der gemeinsame Austausch eine viel wichtigere Rolle spielt.<br />
Die oft ohne viele Worte entstandenen Bilder und Lösungen<br />
bedürfen der Versprachlichung, damit der Transfer und die<br />
Nachhaltigkeit der Arbeit gesichert ist. Die Systemaufstellung kann<br />
nur ein Teil eines gesamten Lern-, Veränderungsprozesses sein und<br />
nicht eine Einzelintervention. 318<br />
Aufstellungen werden in komplette Interventionsarchitekturen eingebettet und<br />
orientieren sich vermehrt an bekannten Managementmodellen und anderen<br />
Beratungsmethoden. ROSSELET kombiniert sein eigenes Format mit<br />
Managementmodellen, die er <strong>als</strong> „heuristisches Raster“ nimmt, welches bei der<br />
Problemsuche und Modellierung der Aufstellung hilft. Das<br />
Wahrnehmungsmodell <strong>von</strong> SCHARMER 319 dient beispielsweise dazu, die<br />
Aufstellung in diesen Prozess einzubauen. Den Führungskräften kann durch<br />
das Prozessmodell visualisiert werden, auf welcher Ebene des Prozessmodells<br />
317 Zitat Assländer im Experteninterview<br />
318 Zitat einer befragten Person in der Vorabrecherche<br />
319 Vgl. Scharmer, C.O. (2009): Theorie U: Von der Zukunft her führen. Prescencing <strong>als</strong> soziale<br />
Technik.
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 88<br />
sich die Aufstellungsarbeit eingliedern lässt. Auch ASSLÄNDER ist der Meinung,<br />
dass die Organisationsaufstellung sich mit anderen bewährten Methoden wie<br />
dem Projektmanagement oder der Organisationsentwicklung verbinden muss.<br />
3) Kreative Weiterentwicklungen<br />
Neben der klassischen und puristischen Aufstellung, wie beispielsweise WEBER<br />
sie in offenen Seminaren anwendet, haben sich verschiedene kreative Formen<br />
entwickelt. Die Aufstellung wird oftm<strong>als</strong> gar nicht mehr <strong>als</strong> solche<br />
wahrgenommen. Beispielsweise fließt die Aufstellungsarbeit mit Bodenankern<br />
immer mehr in zweier Settings und Coachings ein.<br />
Typisches Beispiel: letzte Woche war ein junger Mann bei mir, der<br />
schon mehrfach zum Coaching da war. Er sagte, ich hab ein<br />
Angebot <strong>von</strong> jemandem, der bei mir einsteigen will in der Firma und<br />
der seine eigene Firma mitbringt. Was machen wir jetzt? Soll ich eine<br />
geschäftliche Partnerschaft eingehen oder nicht? Und dann stellen<br />
wir das auf. Mit Bodenankern, d.h. verschiedene Geschäftsmodelle,<br />
Minderheitsbeteiligung, Mehrheitsbeteiligung, ganz verkaufen. Das<br />
sind Arbeitsweisen, die vor 5 Jahren so noch nicht waren. 320<br />
Auch in Zukunft wird es neue Formate und Aufstellungsstrukturen geben (wie<br />
sie z.B. VARGA VON KIBED entwickelt hat), um die Methode lehrbar zu machen.<br />
Es geht allerdings nicht darum, die „101ste Form“ herauszufinden in welcher<br />
Form man Aufstellungen noch durchführen kann, sondern es müssen konkrete<br />
Erklärungsmodelle geschaffen werden.<br />
6.2 Interpretation der Ergebnisse<br />
Die Ergebnisse der Experteninterviews und der Vorabrecherche werden nun<br />
den aufgestellten Hypothesen zur Arbeit sowie den Literaturgrundlagen<br />
gegenübergestellt. Jeder Abschnitt beginnt einleitend mit der Hypothese (siehe<br />
Kapitel 5.1).<br />
320 Zitat Assländer im Experteninterview
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 89<br />
6.2.1 Der systemisch-konstruktivistische Ansatz<br />
Hypothese: Wenn sich die Organisationsaufstellung <strong>als</strong> Methode etablieren<br />
will, dann kann der systemisch-konstruktivistische Ansatz dazu maßgeblich,<br />
im Sinne eines passenden Erklärungsmodells für Organisationen, beitragen.<br />
Ausgangspunkt dieser Hypothese stellte der Kritikpunkt dar, dass<br />
Organisationsaufstellungen zu oft in Richtung Familienaufstellung bzw. Esoterik<br />
driften. Die Hypothese zieht daher den systemisch-konstruktivistischen Ansatz<br />
in Betracht, um die Organisationsaufstellung im Wirtschaftsleben<br />
möglicherweise „besser aufzustellen“, <strong>als</strong> sie es im Moment ist. 321<br />
Die Ergebnisse der Bodenprobe zeigen, dass fundierte Erklärungsmodelle<br />
notwendig sind, um die Methode in der Tiefe zunächst einmal überhaupt<br />
verstehen zu können – bevor sie erklärt werden kann. Es besteht ein<br />
vermehrter Bedarf nach mehr Professionalität, qualifizierten Beratern mit<br />
Managementhintergrund und fundierten Erklärungsmodellen. Erstaunlich<br />
aufgrund dieser Tatsachen ist, dass beide Experten im Interview den<br />
systemisch-konstruktivistischen Ansatz zwar <strong>als</strong> nützlich einstufen, eine erhöhte<br />
Akzeptanz durch diesen Erklärungsansatz aber eher <strong>von</strong> anderen Parametern<br />
abhängig machen. Der Fokus <strong>von</strong> Managern geht bestimmt verstärkt auf die<br />
Effektivität des Instruments, auf persönliche Fähigkeiten des Beraters und nicht<br />
auf erkenntnistheoretische Grundlagen. An dieser Stelle muss allerdings kritisch<br />
hinterfragt werden, ob Manager allgemein nicht an erkenntnistheoretischen<br />
Grundlagen interessiert sind, oder ob sie vielmehr <strong>von</strong> „esoterisch<br />
angehauchten“ Erklärungen Abstand nehmen möchten?<br />
Die Ausgangshypothese kann aufgrund der Ergebnisse der Bodenprobe <strong>als</strong><br />
bestätigt angesehen werden. Beide erkenntnistheoretische Ansätze können<br />
viele Potentiale bieten, die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu schulen und neu<br />
auszurichten. Organisationen müssen vor allem seit der Finanzkrise lernen,<br />
umzudenken und vom kausalen Denken loszulassen. Die Grundsätze der<br />
Systemtheorie bieten dahingehend ein umfangreiches Portfolio an nützlichen<br />
Ansätzen, um Dynamiken in Systemen wie Organisationen, aber auch Gruppen<br />
und Teams zu verstehen. Zusätzlich zum systemischen Denken schafft der<br />
321 Die Hypothese rückt den systemisch-konstruktivistischen Ansatz in den Vordergrund, was<br />
nicht bedeutet, dass phänomenologisches Aspekte im Aufstellungsprozess negiert werden.
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 90<br />
Konstruktivismus die Möglichkeit, die eigene Wirklichkeit bewusster zu<br />
gestalten.<br />
Je nachdem welche Wirklichkeitskonstruktion man der Aufstellungsarbeit selbst<br />
zu Grunde legt, kann der systemisch-konstruktivistische Ansatz ein möglicher<br />
Erklärungsansatz sein, um bestimmte Teilaspekte zu beschreiben. Allerdings<br />
wird er nie der Ansatz schlechthin zur Erklärung sein, insbesondere weil das<br />
Ganze mehr <strong>als</strong> die Summe seiner Teile ist. 322<br />
6.2.2 Die Bedeutung der systemischen Grundsätze<br />
Hypothese: Je stärker die Fokussierung auf systemische<br />
Ordnungsprinzipien, die Organisationen zu Grunde gelegt werden, desto<br />
höher ist die Gefahr einer schematisierten Anwendung <strong>von</strong><br />
Organisationsaufstellungen.<br />
Die Hypothese baut auf einer kritischen Annäherung an die Bedeutung<br />
systemischer Grundsätze auf. Die Literatur und die Ergebnisse der Erhebung<br />
zeigen, dass verschiedene Potentiale in diesen Grundsätzen stecken. Aufsteller<br />
können sich an den systemischen Grundsätzen orientieren, um im<br />
Aufstellungsprozess schneller zur Lösungsfindung zu kommen. In wie weit sich<br />
der Aufstellungsprozess an diesen Prinzipien orientiert, wird letztlich vom<br />
Aufstellungsleiter bestimmt.<br />
Fragwürdig bleibt dennoch, ob mit einer starken Orientierung an den<br />
systemischen Prinzipien eine offene und unbeeinflusste Arbeit möglich ist.<br />
Unter konstruktivistischen Gesichtspunkten können solche Prinzipien nie<br />
objektiv sein, da sie aufgrund <strong>von</strong> Wertannahmen und Grundhaltungen definiert<br />
wurden.<br />
In wie weit die aufgestellte Hypothese zutrifft, kann an dieser Stelle aufgrund<br />
der konträren Darstellung in der Literatur sowie in den Experteninterviews nicht<br />
abschließend beantwortet werden. Deutlich ist jedoch, dass sich auch<br />
systemische Grundsätze in Zukunft mit neuen Rahmenbedingungen<br />
322 „Das Ganze ist mehr <strong>als</strong> die Summe seiner Teile“ Zitat <strong>von</strong> Aristoteles
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 91<br />
auseinandersetzen und sich dem Kontext, in dem sie angewendet werden,<br />
anpassen müssen. Schon bestehende Ansätze, die beispielsweise die<br />
Grundsätze in anerkannte Managementmodelle einbetten sind eine Möglichkeit,<br />
diese für das Management möglicherweise erklär- und greifbarer zu machen.<br />
Ein weiterer Ansatz besteht darin, das Potential der systemischen Grundsätze<br />
<strong>als</strong> hilfreiches und effizientes Werkzeug in der täglichen Arbeit der<br />
Führungskraft einzusetzen. Die Anwendung der Grundsätze kann zu einer<br />
bewussteren Wahrnehmung in Bezug auf innere Wirkmechanismen im System<br />
beitragen. Personalpolitische Themen wie Kündigungen, Neueinstellungen,<br />
genauso wie strategische Themen können durch das Bewusstsein, dass es so<br />
etwas wie ein „systemische Gewissen“ in Organisationen gibt, anders<br />
angegangen werden.<br />
Bisher sind diese systemischen Prinzipien allerdings fast ausschließlich in<br />
Aufstellungsliteratur eingebettet. Veröffentlichungen, die solche Grundsätze<br />
bewusst in einem betriebswirtschaftlichen Kontext darstellen (ohne dem Leser<br />
das Gefühl zu geben, ein therapeutisches Buch in der Hand zu halten) fehlen.<br />
6.2.3 Organisationsaufstellung innerhalb <strong>von</strong> Arbeitssystemen<br />
Hypothese: Je weiter die Entwicklung der Organisationsaufstellung<br />
voranschreitet, desto verstärkter wird die Methode direkt organisationsintern<br />
mit den Systemteilnehmern angewendet.<br />
Ausgehend <strong>von</strong> der Annahme, dass die Eigendynamik <strong>von</strong> Systemen am<br />
besten im System selbst erfahren werden kann, sollte in der Befragung<br />
herausgefunden werden, in wie weit der Trend zur Aufstellungen im<br />
Arbeitssystem geht.<br />
Die Ergebnisse der Bodenprobe lassen keine eindeutige Antwort in Bezug auf<br />
die Hypothese zu. Auffallend ist aber, dass sich die Literatur verstärkt mit der<br />
Aufstellungsarbeit in Organisationen beschäftigt und aus dieser Dynamik<br />
heraus, nach neuen Ansätzen sucht, um direkt mit Managern zu arbeiten.<br />
Ausgehend <strong>von</strong> der Systemtheorie macht ein solches Vorgehen auch Sinn, da
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 92<br />
die Systemteilnehmer, <strong>von</strong> Innen aus der Organisation heraus für bestimmte<br />
Handlungen und Veränderungen gewonnen werden müssen.<br />
Durch Aufstellungen mit den Systemteilnehmern kann die Wirklichkeit direkt<br />
erlebbar gemacht werden – für jeden einzelnen des Teams oder des<br />
Führungsgremiums. Die individuelle Erfahrung der Systemteilnehmer aus der<br />
Aufstellung heraus und die womöglich entstandene veränderte Wahrnehmung,<br />
beeinflusst und verändert <strong>als</strong> Konsequenz die gesamte Organisation. An dieser<br />
Stelle sei abschließend Prof. Dr. Sell zitiert:<br />
Organisationen verändern sich dann, wenn sich die Gruppen in der<br />
Organisation verändern. Und Gruppen verändern sich dann, wenn<br />
sich die Individuen in der Gruppe verändern. 323<br />
6.2.4 Vom Lösungsbild zum Lösungsweg<br />
Hypothese: Wenn Organisationen <strong>als</strong> Selbstorganisierende soziale Systeme<br />
gesehen werden, dann können diese die Lösungsbilder einer Aufstellung<br />
selbst umsetzen.<br />
In der Vergangenheit wurde der Prozessbegleitung, um vom Lösungsbild zum<br />
Lösungsweg zu kommen, relativ wenig Bedeutung beigemessen. Die Literatur<br />
zu diesem Thema ist spärlich und es finden sich nur vereinzelte Ansätze, bei<br />
denen die Aufstellung in eine Prozessabfolge eingebettet ist. Aus den<br />
Expertengesprächen konnte allerdings herausgefiltert werden, dass die<br />
Aufstellung immer mehr in einen kompletten Beratungsprozess eingebettet ist.<br />
Für Organisationen ist es schwer möglich, eigene „blinde Flecken“ <strong>von</strong> sich aus<br />
zu erkennen. Die Analogie „Die Waage kann sich auch nicht selbst wiegen“<br />
verdeutlicht, dass wir alle Teil eines Systems sind. Der Berater kann mit Hilfe<br />
<strong>von</strong> Organisationsaufstellungen verborgene Anteile sichtbar machen und der<br />
Organisation zweckorientiert zu einer Lösung zu verhelfen.<br />
Die Tendenz der Interviews und auch der Vorabrecherche deutet zwar darauf<br />
hin, dass die Prozessbegleitung vom Lösungsbild zum Lösungsweg immer<br />
wichtiger wird, in wie fern sie allerdings notwendig für die Organisation ist, sei<br />
323 Zitat <strong>von</strong> Clifford Sell, Professor für Unternehmensentwicklung<br />
(www.organisationsentwickler.org) an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt.
6. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse 93<br />
dahingestellt. Wenn Organisationen <strong>als</strong> autopoietische Systeme gesehen<br />
werden, die sich aus ihrer Dynamik neu erschaffen, müssten diese auch in der<br />
Lage sein, Lösungen aus Aufstellungen ohne Beraterleistung umzusetzen.<br />
Kritisch hinterfragt bedeutet dies: Versuchen Berater durch vertiefte<br />
Prozessbegleitung sich selbst <strong>als</strong> „Architekt“ für weitere Beratungsleistungen zu<br />
platzieren? Oder geht es genau darum, Organisationen mit der Umsetzung der<br />
Lösung „alleine zu lassen“, um deren Selbstveränderungspotential, vielleicht<br />
auch schmerzhaft außerhalb der „Komfortzone“, anzuregen?
