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Prof. Dr. Hauke Trinks Physiker im Gespräch mit Dr. Eberhard Büssem

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http://www.br-online.de/ alpha/forum/vor0406/20040630.shtml<br />

<strong>Gespräch</strong> vom 30.06.2004, 20.15 Uhr<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Hauke</strong> <strong>Trinks</strong><br />

<strong>Physiker</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Gespräch</strong> <strong>mit</strong> <strong>Dr</strong>. <strong>Eberhard</strong> <strong>Büssem</strong><br />

<strong>Büssem</strong>: Willkommen, liebe Zuschauer, be<strong>im</strong> Alpha-Forum. Unser Gast ist heute <strong>Prof</strong>essor<br />

<strong>Hauke</strong> <strong>Trinks</strong>, den ich ganz herzlich begrüße. <strong>Prof</strong>essor <strong>Hauke</strong> <strong>Trinks</strong> ist ein<br />

Abenteurer der Wissenschaft. Er war sechs Jahre lang Hochschulpräsident der<br />

neuen Technischen Universität in Hamburg-Harburg und Gründungsdekan der<br />

Universität Tromso in Norwegen. Und er hat sich Ende des letzten Jahrhunderts auf<br />

die Reise ins ewige Eis begeben, um die Entstehung des Lebens aus dem Eis zu<br />

beweisen. Dies machte er nicht in einem blitzenden Labor einer Universität,<br />

sondern auf einem kleinen Segelschiff, das er in das Eis einfrieren ließ. Zwei große<br />

Expeditionen hat er schon gemacht und von dort auch bemerkenswerte Ergebnisse<br />

<strong>mit</strong>gebracht. Darüber hat er wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht, er hat<br />

diese zwei Bücher hier geschrieben. Und er hat auch Filme gedreht. Herr <strong>Prof</strong>essor<br />

<strong>Trinks</strong>, wie groß war jeweils der Anteil von Abenteuer und von Wissenschaft bei<br />

Ihren Expeditionen?<br />

<strong>Trinks</strong>: Ich weiß gar nicht, ob man das so trennen sollte. Für mich ist Wissenschaft<br />

Abenteuer und Abenteuer auch ein Stück Wissenschaft. Aber Sie haben natürlich<br />

Recht, das Abenteuer besteht auch zu einem ziemlichen Teil aus der<br />

Notwendigkeit, einfach überleben zu müssen und sich zu dort in der Natur<br />

behaupten zu können. Und dann muss man eben manchmal die Wissenschaft, das<br />

Messen <strong>mit</strong> Instrumenten, etwas zurückstellen, um zunächst einmal den Kopf<br />

wieder über das Eis oder das Wasser zu bekommen und meinetwegen die<br />

Eisbären zu vertreiben.<br />

<strong>Büssem</strong>: Was bringt denn einen deutschen verbeamteten <strong>Prof</strong>essor dazu, sich ein Jahr ins<br />

Eis einschließen zu lassen, allein <strong>mit</strong> sich und zwei Hunden?<br />

<strong>Trinks</strong>: Nun, Sie sagten es ja soeben schon: Ich war Präsident einer technischen<br />

Universität und dort habe ich meinen jungen Leuten und auch meinen Kollegen<br />

<strong>im</strong>mer gepredigt: "Leute, bewegt euch. Unternehmt einen Aufbruch zu neuen Ufern.<br />

Das braucht unsere Zeit einfach. Ihr braucht ein bisschen Mut, um aus der<br />

Normalität ausbrechen zu können. Wagt mal was! Seht mal zu, wie Neues<br />

untersucht und entdeckt werden kann!" Dies hat den Studierenden <strong>im</strong>mer sehr,<br />

sehr <strong>im</strong>poniert. Aber das nur <strong>im</strong>mer zu predigen ist eine Sache, das selber machen<br />

eine andere. Nach meiner Präsidentschaft habe ich daher gesagt: "So, jetzt will ich<br />

alter Kerl auch noch mal ran!" Ich habe das also nicht zuletzt auch deswegen<br />

gemacht, um meine eigenen Thesen vom Mut zum Aufbruch auch mal selbst zu<br />

demonstrieren.<br />

<strong>Büssem</strong>: Wie hält man das denn zunächst einmal physisch durch? Denn das ist ja nicht so<br />

ganz einfach in diesem Eis: Es ist saukalt und das Problem der Ernährung ist<br />

vermutlich auch nicht so einfach zu lösen. Und wie hält man das vor allem<br />

psychisch aus?<br />

<strong>Trinks</strong>: Beides ist eigentlich für einen halbwegs robust gebauten Menschen kein Problem.<br />

Man kann unhe<strong>im</strong>lich viel, wenn man es will und es einfach tut. Es ist ganz<br />

erstaunlich, <strong>mit</strong> welchen Situationen unser Körper fertig werden kann, wenn man


ein bisschen sportlich ist und das Ganze vielleicht auch ein wenig vorbereitet. Es<br />

geht also nicht darum, einfach nur irgendwie das Wagnis und das Risiko zu suchen,<br />

sondern man sollte das schon ein bisschen defensiv angehen. Die Kälte ist nicht so<br />

problematisch: Man kann sich entsprechend kleiden und der Körper härtet auch<br />

sehr, sehr rasch ab. Nach einigen Wochen empfindet man diese Temperaturen als<br />

normal und angenehm. Mit der psychischen Seite ist es genauso. Man hält sehr viel<br />

aus, wenn man sich selbst ein bisschen fest in die Hand n<strong>im</strong>mt. Ich habe in<br />

schwierigen Situationen <strong>im</strong>mer gerne folgendes Exper<strong>im</strong>ent innerlich gemacht: Ich<br />

stellte mich hinter mich, habe mir die Hände auf die Schultern gelegt und mir dann<br />

so richtig kräftig in den Hintern getreten. Wenn man sich in schwierigen Situationen<br />

das mal selbst angedeihen lässt; wenn man dann auch mal rausgeht und ein<br />

bisschen <strong>im</strong> Schnee herumtollt und den Eisbären zusieht und dann wieder reingeht<br />

und sich einen Tee <strong>mit</strong> Rum zubereitet, dann ist die Welt wieder völlig in Ordnung.<br />

<strong>Büssem</strong>: Ich denke, dass es aber auch schwierig ist, unter diesen eisigen Bedingungen und<br />

bei Sturm und Wind überhaupt Wissenschaft betreiben zu können. Wie haben Sie<br />

das denn geschafft? Haben Sie auch wirklich Belege für Ihre These gefunden, dass<br />

das Leben <strong>im</strong> Eis entstanden ist?<br />

<strong>Trinks</strong>: Zunächst einmal zur Arbeitsweise: Sie haben mehr als Recht. Das war teilweise<br />

sehr schwierig. Denn bei minus 30 Grad <strong>mit</strong> Mikroskopen und ähnlichen Geräten<br />

draußen <strong>im</strong> Freien bei Schneesturm und Dunkelheit zu hantieren, ist grausam. Man<br />

muss das teilweise sogar <strong>mit</strong> bloßen Händen machen, weil man nämlich <strong>mit</strong><br />