7. Schlussfolgerung 94<br />
7. Schlussfolgerung<br />
Diese Arbeit zeigt auf, dass wir alle Beobachter auf dieser Welt sind und aus<br />
unserem Blickwinkel heraus definieren und interpretieren, wie wir die<br />
Wirklichkeit verstehen und betrachten wollen. Wir schaffen uns eigene<br />
Wirklichkeitskonstruktionen, die unserem Weltbild am passendsten erscheinen<br />
und kommunizieren diese nach außen. Wir kommunizieren, um unsere<br />
Wirklichkeit zu schaffen und stolpern dabei regelmäßig über sogenannte „blinde<br />
Flecken“, die scheinbar nicht sichtbar sind für uns. In Organisationen begegnen<br />
uns diese blinden Flecken in Form <strong>von</strong> Konflikten und Verhaltensweisen, die wir<br />
nicht verstehen und nachvollziehen können, weil sie den Teil des Eisberges<br />
wiederspiegeln, der unter der Oberfläche verborgen ist.<br />
Bei der Betrachtung der Wirklichkeit geht es nicht darum, existente Dinge im<br />
System zu leugnen oder so zu tun, wie wenn z.B. die Finanzkrise gar nicht<br />
bestehe. Es kommt vielmehr darauf an, anzuerkennen was ist und auf unsere<br />
Einstellung und Perspektive zu achten. Positives Denken allein reicht allerdings<br />
nicht aus, um einen Baum zu fällen, wenn unser Handwerkszeug stumpf und<br />
unsere Position zum Baum, der gefällt werden soll, die f<strong>als</strong>che ist:<br />
Wenn wir Ziele erreichen wollen, dann sollten wir nicht einfach<br />
drauflos sägen. Wenn wir uns aber mit geschärfter Säge im richtigen<br />
Winkel zum Baum aufstellen und den geeigneten Ansatzpunkt<br />
finden, so haben wir die beste Chance, dass der Baum in die<br />
gewünschte Richtung fällt. 324<br />
Die Organisationsaufstellung <strong>als</strong> zu Grunde gelegte Methode in dieser Arbeit,<br />
visualisiert in räumlichen Bildern, wie Personen zu bestimmten Sach- und<br />
Beziehungsthemen ein- und aufgestellt sind. Die Aufstellungsarbeit hilft, die<br />
richtige Ausrichtung zu finden, überprüft welche unbewussten Dynamiken im<br />
System auf welche Art und Weise wirken und absorbiert Unsicherheiten.<br />
Im Vordergrund steht dabei immer der Mensch, der in seiner täglichen Arbeit in<br />
Organisationen Bezüglichkeiten zu seinen Anspruchsgruppen aufbaut. Er<br />
interpretiert Ereignisse in der Organisation, sowie die äußeren<br />
Rahmenbedingungen des Marktes und schafft daraus seine<br />
Wirklichkeitskonstruktion. Umso schwieriger ist die Definition der soziologischen<br />
324 Zitat <strong>von</strong> Hans-Peter Hepe. Systemischer Begleiter
7. Schlussfolgerung 95<br />
Systemtheorie LUHMANNS zu akzeptieren, die den Menschen in die Umwelt <strong>von</strong><br />
Systemen „abschiebt“. Die Gedankengänge des Systemtheoretikers sind so<br />
eng vernetzt mit der systemischen Literatur, dass man sich zwangsläufig mit<br />
diesem Gedanken auseinander setzen muss. So auch im Rahmen dieser<br />
Arbeit. Was macht man nun mit dem Menschen? Die Literatur geht mit diesem<br />
Problem unterschiedlich um. Um den Spagat zwischen Anspruch und gelebter<br />
Wirklichkeit auszubalancieren wird z.B. das „menschenleere System“ 325<br />
weggedacht und einfach nicht thematisiert. Andere Autoren beziehen sich auf<br />
mehrere systemische Ansätze und kombinieren diese, um das Dilemma<br />
Mensch zu umgehen. Was bleibt ist ein blinder Fleck, im Hinblick auf eine<br />
Theorie, die in der Literatur <strong>als</strong> oft genutzte Erklärungsbasis dient.<br />
Die Diskrepanz um den Faktor Mensch spiegelt möglicherweise auch den<br />
Wunsch der Gesellschaft wieder, auf jedes uns unerklärliche Phänomen mit<br />
einem passendenden Erklärungsmodell zu reagieren. LEWIN hat einmal gesagt<br />
„Es gibt nichts Praktischeres <strong>als</strong> eine gute Theorie“. Die Ergebnisse der<br />
Erhebung im Rahmen dieser Arbeit zeigen, dass es „gute Theorien“ braucht,<br />
um verständliche und klare Geschichten über die Aufstellungsarbeit erzählen<br />
können. Dazu muss das „babylonische Sprachgewirr der systemischen<br />
Beratung“ 326 zunächst entwirrt und vereinheitlicht werden, damit Erklärungen zu<br />
Aufstellungsphänomen auch für Menschen die keine Systemtheoretiker,<br />
Wissenschaftler und Esoteriker sind, zugänglich werden.<br />
Es wird wie ROSSELET im Interview erwähnte, unabhängig aller<br />
Erklärungsmodelle zusätzlich und maßgeblich auf die „Aufstellerszene“<br />
ankommen, wie sie ihre Wirklichkeit gestaltet und sich nach außen darstellen<br />
möchte. Vielleicht darf man dabei den Schulenstreit, die Frage heißt es nun<br />
Systemaufstellung, systemische Aufstellung, Organisationsaufstellung oder<br />
Strukturaufstellung, nicht überbewerten. Die Aufstellung ist insbesondere in<br />
Bezug auf Arbeits- und Organisationskontexte eine junge Methode mit viel<br />
Zukunftspotential, die sich weiter finden und <strong>von</strong> innen heraus entwickeln muss.<br />
325 Niermann (2007) S. 119<br />
326 Niermann (2007) S. 109<br />
„Und während du das Alte machst, darf das Neue wachsen“<br />
VARGA VON KIBED
Anhang 96<br />
Anhang<br />
Exkurse<br />
Anhang 1: Phänomenologie<br />
Anhang 2: Repräsentierende Wahrnehmung<br />
Anhang 3: Die Organisationsaufstellung <strong>als</strong> systemische Methode<br />
Expertenbefragung<br />
Anhang 4. Leitfaden zur Befragung<br />
Anhang 5: Post Skriptum<br />
Anhang 6: Ergebnisse Vorabrecherche<br />
Anhang 7: Transkription Dr. Friedrich Assländer<br />
Anhang 8: Transkription Claude Rosselet<br />
Anhang 9: Biografie der Interviewpartner
Anhang 97<br />
Anhang 1: Phänomenologie<br />
Was bedeutet Phänomenologie?<br />
Unter Phänomenologie versteht man oberflächlich betrachtet die „Lehre der<br />
Erscheinungen“, deren Untersuchungsgegenstand die Welt bzw. Gegenstände und<br />
Bewusstseinsinhalte sind. Die Phänomenologie ist bestrebt, die soziale Wirklichkeit mit<br />
ihren Strukturen und Eigenschaften ohne Vorurteile und subjektive Einschätzungen<br />
aus Vergangenheitswerten zu sehen, um zu den Dingen an sich vordringen zu<br />
können. 327<br />
Im Hinblick auf die Aufstellungsarbeit ergeben sich verschiedene phänomenologische<br />
Aspekte, die im Folgenden dargestellt werden.<br />
Phänomenologische Aspekte in Systemaufstellungen<br />
Das Vorgehen <strong>von</strong> Aufstellungen soll immer dem „Prinzip der Urteilsenthaltsamkeit“<br />
entsprechen, bei dem keine absoluten und wertenden Urteile gefällt werden. 328<br />
Wahrnehmungen und mögliche Lösungen aus Organisationsaufstellungen sollen<br />
anders ausgedrückt, vorurteilsfrei und wertneutral <strong>als</strong> Phänomene eingeordnet werden,<br />
die sich nicht anhand einer festen Theorie erklären lassen. 329 WEBER beschreibt den<br />
Ansatz des phänomenologischen Wahrnehmens mit den Worten:<br />
Wenn ich mich möglichst unvoreingenommen hinschauend einlasse und<br />
den Blick weite und <strong>von</strong> meinen Vorurteilen und Unterstellungen Abstand<br />
nehme, kann ich leichter Unerwartetes wahrnehmen und hafte weniger an<br />
meinen vorgefassten Hypothesen. 330<br />
In der Praxis bedeutet dies, Ordnungsvorstellungen und Muster fallen zu lassen wenn<br />
der Kontext es nötig macht, um der intuitiven Wahrnehmung Vorrang zu geben. 331<br />
Die Gemeinsamkeit <strong>von</strong> Phänomenologie und Konstruktivismus<br />
In der Aufstellungsarbeit gibt es zwei verschiedene Ansätze, den „konstruktivistischen“<br />
und den „phänomenologischen“. Die Phänomenologen erweitern das<br />
konstruktivistische Wirklichkeitsverständnis, „um ein größeres Ganzes“, welches<br />
sozusagen vorgefunden wird. Der Fokus einer phänomenologischen Sichtweise liegt<br />
auf der Wahrnehmung „was ist“, während für die konstruktivistische Wahrnehmung<br />
327 Vgl. Lamnek (2005) S. 48-50<br />
328 Vgl. Sparrer (2001) S. 78<br />
329 Vgl. Gminder (2005) S. 58<br />
330 Weber (2005) S. 137<br />
331 Vgl. Essen (2001) S. 106
Anhang 98<br />
„was sein könnte“, gilt. 332 Um einen Einblick in die zwei verschiedenen Denkprozesse<br />
zu erhalten dient folgender Gesprächsauszug:<br />
Wir können die Wirklichkeit nicht abbilden,“ sagen die Konstruktivisten. „Wir<br />
können sie nur begreifen. Wahrnehmung ist Beziehung. Wir bringen uns<br />
selbst ein in das, was wir zu begreifen suchen. Die Struktur unserer Denkund<br />
Wahrnehmungsorgane determiniert zu 90 %, was wir wahrnehmen.“<br />
„Aber,“ sagen die Phänomenologen, „relativiert ihr nicht zu sehr die andere<br />
Seite der Beziehung? Bis dahin, dass ihr sagt, es gibt sie nicht? Und betont<br />
nur die eigene innere Struktur der Lebewesen <strong>als</strong> ausschlaggebend für die<br />
Wahrnehmung? 333<br />
ESSEN stellt im Zusammenhang mit dem Dialog die Frage: „Ist alles Beziehung oder ist<br />
die Wirklichkeit auch gegenständlich?“ 334 Die Antwort sieht er darin, dass die Intuitive<br />
Wahrnehmung, auch umschrieben mit phänomenologischer Wahrnehmung, nicht in<br />
einem Widerspruch zu konstruktivistischen Auffassungen steht. 335<br />
Die Meinung, dass Phänomenologie und Konstruktivismus sich ergänzen, wird häufig<br />
in der Literatur vertreten. WEBER sieht beispielsweise die systemisch-konstruktivistische<br />
und die systemisch-phänomenologische Zugangsweise <strong>als</strong> sich gegenseitig ergänzend<br />
und ein „sowohl-<strong>als</strong>-auch“. Er differenziert zwischen einem theoretischen Gerüst,<br />
welches der systemisch-konstruktivistische Zugang bereitstellt, um die vernetzten<br />
Strukturen in sozialen Systemen zu verstehen und zu beeinflussen. Die<br />
phänomenologische Sichtweise ist hingegen darauf fokussiert, die<br />
Wahrnehmungsfähigkeit und Sensibilität für Beziehungsstrukturen zu schärfen und<br />
unbekanntes aufzudecken. 336<br />
Begründet wird dieser sich gegenseitig ergänzende Ansatz, indem unter anderem<br />
da<strong>von</strong> ausgegangen wird, dass Phänomene (d.h. das unbekannte) und deren<br />
Interpretationen nicht getrennt <strong>von</strong>einander betrachtet werden können und „nicht<br />
entkoppelbar“ sind. Die phänomenologische Sichtweise besteht in diesem<br />
Zusammenhang darin, dass im Aufstellungsprozess Phänomene wahrgenommen<br />
werden, die einer real bestehenden Welt zu Grunde liegen. Diesen Phänomenen wird<br />
durch den Teilnehmerkreis permanent Sinn und Bedeutung verliehen in Form <strong>von</strong><br />
Interpretation. Aus der konstruktivistischen Perspektive können Aufstellungen mögliche<br />
Wirklichkeitskonstruktionen und Lösungen abbilden. Konstruktionen enthalten <strong>als</strong><br />
Konsequenz an sich schon „Interpretation und Sinngebung“ und sind damit ebenfalls<br />
332 Vgl. Horn, Brick (2001) S. 40 f.<br />
333 Essen (2001) S. 106<br />
334 Essen (2001) S. 106<br />
335 Essen (2001) S. 106 f.<br />
336 Vgl. Weber (2000) S. 35
Anhang 99<br />
„nicht entkoppelbar“. 337 GMINDER verdeutlicht den phänomenologischen und<br />
konstruktivistischen Zusammenhang im Aufstellungsprozess folgendermaßen:<br />
Im Ist-Bild werden zunächst komplexe soziale und thematische<br />
Zusammenhänge offen gelegt bzw. dekonstruiert. In der Prozessarbeit wird<br />
dann eine mögliche Lösungssicht konstruiert bzw. verschiedene mögliche<br />
Zukünfte simuliert. […]. 338<br />
Ein weiterer Zusammenhang besteht darin, dass beide Ansätze annehmen dass der<br />
Wahrnehmungsprozess durch die Person die wahrnimmt beeinflussbar ist und letztlich<br />
keine objektive Wirklichkeit erkennbar ist. 339 Beide Methoden gehen <strong>von</strong> einer:<br />
„Beeinflussung des Wahrgenommenen im Wahrnehmungsprozess durch den<br />
Wahrnehmenden“ aus. Man kann daher sagen, beide Richtungen gelten <strong>als</strong><br />
konstruktivistisch, da bewusst ist, dass die Wirklichkeit nicht direkt erkennbar ist. 340<br />
337 Vgl. Gminder (2005) S. 57-60<br />
338 Gminder (2005) S. 59 f.<br />
339 Vgl. Sparrer (2001 S. 71<br />
340 Vgl. Sparrer (2001) S. 68
Anhang 100<br />
Anhang 2: Repräsentierende Wahrnehmung<br />
Der Aufstellungsprozess lebt <strong>von</strong> der Einfühlung der Stellvertreter in<br />
Beziehungskonstellationen des dargestellten Systems. Die Stellvertreter können häufig<br />
valide und hilfreiche Hinweise und Rückmeldungen auf den Zustand des dargestellten<br />
Systems geben, ohne im Vorfeld etwas darüber zu wissen. Für den Thementräger<br />
erscheint das Ausmaß der Einfühlung und der damit verbundenen Aussagen oft<br />
verblüffend und nahezu „hellseherisch“. Wie die Wahrnehmung der Stellvertreter, <strong>als</strong><br />
zentraler Wirkungsfaktor der Aufstellungsmethodik, erklärt werden kann, wird in der<br />
Literatur unterschiedlich beantwortet. 341 Die Theorien zur Erklärung des Phänomens<br />
reichen <strong>von</strong> übersinnlicher Wahrnehmung, morphogenetischer Felder bis zu<br />
kommunikationstheoretischen Modellen. 342 Allgemein durchgesetzt hat sich in der<br />
Literatur der Begriff „repräsentierende Wahrnehmung“, der auf VARGA VON KIBED und<br />
SPARRER zurückgeht und an dieser Stelle, zusammen mit dem Ansatz <strong>von</strong> SIMON,<br />
ausführlicher behandelt wird.<br />
Repräsentierende Wahrnehmung (nach VARGA VON KIBED und SPARRER)<br />
Das Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung liegt <strong>als</strong> zentrale Gemeinsamkeit<br />
allen Aufstellungsformen (Familien, - Organisationsaufstellung etc.) zugrunde. Die<br />
Stellvertreter in Aufstellungen sind Mitglieder eines „repräsentierenden Systems“.<br />
VARGA VON KIBED beschreibt ein repräsentierendes System <strong>als</strong> ein System, welches<br />
fokussiert ist, mittels der räumlichen Anordnung der Stellvertreter und ihrer<br />
Körperwahrnehmungen die Beziehungsstrukturen des visualisierten Systems<br />
darzustellen. Die Stellvertreter bekommen in Aufstellungen eine Art <strong>von</strong><br />
Wahrnehmung, die scheinbar Einzelpersonen außerhalb <strong>von</strong> Aufstellungen nicht<br />
zugänglich ist. 343<br />
VARGA VON KIBED versteht die repräsentierende Wahrnehmung <strong>als</strong> ein<br />
Gruppenphänomen, welches durch die Wahrnehmungen und Empfindungen der<br />
Stellvertreter und die Bedeutungszuschreibung der Klienten zustande kommt. Die<br />
Verbindung <strong>von</strong> Empfindungen der Stellvertreter auf der einen und der<br />
Bedeutungszuordnung der Stellvertreter auf der anderen Seite, charakterisiert die<br />
Wahrnehmung. 344<br />
Die repräsentierende Wahrnehmung wird im<br />
Strukturaufstellungsprozess <strong>als</strong> ein unterschiedsbasierter Begriff verstanden, der<br />
lediglich in angemessener Form durch „unterschiedsbetonte“ Fragen gefördert werden<br />
341 Vgl. Ameln, Kramer (2007) S. 296 f.<br />
342 Vgl. Simon (2005) S. 58 f.<br />
343 Vgl. Varga <strong>von</strong> Kibéd (2000) S. 15 ff.<br />
344 Vgl. Varga <strong>von</strong> Kibéd (2008) S. 27
Anhang 101<br />
kann. Ein Beispiel für eine unterschiedsbetonte Frage ist: „Was hat sich für dich<br />
geändert, <strong>als</strong> du in dieses Bild gekommen bist, und was wurde anders, <strong>als</strong> die anderen<br />
dazukamen?“ 345<br />
Andere Aufsteller wie WEBER oder SIMON verwenden hingegen die verbreitete<br />
Fragemethodik: „Wie geht es dir?“ oder „Wie fühlen Sie sich?“ bei der Befragung der<br />
Stellvertreter an. VARGA VON KIBED ist der Meinung, dass diese Herangehensweise<br />
stärker zu Vermischungen mit dem eigenen System der Stellvertreter einlädt, während<br />
unterschiedsbetonte Fragen eine größere Unabhängigkeit des Aufstellungsbildes<br />
fördern. 346 Die Unterschiede in der Wahrnehmung der Stellvertreter fügen sich für die<br />
Klienten zu einem „sinnvollen Gesamtbild ihrer Situation“ zusammen und generieren<br />
die repräsentierende Wahrnehmung. Der Aufstellungsleiter kann sich dadurch <strong>von</strong><br />
Deutungen und Interpretationen lösen, da er nur wissen muss, welche<br />
unterschiedlichen Wahrnehmungen („Es geht mir besser, schlechter, anders, oder<br />
gleich“ etc.) bei den Stellvertretern ausgelöst wurden, seit z.B. das Bild umgestellt<br />
wurde. 347 Die Aufstellung nimmt bei der Erfragung der repräsentierenden<br />
Wahrnehmung <strong>als</strong>o Bezug auf Befindlichkeitsänderungen (nicht auf Eigenschaften der<br />
Systemteilnehmer), sowie auf „beobachtbare Choreographien und erfragbare<br />
Veränderungstendenzen“. 348<br />
Aufstellungsphänomene aus Systemtheoretischer Sicht (nach SIMON)<br />
Die körperbezogenen Wahrnehmungen und Empfindungen der Stellvertreter sollten<br />
aus systemtheoretischer Sicht „<strong>als</strong> Ergebnis <strong>von</strong> Kommunikation rekonstruierbar sein“.<br />
SIMON schließt dabei andere Erklärungsansätze nicht aus, diese wären dann lediglich<br />
nicht „systemisch“. Aus dem systemisch-konstruktivistischen Blickwinkel liegt es für<br />
SIMON nahe, eine Theorie „des ganzen Körpers“ zu entwerfen, bei dem der Körper <strong>als</strong><br />
Wahrnehmungsorgan für zwischenmenschliche Beziehungen gesehen wird. Um die<br />
Wahrnehmungen, die in Aufstellungen auftreten zu erklären, differenziert SIMON<br />
zwischen zwei unterschiedlichen Wahrnehmungsformen:<br />
1. Diakritische Wahrnehmung: Einzelne Sinnesorgane (Ohr, Auge etc.) und ihre<br />
jeweiligen Fähigkeiten (hören, sehen etc.) werden genutzt um Außenwahrnehmungen<br />
zu unterscheiden und miteinander in Verbindung zu bringen. Die Sinnesorgane sind<br />
die Schnittstelle zwischen Körper und der äußeren Umwelt.<br />
345 Vgl. Varga <strong>von</strong> Kibéd (2008) S. 30 u (2005) S. 203<br />
346 Vgl. Varga <strong>von</strong> Kibéd (2008) S. 31 und (2005) S. 203 f.<br />
347 Vgl. Varga <strong>von</strong> Kibéd (2008) S. 30<br />
348 Vgl. Varga <strong>von</strong> Kibéd (2005) S. 202
Anhang 102<br />
2. Koinästhetische Wahrnehmung: Bei diesem Wahrnehmungsmodus kann der<br />
Körper nur insgesamt reagieren, d.h. einzelne Wahrnehmungen können nicht<br />
differenziert bzw. zwischen den einzelnen Sinneskanälen unterschieden, werden. Die<br />
koinästhetische Wahrnehmung nimmt der Mensch <strong>als</strong> ganzheitliche Empfindung war<br />
(sog. Bauchgefühl)<br />
Insbesondere die koinästhetische Wahrnehmung scheint in Aufstellungen<br />
angesprochen zu sein. Dass verschiedene Personen ähnliche Empfindungen und<br />
Wahrnehmungen in ähnlichen Positionen erleben, scheint laut SIMON nicht<br />
verwunderlich, wenn man den Körper und das „Bauchgefühl“ <strong>als</strong> Basis für das Erleben<br />
<strong>von</strong> Beziehungen macht. Der Körper ist das „verbindende Glied, das menschliche<br />
Beziehungen miteinander verbindet“. 349<br />
Trotz verschiedener Erklärungsansätze können Phänomene in Aufstellungen<br />
wissenschaftlich nach wie vor nicht genau erklärt werden. Anhand einiger Studien gibt<br />
es allerdings empirische Nachweise 350 , dass das Gruppenphänomen der<br />
repräsentierenden Wahrnehmung funktioniert. 351 In der Praxis muss wohl auch in den<br />
kommenden Jahren mit der Unsicherheit, nicht zu wissen warum die repräsentierende<br />
Wahrnehmung funktioniert, umgegangen werden. VARGA VON KIBED zitiert dazu<br />
SPARRER:<br />
Vielleicht haben wir einfach die Frage f<strong>als</strong>ch gestellt? Wir gehen immer<br />
da<strong>von</strong> aus, dass wir <strong>von</strong>einander getrennt sind und diese Verbindung erst<br />
aufstellen müssen. Es könnte doch sein, dass wir an sich miteinander<br />
verbunden sind und es eher darum geht, diese Verbindung nicht zu stören,<br />
sondern sie zu fördern, indem wir gute Bedingungen dafür schaffen, dass<br />
sie ungestört wirken kann. 352<br />
349 Vgl. Simon (2005) S. 58 ff.<br />
350 Vgl. Studie <strong>von</strong> Peter Schlötter: „Vertraute Sprache und ihre Kommunikation“<br />
351 Vgl. Varga <strong>von</strong> Kibéd (2008) S. 30, Simon (2005) S. 59<br />
352 Sparrer zit. in Varga <strong>von</strong> Kibéd (2008) S. 30
Anhang 103<br />
Anhang 3: Die Organisationsaufstellung <strong>als</strong> systemische Methode<br />
Zur Beantwortung der Frage, was systemische Methoden sind, bedarf es zunächst der<br />
Definition des Begriffs „systemisch“. 353 Die Begriffsverwendung systemisch in Bezug<br />
auf die Methode der Aufstellungsarbeit ist in der Literatur seit jeher kontrovers<br />
diskutiert. 354 Es gibt viele verschiedene Ansätze und Begriffsbestimmungen.<br />
SPARRER und VARGA VON KIBED sehen den Begriff systemisch <strong>als</strong> komparativen Begriff,<br />
indem ein Ansatz im Vergleich zu anderen betrachtet wird, um daraus abzuleiten, auf<br />
welche Art und Weise er systemischer ist. 355 Für WEBER bedeutet systemisch<br />
„basierend auf der Systemtheorie“. SIMON stimmt dieser Aussage in einem Dialog mit<br />
WEBER zu und ergänzt dessen Ansicht, indem er systemisch mit einem „Etikett für eine<br />
Theorie“ vergleicht. Dies bedeutet, dass alle Ansätze systemtheoretisch sind, die auch<br />
systemtheoretische Erklärungsansätze verwenden. Systemisch ist keine Eigenschaft<br />
die einer Methode zugeschrieben werden kann, sondern ein Attribut das sich auf<br />
Erklärungen bezieht. 356<br />
Die Grundlagen und Besonderheiten der Systemtheorie können <strong>als</strong> Basis systemischer<br />
Ansätze herangezogen werden, um das Verständnis für komplexe Systeme zu<br />
erhöhen und die Denkweise weg vom Detail hin zum Ganzen zu richten. Dazu braucht<br />
es Ansätze, die nicht nur linear-kausale Denken voraussetzen, sondern wie SPARRER<br />
und KIBED es beschreiben folgende Attribute heranziehen: 357<br />
- Interaktionen im Gesamtsystem<br />
- Betrachtung <strong>von</strong> Kontexten<br />
- Analyse <strong>von</strong> Beziehungsstrukturen zwischen den Systemteilen<br />
- Verwendung <strong>von</strong> Beschreibungen<br />
- Ausrichtung auf Grammatik und Struktur 358<br />
Eine weitere Möglichkeit zu prüfen, ob eine Methode <strong>als</strong> „systemisch“ bezeichnet<br />
werden kann ist laut NEUBERGER, eine Argumentationskette anzunehmen:<br />
- Es existiert nur eine konstruierte Wirklichkeit<br />
- Diese individuelle und vorbestimmte Konstruktion muss offengelegt werden,<br />