Handschuhen an den Geräten nicht richtig hantieren kann. Das ist also teilweise<br />

sehr, sehr schwierig und wird wirklich zur Qual insbesondere dann, wenn man<br />

genaue Messungen machen möchte. Daher musste man das Ganze wirklich sehr<br />

gut vorbereiten und das auch <strong>im</strong>mer wieder aufs Neue gut vorbereiten. Teilweise<br />

bin ich dabei fast verzweifelt, denn das ist nicht so einfach. Nun zum zweiten Teil<br />

Ihrer Frage, ob ich Beweise und Belege habe: Beweise dafür, dass das Leben <strong>im</strong><br />

Eis entstanden ist, sind nur sehr schwierig zu erbringen. Denn keiner war ja vor<br />

ungefähr vier Milliarden Jahren <strong>mit</strong> dabei. Man kann allerdings Belege finden, die<br />

zeigen, dass Eis ein wunderbares Material ist, dass es trotz der Kälte sozusagen<br />

eine Brutstätte des Lebens ist. Da gab es schon vorher viele, viele Fragen, die ich<br />

dann zu klären versucht habe. Ich glaube, dass ich ein ganzes Bild<br />

zusammenstellen konnte von in sich widerspruchsfreien Ergebnissen. Diese<br />

Ergebnisse formen sozusagen mosaikartig ein Bild, sodass man sagen kann: "Ja,<br />

jetzt habe ich verstanden, wie es gewesen sein könnte!"<br />

<strong>Büssem</strong>: Sie sind in Berlin geboren, in Schweden aufgewachsen. Sie waren dann ja auch in<br />

Tromso <strong>Prof</strong>essor. Aber Ihre Liebe zu Spitzbergen und zum eisigen Norden haben<br />

Sie quasi schon in der Schule gespürt, weil Sie ja diesen Norden permanent vor<br />

sich gesehen haben. War das so wie bei jemandem, der deshalb Lokführer werden<br />

will, weil er andauernd die Loks vor seinem Haus vorbei fahren sieht? Oder war das<br />

bei Ihnen mehr?<br />

<strong>Trinks</strong>: Vielleicht war es das eine und das andere. Ich glaube, in mir steckt ein ganz großer<br />

<strong>Dr</strong>ang zum Norden und auch zur kalten, unwirtlichen Natur. Das hat<br />

selbstverständlich <strong>mit</strong> meinem Aufwachsen zu tun: Ich bin in der Zeit, in der man als<br />

junger Mensch geprägt wird, in Schweden aufgewachsen. Ich bin damals <strong>mit</strong> Skiern<br />

teilweise stundenlang durch tief verschneite Wälder in die kleine Volksschule<br />

gefahren, <strong>im</strong> Winter Schlittschuh gefahren usw. Damals war ja noch eine andere<br />

Zeit: ohne technische Hilfs<strong>mit</strong>tel. Man hatte natürlich keinen Fernseher, sondern<br />

lebte da sehr, sehr einsam <strong>mit</strong> der Familie, in meinem Fall <strong>mit</strong> meinen Brüdern,<br />

meiner Schwester und meinen Eltern. Davon wird man geprägt: Man gewinnt eine<br />

tiefe, tiefe Zuneigung zur dieser nordländischen Natur. Ja, das hat mich wohl schon<br />

sehr geprägt.<br />

<strong>Büssem</strong>: Sie hatten also diese Liebe zur Natur, aber als <strong>Physiker</strong> wussten Sie da<strong>mit</strong> ja noch<br />

nicht so richtig, was Sie dort oben <strong>im</strong> Norden suchen sollten. Was hat Sie denn<br />

letztlich dazu gebracht, diese These zu untersuchen, dass das Leben <strong>im</strong> Eis<br />

entstanden sei?


<strong>Trinks</strong>: Ein <strong>Physiker</strong> ist ja ziemlich offen für alle möglichen Probleme dieser Welt, denn er<br />

schaut eigentlich schon <strong>im</strong>mer über den Tellerrand hinaus. In unserer Familie ist<br />

das Dasein als <strong>Physiker</strong> ja auch schon so ein bisschen Tradition: Mein Vater war<br />

<strong>Physiker</strong> und meine Brüder sind auch alle <strong>Physiker</strong>. Ich als jüngster Bruder bin dann<br />

eben auch <strong>Physiker</strong> geworden. Aber ich wurde das damals <strong>im</strong> Grunde genommen<br />

schon <strong>mit</strong> dem Wunsch, von der Welt mehr zu verstehen. Die Entstehung des<br />

Lebens ist ja nun wirklich eine sehr interessante und spannende Fragestellung. Als<br />

normaler Mensch glaubt man ja, dass irgendwo in so einem kleinen, warmen<br />

Tümpel das Leben entstanden sein muss. Denn so hat man sich das ja früher auch<br />

in der Wissenschaft gedacht: Da hat es irgendwo einen kleinen, warmen Tümpel<br />

gegeben, aus dem sich das Leben entwickelte. Ich bin ja schon früher sehr oft <strong>im</strong><br />

Eis und Schnee gewesen. Von Tromso aus habe ich damals z. B. auch<br />

Expeditionen nach Spitzbergen unternommen <strong>mit</strong> meinen Studenten. Der Sommer<br />

dort in Spitzbergen ist ja sehr kurz, das sind höchstens ein oder zwei Monate.<br />

Dennoch kann man dort sehen, dass sich Millionen von Seevögeln in einem fort ins<br />

Meer stürzen und <strong>im</strong>mer wieder <strong>mit</strong> einem Schnabel voller Fressen aufsteigen.<br />

Da<strong>mit</strong> können sie innerhalb von wenigen Wochen ihre Jungen aufziehen. Wenn<br />

man dann selbst in dieses Wasser hineinsieht, dann erkennt man dort ein enormes<br />

Gew<strong>im</strong>mel von Mikroorganismen, kleinen Fischen und kleinen Schnecken. Man<br />

fragt sich dann, wie das eigentlich sein kann – wegen dieser Kälte und dieser<br />

unwirtlichen Umgebung in zehn Monaten des Jahres. Im Eis bzw. unter dem Eis<br />

gibt es also eine enorme Lebenskraft. Wenn man darüber nachdenkt, dann kommt<br />

man dabei auf die Idee, dass da doch noch mehr sein muss, das kann doch nicht<br />

nur Eis sein <strong>mit</strong> ein paar Eisbären und Robben oben drauf. Was ist das, was alles in<br />

diesem Eis drin steckt. Da ist dann der <strong>Physiker</strong> gefragt. Ich hatte in meiner letzten<br />

Zeit als Präsident der Technischen Universität <strong>im</strong>mer den <strong>Dr</strong>ang, wenigstens einmal<br />

noch neben all dieser Bürokratie und dem Herumdiskutieren <strong>mit</strong> Politikern und<br />

Kollegen etwas zu machen, was mir wieder einmal so richtig das Herz erwärmt.<br />

<strong>Büssem</strong>: Hatten Sie dabei auch Anregungen von Medizinern z. B.?<br />

<strong>Trinks</strong>: Das hat sich dann so entwickelt. Insbesondere <strong>mit</strong> <strong>Prof</strong>essor Wolter aus Hamburg<br />

habe ich eine tiefe Freundschaft entwickelt. Er als Mediziner hat oft <strong>mit</strong> mir darüber<br />

diskutiert, welche Zusammenhänge denn das Leben eigentlich ausmachen, was<br />

eigentlich Leben bedeutet. Und dann kam ich irgendwann einmal doch ziemlich<br />

spontan auf die Idee, mir ein Mikroskop und Meerwassereis aus dem Kühlschrank<br />

zu nehmen und das genauer zu untersuchen. Ich war unglaublich verblüfft über die<br />

vielfältigen Strukturen in diesem Eismaterial. Danach dann reifte in mir der<br />

Gedanke, dass Eis aus dem Kühlschrank doch eine sehr einfache S<strong>im</strong>plifizierung<br />

der Wirklichkeit darstellt und dass ich...<br />

<strong>Büssem</strong>: Aber selbst in diesem Eis aus dem Kühlschrank haben Sie etwas gesehen.<br />

<strong>Trinks</strong>: Natürlich. Da sieht man schon best<strong>im</strong>mte Strukturen, die allerdings doch sehr<br />

künstlich sind. Es kam mir dann die Idee, doch dorthin zu gehen, wo es dieses Eis<br />

in Natur gibt, und zwar ganzjährig. Das ist eben in der Nähe von Spitzbergen der<br />

Fall, in der Nähe des Nordpols. Dadurch kam das dann so.<br />

<strong>Büssem</strong>: Sie haben ja einerseits diesen wissenschaftlichen <strong>Dr</strong>ang und andererseits gab es<br />

da diesen ”Laborversuch”, was ein Mensch eigentlich aushält: Sie waren ja<br />

sozusagen der Robinson Crusoe <strong>im</strong> Eis. Hängt das doch irgendwie zusammen?<br />

Oder geht es Ihnen nur und ausschließlich um die Wissenschaft?<br />

<strong>Trinks</strong>: Nein, das hängt wirklich ganz eng zusammen. Ich habe mich <strong>im</strong>mer schon dafür<br />

interessiert, was Leben eigentlich ist. Nicht nur Leben <strong>im</strong> Eis <strong>mit</strong> all diesen Bakterien<br />

oder Mikroorganismen oder der RNA, sondern Leben auch <strong>im</strong> Sinne von<br />

zwischenmenschlichem Leben. Was macht eigentlich den Menschen aus? Bei<br />

meiner ersten Expedition war ich dann ja auch wirklich ganz, ganz alleine und das<br />

ganze Jahr über nur <strong>mit</strong> meinen Hunden zusammen. Da hat man doch so ein<br />

bisschen das Gespür dafür bekommen – ich jedenfalls habe das bekommen –, was<br />

es eigentlich bedeutet, Mensch zu sein: Was ist man dann eigentlich noch, ohne<br />

jede Kultur, ohne jede zwischenmenschliche Beziehung? Als <strong>Physiker</strong> möchte man


doch die Welt <strong>im</strong>mer so ein bisschen Steinchen für Steinchen aufbauen und<br />

verstehen. Nach diesem Selbstexper<strong>im</strong>ent als einsamer Mensch ein ganzes Jahr<br />

<strong>im</strong> Eis eingefroren zu sein, war natürlich der nächste Schritt: Gut, wie ist es denn,<br />

wenn man das zu zweit macht? Ich habe dann den Entschluss gefasst, das be<strong>im</strong><br />

nächsten Mal zu zweit zu machen. Unterstützt wurde dieser Entschluss auch durch<br />

die Forderung des Gouverneurs von Spitzbergen, meine zweite Expedition nur<br />

zusammen <strong>mit</strong> einem weiteren Menschen zu machen – denn sonst sei das einfach<br />

zu gefährlich. Ich habe also gesagt: "Gut, dann machst du jetzt einfach dieses<br />

Exper<strong>im</strong>ent als <strong>Physiker</strong>, indem du einen zweiten Menschen <strong>mit</strong> dazu n<strong>im</strong>mst." Für<br />

mich kam da eigentlich nur die Adam und Eva-Konstellation <strong>im</strong> Paradies in Frage.<br />

Es ging also darum, eine Eva zu finden, <strong>mit</strong> der man auf dieser romantischen<br />

Eisinsel ein ganzes Jahr lang zusammen hausen kann, um dabei herausfinden zu<br />

können, was das Zwischenmenschliche auf der elementarsten Ebene eigentlich<br />

ausmacht. Denn diese beiden Menschen werden ja wirklich ein ganzes Jahr lang<br />

nicht gestört von irgendwelchen äußeren Einflüssen: von keinen Freunden, von<br />

keiner Gesellschaft usw. Das sind zwei Menschen in einer archaischen<br />

Kombination, völlig auf sich gestellt. Das war schon sehr spannend.<br />

<strong>Büssem</strong>: Das klingt wie ein schöner Traum, aber wie findet man so eine Frau, die <strong>mit</strong> einem<br />

in diese, wie Sie es nennen, romantische, aber doch ziemlich harte Umgebung<br />

geht?<br />

<strong>Trinks</strong>: Das war für mich selbst auch spannend. Nachdem ich nun den Entschluss gefasst<br />

hatte, hatte ich noch ein wenig Zeit, um meine Expedition vorzubereiten. Es hatte<br />

sich inzwischen auch ein wenig herumgesprochen, was ich vor hatte, und<br />

deswegen bin ich dann auch durchaus von einer Reihe von unternehmungslustigen<br />

Frauen darauf angesprochen worden. Das ist überhaupt merkwürdig: Frauen sind<br />

viel unternehmungslustiger und viel mutiger als Männer. Männer haben da z. B.<br />

<strong>im</strong>mer solche Bedenken wie: ”Was ist <strong>mit</strong> meiner Karriere, <strong>mit</strong> dem Geldverdienen,<br />

wenn ich ein Jahr lang weg bin? Was ist, wenn etwas passiert?” Frauen hingegen<br />

sagen einfach: "Mensch, das finde ich toll! Ich mache da <strong>mit</strong>!" Nur, das alleine reicht<br />

natürlich nicht. Denn ich hatte mir schon klar gemacht, dass das ja auch<br />

funktionieren muss: Das darf nicht in Depressionen oder irgendeinem Zerwürfnis<br />

enden. Ich habe mich also <strong>mit</strong> Frauen unterhalten, die sich angesprochen fühlten.<br />