Anschluss finden und deren Gültigkeit muss überprüft werden.<br />
353 Vgl. Lehmann (2006) S. 45<br />
354 Vgl. Varga <strong>von</strong> Kibéd (2005), S.227<br />
355 Vgl. Sparrer (2006) S. 39 f.<br />
356 Vgl. Simon (2005) S. 45<br />
357 Vgl. Lehmann (2006) S. 46<br />
358 Vgl. Sparrer (2006) S. 39 f.
Anhang 104<br />
- Die Wirklichkeitskonstruktion wird in ein bestehendes Netzwerk eingeführt, in<br />
dem es Anklang und Zustimmung findet<br />
- Die persönlichen Glaubenssätze werden durch die Wechselbeziehungen in<br />
diesem Netz überprüft. Diese Interaktionen sondern zudem Nichtintegrierbares<br />
aus, verarbeiten Passendes und gleichen es, bzw. sich selbst an. 359<br />
Je nach nachdem in wie weit eine Methode systemischer <strong>als</strong> eine andere eingeschätzt<br />
wird, ermöglicht sie zu einem mehr oder weniger systemischen Vorgehen. In hohem<br />
Maße hängt die Vorgehensweise allerdings auch vom Menschen ab, der diese<br />
Methode anwendet. Laut LEHMANN ergibt sich, „dass sich die Durchführung einer<br />
Methode nicht unabhängig <strong>von</strong> der Haltung und den Weltbildern der Personen, welche<br />
die Methode durchführen, betrachtet werden kann, um sie systemisch nennen zu<br />
können.“ 360<br />
359 Neuberger (2007) S.17<br />
360 Vgl. Lehmann (2006) S. 46
Anhang 105<br />
Anhang 4. Leitfaden zur Befragung<br />
Schwerpunkt Unternehmensentwicklung<br />
an der FH Würzburg-Schweinfurt<br />
Teil A: Chronologische Annäherung<br />
1. Gesprächseinstieg<br />
Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der systemischen Aufstellungsarbeit.<br />
1a) Was fasziniert Sie persönlich daran?<br />
Teil B: Thematische Annäherung<br />
1. Konstruktivismus<br />
1a) Wie stehen Sie zum systemisch-konstruktivistischen Ansatz <strong>als</strong> theoretischen<br />
Zugangsweg zur Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen?<br />
1b) Wie greifen Sie in Ihrer Arbeit mit Organisationsaufstellungen den<br />
konstruktivistischen Ansatz, „dass wir alle Schöpfer unserer eigenen Wirklichkeit sind“,<br />
auf?<br />
1c) Welche Wirklichkeit wird in Aufstellungen visualisiert?<br />
1d) Wie gehen Sie mit Fragen hinsichtlich des Wahrheitsgrads <strong>von</strong> Aufstellungen um?<br />
1e) Wie kann man durch die systemisch-konstruktivistische Sichtweise mehr<br />
Akzeptanz und Nachvollziehbarkeit der Methode bei Managern erreichen?<br />
2. Systemische Grundsätze<br />
2a) Welche Bedeutung haben systemische Grundsätze bei der Betrachtung sozialer<br />
Systeme für ein Unternehmen?<br />
2b) In wie fern engen systemische Grundsätze im Aufstellungsprozess ein?<br />
2c) Wo sehen Sie die Probleme dieser „übergeordneten Wahrheit“ im Hinblick auf<br />
komplexe Strukturen in Organisationen?<br />
3. Durchführung <strong>von</strong> Aufstellungen innerhalb einer Organisation<br />
3a) Wie ist Ihre Auffassung zur Aufstellungsarbeit innerhalb <strong>von</strong> Organisationen, d.h.<br />
direkt mit den Systemteilnehmern?<br />
3b) Wo sehen Sie die Chancen in der Arbeit mit Systemteilnehmern?<br />
3c) Wo sind für Sie Grenzen in dieser Arbeit?<br />
3d) In wie weit geht der Trend aus Ihrer Perspektive dahin, dass vermehrt direkt mit<br />
den Systemteilnehmern gearbeitet wird?
Anhang 106<br />
4. Umgang mit Aufstellungsergebnissen<br />
4a) Wie muss mit den Ergebnissen aus Aufstellungen in Organisationen umgegangen<br />
werden?<br />
4b) Was sind die Voraussetzungen, damit ein Lösungsbild wirken bzw. in die Realität<br />
transferiert werden kann?<br />
4c) Wie stehen Sie zu dem Anspruch, das Lösungsbild einer Organisationsaufstellung,<br />
<strong>als</strong> kausale Abfolge eins zu eins in die Realwelt zu übertragen?<br />
4d) Welche Bedeutung geben Sie der Prozessbegleitung nach der Aufstellung, um<br />
vom Lösungsbild zum Lösungsweg zu kommen?<br />
Teil A: Chronologische Annäherung<br />
2. Rück- und Ausblick<br />
2a) Wie haben sie vor 5 Jahren aufgestellt und wie heute?<br />
2b) Verwenden Sie bestimmte Standardaufstellungen? Und welche sind das?<br />
2c) Hat sich die Organisationsaufstellung <strong>als</strong> eigene Methode etablieren können, oder<br />
stellt Sie eher ein Tool im Methodenkoffer eines Beraters dar?<br />
2d) Wie sieht die Wirklichkeit <strong>von</strong> morgen im Bereich der Organisationsaufstellung<br />
aus?<br />
2e) Mit welchen neuen Fragestellungen und Prämissen muss sich die<br />
Organisationsaufstellung in Zukunft auseinandersetzen?
Anhang 107<br />
Anhang 5: Post Skriptum<br />
Post Skriptum<br />
Teilstrukturierte Experteninterviews mit Herrn/Frau: …………………………………..<br />
Datum des Interviews:<br />
Ort des Interviews:<br />
Dauer des Interviews:<br />
Interviewer:<br />
Indikator für den Interviewten:<br />
Indikator für den Interviewer:<br />
Besonderheiten des Interviewverlauf:<br />
Stil des Interviewverlaufs:<br />
Verbesserungsmöglichkeiten Leitfaden:
Anhang 108<br />
Anhang 6: E-Mail Rückläufe Vorabrecherche<br />
Teil A:<br />
Ausgangsfrage: Wer sind Ihrer Meinung nach die 3-5 Multiplikatoren, die die<br />
Systemaufstellung maßgeblich durch Ihre jeweiligen Ansichten, Meinungen und<br />
Entwicklungen beeinflussen? D.h. Wer setzt die Trends und treibt die Branche voran?<br />
Antwort 1: Matthias Varga <strong>von</strong> Kibéd und Insa Sparrer (Systemische<br />
Strukturaufstellungen) Gunthard Weber (Heidelberger Schule) Guni Baxa, Sigfried<br />
Essen, (Grazer Schule) Bert Hellinger.<br />
Antwort 2: Matthias Varga v. Kibéd, Berthold Ulsamer mit seinen viel verkauften<br />
Büchern, Gunthard Weber mit seinen Aktivitäten und seinem guten Platz in der<br />
systemisch-konstruktivistischen Szene<br />
Antwort 3: Bis heute wesentlicher Begründer der Organisationsaufstellungen ist Bert<br />
Hellinger. Gunthard Weber kommen wesentliche Verdienste in der Verbreitung der<br />
Methode zu. Matthias Varga <strong>von</strong> Kibéd ist <strong>als</strong> Begründer der Strukturaufstellungen<br />
(einem Seitenzweig der Systemaufstellungen) nennenswert, sowie in den letzten<br />
Jahren für die Einführung der OA in der betriebsinternen Beratung <strong>von</strong><br />
Managementteams Claude Rosselet.<br />
Antwort 4: Es gab auch schon negative Fernsehbericht, meist aber über<br />
Familienaufstellung. Die Bücher sind positiver und setzten natürlich auch Trends. Die<br />
Aufstellungen sind insgesamt salonfähig geworden, sie werden aber nicht mehr<br />
ausschließlich sonder unter anderem vermischt mit anderen Methoden <strong>von</strong> vielen<br />
Beratern und Therapeuten durchgeführt.<br />
Antwort 5: Strukturaufstellungen: Varga <strong>von</strong> Kibéd, Organisationsaufstellungen:<br />
Gunthard Weber, Management Constellations: Claude Rosselet<br />
Antwort 6: Für die Grundprinzipien der Aufstellungsarbeit ist immer noch Bert<br />
Hellinger wegweisend (Drehrichtung in Aufstellungen, Zugehörigkeitsdauer,<br />
Anerkennung etc.).Speziell Organisationsaufstellungen: Gunthard Weber, Kristine<br />
Alex, Klaus Horn. Friedrich Assländer. Strukturaufstellungen: Sparrer und Varga <strong>von</strong><br />
Kibéd.<br />
Antwort 7: Ich sehe die Arbeit mit Systemaufstellungen nicht <strong>als</strong> Branche! Sie würden<br />
auch nicht sagen, dass es die Branche der Fußballschuhe gibt, sondern das<br />
Fußballschuhe ein Teil der Sportartikel-Branche sind.<br />
Antwort 8: Meines Erachtens ist das Feld der Systemaufstellungen im Bereich der<br />
Organisationsberatung so heterogen, dass im Augenblick keine eindeutigen<br />
Multiplikatoren gibt. Matthias Varga <strong>von</strong> Kibéd könnte ich <strong>als</strong> einen nennen, der es<br />
versucht. Er ist jedoch mehr ein Theoretiker, der sich in Organisationen wenig<br />
auskennt.<br />
Antwort 9: Es gibt zwei Richtungen: Familienaufstellungen - Multiplikatoren: Albrecht<br />
Mahr (beschäftigt sich auch mit politischen Aufstellungen), Bert Hellinger ( Begründer<br />
der Methode), Berthold Ulsamer ( Autor des Bestsellers: ohne Wurzeln keine Flügel),
Anhang 109<br />
Gunthard Weber (er hat Familienaufstellungen „hoffähig gemacht durch den Begriff<br />
„phänomenologisch-systemisch“ und hat die Aufstellungen damit neben das bekannte<br />
systemisch-konstruktivistische Denken gestellt), Jakob Schneider, Wilfried Nelles.<br />
Organisationsaufstellungen: Klaus-Peter Horn (Autor: das geheime Netzwerk des<br />
Macht), Klaus Grochowiak (Autor. ???), Friedrich Assländer (zahlreiche Aufsätze und<br />
Bücher mit Hinweis auf das Thema)<br />
Eine Sonderstellung haben Varga <strong>von</strong> Kibéd und Insa Sparrer (zahlreiche Bücher, viele<br />
Kurse), sie haben die „Systemischen Strukturaufstellungen“ gegründet.<br />
Antwort 10: Zurzeit beobachte ich im Bereich der Management-Constellations vor<br />
allem die Entwicklungen <strong>von</strong> Claude Rosselet, inscena. Bei allen anderen sehe ich<br />
wenig Innovation.<br />
Antwort 11: Varga v. Kibéd, I. Sparrer; andere Trendsetter kann ich bei den<br />
Systemaufstellungen in Organisationen nicht wirklich sehen; aus der Familientherapie<br />
kommend muss noch G. Weber erwähnt werden, der jedoch seinen Focus doch<br />
letztlich in der Familie hat.<br />
Antwort 12:<br />
1. Matthias Varga <strong>von</strong> Kibéd<br />
2. Gunthard Weber<br />
3. infosyon (www.infosyon.com) durch die Fachtagungen und Veranstaltungen<br />
4. Viele Kolleginnen und Kollegen, die Systemaufstellungen ganz<br />
selbstverständlich in ihre Beratungsprozesse integrieren und damit einfach gute<br />
Arbeit machen<br />
5. Bücher wie „Management Constellation“ <strong>von</strong> meinen Kollegen Rosselet,<br />
Senoner und mir. Wobei ich hier nur den Bereich Systemaufstellungen für<br />
Organisationen und Unternehmen und den Arbeitsbereich im Blick habe.<br />
Sie sehen hier findet gerade ein Wechsel <strong>von</strong> personenzentrierter „Führerschaft“ zu<br />
anwendungs- und themenzentrierter Führerschaft statt.<br />
Antwort 13: Die Beeinflussung zu Organisationsaufstellungen, kam zunächst einmal<br />
ganz klar <strong>von</strong> Bert Hellinger, der einen systemisch-phänomenologischen Ansatz hatte.<br />
Es war eine konsequente Weiterentwicklung der Familienskulptur <strong>von</strong> Virginia Satir.<br />
(Sie ist die "Große Dame" systemischer Familientherapie. Doch bert Hellinger war zu<br />
stark in spirituellen und philosophischen Traditionen eingebunden, <strong>als</strong> das hier eine<br />
Organisations-Aufstellungsstruktur entwickelt werden konnte. Die wichtigsten Namen<br />
sind hier Insa Sparrer, Matthias Varga <strong>von</strong> Kibed, und das Mailänder Modell <strong>von</strong> Mara<br />
Selvini Palazzoli.<br />
Teil B:<br />
Ausgangsfrage: Wie sehen Sie die Zukunft <strong>von</strong> Systemaufstellungen im Berufs- und<br />
Unternehmenskontext? D.h. Welche Zukunftspotentiale, Weiterentwicklungen etc. gibt<br />
es?<br />
Trends und Zukunftspotentiale der Systemaufstellung im Berufs- und<br />
Unternehmenskontext:<br />
Antwort 1: Systemische Aufstellungen, im Speziellen Strukturaufstellungen, haben<br />
noch riesige ungenützte Potentiale.