Ich war dann aber selbst zum Schluss doch recht depr<strong>im</strong>iert: Denn die Frauen<br />

hatten entweder <strong>im</strong>mer irgendwelche gesundheitliche Zipperlein oder es fehlte<br />

ihnen die nötige sportliche körperliche Konstitution, oder ihre psychische Verfassung<br />

ließ erwarten, dass da Probleme auftreten könnten. Ich war dann schon fast<br />

entschlossen, das dann eben doch wieder alleine zu machen, Gouverneur hin oder<br />

her. Ich finde eben keine, also mach ich es alleine. Ich saß dann ein wenig betrübt in<br />

der einzigen Kneipe in Longyearbyen, einem kleinen Städtchen, der einzigen<br />

Ortschaft auf Spitzbergen, in die sich nur ein paar Einhe<strong>im</strong>ische und ab und zu auch<br />

ein paar Touristen verirren. Dort erschien <strong>mit</strong> einem Mal meine spätere Partnerin<br />

Marie: klein, sportlich, sehr selbstbewusst, eine schottische Engländerin. Sie bestellt<br />

sich ihr Bier und hat mich freundlich angeguckt.<br />

<strong>Büssem</strong>: Und dann haben Sie sie einfach gefragt.<br />

<strong>Trinks</strong>: Genau, da bin ich dann einfach hingegangen und habe gesagt: "Weißt du was,<br />

Mädchen, ich brauch eine Prinzessin auf einer romantischen Eisinsel." Sie fragte<br />

mich dann, wo das denn überhaupt sei. Ich ging <strong>mit</strong> ihr an die Wandkarte und zeigte<br />

es ihr. Nach ein paar Tagen hat sie dann gesagt: "O. k., ich mach das!" Und dann<br />

sind wir losgezogen.<br />

<strong>Büssem</strong>: Haben Sie denn davor noch überprüfen können, ob sie auch wirklich geeignet ist?<br />

Wie war denn das Ausleseverfahren?<br />

<strong>Trinks</strong>: Sicher. Für so ein Projekt braucht man schon so etwas wie eine Vorprüfung. Wir<br />

sind unter wirklich harten Bedingungen in der Dunkelheit der Polarnacht dort in der<br />

Eiswüste herumgeirrt. Wir haben auch mal geschaut, was wir machen, wenn wir <strong>mit</strong><br />

schwerem Gepäck auf schwankenden Eisschollen stehen, wenn wir in einer kleinen<br />

Berghütte übernachten usw. Wir wollten eben sehen, wie wir <strong>mit</strong>einander


auskommen. Das hat sich dann aber alles als so wunderbar erwiesen, dass wir<br />

gesagt haben: "Gut, dann machen wir das zu zweit." Wir haben uns allerdings<br />

gegenseitig dazu verpflichtet, niemals aufzugeben: Das war schon eine ganz harte<br />

Verpflichtung, dieses "never give up". Der zweite Punkt war, dass wir zunächst<br />

einmal geplant haben, das Projekt ganz klar auf ein Jahr zeitlich zu befristen. Ich<br />

glaube, man kann dann nämlich best<strong>im</strong>mte schwierige Situationen viel besser<br />

ertragen, wenn man ein Ende dieser Situation absehen kann. Nehmen wir einmal<br />

an, wir hätten uns ständig gezankt, dann wäre das besser zu ertragen gewesen,<br />

wenn wir genau gewusst hätten: "So, nach zwölf Monaten brauche ich diesen<br />

Menschen nicht mehr sehen!" Das hat sehr geholfen.<br />

<strong>Büssem</strong>: Sie haben ja auch eine Familie, Sie haben drei Kinder und schon mehrere<br />

Enkelkinder. Was sagt denn die Familie dazu, wenn der Vater, wenn der Großvater<br />

für ein Jahr verschwindet.<br />

<strong>Trinks</strong>: Zunächst einmal ist es ja so, dass meine Kinder alle aus dem Gröbsten heraus sind.<br />

Sie sind alle über 30 Jahre alt und sie haben <strong>mit</strong>tlerweile alle selbst Familien. Ich<br />

habe inzwischen sogar schon acht Enkelkinder, aber es werden wohl noch einige<br />

mehr werden. Die fanden das gut, sehr gut sogar. Sie haben mich daher auch sehr<br />

unterstützt und mir zugeraten. Denn sie sind von mir und eigentlich auch früher<br />

schon von unserer Familie so erzogen worden und auch aufgewachsen, dass man<br />

ihnen gesagt hat: "Leute, bewegt auch ruhig mal raus aus diesem Mief der<br />

Normalität! Seht nicht <strong>im</strong>mer nach den Pensionsansprüchen und nach der<br />

körperlichen Sicherheit, sondern macht was aus eurem Leben!" Und das Leben<br />

macht einfach auch mehr Spaß, wenn man best<strong>im</strong>mte Dinge riskiert – und sie<br />

natürlich vernünftig vorbereitet. Sie hatten dafür also volles Verständnis. Sie selbst<br />

müssen ja jetzt erst einmal ihre eigenen Kinder aufziehen und das gehört sich auch<br />

so. Danach dann können sie ja vielleicht auch so etwas machen. Und sie kündigen<br />

das heute auch bereits an.<br />

<strong>Büssem</strong>: Be<strong>im</strong> ersten Mal waren Sie also alleine: Das war der Selbstversuch, bei dem Sie<br />

herausfinden wollten, was ein Mensch alles aushält. Jetzt, bei der zweiten Reise,<br />

haben Sie diesen Laborversuch sozusagen auf zwei Menschen ausgedehnt. Diese<br />

Reise hatte aber natürlich auch wissenschaftliche Gründe: Sie haben nämlich auch<br />

richtig zusammen gearbeitet. Marie hat für Sie die Computer bedient und<br />

geschrieben. Hat sich das bewährt oder sind da doch Spannungen aufgetreten?<br />

<strong>Trinks</strong>: Das hat sich sehr bewährt. Ich glaube, es war sogar überlebenswichtig, innerhalb<br />

eines Jahres eine ganz wichtige Aufgabe erfüllen zu müssen. Stellen Sie sich mal<br />

vor, Sie sind da in so einer winzigen Hütte <strong>mit</strong> vier mal vier Meter Grundfläche<br />

eingesperrt, draußen toben die Eisbären und der Sturm und Sie haben nichts zu<br />

tun! Das wäre ja schrecklich. Ich selbst hatte ja mein wissenschaftliches Programm,<br />

ein sehr anspruchsvolles Programm. Und Marie hat eben dafür gesorgt, dass dieser<br />

ganze Betrieb läuft. Sie hat Brot gebacken, sie hat gekocht, sie hat mich beschützt,<br />

wenn ich draußen gesessen habe und die Eisbären um mich herum saßen. Sie saß<br />

<strong>mit</strong> einem geladenen Gewehr daneben und warnte mich. Oder sie hat auch mal die<br />

Hunde getröstet, wenn sie sich vor den Eisbären gefürchtet haben. Für mich war ja<br />

die Wissenschaft das ganz, ganz starke Motiv. Ich hatte wirklich ein sehr, sehr<br />

umfangreiches Programm, ausgehend von den Ergebnissen der ersten Expedition.<br />

Dort hatte ich ja diese Hypothese aufgestellt, dass das Leben <strong>im</strong> Eis vor vier<br />

Milliarden Jahren entstanden sein könnte: Ich meine da<strong>mit</strong> das pr<strong>im</strong>itive Leben bis<br />

hin zur RNA oder so ähnlich. Diese Hypothese habe ich dann nach meiner ersten<br />

Expedition mehrfach vorgetragen und darauf auch sehr viel positive Resonanz<br />

erhalten. Ich erfuhr natürlich auch Skepsis, Zweifel und Fragen. Das ist in der<br />

Wissenschaft nun einmal so. Nach der ersten Expedition ist mir eigentlich erst klar<br />

geworden, was ich noch alles hätte messen müssen. Dies habe ich dann <strong>mit</strong> den<br />

entsprechenden Geräten in ein sehr umfangreiches Forschungsprogramm gepackt.<br />

Ich wollte das dann aber nicht mehr <strong>mit</strong> einem kleinen Schiffchen machen wie be<strong>im</strong><br />

ersten Mal, sondern in einer kleinen Hütte <strong>mit</strong>ten <strong>im</strong> Eis. Dazu bin ich dann eben <strong>mit</strong><br />

Marie nach Nordostland, nördlich von Spitzbergen, gezogen. Der Gouverneur hat<br />

uns dorthin <strong>mit</strong> dem Eisbrecher gefahren. Mit Helikoptern wurden uns dort dann die


ganzen Instrumente abgeladen. Und dann saßen wir dort für 12, 13 Monate. Ich<br />

habe dann meine Messungen gemacht und auch wirklich sehr, sehr viele schöne<br />

Ergebnisse <strong>mit</strong> nach Hause bringen können. Diese Ergebnisse sind nun in eine<br />

Modellvorstellung gemündet, die sehr, sehr befriedigend ist hinsichtlich dieser<br />

Vorgänge, die zur Entstehung des Lebens führen.<br />

<strong>Büssem</strong>: Was haben Sie denn konkret gefunden? Haben Sie denn wirklich Anhaltspunkte<br />

dafür, dass <strong>im</strong> Eis das Leben entstanden ist? Worauf bezieht sich das?<br />

<strong>Trinks</strong>: Ich glaube, ja. Ich habe meiner Meinung nach nicht nur Anhaltspunkte gefunden,<br />

sondern bereits mehr. Die Entstehung von pr<strong>im</strong>itivem Leben stellt man sich ja<br />

gewöhnlich so vor, dass einfache Bausteine des Lebens wie z. B. Aminosäuren<br />

relativ einfach durch Blitzschlag oder durch Meteoriteneinschlag oder durch<br />

vulkanische Tätigkeit entstehen. Das hatte ja <strong>im</strong> Labor schon vor vielen<br />

Jahrzehnten nachgewiesen werden können. Der große und schwierige Schritt war<br />

aber nun, wie es denn danach weitergegangen ist: Wie bauen sich aus einfachen<br />

Bausteinen sehr, sehr komplizierte Moleküle auf wie z. B. die RNA. Die RNA ist ja<br />

der springende Punkt: Das ist nämlich das Erbinformationsträgermolekül. Die RNA<br />

ist so eine Art von Vorläufer der DNA. Wie kommt es also von diesen einfachen<br />

Bausteinen zur Bildung von RNA? Das ist die große, große Frage. Inzwischen ist<br />

die Meinung wohl vorherrschend, dass das damals in der Kälte passiert sein muss.<br />

Dies einfach aus folgendem Grund: Wenn es sich in der Wärme ereignen würde,<br />

dass sich ein komplexes Molekül bildet, dann würde das auch von alleine wieder<br />

zerfallen. Das würde ganz einfach aufgrund der Wärmebewegung geschehen. In<br />

der Kälte bleibt hingegen genau das gleiche Molekül 10000 Jahre erhalten,<br />

während es in der Wärme innerhalb von Wochen zerfallen würde. Dies ist übrigens<br />

heutzutage auch der Grund dafür, dass Umweltgifte, die irgendwo auf der Welt<br />

entstehen, über die Meeresströmungen in die kalten Zonen von Arktis und Antarktis<br />

kommen. Dort bleiben sie ewig bestehen. Und von dort kommen sie dann über<br />

diesen ganz langen Zeitraum, ver<strong>mit</strong>telt über die Nahrungskette, wieder zu uns.<br />

Deswegen degenerieren heutzutage ja auch die Eisbären und ergeben sich für uns<br />

insgesamt diese großen Gefahren.<br />

<strong>Büssem</strong>: Man kann sich ja als Laie nur schwer vorstellen, dass das Leben ohne Energie,<br />

ohne Wärme entstehen kann. Woher beziehen denn diese frühen Lebensformen<br />

ihre Energie? Wie werden sie sozusagen angetrieben?<br />

<strong>Trinks</strong>: Das war eine ganz wichtige Frage, die ich auf meiner zweiten Expedition klären<br />

wollte. Wenn man sich als Laie Eis ansieht, meint man ja, es wäre so eine feste,<br />

trockene und kalte Masse, so ähnlich wie Porzellan: Da ist alles tot, da passiert<br />

nichts. Aber Meereis ist aus physikalischen Gründen etwas ganz anderes. Wenn<br />

Meerwasser gefriert, dann bilden sich kleine, winzige Eiskriställchen aus<br />

Süßwasser, so ähnlich wie Schneeflocken. Dies wird dann sozusagen zu einer Art<br />

von Brei, der sich <strong>im</strong>mer mehr verdichtet. Die Flüssigkeit zwischen diesen festen<br />

Eispartikelchen ist eine hoch konzentrierte Salzlösung oder eben auch diese<br />

"Aminosuppe", die sich möglicherweise dort früher hergestellt hat.<br />

<strong>Büssem</strong>: Das ist die so genannte Ursuppe.<br />

<strong>Trinks</strong>: Ja, diese so genannte Ursuppe, die dann aber hoch konzentriert wird in diesem<br />

schwammartigen Meerwassereis. So, und dazwischen, also zwischen diesen<br />

festen Zellen und diesen Flüssigkeitskanälen treten große Elektropotentiale auf:<br />

Das liegt daran, dass die Ionendichte in dieser Salzlösung sehr, sehr hoch ist. Die<br />

Ionendichte, also die elektrischen Ladungen in den Eispartikeln ist jedoch praktisch<br />

Null. An solchen Grenzflächen treten daher sehr, sehr hohe<br />

Elektropotentialdifferenzen auf. Diese habe ich <strong>mit</strong> Sonden sehr schön messen<br />

können, die man in der Medizin verwendet, um z. B. Gehirnströme oder<br />

Nervensignale in Muskeln zu messen. Mit solchen ganz feinen Sonden habe ich<br />

also unter dem Mikroskop in diese Eissubstanz hineingestochen. Sie können sich<br />

vorstellen, wie schwierig das ist: auf dem Eis liegend und sein Mikroskop<br />

aufbauend. Marie stand <strong>im</strong>mer in der Nähe und scheuchte die Eisbären weg. Und<br />

dann fing ich eben an, unter dem Mikroskop <strong>mit</strong> diesen Sonden zu hantieren, um zu


messen, was <strong>im</strong> Eis abläuft. Ich konnte feststellen, dass dort tatsächlich sehr, sehr<br />

starke Energie<strong>im</strong>pulse auftreten. Das ist ein ganz überraschender und für mich sehr<br />

beglückender Effekt gewesen: Eis ist also ein <strong>mit</strong> lauter hohen Potentialdifferenzen<br />

gespicktes Material, wo an diesen Grenzflächen solche chemischen, synthetischen<br />