Anhang 110<br />
Jenseits dessen, dass wir Konflikte darstellen und Lösungsansätze aufzeigen können,<br />
gibt es KEIN Gebiet im Unternehmensbereich, wo Systemische Aufstellungen nicht<br />
nützlich sein können. Ob ein Unternehmen ein Logo entwickelt, Marktstrategien und<br />
Produkte überprüft, Zukunftsszenarien und seine Auswirkungen abtestet, die<br />
Möglichkeiten sind unerschöpflich.<br />
Außerdem sind die Systemische Grundsätze sehr sehr erfolgreich auf alle Bereiche<br />
anwendbar, sei es zum Thema Erfolg oder für Auswege aus der Krise.<br />
Antwort 2: Was ich beobachtet habe, ist: Die Systemaufstellungen gehören<br />
mittlerweile zu den Werkzeugen für eine gute Unternehmensberatung dazu und<br />
genießen auch eine hohe Anerkennung. Als das Wunderinstrument schlechthin, um<br />
Organisationen zu verstehen, hat es sich nicht durchsetzen können. Der Trend wird so<br />
weiter gehen.<br />
Antwort 3: Die Methode gewinnt zunehmend Akzeptanz in Unternehmenskontexten,<br />
eine wesentliche Weiterentwicklung ist die organisationsinterne Nutzung zu<br />
strategischen Fragen im Rahmen der OE durch externe Berater.<br />
Antwort 4: Die Mode ist vorbei, es sind jetzt andere Methoden "in". Die Gesellschaften<br />
für Systemaufstellungen wollen ein seriöses Berufsbild entwickeln um dem negativen<br />
Trend entgegen zu wirken und um den vielen schlecht ausgebildeten Beratern einen<br />
Riegel vor zu schieben. Die Methode ist für mich persönlich nach wie vor hervorragend<br />
und wird sich auch halten, aber nicht mehr ausschließlich mehr im Rahmen mit<br />
neueren Trends.<br />
Antwort 5:<br />
Fachexperten mit qualifiziertem Organisationshintergrund<br />
OA´s werden <strong>von</strong> Organisationsprofis im professionellen Kontext eingesetzt, d.h. Weg<br />
vom Guru Image hin zur Expertenanwendung (<strong>als</strong> eine OA-Methode in Prozessen). Die<br />
Formate sind mehr fachspezifisch (Marketingaufstellung, spezielle<br />
Strategieaufstellungen), d.h. stark angelegt aus Fachbereich, der übersetzt wird in<br />
Raumsprache. Systemische Aufstellungen werden zukünftig <strong>als</strong> eine <strong>von</strong> mehreren<br />
Methoden, die ein Berater im Werkzeugkoffer hat eingesetzt. D.h. direkt intern mit dem<br />
Team (damit gute Erfahrungen gemacht)<br />
Kreative Weiterentwicklungen<br />
Kreativere Versionen, <strong>als</strong> die puristische klassische Aufstellung, die nicht mehr <strong>als</strong><br />
Aufstellungen <strong>als</strong> solche wahrgenommen werden Weiterbildung für<br />
Organisationsinterne, die dann nicht Beratung in Anspruch nehmen, sondern Wissen<br />
ins Management know-how übernehmen. Außerdem schlechte Erfahrungen mit<br />
Stranger Groups. Das funktioniert nicht, wegen z.B. Geheimhaltungsgründen. Es gilt<br />
vielmehr daran zu arbeiten, wie wir Zugänge schaffen können, um mit internen<br />
Mitarbeitern <strong>als</strong> Repräsentanten zu arbeiten. Gute Möglichkeit ist: Gemischte<br />
Aufstellungen (die meisten werden mit internen Mitarbeitern aufgestellt, aber man<br />
nimmt 1-2 Externe Personen mit, die Erfahrungen im Umgang mit Aufstellungen<br />
haben). Vorteil: Effekt der Neutralität und Effekt des Erlebens für Teams<br />
Herausforderung in Zukunft:<br />
� Kunst, die Erkenntnisse in den Alltag einzubringen<br />
� Zukunft liegt in Integration
Anhang 111<br />
Antwort 6: Grundlegend: Abbildung und "Ordnen" der internen Grundstrukturen <strong>von</strong><br />
Institutionen und Unternehmen. Überprüfung der Außenbeziehungen: zu den Kunden<br />
hin, Produkt-Kunden-Relationen, Positionierung am Markt. Persönlich: Eigene<br />
Prioritäten und Ziele überprüfen, übersehene Faktoren erkennen, Privates und<br />
Berufliches besser unterscheiden können.<br />
Antwort 7: Systemaufstellungen sind ein Werkzeug/Technik, die in bestimmten Fällen<br />
zum Einsatz gebracht werden und <strong>von</strong> verschiedenen Branchen genutzt wird.<br />
Branchen z.B. Unternehmensberatung oder Therapie. Jeder Unternehmensberater<br />
oder Therapeut der nur auf Techniken vertraut hat auf lange Sicht keinen Erfolg, da die<br />
Techniken nicht Sinn und Zwecks sein können sondern nur Mittel zum Zweck sind.<br />
Antwort 8: Die Zukunft hat noch gar nicht richtig begonnen. Die Potentiale sind noch<br />
nicht nachhaltig bei den potenziellen Kunden bekannt. M.E. ist das ein langsamer<br />
Prozess. Er hängt sehr stark <strong>von</strong> der Annahme der Methode bei Organisations- und<br />
UnternehmensberaterInnen zusammen. Dazu muss eine Form der Beschreibung<br />
gefunden werden, die bei den Kunden anschlussfähig ist. Das wird m.E. mit der<br />
Verbindung zur System- und Organisationstheorie geschaffen. Der Versuch, die<br />
Methode über Therapeutisch arbeitende Menschen zu verbreiten, behindert jedoch den<br />
Prozess. Die Zukunftsentwicklungen beschäftigen sich erst einmal mit dem Verstehen<br />
der Methode. Die Verbindung <strong>von</strong> Systemtheorie, Theorien sozialer Systeme (zeitlich:<br />
Luhmann; räumlich (topisch): Nishida), Organisationstheorien, narrativer Theorien,<br />
Beschreibungen kognitiver Prozesse, Theorien zur Kleingruppenforschung und der<br />
Aufstellungsmethode eröffnet uns weitere Möglichkeiten, die Methode zu nutzen und<br />
weiter zu entwickeln.<br />
Antwort 9: In Unternehmen wird die Methode zunehmend genutzt, auch <strong>von</strong><br />
Konzernen für eine große Breite <strong>von</strong> Fragestellungen. Die Effizienz ist genauso groß<br />
wie die Angst, damit in die esoterische Ecke gestellt zu werden. Daher gibt es nur<br />
wenig Berichte darüber. Aufstellungen werden immer mehr zum Handwerkszeug guter<br />
Berater und werden ihren Platz neben und in der Organisationsentwicklung /<br />
Personalentwicklung finden. Aufstellungen werden im Coaching genutzt. Es werden<br />
neue Formate und Aufstellungsstrukturen (wie es Varga <strong>von</strong> Kibéd entwickelt hat)<br />
entwickelt um die Methode lehrbar zu machen, daneben ist das intuitive Arbeiten, das<br />
Hellinger praktiziert hat, ein Weg, den ich gehe und lehre. Eine Variante ist verdecktes<br />
Arbeiten, das ich in Unternehmen mit großem Erfolg einsetze.<br />
Antwort 10: Der Hype um die Aufstellungsarbeit hat sich inzwischen gelegt. Die Kurse<br />
sind nicht mehr überlaufen, finden teilweise mangels Teilnehmer nicht statt. Die<br />
Aufstellungsmethode diffundiert langsam und unaufgeregt in die Organisationen, wird<br />
nie einen herausragenden Platz im Methodenkanon belegen, sondern add-on sein.<br />
Spektakuläre Aufstellungen mit entsprechender Medienpräsentation können vielleicht<br />
im Bereich der Aufstellung politischer, großer Konflikte passieren (Albrecht Mahr).<br />
Antwort 11: Die große Zeit der Systemaufstellungen im Organisationskontext ist m. E.<br />
vorbei; d.h. Nicht dass diese Methode !!! Nicht mehr angewandt wird; m. E. haben<br />
Systemaufstellungen Zukunft im Rahmen <strong>von</strong> Supervisionen <strong>von</strong> Berater/innen, in<br />
Entwicklungsprozessen, die in Beratungsunternehmungen laufen vielleicht noch; im<br />
Feld der Organisationsberatung haben Systemaufstellungen zwar spektakuläre<br />
Wirkung aber nicht überwiegend nachhaltig Lebensfähigkeit fördernde Wirkung.
Anhang 112<br />
Systemaufstellungen <strong>als</strong> DER Methode ist zu eng und es fehlt nach meiner Erfahrung<br />
meist der Kontext umfassender Veränderungs- bzw. Entwicklungsprozesse; so werden<br />
adaptierte Formen <strong>von</strong> Systemaufstellungen innerhalb <strong>von</strong> OE Beratungen vermutlich<br />
so wie andere Methoden auch Teil der Organisationsberatung bleiben.<br />
Antwort 12: Die Systemaufstellung hat in diesem Kontext nur eine<br />
Anwendungschance, wenn Sie sich in ihrer Form anpasst und zu einem<br />
„Managementtool“ wird, das die großartige Fähigkeit <strong>von</strong> uns Menschen zur<br />
Wahrnehmung und Darstellung <strong>von</strong> oft nicht offensichtlichen Zusammenhängen nutzt.<br />
Die Systemaufstellung in ihrer angepassten Form z.B. <strong>als</strong> Management Constellation<br />
kann dann zu einem Analyse-, Diagnose- und Lösungsentwicklungsinstrument werden.<br />
Sie darf allerdings nicht einen „Wahrheitsanspruch“ (wie es vielfach innerhalb der<br />
Familienaufstellungsszene zu beobachten ist) vertreten, sondern <strong>als</strong><br />
Kommunikationsinstrument der zusammenarbeitenden Menschen genutzt werden. Die<br />
oft ohne viel Worte entstandenen Bilder und Lösungen bedürfen der Versprachlichung,<br />
damit der Transfer und die Nachhaltigkeit der Arbeit gesichert ist. D. h. die<br />
Systemaufstellung kann nur ein Teil eines gesamten Lern-, Veränderungsprozesses<br />
sein und nicht eine Einzelintervention.<br />
Antwort 13: Die ZukunftsPotentiale für systemische Arbeits-Ansätze für Unternehmen<br />
sind wirklich sehr, sehr, sehr groß. Wir haben nur die Aufgabe, die systemische<br />
Aufstellungsarbeit "umzuschreiben", damit er in eine kausal-analytische Welt passt. Ich<br />
habe einen systemisch-soziologischen Ansatz auf der Systemtheorie <strong>von</strong> Niklas<br />
Luhmann. Dass ist genau die Sprache, die in Unternehmen verstanden werden kann!
Anhang 113<br />
Anhang 7: Transkription Dr. Friedrich Assländer<br />
Y: Y<strong>von</strong>ne <strong>Mattes</strong><br />
A: Dr. Assländer<br />
Y: Vielen Dank Herr Assländer, dass sie sich Zeit nehmen für mich. Ich habe ihre Vita<br />
durch gelesen. Sie haben sich ja 1984 selbstständig gemacht habe ich gelesen und<br />
zuvor haben Sie in einem Finanzkonzern gearbeitet.<br />
A: Ja<br />
Y: Wie kamen sind sie dann zur Aufstellungsarbeit?<br />
A: Ich habe Hellinger live erlebt, das war 1990. Das war dam<strong>als</strong> noch<br />
Familienaufstellung die er gemacht hat. Ich habe am Lehrstuhl für medizinische<br />
Psychologie promoviert und man sagt in der Psychoanalyse, dass so nach 300<br />
Stunden etwas passiert und bei ihm ist nach fünf Minuten schon etwas passiert in der<br />
Aufstellung. Das hat mich einfach erst mal wirklich <strong>von</strong> den Socken gerissen. Das war<br />
für mich völliges Neuland was ich gesehen habe. Also in der Kürze, der Schnelligkeit<br />
mit der hat diese Methode wesentliches ausgerichtet.<br />
Y: Ja. Ich kann das persönlich nach vollziehen.<br />
A: Also die Effizienz der Methode, die war erstmal so überwältigend, dass ich gesagt<br />
habe das muss ich mir näher anschauen.<br />
Y: Das kann ich mir vorstellen. Ich habe zu Beginn der <strong>Diplomarbeit</strong> natürlich viel<br />
recherchiert und viel gelesen. Da ich natürlich eine betriebswirtschaftliche Arbeit<br />
schreibe hat mich interessiert was gibt es für Zugangswege zu Organisation? Ich habe<br />
mir <strong>als</strong> Basis für meine Arbeit den systemischen-konstruktivistischen Zugang<br />
ausgesucht. Weber hat gesagt, dass er diesen „<strong>als</strong> einen bewährten Zugang zur<br />
Wirklichkeit <strong>von</strong> Organisationen hält“. Wie stehen sie da persönlich dazu? Was halten<br />
sie <strong>von</strong> dem systemisch-konstruktivistischen Ansatz, wenn man gerade mit<br />
Organisationen arbeitet?<br />
A: Der systemisch-konstruktivistische Ansatz ist ja nicht ganz neu, den gibt es ja schon<br />
ziemlich lange. Er ist auch mit einer ganzen Reihe renommierter Namen verbunden:<br />
Watzlawik, Maslow. Um nur zwei Namen zu nennen, die sehr bekannt sind. Das ist ein<br />
Erklärungsmodell für Wirklichkeiten, welcher gerade in der betrieblichen Welt, wenn<br />
man so Themen anschaut wie Konflikte oder so etwas, hohe Relevanz hat. Die Leute<br />
regen sich ja nicht über das auf was passiert, sondern über das was sie meinen was<br />
passiert ist. Also es geht auch um die eigene Vorstellung. Von daher ist der<br />
systemisch-konstruktivistische Ansatz auf jeden Fall sehr hilfreich.<br />
Y: Und wie denken Sie greift dieser Ansatz, dass wir alle Schöpfer unserer eigenen<br />
Wirklichkeit sind ihrer Meinung nach auf?<br />
A: Aufgreifen jetzt in der Aufstellungsarbeit?<br />
Y: Ja, genau.
Anhang 114<br />
A: In der Aufstellungsarbeit tritt der ein bisschen zurück. Man nennt ja auch die<br />
Aufstellungsarbeit phänomenologisch, systemisch-phänomenologisch im Unterschied<br />
zu systemisch-konstruktivistisch. Es war auch historisch gesehen ein Kunstgriff <strong>von</strong><br />
Gunthard Weber. Er war der erste, der diese Methode systemisch-phänomenologisch<br />
genannt hat und damit: a) hoffähig gemacht und b) innerhalb des systemischen<br />
Denkens angesiedelt hat. Und damit ist der Siegeszug der Methode eingeleitet worden.<br />
Y: Aber sie sehen dann auch gar keine konstruktivistischen Aspekte im<br />
Aufstellungsprozess?<br />
A: Eher weniger. Der systemisch-konstruktivistische Ansatz ist ein Erklärungsmodell<br />
<strong>von</strong> der Wirklichkeit, aber nicht ein Modell das alles erklärt. Das kann nämlich kein<br />
Modell. Es ist nur ein Modell, dass in vielen Situationen sehr hilfreich ist, aber die<br />
Arbeit in der Aufstellung so wie Hellinger es angefangen hat und es heute <strong>von</strong> vielen<br />
praktikziert wird, geht mit dem um was sich zeigt.<br />
Y: Ja<br />
A: Hier tritt weniger in den Vordergrund, was die Leute sich ausgedacht haben und was<br />
dann verbalisiert wird.<br />
Y: Welche Wirklichkeit wird dann sichtbar gemacht? Nur die vom Klienten?<br />
A: Es ist ein systemischer Kontext in dem auch der Aufsteller ein Teil des Systems ist.<br />
Bestimmte Aspekte eines Problems werden nur dann sichtbar, wenn der Leiter der<br />
Aufstellung auch entsprechende Kompetenzen hat. Oder umgekehrt, man kann auch<br />
sagen, Aufsteller ziehen genau die Klienten und Probleme an, zu denen sie eine<br />
relevante Kompetenz haben.<br />
Y: Habe ich sie da richtig verstanden, wenn wir nochmal darauf zurück kommen. Die<br />
Aufstellung visualisiert nicht nur die Wirklichkeit des Klienten, sondern mehr was da<br />
ist?<br />
A: Das was sichtbar wird in den Aufstellungen ist ja ein Beziehungsgefüge zwischen<br />
den aufgestellten Elementen. Und der Leiter der Aufstellung entscheidet ja, gerade bei<br />
der Organisationsaufstellung, welche Elemente relevant sind. Er ist ja damit ein Teil<br />
dieses Systems.<br />
Y: Ok, vielen Dank.<br />
A: Also ganz simpel. Wenn sie aufstellen, zu mir kommen und sagen, dass sie einen<br />
Konflikt mit ihrem Vorgesetzten haben. Dann kommt das Interview und ich habe die<br />
Idee mal nachzufragen: „wie ist ihre Beziehung zu ihrem Vater?“ Da gebe ich dem ja<br />
eine ganz bestimmte Richtung, ich beeinflusse das ja was jetzt geschieht. Von daher<br />
fließe ich <strong>als</strong> Aufsteller immer wieder auch im Sinne <strong>von</strong> konstruieren mit ein.<br />
Y: Wenn wir jetzt die Organisationsaufstellung <strong>als</strong> betriebswirtschaftliches<br />
Diagnosetool sehen, dann fragt sich jeder Manager irgendwann, wie hoch ist der<br />
Wahrheitsgrad dieser Methode? Wie gehen sie in der Praxis damit um, oder stellt sich<br />
die Frage gar nicht?
Anhang 115<br />
A: Ja. Also ich will <strong>als</strong> erstes einmal ablehnen, dass es hier um Wahrheit geht, weil das<br />
wäre schon mal der erste Streitpunkt. Was ist überhaupt Wahrheit? Sondern es geht<br />
darum, dass sich bestimmte Aspekte eines Problems oder Phänomens zeigen und<br />
andere bleiben verborgen, je nach dem was ich aufstelle. Der Vorteil ist aber der, dass<br />
ich durch Aufstellungen Aspekte sichtbar und erlebbar machen kann, die dem logischanalytischen<br />
Betrachten verborgen sind.<br />
Y: Ok.<br />
A: Und damit kann ich gerade bei komplexen Fragestellungen eine dahinter stehende<br />
Dynamik auch zeigen. Während man sonst einfach auf der Oberfläche bleibt. Zum<br />
Beispiel ein Banker sagt, ich habe einen Kunden der will einen 2-Millionen-Kredit, ich<br />
fühle mich aber nicht wohl damit. Wegen seiner Unsicherheit kommt er in die<br />
Aufstellung und stellt auf. Und dann geht es dem Stellvertreter für den Kredit in der<br />
Aufstellung nicht gut. Ein ganz merkwürdiges Phänomen, einem Kredit geht es nicht<br />
gut. Von da aus kann man weiterhin fragen: „wo stecken die Probleme?“ Dann wird<br />
eben sichtbar, dass es in Unternehmen ganz bestimmte Problemstellungen gibt, die<br />
einfach für die Bank bzw. für die Sicherung des Kredites relevant sind und nicht gelöst<br />
sind bis jetzt.<br />
Y: Das klingt spannend.<br />
A: So, das ist <strong>als</strong>o diese subjektive, emotionale Wahrnehmung. Das ist ja an sich<br />
unlogisch, dass ein Kredit Gefühle haben kann. Das führt dazu, dies auf der logischen<br />
Ebene zu hinterfragen: „was kann da dran sein?“<br />
Y: Denken sie trotzdem, dass die systemisch-konstruktivistische Sichtweise noch mehr<br />
Akzeptanz bei Organisationen und Unternehmen schaffen kann?<br />
A: Es wird noch eine Weile dauern, bis es eine größere Akzeptanz gibt. Die Methode<br />
der Aufstellungen wird in Konzernen benutzt. Das ist keine Frage. Nokia arbeitet mit<br />
der Methode genauso wie Siemens, BMW und Daimler Chrysler. Also eine ganze<br />
Reihe <strong>von</strong> Konzernen setzt dies ein. Häufig im Bereich Konfliktbewältigung, aber zum<br />
Teil auch bei Umorganisation, oder bspw. Neuorganisationen <strong>von</strong> Teilen, um zu<br />
Prüfen, wie wirkt sich die Organisation auf die Betroffenen aus.<br />
Y: Also sie denken jetzt nicht daran, die Akzeptanz vom systemischkonstruktivistischen<br />
Ansatz abhängig zu machen ist?<br />
A: Nein, nein, nein<br />
Y: Ok.<br />
A: Also die Akzeptanz hängt entscheidend da<strong>von</strong> ab, wie effektiv ist das Instrument,<br />
was bringt mich weiter. Wobei es ein ganz merkwürdiges Phänomen gibt. Selbst die<br />
Leute die gute Erfahrungen damit gemacht haben, kommen nicht automatisch wieder,<br />
wenn sie das nächste Problem haben. Also die Selbstverständlichkeit, die man heute<br />
hat, z.B. wenn ich Rückenschmerzen habe, gehe ich zum Krankengymnasten, da habe<br />
ich gute Erfahrungen gemacht – so läuft das noch nicht.