Reaktionen auftreten können, die zu solchen Molekülen führen. Das ist die Energie.<br />

Es ist also überhaupt nicht so, dass Eis einfach tot ist, dass Eis hinsichtlich der<br />

Energie tot ist. Nein, das st<strong>im</strong>mt nicht, denn <strong>im</strong> Eis passieren wirklich eine ganze<br />

Menge Vorgänge in dieser Hinsicht. An der Unterseite des Eises befindet sich ja<br />

das relativ warme Meerwasser von ungefähr minus 1,8 bis minus 2 Grad. Das ist<br />

dort an der Unterseite von Eis <strong>im</strong>mer so, weil das nun einmal der Gefrierpunkt von<br />

Meerwasser ist. Oberhalb des Eises befindet sich die Luft, die manchmal bis zu<br />

minus 40 Grad hat. Manchmal fällt natürlich auch Schnee und die Temperatur wird<br />

dann auch wärmer. Das heißt also, zwischen dieser Unterseite des Eises und der<br />

Oberseite des Eises, das ungefähr einen Meter oder zwei Meter dick ist, passiert<br />

ständig ein Wärmetransport: unten hat es minus 1,8 Grad und oben minus 30 Grad.<br />

Am nächsten Tag kann es oben meinetwegen minus 40 Grad oder minus 10 Grad<br />

haben. Das heißt, es muss sich dann jedes Mal ein anderer Wärmestrom durch das<br />

Eis begeben. Dadurch gibt es eine ständige Veränderung <strong>im</strong> Eis, ständig verändert<br />

sich dort die kristalline Struktur des Eises. Wenn man <strong>mit</strong> dem Mikroskop<br />

hineinsieht, dann sieht man, dass sich dort diese Flüssigkeit ständig hin und her<br />

bewegt: Sie pulsiert regelrecht. Das ist so ähnlich wie be<strong>im</strong> Blut in einem zellulären<br />

Organismus. Zwischen diesen vielen Grenzflächen und aufgrund dieser<br />

energetischen Austauschvorgänge, aufgrund dieser Vorgänge zwischen den<br />

Kristallstrukturen – auch wegen dieser mineralischen Partikel, die sich da alle <strong>im</strong> Eis<br />

anlagern – passieren dann Dinge, die zur Entstehung von solchen komplexen<br />

Molekülen führen können.<br />

<strong>Büssem</strong>: Sie haben vorhin unterseeische Vulkane und Meteoriteneinschläge erwähnt:<br />

Welche Rolle spielen die nun?<br />

<strong>Trinks</strong>: Sie spielen sicherlich auch eine Rolle, denn zur Entstehung dieser Ursuppe, die wir<br />

soeben erwähnt hatten, brauchte es best<strong>im</strong>mte Prozesse in diesen Urmeeren. Dort<br />

müssen z. B. Meteore eingeschlagen haben oder es muss Blitzentladungen oder<br />

Vulkanausbrüche gegeben haben. Dabei entstand dann eben dieses Gebräu von<br />

einfachen Bausteinen aus den anorganischen chemischen Substanzen, die dort <strong>im</strong><br />

Wasser nun einmal vorhanden sind. Diese Substanzen wurden dann durch<br />

Meeresströmungen – so wie heute auch die Umweltgifte – in diejenigen Zonen<br />

getrieben bzw. haben sich dann dort hineinverteilt, wo früher auch schon Eis<br />

gewesen ist: Auch die Geologen sind der Auffassung, dass es schon früher, also<br />

vor vier Milliarden Jahren, vereiste Zonen auf der Erde gegeben hat. Die Erde stand<br />

quasi <strong>im</strong>mer schon schief und dies hat eben schon von Anfang an polare Regionen<br />

an der Nord- bzw. Südspitze bedeutet. Denn der Nordpol und der Südpol sind ja bis<br />

heute fast ein halbes Jahr ohne Sonneneinstrahlung, also sehr kalte Regionen. Aus<br />

diesem Grund hat sich dort von Anfang an Eis gebildet, in dem sich dann diese<br />

organischen Substanzen, die möglicherweise ganz woanders, meinetwegen in<br />

unterseeischen Vulkanen entstanden waren, ansammeln konnten. Ich glaube also,<br />

dass das sehr wohl ein Zusammenspiel ist zwischen diesen eben genannten<br />

Prozessen und dem Eis. Das Eis ist wie so eine Art Werkstatt: Das Eis ist wie eine<br />

Art Material, in dem Bedingungen herrschen, die diese ganz komplizierten<br />

Prozesse, die zum Leben führen, sehr stark gefördert haben.<br />

<strong>Büssem</strong>: Das heißt, Sie konnten nachweisen oder zumindest teilweise nachweisen, dass das<br />

Leben eben nicht in der Wärme entstanden ist, sondern in der Kälte.<br />

<strong>Trinks</strong>: Das konnte ich nicht nachweisen, denn wie hätte ich das nachweisen können? Es<br />

ist ja auch so, dass diese Theorie, dass es nicht warm gewesen sein darf, um<br />

Leben entstehen zu lassen, nicht von mir stammt. L. E. Orgel und einige<br />

Nobelpreisträger haben ja bereits in dieser Richtung veröffentlicht. Sie haben<br />

gesagt, dass das bei niedrigen Temperaturen stattgefunden haben muss. Das Wort<br />

"Eis" haben sie allerdings nicht in den Mund genommen dabei. Sie meinten, dass<br />

das bei 0 Grad oder plus fünf oder zehn Grad passiert sein könnte. An Eis hat dabei


komischerweise keiner gedacht. Man hat nämlich <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Hinterkopf: Eis ist tot, ist<br />

fest, ist ein festes Material. Zur Entstehung von Leben braucht man aber nun einmal<br />

Flüssigkeit: Dazu braucht man eine wässrige Lösung. Ohne sich genauer in dieses<br />

Eis hineinzudenken, meint eben jeder, Eis sei einfach fest und starr und dort gäbe<br />

es keine Flüssigkeit. Denken Sie nur einmal an die momentane Diskussion über die<br />

ersten Lebensformen auf dem Mars, die man da sucht. Ich habe diese Diskussion<br />

verfolgt. Man sucht dabei <strong>im</strong>mer nach Wasser auf dem Mars, denn man sagt: Erst<br />

dann haben wir die Chance, Leben auf dem Mars zu finden. Eis hat man ja bereits<br />

gefunden auf dem Mars. Man sagt daher: Wo Eis ist, müsste vorher ja auch<br />

Wasser gewesen sein. Ich sage hingegen, dass in diesem Eis, in diesem salzigen,<br />

mineralisch gefrorenen Wasser doch <strong>im</strong>mer noch in diesen winzigen Kanälen<br />

Wasser enthalten ist. Das ist zwar nur ganz, ganz wenig Wasser, dafür ist es aber<br />

eine hoch konzentrierte Lösung. Es gibt also Wasser <strong>im</strong> Eis. Und das war eben der<br />

eigentliche neue Ansatz von mir, den ich zu Beginn allerdings nur intuitiv hatte. Nun<br />

zu Ihrer Frage, was ich bewiesen habe. Das <strong>mit</strong> dem Beweisen ist ja <strong>im</strong>mer so eine<br />

Sache, aber ich konnte meine Idee, meine Hypothese doch sehr plausibel machen,<br />

indem ich nachweisen konnte, dass <strong>im</strong> Eis best<strong>im</strong>mte günstige Bedingungen<br />

herrschen. Das sind ja mehrere Bedingungen, die man braucht. Da gibt es Energie<br />

und da wird ein Sortieren und ein Entmischen dieser Substanzen vorgenommen.<br />

Eis ist nämlich so etwas wie eine Art von Flüssigkeitschromatograph: Da entmischt<br />

sich das von alleine und wird sortiert. Man findet dort also Kompart<strong>im</strong>ente,<br />

Grenzflächen, katalytische Materialien usw. Das alles passt so wunderbar<br />

zusammen, dass jeder sagt: "Mensch, Donnerwetter, das ist ja die ideale Brutstätte<br />

für Leben!" Ich habe das auch schon <strong>mit</strong> <strong>Prof</strong>essor Eigen und anderen besprochen.<br />

Alle sagen: "Mensch, das ist ja ein völlig neuer Ansatz, an den wir alle nicht gedacht<br />

haben. Wir haben <strong>im</strong>mer nur an eine Flüssigkeit gedacht, weil wir nicht daran<br />

dachten, dass sich ja <strong>im</strong> Eis auch Flüssigkeit befindet." Jetzt stellt man aber fest,<br />

dass das Eis ein Material ist, das bisher noch nicht unter diesem Gesichtspunkt<br />

untersucht worden ist und dass dort eigentlich all die Bedingungen, die man<br />

braucht, um Leben zu erzeugen, vorherrschen.<br />

<strong>Büssem</strong>: Was muss noch alles geschehen, bis man diese Theorie, diese Hypothese<br />

sozusagen beweisen kann? Haben Sie denn schon ein Konzept, wie man das<br />

machen könnte?<br />

<strong>Trinks</strong>: Ja, durchaus. Aufgrund dieser etwas losen hypothetischen Annahme bin ich ja<br />

losgezogen ins Eis und habe dort meine Messungen gemacht. Von dort habe ich<br />

sehr, sehr schönes Datenmaterial <strong>mit</strong>gebracht: mikroskopisch <strong>im</strong> realen Eis<br />

gemessen. Daraus habe ich dann eine Modellvorstellung entwickelt, was das reale<br />

Eis eigentlich ausmacht. Was läuft in diesem "Eisreaktor" ab? Wie verhalten sich<br />

dort die Temperaturen? Welche <strong>Dr</strong>ücke herrschen dort? Wie sieht es <strong>mit</strong> den pH-<br />

Werten aus, <strong>mit</strong> der Konzentration der Wasserstoffionen und ihrer Schwankung?<br />

Welche Energie<strong>im</strong>pulse werden ausgetauscht? Dies alles habe ich nun in einer<br />

sehr konkreten Modellvorstellung zusammengefasst, sodass man sich nun von<br />

diesem realen Eis, wie es in Spitzbergen vorlag, lösen und best<strong>im</strong>mte Situationen<br />

<strong>im</strong> Labor nachstellen kann, dass man das also sozusagen <strong>im</strong> Kühlschrank<br />

nachbauen kann. Dies kann man natürlich nur machen, weil man erst einmal<br />

herausgebracht hat, wie das normale Eis ist. Dieses reale Eis – und das ist<br />

ebenfalls noch eine ganz wichtige Sache – ist aus physikalischen Gründen so, wie<br />

es ist. Und die Physik war vor vier Milliarden Jahren genauso wie heute. Das heißt,<br />

wenn man heute das reale Eis studiert, dann hat man einen sehr guten Eindruck<br />

davon, wie die Sache vor vier Milliarden Jahren ausgesehen hat.<br />

<strong>Büssem</strong>: Kann man das <strong>im</strong> Labor wirklich nachstellen? Oder muss man dafür das Eis von<br />

Spitzbergen <strong>mit</strong>nehmen und es dann <strong>im</strong> Labor untersuchen?<br />

<strong>Trinks</strong>: Das kann man sehr gut nachstellen: Man muss eben die Bedingungen nachstellen,<br />

wie sie in Spitzbergen anzutreffen sind. Das heißt, man muss die entsprechenden<br />

Lichteinstrahlungen, die <strong>Dr</strong>ücke, die Temperaturen usw. s<strong>im</strong>ulieren. Vor allem muss<br />

man den Temperaturgradienten nachstellen: diese minus 1,8 Grad des Wassers<br />

unter dem Eis und oben eben diese ganz unterschiedlichen Temperaturen des


Gases. Man kann dann wirklich ganz labormäßige und reproduzierbare Situationen<br />

darstellen. In diesem Eisreaktor kann man dann Versuche machen, um die<br />

hypothetischen Annahmen meinetwegen über die Bildung von RNA und das<br />

Replizieren von RNA ohne enzymatische Hilfe von lebendigen Systemen zu<br />

untersuchen. All das kann man <strong>im</strong> Labor sauber und reproduzierbar nachstellen.<br />

Diese Versuche laufen jetzt auch bereits. Wenn das gelänge, dann wäre das<br />

natürlich ein Riesenschritt. Aber der erste Schritt ist ja schon mal getan: Wir haben<br />

den Eisreaktor und wir können sagen, dass alle Bedingungen passen. Nun müssen<br />

wir rangehen und Versuche machen, um beweisen zu können, dass best<strong>im</strong>mte<br />

Vorgänge wirklich so ablaufen, wie sie sich in der Hypothese darstellen.<br />

<strong>Büssem</strong>: Wenn also das Leben <strong>im</strong> Eis entstanden ist, dann kann man sich nur schlecht<br />

vorstellen, wie dann später das Leben des Homo sapiens in Afrika, also in der<br />

Wärme, entstanden ist. Wie hat also der Übergang stattgefunden? Wie wird aus<br />

dem Leben <strong>im</strong> Eis ein Leben in der Wärme? Als Laie denkt man eben, dass doch<br />

auch am Anfang die Wärme eine Rolle gespielt haben muss.<br />

<strong>Trinks</strong>: Sie haben <strong>mit</strong> dem Homo sapiens einen geschichtlichen Moment angesprochen,<br />

der erst viel, viel später kommt. Zunächst hat es ja sozusagen nur anorganisches<br />

Material gegeben. Dann kamen diese kleinen organischen Bruchstücke, diese<br />

Bausteine hinzu, diese Aminosäuren und die Nukleotide. Danach brauchte es dann<br />

einen großen Schritt, der über Hunderte von Millionen Jahren ging, bis es endlich<br />

die RNA gegeben hat. Man n<strong>im</strong>mt an, dass das mindestens 100 bis 200 Millionen<br />