Anhang 116<br />
Y: Ja, ich verstehe was sie meinen.<br />
A: Es ist ein ganz eigenes Phänomen.<br />
Y: Mein nächstes Thema ist: Systemische Grundsätze. In Organisationen wirken ja<br />
bestimmte systemische Grundsätze. Welche Bedeutung messen sie denen bei, wenn<br />
man Organisationen <strong>als</strong> soziale Systeme betrachtet?<br />
A: Also ein sehr hohe. Solche systemischen Grundmechanismen oder Prinzipien<br />
spielen eine große Rolle. Wobei man hier auch unterscheiden muss, zwischen dem<br />
systemisch-konstruktivistischen und dem phänomenologischen Denken, weil gerade<br />
Hellinger und Weber und andere, eine Reihe <strong>von</strong> Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt<br />
haben, die ziemlich umfassend gelten. Zum Beispiel der Ältere steht vor dem Jüngeren<br />
oder wer länger dabei ist, steht vor dem der noch nicht so lange da ist. Oder auch im<br />
Prinzip, das jüngere System steht vor dem älteren System. Da gibt es eine ganze<br />
Reihe <strong>von</strong> Prinzipien, deren Einhaltung den Unternehmen gut tut und ein<br />
zuwiderhandeln dann merkwürdige Störungen hervor rufen kann.<br />
Y: Das betrifft dann schon meine nächste Frage. Denken Sie, dass die systemischen<br />
Grundsätze einengen im Aufstellungsprozess?<br />
A: Sie können erfahrbar gemacht in Aufstellungen. Erfahrbar gemacht werden, mit<br />
ganz einfachen Umstellungen. Ich kann mich <strong>als</strong> Chef links oder rechts vor meine<br />
Mitarbeiter stellen und mal nach spüren, wie geht es den Mitarbeitern, wie geht es mir.<br />
Und damit kann man entdecken, dass der richtige Platz in der Aufstellung eine ganz<br />
entscheidende Rolle für das Funktionieren des Systems spielt.<br />
Y: Sie können dann in Ihrer Position <strong>als</strong> Aufstellungsleiter trotzdem noch<br />
lösungsfokussiert und sagen wir mal fremdbezogen arbeiten, auch wenn sie es anhand<br />
der Systemprinzipien den Aufstellungsprozess durchführen?<br />
A: Das geht Hand in Hand, das ergänzt sich gegenseitig. Also die<br />
Aufstellungsprinzipien erleichtern mir, schneller die Lösung zu finden. Es hilft mir. Sie<br />
schließen aber nicht aus, dass es da mal Ausnahmen geben kann. Dann ist es immer<br />
schwierig nachzugehen, warum ist es hier anders.<br />
Y: Ich habe viele Statements in der Literatur gefunden, z.B <strong>von</strong> Thorsten Groth: „Wenn<br />
am Ende hauptsächlich Alterszugehörigkeit und Hierarchie der Person <strong>als</strong> Indizien für<br />
eine gute Ordnung genommen werden ist es zweifelhaft ob dies der Komplexität einer<br />
Organisation gerecht wird.“ Was sagen Sie dazu?<br />
A: So ist es in der Aufstellung eben nicht, sondern in der Aufstellung schaue ich gerade<br />
phänomenologisch, wie geht es dem Einzelnen an seinem Platz. Und das ist das<br />
entscheidende Kriterium. Das entscheidende Kriterium ist: Fühlen sich die Leute denn<br />
wohl und entsteht ein harmonisches Miteinander, so wie sie jetzt stehen?<br />
Y: Ja.<br />
A: Dabei zeigt sich eben, dass bestimmte Ordnungsprinzipien, wenn sie eingehalten<br />
werden, diese Funktionalität gewährleisten.
Anhang 117<br />
Y: Sehen sie dann keine Probleme, wenn man die Systemgrundsätze sozusagen <strong>als</strong><br />
„übergeordnete Wahrheiten“ betitelt?<br />
A: Es bewahrheitet sich sehr oft, dass eben diese „übergeordneten Wahrheiten“<br />
tatsächlich auch zutreffen. Die werden eher bestätigt in Aufstellungen. Und da wo es<br />
sich anders zeigt, ist es interessant hinzuschauen, was wurde übersehen, was wurde<br />
vergessen, oder gibt es Aspekte die relevant sind, die bisher überhaupt noch nicht<br />
aufgedeckt sind. Gibt es z.B. ein Geheimnis in einem System, wird z.B. tot<br />
geschwiegen, dass es mal durch Fahrlässigkeit einen tödlichen Unfall gab, oder gibt es<br />
eine Schuldfrage über die niemand spricht? Das sind Tabuthemen auch in Systemen,<br />
da kann die Aufstellung eben dazu führen, dass man nachfragt: was fehlt hier noch?<br />
Y: Ok. Ein Thema das ich auch gerne noch ansprechen möchte, ist die Durchführung<br />
<strong>von</strong> Aufstellungen innerhalb <strong>von</strong> Organisationen, <strong>als</strong>o direkt mit den<br />
Systemteilnehmern. Ich habe auch ein Zitat <strong>von</strong> Peter Schlötter, der sagt: „Nirgendwo<br />
kann man die Eigendynamik besser erfahren <strong>als</strong> im System selbst.“ Claude Rosselet<br />
hat diese Arbeit stark vorangetrieben und Gunthard Weber hat die „Management<br />
Constellations“ sogar <strong>als</strong> einen Meilenstein in der Weiterentwicklung der<br />
Organisationsaufstellung beschrieben. Wie ist da ihre Auffassung wenn man innerhalb<br />
<strong>von</strong> Organisationen arbeitet, <strong>als</strong>o mit den Systemteilnehmern?<br />
A: Es gibt die klassische Form wie sie Hellinger entwickelt hat und die auch weit<br />
praktikziert wird. Das bedeutet, mit wildfremden Leuten, die die Person nicht kennen.<br />
Y: Also in öffentlichen Seminaren meinen sie?<br />
A: Offene Seminare, oder ich nehme einfach Stellvertreter mit zum Unternehmen, die<br />
mit dem Unternehmen nichts zutun haben. Weil die a) keine Informationen haben – sie<br />
können nicht ins Denken gehen – das ist der eine Vorteil, <strong>als</strong>o sie können sich nicht<br />
ausdenken, was müsste der jetzt hier empfinden und sich machen auch keine Politik.<br />
Wenn ein Mitarbeiter etwas in der Aufstellung sagt und der Chef steht neben dran,<br />
überlegt er immer, wie muss ich das formulieren, dass ich gut vor meinem Chef da<br />
stehe. Die Unmittelbarkeit dieser repräsentierenden Wahrnehmung des Stellvertreters,<br />
ist mit den Leuten des Unternehmens, nicht gegeben. Das ist das erste große<br />
Handicap.<br />
Von daher kann man im Unternehmen mehrere Settings erfahren. Ich erkläre es mal<br />
der Reihe nach: Also, was immer funktioniert in einem Unternehmen, ist eine<br />
Skulpturaufstellung. Das läuft praktisch so ab, dass ich die Leute bitte, sich einen Platz<br />
im Raum zu suchen. Die Personen vertreten sich selbst und suchen sich ihren Platz.<br />
Da sie in der Regel diese Prinzipien nicht kennen, folgen sie ihrer Intuition und dann<br />
kann man aus diesem aufgestellten Bild, das sich zeigt, schon sehr, sehr viel ableiten<br />
über die Dynamik die tatsächlich abläuft. Also ich könnte jetzt dutzendweise<br />
Geschichten erzählen. In einem Buch <strong>von</strong> mir habe ich das Beispiel beschrieben <strong>von</strong><br />
den zwei Brüdern.<br />
Y: Ja, das kenne ich, ich habe es daheim gelesen.<br />
A: Es ist das Beispiel, <strong>von</strong> den zwei Brüdern, die im Betrieb „Familie“ gespielt haben.<br />
Der große Bruder vor dem jüngeren. Im Betrieb war es aber umgedreht. Der Jüngere
Anhang 118<br />
war der Firmengründer und stand damit vor dem Anderen. Und da gibt es auch viele<br />
andere Beispiele. Also das ist das eine, ich kann es diagnostisch benutzen: wie<br />
funktioniert das System?<br />
Ich habe übrigens auch die Geschäftsleitung eines großen Handelsunternehmens mit<br />
28 Personen so aufgestellt. Das war ganz spannend. Dem hab ich mal bewusst<br />
gemacht, welche Rolle der Chef hat. Ich habe ihn an den f<strong>als</strong>chen Platz gestellt,<br />
einfach zwischen die Mitarbeiter. Das war ein Aufschrei, <strong>als</strong>o wirklich ein Aufschrei –<br />
um Gottes Willen, da gehört er nicht hin. Die Aufstellungsarbeit kann man <strong>als</strong>o<br />
diagnostisch benutzen, und zum anderen kann man <strong>von</strong> da ausgehend, gleich auch in<br />
die Prozessarbeit einsteigen, <strong>als</strong>o die Lösungen anstoßen. Stück für Stück<br />
ausprobieren, wenn ich den Einzelnen an den richtigen Platz stelle geht es ihm besser.<br />
Damit bekommen die Menschen ein anderes Bild, aber auch schon die unmittelbare<br />
Erfahrung wenn ich am richtigen Platz stehe, fühle ich mich viel wohler. Und <strong>von</strong> da<br />
ausgehend können die Personen in Klärungsprozesse einsteigen, dass plötzlich Dinge<br />
ausgesprochen werden, die bisher nicht möglich waren und damit die gute Lösung<br />
eingeleitet werden. Das ist so der Prozess in der Skulpturaufstellung. Da muss man<br />
natürlich auch aufpassen, da können Konflikte heftig durchbrechen. Das ist eine<br />
brisante Geschichte.<br />
Die zweite Möglichkeit damit zu arbeiten ist, wenn die Betroffenen <strong>als</strong>o die<br />
anwesenden Personen ein gemeinsames Sachthema haben. Also wir haben einen<br />
Kunden mit dem wir Schwierigkeiten haben. Damit ist es ein neutrales Thema, damit<br />
kann man ganz gut arbeiten. Oder ein gemeinsames Sachthema: was sind unsere<br />
lohnenden Unternehmensziele, oder welche Geschäftsideen sind zukunftsträchtig?<br />
Wenn die Kunden Sachthemen haben kann man damit relativ gut arbeiten. Wenn es<br />
allerdings Themen sind, die die Leute untereinander betreffen, dann geht es auch<br />
wenn man die Gruppe zum Beispiel teilen kann.<br />
Y: Also bei Arbeitsbeziehungen?<br />
A: Ein Beispiel: Es waren 16 Führungskräfte eines Unternehmens anwesend, <strong>von</strong><br />
denen etwa die Hälfte umorganisiert worden ist und Schwierigkeiten hatte. Wir haben<br />
die nicht betroffenen Mitarbeiter dann <strong>als</strong> Stellvertreter genommen.<br />
Y: Also im Grunde zusammenfassend funktioniert es, wenn es nicht die Betroffenen<br />
selbst sind?<br />
A:Genau. Jetzt kann man da einen Trick fahren, der natürlich jetzt sehr gefährlich ist,<br />
weil es die Aufstellungsarbeit noch mehr im Bereich der Esoterik drückt. Man kann die<br />
einzelnen Personen oder Elemente auf Karten schreiben. Ich kann mit Stellvertretern<br />
auch so arbeiten. Relevant ist, dass ich die Karten umdrehe, mische und dann<br />
durchnummeriere z.B. Geschäftsidee 1,2,3,4,5,6,7. Und keiner weiß, welche Idee zu<br />
welcher Nummer gehört. Dann werden die Karten zusammen gefaltet und in die<br />
Tasche gesteckt. Der Stellvertreter weiß jetzt nur, ich stehe für 1 und ich stehe für 2,<br />
aber man weiß nicht mehr für wen. Damit können wir nicht in die Spekulation gehen.<br />
Bringt es ihnen etwas wenn ich so ein Beispiel erzähl?<br />
Y: Ja natürlich. Sehr gerne.
Anhang 119<br />
A: In einem Kurs an einer Fachhochschule.<br />
Y: An unserer?<br />
A: Nein. Salzburg.<br />
Y: Hätte mich auch doch gewundert.<br />
A: Es ging darum, es war ein berufsbegleitender Hochschulkurs, ein Diplomkurs der<br />
berufsbegleitend für Gastronome/Hoteliers war. Die Aufstellung war für eine Studentin,<br />
die gleichzeitig aber in der Firma Hotelier war. Die Situation war so, dass sie mit ihrem<br />
Lebensgefährten zusammen das Hotel betreibt. Der Lebensgefährte ist Erbe und es ist<br />
so geregelt, dass der Lebensgefährte <strong>als</strong> Erbe das Restaurant führt und sie das Hotel.<br />
Und sie leidet darunter, dass sie <strong>von</strong> den Mitarbeitern <strong>als</strong> Führungskraft nicht<br />
akzeptiert wird. Ich habe die Frau gefragt wie ihre rechtliche Stellung ist. Sie ist aber<br />
erst mal nicht die Frau, sondern nur die Lebenspartnerin. Also durch die Ehe nicht<br />
legitimiert. Was in ihrem Arbeitsvertrag steht habe ich sie gefragt? Das war nur ein pro<br />
forma-Arbeitsvertrag, so etwas wie Sekretärin. Dann haben wir die Mitarbeiter<br />
aufgestellt, sie aufgestellt, den Lebenspartner aufgestellt und den Vater, der noch lebt<br />
–den Gründer. Der Vater (Stellvertreter) hat gesagt: „lass die mal machen hier, ich<br />
habe das Hotel übergeben, ich will meine Ruhe haben.“<br />
Dann habe ich auf eine Karte geschrieben „Arbeitsvertrag wie bisher“ und auf eine<br />
andere Karte „ein juristisch klarer Arbeitsvertrag mit Leitungsfunktion“. Und das<br />
verdeckt, <strong>als</strong>o keiner wusste was auf welcher Karte steht. Dann habe ich die Karte<br />
hingelegt, vor die Füße der Frau. In dem Moment wo die Karte „juristisch einwandfreier<br />
Vertrag“ dort lag, ist das ganze System lebendig geworden. Selbst der Senior sagte:<br />
„Hoppla, das interessiert mich jetzt was hier passiert.“ Die Mitarbeiter hatten plötzlich<br />
Respekt vor ihr. Dann habe ich die Karte ausgetauscht in „bisheriger Arbeitsvertrag“<br />
und alles ist zurück gefallen, in die Lähmung und in die Nichtakzeptanz. Obwohl die<br />
Leute nicht wussten was auf den Karten steht. Und damit wurde sehr deutlich bewusst,<br />
dass so formal-juristische Elemente eine wirkliche Bedeutung haben. Also die Klarheit,<br />
die auch juristisch gemacht wird.<br />
So kann man verdeckt arbeiten, <strong>als</strong>o wo ich selbst <strong>als</strong> Leiter gar nicht weiß, wer jeweils<br />
wer ist. Es ist Neutralität da, sodass ich auch selbst nicht irgendwo manipulieren oder<br />
suggestiv arbeiten kann, das funktioniert fast bei jedem. Auch bei dieser<br />
Umorganisation, in diesem Unternehmen, wussten die Stellvertreter nicht, für wen sie<br />
stehen. Aber die betroffenen Personen, die außen saßen, haben nachher gesagt: „ich<br />
wusste nach einer Minute wer für mich steht – ich hätte mich genauso verhalten.“<br />
Y: Also im Grunde sind das dann auch die Chancen die sie sehen? Dass man gerade<br />
durch so eine Arbeit im Unternehmen für solche Sachthemen mehr Klarheit schaffen<br />
kann?<br />
A: Man kann Klarheit schaffen, man kann Ordnung schaffen. Das ist etwas ganz<br />
wichtiges. Zeigen, wo sind Ordnungselemente verletzt. Und man kann dann natürlich<br />
auch diagnostisch Strategien überprüfen. Ich habe schon z.B. schon Werte aufgestellt,<br />
d.h. welche Werte sind relevant? Eine meiner ersten und beeindrucktesten<br />
Aufstellungen war der Krankenstand in einem Unternehmen. Ein Betrieb hatte einen
Anhang 120<br />
Krankenstand <strong>von</strong> 7,6%. Durchschnitt in dieser Branche ist eigentlich unter 4%. Wo<br />
kommt das her? In der Aufstellung wurde sichtbar woran es liegt. Dann haben wir die<br />
Werte aufgestellt, die gelebt werden müssen. Einfach mal eine Ideensammlung<br />
gemacht, welche Werte könnten relevant sein und dann kam ganz eindeutig durch die<br />
Stellvertreter heraus: „Wertschätzung“ - <strong>als</strong> relevanter Faktor, um den Krankenstand zu<br />
reduzieren. Das kann man logisch auch herleiten, nur die Erfahrung in der Aufstellung<br />
macht was ganz anderes.<br />
Y: Ja, das kann ich sehr gut verstehen. Die Grenzen hatten sie schon angesprochen.<br />
Ich habe jetzt noch ein ganz interessantes Zitat <strong>von</strong> Weber. Er hat gesagt: „Wenn aber<br />
die Bäume nicht zum Wasser kommen, muss das Wasser zu den Bäumen gehen.“<br />
Sehen sie, das es da einen Trend gibt, vermehrt direkt in Unternehmen oder in<br />
Organisationen zu arbeiten, anstatt das Manager zu offenen Seminaren gehen? Oder<br />
ist es ein sowohl <strong>als</strong> auch?<br />
A: Ich sehe es <strong>als</strong> ein „sowohl <strong>als</strong> auch“. Also zu mir kamen vier Geschäftsführer <strong>von</strong><br />
zwei Firmen, die eine Fusion in der Aufstellung bearbeiten wollten. Sie kamen in ein<br />
offenes Seminar für 2 ½ Tage. Das Hauptproblem in den offenen Seminaren ist, dass<br />
Führungskräfte sagen: „warum soll ich mich 2 ½ Tage in einen Kurs setzen, wenn mein<br />
eigenes Thema in einer Stunde bearbeitet wird?<br />
Was ich persönlich dadurch gelöst habe, dass ich Fortbildungskurse habe, in denen<br />
dann halbtagsweise oder tageweise Führungskräfte kommen können, um ihr Thema zu<br />
stellen. Als Stellvertreter habe ich Leute, die die Ausbildung bei mir machen. Das ist<br />
jetzt meine Lösung dahin zu gehen, dass ich genügend Stellvertreter habe. Die<br />
Manager kommen dann halt für vier Stunden oder für einen Tag dazu, um ihr Thema<br />
zu stellen. Ich gehe auch zu den Unternehmen. Das gibt es <strong>als</strong>o auch.<br />
Ich war vor 3 Wochen in Hamburg. Da wurde ich <strong>von</strong> zwei Unternehmen geholt, die ihr<br />
Thema aufstellen wollten und die haben dann auch für Stellvertreter gesorgt. Die<br />
haben Stellvertreter eingeladen, das war einmal zwei Stunden und einmal vier<br />
Stunden. Ich war auch schon hier in Unternehmen, die gesagt haben, dass was wir<br />
hier jetzt aufstellen ist so brisant, da müssen wir 100% sicherstellen, dass niemand<br />
erfährt, was wir jetzt besprechen. Und dann sagen die, wir laden vertrauenswürdige<br />
Leute ein und sonst wollen wir niemand dabei haben. Also da ist schon ein bisschen<br />
die Angst, dass etwas nach außen dringt. Es sind auch Ängste da, wenn ich in einem<br />
offenen Seminar bin, wer kriegt alles was mit? Die Blöße, die ich mir vielleicht gebe,<br />
<strong>als</strong>o dieser Vertrauensschutz <strong>als</strong> solcher, ist immer etwas problematisch.<br />
Y: Und wenn man jetzt mal das Setting ungeachtet lässt. Was kommt nach der<br />
Aufstellung? Wie ist ihre Meinung da? Wie wird mit den Ergebnissen der Aufstellung<br />
umgegangen vor allem in Firmen?<br />
A: Also es gibt da vor allem, wenn man es ein bisschen plakativ macht, zwei<br />
unterschiedliche Ergebnisse oder unterschiedliche Aufgabenstellungen. Wenn in einer<br />
Aufstellung ein persönlicher Prozess in Gang gesetzt wird, <strong>als</strong>o das Annehmen <strong>von</strong><br />
Schuld oder sich aussöhnen mit einer Situation, die ich nicht ändern kann. Wenn es<br />
um eine tiefe Betroffenheit geht, um eine seelische Arbeit wie Trauer oder so etwas,<br />
dann ist die Aufstellung ausreichend. Wenn es aber sehr schwerwiegend ist, das da
Anhang 121<br />
ein Trauma aufzuarbeiten ist, dann wäre der Verweis auf eine Therapie oder<br />
Weiterarbeit in Form <strong>von</strong> z.B. Coaching, dann das Ergebnis.<br />
Das andere ist, dass man sachdienender arbeitet. Typisches Beispiel: Hamburg. Wir<br />
planen neue Filialen, wir haben uns acht Standorte ausgesucht aber können nicht acht<br />
Filialen eröffnen. Was sind denn die lohnenden Standorte? Das ist komplex, da ist die<br />
Kaufkraft, die Konkurrenzsituation, haben wir dort geeignete Mitarbeiter? Es ist sehr<br />
komplex, was den Erfolg eines Standortes ausmacht. Und das kann man mit<br />
Aufstellung sehr gut bearbeiten. Und dann ist es erst mal wichtig, dass bei der<br />
Aufstellung mit protokoliert wird. Es ist ganz wichtig, dass man die Aussagen der<br />
Stellvertreter hat. Und dann ist es sinnvoll, die Ergebnisse nochmal, z.B. in einer<br />
Geschäftsführerbesprechung, durch zu arbeiten. Da der der Blickwinkel <strong>von</strong> dem der<br />
es leitet, nochmal ganz anders ist, <strong>als</strong> der Blickwinkel des Betroffenen. Also da kann<br />
eine Systemblindheit nachträglich wieder etwas auslöschen, was sichtbar geworden<br />
ist. Von daher ist der Blick <strong>von</strong> außen nochmal hilfreich, im Sinne <strong>von</strong> telefonischer<br />
Beratung, was ich immer anbiete. Also telefonische Nachbearbeitung, oder aber dass<br />
man sich danach nochmal trifft zu einer Besprechung.<br />
Y: Also sie sehen dann diese, ich nenne es jetzt mal Prozessbegleitung um <strong>von</strong><br />
diesem Lösungsbild dann auch zu einem Lösungsweg zu kommen, in so einer Form<br />
wichtig ist?<br />
A: Ja. Es gibt verschiedene Wege. Ein typischer Weg ist, dann nach der Aufstellung<br />
mit den Leuten drüber zu reden, was sind die nächsten drei Schritte die sie machen<br />
wollen. Und da kann die Kompetenz der Gruppe auch immer genutzt werden, dass die<br />
Stellvertreter dann sagen: „Moment das hab ich ganz anders wahr genommen.“ Also<br />
hier sind Korrekturmöglichkeiten dann gegeben. Ein Modell das ich erst noch testen<br />
werde ist, dass nach den Aufstellungen die Kunden mit einem Beraterteam über die<br />
weitere Vorgehensweise konferieren.<br />
Y: Wie meinen sie das genau?<br />
A: Der Kunde kommt zu mir in ein Fortbildungsseminar und macht dort seine<br />
Aufstellung. Dann kommt der nächste Kunde macht seine Aufstellung und dann<br />
bekommt jeder Kunde drei Leute, die bei mir die Ausbildung machen, zugeteilt, die mit<br />
ihm jetzt diskutieren, was bedeuten die Lösungen und wie gehen wir weiter vor.<br />
Y: Ok. Also so etwas wie eine vertiefte Begleitung.<br />
A:Ja, ja. Einschließlich dem Aspekt dann auch telefonisch in Kontakt zu bleiben mit<br />
den Leuten.<br />
Y: Ok.<br />
A: Also das ist ein Modell, das ich <strong>als</strong> sehr sinnvoll erachte, dass ich jetzt so aber noch<br />
nicht ausprobiert habe. Das mache ich jetzt am 1.Mai zum ersten Mal.<br />
Y: Ok. Das ist sicher spannend auch für sie so etwas Neues auszuprobieren.
Anhang 122<br />
A: Ja. Das gilt generell. Die Arbeitsweise ist in einer dynamischen Entwicklung, da wird<br />
noch viel passieren in den nächsten Jahren.<br />
Y: Um nochmal zum Lösungsbild zu kommen. Ist es sinnvoll, dieses Lösungsbild dann<br />
eins zu eins umzusetzen?<br />
A: Ja schon. Das ist aber auch gefährlich, wir hatten vorhin den Begriff Wahrheit, die<br />
Aufstellung deckt nicht die Wahrheit auf, sondern es ist eine Momentaufnahme einer<br />
Situation. Und das kann immer wieder passieren, dass das was aufgestellt ist, der<br />
Zwischenschritt, aber noch nicht die Lösung ist.<br />
Ich sage meinen Leuten immer einen ganz wichtigen Satz: „Aufstellungen sind keine<br />
Handlungsanweisungen!“ Aufstellungen liefern weitere Aspekte und weitere<br />
Informationen zur nachgefragten Situation. Und bevor eine Entscheidung getroffen<br />
wird, geht es immer darum mit dem gesunden Menschenverstand, die Dinge zu<br />
hinterfragen. Und es ist sehr spannend, ich hatte das mehrfach schon, bei wichtigen<br />
Entscheidungen.<br />
Zu mir kam mal jemand aus der Geschäftsleitung aus Norddeutschland, <strong>von</strong> einem<br />
1200 Mann Betrieb. Er musste sehr weitreichende Entscheidungen treffen. Was ich<br />
dann mit Studenten hier aus Würzburg aufgestellt habe. Die Lösung die raus kam, war<br />
<strong>als</strong> solches ganz wichtig, um einen Prozess einzuleiten. Da kam etwas raus, was dann<br />
nicht umgesetzt wurde, obwohl es im ersten Moment gut aussah. Aber es hat dazu<br />
geführt, dass die entsprechende Person sich mit neuen Aspekten auseinander setzten<br />
musste, um dann zu Erkenntnis zu kommen: „was ich mir vorgestellt habe kann nicht<br />
funktionieren.“<br />
Y: Und nochmal konkret. Was denken sie, was die Voraussetzung, <strong>als</strong>o allgemein die<br />
Voraussetzung ist, damit so ein Lösungsbild überhaupt umgesetzt werden kann?<br />
Braucht das bestimmte Voraussetzungen im Unternehmen?<br />
A: Also es muss schon jemand sein der Handlungsmöglichkeiten hat, um die<br />
Aufstellung umzusetzen. Also wenn der Fahrer des Vorstands mal aufstellt wie die<br />
Konzernpolitik geändert werden sollte, dann ist da kein Umsetzungspotential<br />
vorhanden.<br />
Y: Ja, das verstehe ich.<br />
A: Und das kann man schon immer daran festmachen. Aufstellungen gelingen dann,<br />
wenn die Person selbst ein brennendes Anliegen hat, <strong>als</strong>o ein eigenes, brennendes<br />
Anliegen. Wenn es reine Neugierde ist, ist es nicht gut, nicht ausreichend. Und um das<br />
Lösungsbild dann umzusetzen, kann es sein, dass der emotionale Prozess in der<br />
Aufstellung so stark war, dass da etwas in Gang gekommen, etwas das alleine<br />
weiterwirkt und eine eigene Dynamik noch über Wochen und Monate hat. Es kann aber<br />
auch sein, dass man das Lösungsbild dann einfach mit einem Coach, mit einem<br />
Berater, nochmal im Kollegenkreis diskutiert und dann über einen logischen,<br />
analytischen Prozess weiteraufarbeitet.<br />
Y: Es gibt <strong>als</strong>o kein Schema, wie sich Lösungen umsetzen?
Anhang 123<br />
A: Nein.<br />
Y: Es kann nachhallen <strong>von</strong> sich, muss aber nicht.<br />
A: Man muss wirklich Stück für Stück anschauen was ist relevant. Oder um es mit den<br />
Worten <strong>von</strong> Milton Erickson, einem der besten Therapeuten des letzten Jahrhunderts<br />
zu sagen: „Ich erfinde für jeden Patienten eine neue Therapie.“ Und so muss man in<br />
der Aufstellung jeden Einzelfall anschauen und sich dann, aber das ist eine Frage die<br />
sehr wichtig ist, am Schluss fragen – was muss jetzt geschehen oder auch, was muss<br />
unterlassen werden, dass die Aufstellung eine gute Wirkung entfaltet.<br />
Y: Aber das knüpft ja auch an ihre eigenen Erfahrung an?<br />
A: Ja klar. Das ist so wie in allen Bereichen hier. Es gibt Pädagogen, die können auf<br />
gute Erfahrungen zurück greifen, das sind dann gute Pädagogen. Es gibt Chirurgen,<br />
die haben tolle Erfahrungen und können toll operieren. Irgendwann, um zu<br />
Erfahrungen zu kommen, muss man mal anfangen und ausprobieren.<br />
Y: Sie hatten es vorhin schon mal angeschnitten, das Potential das Aufstellungen für<br />
die nächsten Jahre noch haben wird. Was ist denn für sie der gravierendste<br />
Unterschied? Wie haben sie vor 5 Jahren aufgestellt und wie tun sie es heute? Was<br />
hat sich da verändert in ihrer Praxis?<br />
A: Hier greift natürlich, dass ich in 5 Jahren sehr viel Erfahrung gesammelt habe. Das<br />
ich in 5 Jahren Techniken entwickelt habe, aus diesen Erfahrungen heraus, aber auch<br />
Impulse bekam, durch alle möglichen Personen oder auch Erlebnisse Dinge auf<br />
zustellen. Ich sehe meine Aufstellungsarbeit immer parallel zu meiner persönlichen<br />
Entwicklung. Ich stehe heut näher an solchen Themen wie Berufung, wie<br />
Werteorientierung, wie auch Spiritualität mit seinen verschiedenen Facetten <strong>als</strong> noch<br />
vor 5 Jahren. Und das fließt natürlich in die Arbeit ein. Es ist meine eigene, persönliche<br />
Entwicklung die rein rutscht.<br />
Das andere ist, dass bei Aufstellungen der Bekanntheitsgrad deutlich zugenommen<br />
hat. Also die Frage in Kursen, wer hat schon mal eine Aufstellung erlebt oder<br />
mitgemacht, da sind inzwischen ziemlich viele Leute schon erfahren, teils durch<br />
Familienaufstellungen, teils durch Organisationsaufstellungen. Was sicherlich der Fall<br />
ist, kann ich jetzt aber nicht unterscheiden ob das jetzt nur meine Klientel ist, oder ob<br />
es der Markt insgesamt ist. In meiner Klientel nimmt diese Akzeptanz zu, aufgrund der<br />
positiven Erfahrungen, die Leute erlebt haben. Warum und wie es funktioniert, ist nicht<br />
so wichtig, die Leute wissen dass es funktioniert.<br />
Die Aufstellungsarbeit fließt auch immer mehr in die Coachingarbeit ein. Zweier<br />
Settings mit Bodenankern werden oft verwendet. Typisches Beispiel: letzte Woche war<br />
ein junger Mann bei mir, der schon mehrfach zum Coaching da war. Er sagte: „ich<br />
habe ein Angebot <strong>von</strong> jemandem, der bei mir einsteigen will in der Firma und der seine<br />
eigene Firma mitbringt. Was machen wir jetzt? Soll ich eine geschäftliche Partnerschaft<br />
eingehen oder nicht?“ Und dann stellen wir das auf. Mit Bodenankern, d.h.<br />
verschiedene Geschäftsmodelle, Minderheitsbeteiligung, Mehrheitsbeteiligung, ganz<br />
verkaufen. Das sind Arbeitsweisen, die vor 5 Jahren so noch nicht waren. Also auch im<br />
Coaching, Einzelsetting.
Anhang 124<br />
Y: Also das heißt, die Arbeit mit Bodenankern ist eine Technik, die sie öfter<br />
verwenden?<br />
A: Ja, ich verwende es immer dann wenn ich keine Stellvertreter habe.<br />
Y:Ok.<br />
A: Also wenn ich keine Stellvertreter habe arbeite ich mit Bodenankern. Aber ich<br />
bevorzuge die Arbeit mit Stellvertretern, da Menschen reden können und Karten nicht.<br />
Y: Gibt es da bestimmte Standardaufstellungen oder bevorzugen sie lieber das<br />
klassische?<br />
A: Also was es gibt bei mir, dass ich einige Standardaufstellungen für bestimmte<br />
Fragestellungen entwickelt habe. Z.B. das ich themenbezogene Aufstellungen mache<br />
auf einer hohen Abstraktionsebene. Also wenn jemand Schwierigkeit mit der Zeit hat,<br />
vom Zeitkontingent, dann kann man die beiden griechischen Götter Kronos und<br />
Chairos, die für die Zeit stehen aufstellen. Menschen kann man dadurch in einen<br />
Prozess bringen, sich damit auseinander zu setzen, wie viel Planung, wie viel<br />
Spontanität, wie viel Kreativität kann ich zu lassen, was ist mir gemäß.<br />
Y: Wenn ich das jetzt richtig raus gehört habe, dann ist die Aufstellungsarbeit auf jeden<br />
Fall kreativer geworden?<br />
A: Ja sicher. So z.B. wenn jemand nicht den Erfolg hat den er sucht, dass ich<br />
analytisch einsteige wie ist er verbunden mit seinen drei Wurzeln. Wie ist er mit seinen<br />
biologischen, geographischen Wurzeln verbunden? Gibt es da eine Besonderheit, <strong>als</strong>o<br />
heimatverbunden sein und ähnliches mehr. Und wie ist er mit seinen spirituellen<br />
Wurzeln angebunden? Damit kann man dann definieren, in welche Richtung muss<br />
gearbeitet werden oder was muss gelöst werden?<br />
Y: Denken sie dann, dass sich die Organisationsaufstellung <strong>als</strong> eigene Methode<br />
etablieren konnte? Oder ist sie ein Tool im Methodenkoffer?<br />
A: Organisationsaufstellungen sind etabliert. In der Therapie gibt es eine ganze Reihe<br />
<strong>von</strong> Therapeuten, die sich darauf spezialisiert haben, Familienaufstellungen zu<br />
machen. Im Unternehmensberatungsbereich ist es etwas problematisch nur<br />
Aufstellungen zu machen, da gibt es diese Klientel nicht in dieser Form. Wie schon<br />
erwähnt, gehen Manager nicht 3 Tage zum Seminar, um dann eine Aufstellung zu<br />
haben. Therapeuten sind das gewohnt, Manager nicht. Das ist so das Handicap in der<br />
Richtung.<br />
Aufstellungen sind ein sehr effektives Tool wenn jemand wirklich gut damit umgeht. Es<br />
macht auch Sinn, die Methode mit anderen Beratungstechniken zu kombinieren. Also<br />
z.B. innerhalb eines Coachings oder innerhalb eines Führungsseminars. Die Methode<br />
einzusetzen, innerhalb eines andern Kontextes, da hat es ja auch eine höhere<br />
Akzeptanz. Als Kontext wäre bspw. typisch ein Führungsseminar. Im Führungsseminar<br />
schildert jemand einen Konflikt und dann schlage ich vor, wir stellen das mal auf.
Anhang 125<br />
Y: Wie sieht denn für sie die Wirklichkeit im Bereich der Organisationsaufstellung in der<br />
Zukunft aus? Was denken sie was da alles kommt? Welche neuen Prämissen? Mit<br />
was muss sich die Organisationsaufstellung auseinander setzen? So aus ihrem<br />
heutigen Blickwinkel?<br />
A: Die Organisationsaufstellung muss erst mal den Kontakt zu anderen bewährten<br />
Methoden wie Projektmanagement, wie Organisationsentwicklung und ähnliches<br />
suchen. Also sich verbinden mit anderen bewährten Methoden. Es steht einfach auch<br />
an, entsprechende Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Es steht auch an, entsprechende<br />
wissenschaftliche Untersuchungen zu machen. Peter Schlötter ist da ja nur ein<br />
Beispiel. Wissenschaftliche Arbeiten haben in der Gesellschaft nach wie vor einen<br />
hohen Stellenwert. Dann glaube ich, dass der Rest eine Eigendynamik hat, eine<br />
Eigendynamik die daher kommt, dass gerade jetzt in Krisen Führungskräfte nach<br />
effizienten Techniken suchen. Und da ist das Tool Aufstellung, wenn es kompetent<br />
angewandt wird, eine hocheffiziente Methode.<br />
Y: Wenn sie jetzt so persönlich denken wo sehen sie sich in fünf Jahren?<br />
A: Ich sehe mich in 5 Jahren noch tiefer in der Aufstellungsarbeit drin und zwar mit<br />
dem Anspruch, diese Methode heilsam einzusetzen. Also den Menschen zu helfen,<br />
dass Fusionen tatsächlich zum Segen der Beteiligten werden. Aufstellungen<br />
einzusetzen, um Konflikte und menschliches Leid zu reduzieren. Aufstellungen<br />
einzusetzen, um Fehlentscheidung an denen ja wieder menschliches Leid oder das<br />
Schicksal <strong>von</strong> Menschen und Institutionen hängt, zu reduzieren.<br />
Ein ganz typisches Beispiel ist es, wenn man Aufstellungen bei Kündigungen anschaut,<br />
<strong>als</strong>o wenn jemand sagt ich muss mich <strong>von</strong> einem Mitarbeiter trennen, weil er nicht<br />
tragbar ist für das Unternehmen. Dann kann man mit Aufstellungen durchaus schauen,<br />
wie könnte man eine solche Person durchaus noch integrieren oder aber auch zu<br />
entdecken, ob es nicht für alle Beteiligten sinnvoll ist, man entlässt denjenigen. Wenn<br />
er nicht in das Unternehmen gehört, geht es ihm auch besser, wenn er dann dort<br />
ausscheidet. In diese Richtung etwas Gutes tun, im Sinne <strong>von</strong> menschlicher<br />
Entwicklung, im Sinne <strong>von</strong> gutem Klima im Unternehmen. Da lässt sich mit Aufstellung<br />
vieles in die Wege leiten.<br />
Y: Vielen herzlichen Dank Herr Assländer.<br />
A: Gerne…<br />
Y: Ich wäre mit meinen Fragen nun am Ende angelangt…
Anhang 126<br />
Anhang 8: Transkription Claude Rosselet<br />
Y: Y<strong>von</strong>ne <strong>Mattes</strong><br />
A: Dr. Assländer<br />
Y: Herr Rosselet, ich habe in ihrer Vita gelesen, sie kommen ja auch aus dem<br />
betriebswirtschaftlichen Bereich und beschäftigen sich jetzt aber schon lange mit<br />
Aufstellungsarbeit. Wie kamen sie dazu bzw. was fasziniert sie persönlich daran?<br />
R: 1996 hab ich beim Workshop, den Gunthard Weber zum Thema<br />
Organisationsaufstellungen in Vorarlberg gemacht hat, teilgenommen. Ein<br />
Beraterkollege <strong>von</strong> mir hat mich eingeladen und gefragt, ob ich nicht mit zur<br />
Organisationsaufstellung gehen möchte. Ich habe ihn dann gefragt: „was macht man<br />
da?“ Weil ich natürlich keine Vorstellung hatte, was dahinter steckt. Nach dem<br />
Workshop bin ich heimgegangen und war beeindruckt. Typischerweise hat Gunthard<br />
mit einer Familienaufstellung begonnen, um zu zeigen wie das läuft.<br />
Y: Meinen Sie, um zu zeigen wie die Dynamik ist?<br />
R: Genau. Also 1996, das hat mich dam<strong>als</strong> so fasziniert, dass ich mich dann<br />
entschieden habe, nach einem weiteren Seminar bei Gunthard Weber – es ging<br />
dam<strong>als</strong> um Familienaufstellungen - diese Methode zu erlernen. Dam<strong>als</strong> gab es noch<br />
keine Weiterbildungen in Organisationsaufstellungen, so habe ich den Umweg<br />
gemacht, über eine Lerngruppe die wir dam<strong>als</strong> gegründet haben. Im Nachhinein habe<br />
ich noch eine Weiterbildung in Familienaufstellungen gemacht. So kam es dann zu<br />
meiner Arbeit.<br />
Y: Ich möchte Ihnen gerne meine erste inhaltliche Frage stellen. Es gibt ja<br />
verschiedene Zugangsweisen, wie man in Organisationen eintreten kann. Ich habe für<br />
meine Arbeit, <strong>als</strong> theoretische Basis, den systemisch-konstruktivistischen gewählt. Wie<br />
stehen sie zu dieser Basis, um Zugang zu Organisationen zu bekommen.<br />
R: Für mich <strong>als</strong> Landkarte ist es einigermaßen nützlich. Ich würde es nicht zu weit<br />
verallgemeinern und es ist der einzige, wahre Zugang zur Welt. Meine Erfahrung ist<br />
die, dass es die Manager ziemlich kalt lässt, was mich in meinem Denken bewegt. Also<br />
die wollen Lösungen haben, die wollen Plausibilitäten haben, die wollen ein Stück<br />
Sicherheit haben.<br />
Y: Denken sie, dass der systemisch-konstruktivistische Ansatz mehr Akzeptanz<br />
schaffen kann bei Managern?<br />
R: Ich habe mit noch keinem meiner Klienten über erkenntnistheoretische Grundlagen<br />
meiner Arbeit gesprochen. Und ich denke, dass interessiert Manager auch nicht. Sie<br />
schauen eher, was habe ich zu bieten, wie gehe ich etwas an, wie stehe ich ihnen<br />
sozusagen gegenüber. Habe ich eine Festigkeit, eine Persönlichkeit, auch in Bezug auf<br />
meine theoretischen Konstrukte?<br />
Y: Kommen dann bei ihnen Fragen in der Praxis vor, wie hoch der Wahrheitsgehalt<br />
oder wie hoch die Aussagekräftigkeit <strong>von</strong> Aufstellungen ist?<br />
R: Ja klar. Diese Fragen begleiten mich stets.
Anhang 127<br />
Y: Und wie gehen sie damit um?<br />
R: Sehr pragmatisch. Gelegentlich kann ich auch den Gehalt der Aufstellung nicht<br />
glauben oder habe Zweifel, wie ich das deuten soll. Im Organisationskontext passiert<br />
die Deutung in den Aufstellungen die ich mache, immer in einem gemeinsamen Dialog,<br />
der an die Aufstellung anschließt. Da habe ich auch schon gezweifelt und gedacht, das<br />
kann nicht sein. Oder habe mich gefragt, was in welchen Sinnhorizont konkret<br />
einzubetten ist. Also die Zweifel begleiten mich eigentlich immer. Ich habe aber auch<br />
schon gemerkt, dass Organisationsaufstellungen Aspekte offen gelegt haben, die dann<br />
später auch so zugetroffen haben. Das „warum“ ist eine andere Frage. Für mich ist es<br />
eine Gradwanderung <strong>von</strong> Zweifel und dann doch wieder Vertrauen zu haben in die<br />
Methode. Für mich ist es dann auch wieder Motivation, weiter hinzu schauen und<br />
weiter zu forschen.<br />
Y: Und welche Wirklichkeit wird dann in Aufstellungen dargestellt? Ist es nur die<br />
individuelle oder zeigt sich einfach das was generell da ist?<br />
R: Ich glaube schon eine Art kollektive Hinsicht auf etwas. Ich persönlich lasse immer<br />
<strong>von</strong> zwei Leuten aufstellen, damit ich eben dieses Moment des persönlichen außen vor<br />
lasse. Und ich denke, das was geschaffen wird, ist etwas Kollektives.<br />
Y: Also sie meinen, dass zwei Menschen das gleiche Thema aufstellen?<br />
R: Zwei aus dem Managementteam desselben Systems. Sie wählen ihre<br />
Repräsentanten gemeinsam aus und führen die dann gemeinsam an ihren Platz. Also<br />
<strong>von</strong> daher denke ich, man kreiert eine kollektive Wirklichkeit.<br />
Y: Aber ist es dann nicht eine Diskrepanz? Hat der eine Mensch nicht eine andere<br />
Wahrnehmung oder ein anderes intuitives Bild <strong>von</strong> der Problematik oder Situation <strong>als</strong><br />
der andere?<br />
R. Ja, aber das sehe ich ja dann im Aufstellungsprozess. Ich sehe, ob es<br />
unterschiedliche Hinsichten, im Bezug auf die gleiche Problemsituation gibt.<br />
Y: Ein Thema des Aufstellungsprozesses ist auch weitläufig in der Literatur diskutiert,<br />
nämlich die Bedeutung <strong>von</strong> systemischen Grundsätzen. Welche Bedeutung haben<br />
diese ihrer Meinung nach, bei der Betrachtung <strong>von</strong> sozialen Systemen, was ja<br />
Unternehmen sind?<br />
R: Ich finde die systemischen Grundsätze für meine Arbeit wichtig, ich halte mich<br />
daran. Aber ich propagiere sie nicht speziell. Also ich würde sagen, für mich sind sie<br />
nützlich und in meine Arbeit voll integriert.<br />
Y: Ich möchte noch etwas zitieren. Thorsten Groth hat in seinem Buch gesagt: „Wenn<br />
am Ende hauptsächlich Alter, Zugehörigkeit und Wichtigkeit der Person <strong>als</strong> Indizien für<br />
eine „gute Ordnung“ genommen werden, ist es zweifelhaft, ob dies der Komplexität<br />
einer Organisation gerecht wird.“ Was ist da ihre Erfahrung?<br />
R: Ja, da stimme ich ihm zu. Also das sind Vereinfachungen aus der Pionierzeit der<br />
Organisationsaufstellung, wo man ein Team und eine Aufgabe aufgestellt und dann
Anhang 128<br />
geschaut hat, wie ist da die Ordnung. Aber wenn ich zu Managementthemen aufstelle<br />
oder Entscheidungsfragen mit dem Management kläre, da geht es um ganz andere<br />
Größen. Da geht es um Strategien, Strukturen, Zielsetzungen und Ressourcen. Also<br />
das ist eine ganz andere Ebene.<br />
Y: Habe ich sie richtig verstanden, dass sie die systemischen Grundsätze eher <strong>als</strong><br />
Leitgerüst sehen, an dem man sich orientieren kann?<br />
R: Ja, <strong>als</strong> Gerüst. Wobei ich für mich dann wieder Ordnungen habe, die ich <strong>von</strong><br />
Managementmodellen her kenne. Also z.B. dass die normative Ebene wichtiger <strong>als</strong> die<br />
strategische Ebene ist. Das sind dann eher andere Ordnungen die ich berücksichtige.<br />
Y: Denken Sie, dass diese Systemprinzipien im Aufstellungsprozess generell eher<br />
einengen, wenn man sich zu sehr daran orientiert?<br />
R: Einzelne ja. Bei anderen habe ich die Erfahrung gemacht, dass die schon sehr<br />
hilfreich sind. Also z.B. dass das, was einen Einfluss ausübt, eher auf der rechten Seite<br />
<strong>von</strong> dem steht, auf das Einfluss ausgeübt wird. Das Prinzip leitet mich, das teste ich<br />
dann immer auch aus, um zu schauen, wie wirkt es sich sozusagen aus. Die Situation<br />
die ja da entsteht, die Konstellation die man zum Klingen bringt, wie schaut es da aus?<br />
Es ist allerdings auch immer noch eine Frage, wie wird diese Konstellation dann<br />
gedeutet, z.B. beim kollektiven Sinnstiftungsprozess im Anschluss. Eine Aufstellung<br />
bietet rein vom praktischen her eine Entlastung, das ist die eine Seite. Aber in<br />
Managementkontexten muss man dann immer die Frage der Manager beantworten:<br />
„und was jetzt?“ Wie interpretieren wir das, was bei der Aufstellung geschehen ist. Und<br />
da habe ich gemerkt, dass ich zu Beginn zu wenig Sorgfalt auf diesen<br />
Interpretationsprozess gelegt habe. Auch weil ich die Familienaufstellung und die<br />
Konzepte der Familienaufstellung im Hintergrund hatte, die mich geleitet haben.<br />
Im Moment ist bei mir 30% Aufstellungsarbeit und der Rest ist dann wirklich<br />
Klärungsarbeit, d.h. Beschließen <strong>von</strong> Maßnahmen aufgrund dieses<br />
Einigungsprozesses.<br />
Y: Das ist auch ein Thema, das ich gerne ansprechen möchte. Ich habe im Vorfeld<br />
eine Recherche, u.a. zur Frage „wie die Zukunft <strong>von</strong> Organisationsaufstellungen ist?“<br />
bei verschiedenen Aufstellern durchgeführt. Es kam bei einigen Antworten heraus,<br />
dass die Berater das Unternehmen zu früh verlassen oder dass die Manager mit der<br />
Umsetzung <strong>von</strong> dem Lösungsbild zum Lösungsweg „alleine gelassen“ werden. Das ist<br />
ja jetzt im Grunde das, was sie gerade angesprochen haben. Wie sehen sie das? Wie<br />
muss mit den Ergebnissen die sie jetzt aus Aufstellungen bekommen, in den<br />
Organisationen umgegangen werden?<br />
R: Also ich habe ein Ablaufschema. Erster Schritt ist die Auftragsklärung mit den<br />
Managern zusammen, <strong>als</strong>o worum geht es, was ist das Anliegen, was wäre eine gute<br />
Lösung. Zweiter Schritt ist dann die Bestimmung des Systems, <strong>als</strong>o wer oder was soll<br />
alles aufgestellt werden soll. Das mache ich zusammen mit den involvierten Leuten<br />
aus dem Managementteam. Der dritte Schritt ist dann die Aufstellung, d.h. die<br />
eigentliche Aufstellungsarbeit. Und der vierte Schritt ist schließlich der gemeinsame<br />
Dialog, wo die Leute aus dem Managementteam, die mit mir eine Aufstellung gemacht
Anhang 129<br />
haben, miteinander in Kontakt und in Austausch treten. Die Art des Austausches ist ein<br />
ganz anderer, wie der Austausch vor der Aufstellung. Offenbar wird durch das<br />
Verlangsamen, das Perspektiven einnehmen auch etwas eingelöst, was sich dann<br />
ganz fruchtbar im Dialog auswirkt. Und meistens kommen in dieser Dialogsituation eine<br />
Vertiefung, auch eine Verfestigung der Lösungsrichtung und der Aspekte der Lösung<br />
zustande.<br />
Und der letzte und fünfte Schritt ist dann beschließen <strong>von</strong> Maßnahmen. Also wie sie<br />
sehen, bette ich die Aufstellungsarbeiten in einen Prozess ein, wo die<br />
Aufstellungsarbeit dann selber vielleicht wirklich nur noch 20-30% ausmacht.<br />
Y: Ok. Also das heißt, eigentlich nur ein kleiner Teil Ihrer Beratung?<br />
R: Ja, aber ganz entscheidend für den Willensbildungsprozess, ist die Aufstellung. Ich<br />
habe gemerkt, es wird sehr oft in den Entscheidungssituationen dieser<br />
Willensbildungsprozess ausgeblendet oder man geht da<strong>von</strong> aus, dass es sowieso alle<br />
wollen, bzw. dass alle das gleiche wollen. Das ist ja eine Riesenillusion. Durch die<br />
Aufstellungsarbeit und die dialogische Vertiefung gibt es so etwas wie einen Prozess<br />
der gemeinsamen Willensbildung, der dann die Basis für die Entscheidungsfindung ist.<br />
Und interessanterweise gibt es dann nicht mehr solche Entscheidungen, die sich<br />
gegenseitig ausschließen, sondern die Lösungsfindung hat so eine Glattheit, wo nicht<br />
mehr debattiert, diskutiert, ausgeschlossen, sondern integriert wird. Durch diese<br />
Integration, Diskussion und diesen Diskurs kommt man zu Lösungen, die dann sehr<br />
tragfähig sind. Allein dieser Aspekt ist natürlich ein riesen Unterschied zu den<br />
klassischen Waisen der Entscheidungsfindung, wie sie in Sitzungen und klassischen<br />
Workshops gelten. In denen eben die Situation, aufgrund <strong>von</strong> irgendwelchen<br />
Konzepten und Modellen analysiert wird, man Entscheidungsoptionen erarbeitet bzw.<br />
bewertet und ein Stück weit mehr das Konzept realisiert, anstatt das was die Situation<br />
<strong>als</strong> Potential sozusagen in sich verschließt.<br />
Y: Aber sie messen ja dann, wenn ich sie richtig verstanden habe, diesem Prozess der<br />
Nachbereitung, um zum Lösungsweg im Unternehmen zu kommen, sehr viel<br />
Bedeutung bei?<br />
R: Ja natürlich. Das war bei mir auch ein Lernprozess, dafür bin ich auch sehr dankbar.<br />
Ich konnte mit einem Managementteam über lange Zeit zusammen arbeiten, da war<br />
auch ein Interesse an der Methode da, vom Geschäftsleiter und somit konnten wir das<br />
Setting auch laufend verbessern.<br />
Y: Was sind für sie überhaupt die Voraussetzungen, dass ein Lösungsbild, welches<br />
man in einer Aufstellung bekommt, in die Realität transferiert werden kann? Weil das<br />
soziale Umfeld bleibt ja das gleiche.<br />
R: Also die Aufstellung ist dann schon in die Stringenz bspw. einer<br />
Interventionsarchitektur eingebettet. Die wird dann auch umgesetzt durch<br />
entsprechende Workshops und Prozesse. Je nachdem welche Ebene eine Strategie<br />
oder ein bestimmtes Vorhaben auf der operativen Ebene umzusetzen hat. Es hängt<br />
dann tatsächlich ab <strong>von</strong> der Art und Weise, wie man dann die Veränderung<br />
konsequent durchführt.
Anhang 130<br />
Y: Und in wie fern ist dann der Anspruch, dass man das genau eins zu eins umsetzt?<br />
Also zum Beispiel ist das Ergebnis einer Aufstellung: Strategie X ist<br />
erfolgsversprechender <strong>als</strong> Y. Ist das dann auch der Anspruch, das genauso<br />
umzusetzen?<br />
R: Ich empfehle dem Kunden inzwischen in solchen Fällen, das habe ich auch gelernt,<br />
die Aufstellungsarbeit des Öfteren einzusetzen. Als eine Art strategisches Controlling.<br />
Das hat sich sehr gut immer wieder bewährt, obwohl die Kunden ein bisschen da<strong>von</strong><br />
überzeugt werden müssen, dass man da dran bleiben sollte. Beispielsweise können<br />
die Maßnahmen selber, <strong>als</strong>o z.B. ob sie greifen, gibt es Hindernisse, über die<br />
Aufstellungsarbeit überprüft werden. Ich empfehle sozusagen das Instrument <strong>als</strong><br />
„strategisches Controlling“ in Anführungszeichen und verwende es auch mit. Da gibt es<br />
natürlich auch Nebeneffekte, alleine dadurch, dass die Leute wissen, dass die<br />
Geschäftsleitung speziell auf die Umsetzung des Projektes XY achten.<br />
Y: Arbeiten Sie dann mehr mit Sachthemen, <strong>als</strong>o Strategien, Projekten?<br />
R: Ja, mit Sachverhalten.<br />
Y: Was sie angesprochen haben bezüglich der Umsetzung <strong>von</strong> Aufstellungen im<br />
Unternehmen. Ist es dann etwas anderes mit Sachthemen, anstatt mit<br />
Beziehungsmustern zu arbeiten?<br />
R: Also ich mache keine Teamentwicklung mit den betroffenen Leuten über die<br />
Aufstellungsarbeit.<br />
Y: Und wie gehen sie damit um, wenn doch solche Beziehungsmuster hoch kommen?<br />
R: Das man es anspricht. Es kommt mir eine Aufstellung in den Sinn die ich gemacht<br />
habe und da war das implizite Thema, dass dieses System wohl nicht die<br />
angemessene Wertschätzung bekommt. Auf der anderen Seite war da auch eine<br />
gewisse Hochnäsigkeit, es waren hochrangige Experten und die konnten nicht<br />
verstehen, dass ihre gescheiten Lösungen so wenig Profit abwerfen. Wir haben dann<br />
ein Projekt aufgestellt und dann kam das Thema Wut in die Aufstellung herein. Über<br />
die Methode der Aufstellung konnte dann dieses Thema viel Eingang finden, weil es ja<br />
Teil dieser Situation war. Es war nicht ausgesprochen, aber es war wie ein<br />
unsichtbarer Teil. Und im anschließenden Dialog, der sehr rührend und ergreifend war,<br />
haben dann alle miteinander darüber geredet, wie sie umgehen mit dieser Wut, mit<br />
dieser Frustration aber auch mit der Arroganz. Das ist natürlich Teamentwicklung pur!<br />
Ohne das ich da lange mit denen über die Art und Weise, wie sie sich mögen oder<br />
nicht reden und irgendwelche Beziehungsmuster ergründen muss, ob die jetzt<br />
funktional oder dysfunktional sind. Das ist ja dann eh noch eine nächste Frage der<br />
Bewertung.<br />
Y: Ist es richtig, wenn ich sage, dass differenziert werden muss, wenn man mit<br />
Unternehmen arbeitet? Dass vielleicht auch individuelle Sachen hochkommen, die im<br />
Unternehmenskontext einfach nicht gelöst werden können?<br />
R: Ja, <strong>als</strong>o wichtig wäre, dass alle zusammen schauen: wie gehen wir mit der Wut<br />
gemeinsam um und wie schaffen wir eine Ebene des Dialogs, wo wir diese
Anhang 131<br />
Frustrationen, diese Wut einbringen können? Und was ändern wir an unserer<br />
Ausrichtung, an unserer Haltung, wie wir arbeiten. Also das sind dann wirklich<br />
relevante Themen, auch der Teamentwicklung. Andernfalls kommen diese Themen<br />
anders in das Team rein, <strong>als</strong> auf die klassische Art und Weise. Und das sind dann<br />
wirklich fundamentale Themen.<br />
Y: Sehen Sie dann eher die Komplexität, die in Unternehmen herrscht und brechen<br />
diese nicht runter auf die Systemgrundsätze?<br />
R: In der letzten Zeit habe ich übrigens auf einem ganz anderen Weg Zugang zu<br />
diesem Thema bekommen. Ich habe ein Buch vom Krishnamurti gelesen – den kennen<br />
sie vielleicht. Und der sagt ja, dass wir der Welt nie unverstellt begegnen, weil uns die<br />
Vergangenheit und die Bilder der Vergangenheit und auch die Begrifflichkeit aus der<br />
Vergangenheit immer ein Stück den Blick auf das, was ist, verstellen. Also wir sehen<br />
das was ist, durch all das, was wir in der Vergangenheit erfahren haben. Konzepte,<br />
Modelle usw. Und ich hatte dann gedacht, ja die Aufstellungsarbeit geht da auf eine Art<br />
unterschiedlich vor, weil sie das was ist, so zum Schwingen oder zum Klingen bringt.<br />
Man kann, eine Zeitlang zumindest, das wie durch eine Brille die geprägt ist, durch<br />
Konzepte, Modelle Vorstellungen aus der Vergangenheit, beobachten.<br />
Und das finde ich, wäre ja ein toller Mehrwert, wenn man die Dynamik wie sie der<br />
Situation entspringt und auch das Potential was sie enthält, wirklich aus der Situation<br />
entspringend auch wahrnehmen kann. Auch die Strukturaufsteller gehen dann fast ein<br />
bisschen zu rigide vor, dass man dieses Potential wiederum annulliert, dass man es<br />
vorschnell überschürt in eine bestimmte Ordnung, die ja auch wiederum geprägt ist <strong>von</strong><br />
Vorstellungen <strong>von</strong> früher.<br />
Y: Ich verstehe was sie meinen.<br />
R: Also da bin ich im Moment ein bisschen dran. Man muss ja immer argumentieren,<br />
weshalb man die Aufstellung <strong>als</strong> Methode bringt. Das ich z.B. sage, über die<br />
Aufstellung scheint mir, dass eine Situation in ihrer Dynamik und in ihrem Potential<br />
unverstellter angeschaut werden kann, <strong>als</strong> mit den klassischen anderen Methoden der<br />
Diagnose. Diesen klassischen Methoden sind ja <strong>von</strong> vorn herein ein Raster vorgeben,<br />
durch das dann etwas angeschaut werden kann. Das was angeschaut wird ist ja dann<br />
auch geprägt. Mehr oder weniger.<br />
Y: Ich möchte, wir sind ja jetzt schon beim Lösungsbild und bei der Prozessarbeit<br />
gewesen, dass wir nochmal zurück zu den Settings gehen. Sie sind ja sozusagen der<br />
Fachmann, was die Aufstellung innerhalb <strong>von</strong> Organisationen betrifft. Ich habe noch<br />
ein Zitat <strong>von</strong> Peter Schlötter: „Nirgendswo kann die Eigendynamik besser erfahren und<br />
so auch verstanden werden <strong>als</strong> im System selbst.“ Weber hat im Bezug auf die<br />
Management constellations im Vorwort geschrieben, dass es „ein Meilenstein in der<br />
Weiterentwicklung der Organisationsaufstellung“ sei. Wie ist ihre Auffassung zur Arbeit<br />
innerhalb der Organisationen? Also direkt mit den Systemteilnehmern?<br />
R: Also gut. Ich muss einfach gestehen, dass diese Form aus der Not entstanden ist.<br />
Ich habe realisiert dass sich die Manager einfach die Zeit nicht nehmen können und<br />
wollen, in 3-tägigen offenen Seminaren ihre Probleme zu bearbeiten. Zum einen wollen<br />
sie ihre Probleme nicht offenlegen und zum anderen haben sie einfach die Zeit nicht.
Anhang 132<br />
Und da hab ich mir überlegt was mache ich denn? Und habe das einfach mal<br />
ausprobiert ob das geht, direkt in Unternehmen mit den Managern zu arbeiten. Da gab<br />
es ja auch Bedenken, sie haben die ganze Geschichte ja gelesen. Und das war dann<br />
der Anfang dieser Arbeit, <strong>als</strong>o es ist aus einer Verlegenheit heraus entstanden, nicht<br />
weil ich gescheite Überlegungen im Vorfeld gemacht hätte.<br />
Y: Und wo liegen für sie direkt die Chancen dieser Arbeit unabhängig <strong>von</strong> dem was sie<br />
gerade angesprochen haben?<br />
R: Also in den Möglichkeiten die ich habe, um mit Managern zu arbeiten. Zweitens<br />
aber auch, und da möchte ich darauf hinweisen was sie <strong>von</strong> Schlötter zitiert haben.<br />
Wenn ein Managementteam sich gemeinsam eine Problemstellung anschaut und über<br />
die Aufstellung gemeinsam Lösungen erarbeitet, dann sind die natürlich einfacher<br />
umzusetzen.<br />
Y: Verstehe ich das richtig, dass es die Eigendynamik, <strong>als</strong>o auch die Systemerhaltung<br />
<strong>von</strong> Teams anregt, innerhalb des Systems zu arbeiten?<br />
R: Soweit hätte ich jetzt nicht überlegt. Könnte sein. Es geht mir mehr darum dass der<br />
Transfer noch geschehen muss. Sie kennen ja möglicherweise das Höhlengleichnis<br />
<strong>von</strong> Platon. Und so ähnlich passiert es ja wenn man in Strangergroups eine Aufstellung<br />
macht. Man hat dann eine wunderbare Lösung, die sehr plausibel und sinnhaft ist,<br />
kommt dann zurück und die Leute schauen einen an und sagen: „spinnst du?“ Und<br />
wenn man das mit dem Team selber macht, dann gibt es einfach diese<br />
Transferproblematik nicht.<br />
Y: Und wo sehen sie die Grenzen in der Arbeit?<br />
R: Dass ich nicht die einzelnen Repräsentanten für einzelne Teammitglieder aufstelle,<br />
<strong>als</strong>o keine Teamentwicklung mache im Eigentlichen Sinn. Wo es darum geht,<br />
Beziehungen zu klären und die Befindlichkeit ein Stück ja auch aus den Leuten raus zu<br />
holen, wie sie sich stellen zum Team. Also das mache ich dann nicht. Wenn echte<br />
Konflikte sind im Team, dann ist es auch eher schwierig, oder wenn wenig Vertrauen<br />
da ist zur Leitungsperson. Meistens entscheiden ja die Leitungspersonen welche<br />
Berater, welche Methoden zur Anwendung gelangen.<br />
Y: Aber sie wissen im Grunde davor nicht ob es auch ein Konflikt im System, im Team<br />
oder in der Gruppe sein kann, die dann zu der Sachproblematik führt?<br />
R: Ich kläre natürlich den Auftrag im Vorfeld, <strong>als</strong>o da bin ich sehr sorgfältig. Weil ich<br />
auch weiß, dass die Methode sehr schnell auch unsachgemäß angewendet wird, wenn<br />
man da nicht klärt im Vorfeld.<br />
Y: Ich habe noch ein ganz schönes Zitat auch aus ihrem Management-Constellations<br />
Buch vom Herrn Weber: „Wenn aber die Bäume nicht zum Wasser kommen, muss das<br />
Wasser zu den Bäumen gehen“. In wie weit geht der Trend aus ihrer Perspektive<br />
dahin, vermehrt direkt in Unternehmen zu arbeiten mit den Managern selbst?<br />
R: Also ich weiß nicht ob der Trend in die Richtung geht, aber ich sehe das viele<br />
Unternehmensberater wirklich einen Umgang haben mit den Dynamiken in
Anhang 133<br />
Organisationen, <strong>als</strong>o Managementkonzepte kennen und auch Organisationen gut<br />
kennen und nicht einfach denken, eine Organisation ist eine Ansammlung <strong>von</strong><br />
Einzelmenschen. Also wenn ich mich auf die Einzelmenschen fokussiere, dann wird<br />
wohl alles gerichtet. Da sehe ich die Leute, die auch sicher sind, die Aufstellungsarbeit<br />
<strong>als</strong> Methode dort in ihren Prozessen einzusetzen, wo es Sinn macht. Um z.B.<br />
Entscheidungsfindungen anzustoßen oder einen Methodenwechsel vorzuziehen.<br />
Dort wo es Leute in Organisationen einbringen, die einen therapeutischen und nur<br />
einen therapeutischen Hintergrund haben und damit auch ein ganz anderes<br />
Arbeitsinteresse, dort sehe ich eher Gefahren. Da gibt es ja auch Geschichten, ich<br />
weiß nicht ob die wahr sind. Aber scheinbar haben Großunternehmen das Anwenden<br />
der Aufstellungsarbeit verboten, weil in Führungsseminaren offenbar Themen<br />
aufgestellt wurden, die nicht in den Arbeitskontext hinein gehören. Die zwar hinein<br />
wirken, aber die nicht veranschaulicht werden sollten. Also <strong>von</strong> daher, wir haben es in<br />
der Hand, ob die Methode in Organisationen weiterhin verwendet wird für<br />
Entscheidungsfindungsprozesse zu Managementthemen. Ich bin nicht sicher, ob sich<br />
die Methode in 4/5 Jahren etablieren wird.<br />
Y: Das wäre jetzt meine nächste Frage. Hat sie sich etabliert ihrer Meinung nach, oder<br />
ist sein Tool im Methodenkoffer <strong>von</strong> vielen?<br />
R: Ich denke es wäre der Wunsch <strong>von</strong> vielen die aufstellen, dass sie sich etabliert<br />
hätte, aber ich sehe es ja regelmäßig. Ich arbeite in unterschiedlichen Kontexten und<br />
frage dann immer: „kennen sie die Methode?“ Und viele Manager kennen sie nicht und<br />
wenn sie sie kennen, dann aus dem Familienkontext. Dann sagen sie nämlich:“ist das<br />
die emotionale Geschichte wo alle weinen, oder was auch immer. Das wollen wir<br />
nicht.“ Aber in dem Sinne, dass es wirklich eine Methode ist, die wie andere Methoden<br />
helfen, Entscheidungsprozesse voran zutreiben und ein Stück auch Unsicherheit<br />
absorbieren im Team, da hat sie sich nicht etabliert. Das wird zwar behauptet, aber das<br />
ist dann einfach Marketinggerede, hinter dem keine Tat steckt.<br />
Y: Und mit welchen Prämissen muss sich die Aufstellungsarbeit im<br />
Organisationskontext dann in den nächsten Jahren auseinandersetzen?<br />
R: Es wird nicht darum gehen, dass man die 101ste Form heraus findet wie man auch<br />
noch Aufstellungen machen kann. Es braucht konkrete Erklärungen, was passiert in<br />
diesem Setting. Da sind wir einfach noch zu unwissend. Das ist das eine, <strong>als</strong>o das<br />
wäre dann zu leisten <strong>von</strong> den Beraterinnen und Beratern her.<br />
Y: Auch <strong>von</strong> der Forschung?<br />
R: Von der Forschung, genau. Was passiert eigentlich in diesem Setting. Wir müssen<br />
es einfach genauer wissen oder wir müssen plausible Geschichten erzählen können.<br />
Weil wenn man ehrlich ist, können auch andere Methoden nicht genau erklären was<br />
passiert. Das ist das eine und das andere ist, das hat mir auch ein Manager mal<br />
gesagt. Er hat gesagt: „weißt du manchmal ist es für mich einfacher, mit einer Lösung<br />
zu leben <strong>von</strong> der ich zwar weiß, das sie nicht ganz richtig ist, aber sozusagen aus<br />
diesem Wissen (was nicht ganz richtig ist) in diese Unsicherheit hinein geworfen zu<br />
werden, das ist dann doch ein Schritt vor dem ich mich etwas scheue.“
Anhang 134<br />
Also viele sagen, sie haben schon einiges probiert, wenn ich sie überreden will die<br />
Aufstellung anhand einer Themenstellung doch mal auszuprobieren. Dann kommt oft,<br />
ja eigentlich haben wir keine Probleme dieser Art. Und gerade in unserer Zeit ist das<br />
keine taugliche Antwort. Sie haben auf viele Probleme keine Fragen bzw. merken,<br />
dass die alte Methode nicht hinhaut für eine nachhaltige Lösung. Es gibt somit zwei<br />
Hindernisse, das eine das wir einfach keine plausiblen Geschichten erzählen können<br />
was da passiert. Und das andere ist, dass Manager mit Halbwahrheiten besser<br />
umgehen kann <strong>als</strong> mit der totalen Unsicherheit.<br />
Y: Und welches Erklärungsmodell verwenden sie dann? Oder welche plausible<br />
Geschichte, wenn jetzt jemand sagt, erklären sie mir warum das funktioniert?<br />
R: Ich sage immer, ich wüsste es nicht. Ich erzähle ein paar Geschichten, was ich<br />
schon mit Leuten gemacht habe, lasse die dann in einem Experiment am eigenen Leib<br />
die repräsentierende Wahrnehmung bzw. die Körperresonanz erfahren. Mache einen<br />
Hinweis auf das implizite Wissen, dass ja ein Stück das Geschehen auch mit<br />
beeinflusst. Baue die Methode in den Wahrnehmungsprozess <strong>von</strong> Scharmer ein. Es ist<br />
sehr hilfreich, was Scharmer in die Welt gesetzt hat, mit seinem Prozessmodell. Ich<br />
kann dann sagen, das die Aufstellung genau bei den Ebenen consensing, presensing<br />
anzusehen ist. Und meistens reicht das in Systemen, wo man mich kennt und weiß,<br />
dass auf mich Verlass ist und dass ich nicht irgendwelche Dummheiten mit ihnen<br />
anstelle.<br />
Y: Und wie sieht für sie die Wirklichkeit <strong>von</strong> morgen aus im Bereich der<br />
Systemaufstellung?<br />
R: Die Wirklichkeit <strong>von</strong> morgen… Ich kann es nur für mich sagen, ich werde die<br />
Methode weiterhin beschreiben, ich werde mich für die Methode einsetzen weil ich<br />
fasziniert bin, es gerne mache. Ich merke ja auch, dass es die Teams in<br />
Organisationen weiter bringt und hoffe natürlich, dass die Methode Akzeptanz findet.<br />
Ich hoffe auch, dass nicht zu viel Unheil angerichtet wird, weil unbedarft vorgegangen<br />
wird. Das ist schon eine gewisse Gefahr, dass man sehr schnell halt viel anrichten<br />
kann.<br />
Y: Und verwenden sie dann bestimmte Standardaufstellungen in<br />
Organisationsaufstellungen?<br />
R: Ich verwende eigentlich mein eigenes Format, das sich sehr stark orientiert an<br />
Managementmodellen, die ich <strong>als</strong> eine Art heuristisches Raster nehme, das bei der<br />
Problemsuche und bei der Modellierung der Aufstellung hilft. Ich brauche dann keine<br />
solchen Formen wie das Tetralemma. Irgendwie sind ja alle Aufstellungen im<br />
Organisationskontext Zielannäherungsaufstellung, Problemaufstellungen. Ich arbeite<br />
da ein bisschen anders, wie gesagt, ich habe dann das Team, das ich aufstelle. Im<br />
nach hinein das Thema und dann schaue ich, was hat das Team für einen<br />
Zusammenhalt, was hindert sie mehr Zusammenhalt zu haben, oder sind sie zu eng<br />
und engt das dann auch die Wirklichkeitskonstruktionen ein.<br />
Y: Eine Frage hab ich noch. Wie haben sie vor 5 Jahren aufgestellt und wie heute?<br />
Aber da haben sie ja schon gesagt, dass sie das im Einbetten in ein Prozessmodell
Anhang 135<br />
und sich an anderen Managementmodellen orientieren. Das war wahrscheinlich vor 5<br />
Jahren noch nicht so in der Art und Weise.<br />
R: Da haben wir in den Workshops bis zu 4 Aufstellungen gemacht und weniger das<br />
dann eingebettet in den Dialog. Ja, das ist schon der große Unterschied dass ich die<br />
Aufstellung in einen Prozess einbette.<br />
Y: Vielen Dank für unser Gespräch!
Anhang 136<br />
Anhang 9: Biografie der Interviewpartner<br />
Dr. Friedrich Assländer<br />
Diplomkaufmann, Dr. phil.<br />
� Jahrgang 1946<br />
� 4 gut gelungene Kinder<br />
� Studium der<br />
Betriebswirtschaftslehre, Soziologie und Psychologie<br />
� 12 Jahre Vertriebs-, Führungs- und Ausbildungstätigkeit in einem<br />
Finanzkonzern<br />
� 1983 -2004 Hochschuldozent<br />
� seit 1984 selbstständiger Managementtrainer, Coach und Berater<br />
� über 20 Jahre Zenpraxis bei Willigis Jäger und Rolf Drosten<br />
� Gründer und langjährig Vorstand des Vereins Spirituelle Wege e.V. - Zen und<br />
Kontemplation<br />
� Gründungsmitglied und Vorstand des Spiritual Venture Network e.V.<br />
� Mitglied und Mitbegründer des infosyon – Internationales Forum für System-<br />
Aufstellungen in Organisationen und Arbeitskontexten<br />
(http://www.infosyon.com)<br />
Quelle: http://www.asslaender.de<br />
Claude Rosselet<br />
lic. oec. HSG - Unternehmensberater und Facilitator<br />
� Studien der Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften<br />
an den Universitäten Zürich und St. Gallen (Abschluss <strong>als</strong><br />
Betriebswirt in St. Gallen)<br />
� ab 1982 leitende Aufgaben in verschiedenen Unternehmen<br />
� 1994: Wechsel in beratende Tätigkeiten. Zunächst in der<br />
Zentrale eines großen Detailhandelskonzerns <strong>als</strong> interner<br />
Berater, später in einer Geschäftseinheit desselben, <strong>als</strong> Leiter<br />
der Abteilung Organisationsentwicklung<br />
� Im Jahr 2000: Geschäftsführender Partner eines<br />
international tätigen Beratungsunternehmen<br />
� Im Frühjahr 2005: Gründung der Inscena Systemische<br />
Beratung GmbH<br />
� Vorstandsmitglied <strong>von</strong> infosyon e.V (http://www.infosyon.com)<br />
� Radaktionsmitglied der Zeitschrift "Praxis der Systemaufstellung"<br />
� Tätigkeistschwerpunkte: Beratung <strong>von</strong> Unternehmen (Strategieentwicklung,<br />
Steigerung der Innovationskraft, Begleitung <strong>von</strong> Organisationen in<br />
Veränderungsprozessen), Coaching, Bildung (Lehrtätigkeit an der Hochschule<br />
für Wirtschaft in Olten), Aufstellungsarbeit<br />
Quelle: http://www.inscena.ch
Literaturverzeichnis 137<br />
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Eidesstattliche Erklärung 145<br />
Eidesstattliche Erklärung<br />
Ich versichere, dass ich die Arbeit selbständig verfasst, noch nicht anderweitig<br />
für Prüfungszwecke vorgelegt, keine anderen <strong>als</strong> die angegebenen Quellen und<br />
Hilfsmittel benutzt sowie wörtliche und sinngemäße Zitate <strong>als</strong> solche<br />
gekennzeichnet habe.<br />
Ich bin mir bewusst, dass eine f<strong>als</strong>che Erklärung rechtliche Folgen haben wird.<br />
Würzburg, den 07. Mai 2009<br />
Unterschrift