Jahre gedauert hat, seit dem Entstehen des Lebens <strong>im</strong> Eis vor vier Milliarden<br />

Jahren. Man hat dann also die RNA, dieses Erbinformationsträgermaterial. Wenn<br />

sich das repliziert, also vermehrt, in dieser Suppe, in diesem Eisreaktor, dann<br />

kommt es zu einem zweiten riesigen Schritt, denn dann beginnt die Evolution.<br />

Wenn sich das nämlich repliziert, kann durch Mutation eine Veränderung eintreten.<br />

Und auf diese Weise kann das dann <strong>im</strong>mer lebenskräftiger werden. Daraus<br />

entwickeln sich dann, so n<strong>im</strong>mt man jedenfalls an, kompliziertere Strukturen bis zu<br />

einem Zellorganismus. Dann dauert es wieder Hunderte von Millionen Jahren, bis<br />

man zu einem kleinen einzelligen oder mehrzelligen Gebilde kommt. Bis zum Homo<br />

sapiens geht es von da an dann relativ schnell. Diese Entstehung des Homo<br />

sapiens ist dann tatsächlich in der Wärme passiert.<br />

<strong>Büssem</strong>: Wie ist das Leben aber aus dem Eis sozusagen an Land gekommen?<br />

<strong>Trinks</strong>: Zwischen Eis und Land ist ja gar kein so großer Unterschied mehr, das ist ja fast<br />

dasselbe. Ich möchte auch ganz klar der Vorstellung entgegentreten, dass man<br />

lediglich einen Kühlschrank zu nehmen bräuchte, dort drinnen könnte sich das<br />

Leben dann entwickeln und eines Tages würde der Kühlschrank von innen<br />

aufgehen und ein grünes Männchen käme heraus und sagte "hallo". Das ist<br />

natürlich nicht so. Ich glaube, dass sich <strong>im</strong> Eis – das sage ich, aber alle meine<br />

<strong>Gespräch</strong>spartner sehen das eigentlich genauso – vielleicht diese einfachen<br />

Formen von RNA weiterentwickelt haben. Das Eis ist dann aber geschmolzen –<br />

das Eis schmilzt und wächst ja eigentlich <strong>im</strong>mer – und diese RNA-Moleküle wurden<br />

dann in Gegenden gespült oder gebracht, wo sich das Leben wieder weiter<br />

entwickeln konnte. Vielleicht war das dann <strong>im</strong> Warmen. Denn sobald sich diese<br />

großen Moleküle erst einmal gebildet haben und sie sich selbst replizieren können,<br />

also sozusagen der Thermodynamik entgegenwirken können, diesem ewigen<br />

Zerfallen, ist natürlich auch die Möglichkeit gegeben, ins Warme zu gehen. Die<br />

weitere Entwicklung wird dann sicherlich <strong>im</strong> Warmen abgelaufen sein. Ich glaube<br />

auch, dass der Mensch aus dem Warmen kommt und nicht aus dem Eis. Denn es<br />

wäre ja entsetzlich, <strong>im</strong> Eis groß geworden sein zu müssen.<br />

<strong>Büssem</strong>: Sie selbst leben es ja <strong>im</strong>merhin vor.<br />

<strong>Trinks</strong>: Ja, aber nur <strong>mit</strong> einem guten Anorak!<br />

<strong>Büssem</strong>: Wir haben jetzt über Ihre erfolgreiche wissenschaftliche Tätigkeit dort oben<br />

gesprochen. Wie ist denn aber eigentlich das menschliche Exper<strong>im</strong>ent<br />

ausgegangen? Haben Sie da wirklich die Ursituation zwischen Adam und Eva<br />

erlebt? Wurde Ihnen gar der Apfel überreicht? Was ist da passiert?


<strong>Trinks</strong>: Das ist in gewisser Weise durchaus so gewesen. Man geht ja eigentlich <strong>mit</strong><br />

Vermutungen und Befürchtungen an so etwas heran, die hier in unserer<br />

Gesellschaft üblich sind. Das betrifft solche zwischenmenschlichen Schwierigkeiten,<br />

die <strong>mit</strong> Eifersucht, Ehrgeiz, Selbstdarstellung, Sicherheitsbedürfnis usw. zu tun<br />

haben. Und dann wird man hineingeworfen in diese Situation. Ich will nicht sagen,<br />

dass das ein Paradies gewesen ist, aber das war schon eine recht archaische<br />

Situation. Nach ganz kurzer Zeit merkt man dann, dass man nichts weiter ist als<br />

einfach nur zwei Wesen – ähnlich wie die Schlittenhunde oder die Eisbären –, die in<br />

dieser unwahrscheinlich tollen, aber auch unbarmherzigen Natur überleben<br />

müssen. Wir haben uns dann häufig wie unsere Schlittenhunde gefühlt: Wenn die<br />

am Morgen tief verschneit waren – wir hatten ja zwei Hunde, zwei Brüder –, dann ist<br />

zunächst einmal einer aus dem Schnee herausgekrabbelt und hat den anderen<br />

angestupst: "Hallo, Kollege, lebst du noch?" Und dann hat auch der Zweite seine<br />

Nase rausgestreckt. Sie haben sich geschüttelt, ein wenig die Nasen geleckt und<br />

saßen dann friedlich nebeneinander und "bewachten" die Eisbären. So ähnlich ging<br />

es uns auch. Wir waren einfach unglaublich beschäftigt <strong>mit</strong> dem Überleben. Sie<br />

müssen sich einfach nur mal vorstellen, wenn man da in einem Schneesturm<br />

seinen Gang zum Klohäuschen antreten muss. Das Klohäuschen stand ungefähr<br />

100 Meter von der Hütte entfernt. Es war ja dunkel, denn es herrschte vier Monate<br />

lang absolute Finsternis bei 30 Grad minus und pfeifendem Sturm. Ich ging <strong>mit</strong><br />

einer geladenen Waffe <strong>im</strong>mer <strong>mit</strong> Marie, um ihr sozusagen Schützenhilfe zu geben,<br />

um <strong>mit</strong> dem Scheinwerfer zu schauen, ob da jemand sitzt und um gegebenenfalls<br />

die Eisbären wegzujagen. Wenn das alles so ist, dann verlieren sich alle anderen<br />

gesellschaftlichen Schwierigkeiten des Umgangs <strong>mit</strong>einander. Das wird alles<br />

wirklich einfach: Es war wirklich unhe<strong>im</strong>lich schön und einfach und ganz elementar.<br />

Man hat sich einfach darüber gefreut, dass der andere da war. Wenn es doch<br />

einmal Schwierigkeiten gegeben hat, dann stürzte eben einer vor die Hütte und lief<br />

drei Mal um den Bau bzw. kroch drei Mal in den Schneewehen um den Bau. Man<br />

kam dann <strong>mit</strong> völlig vereister Nase wieder rein und wärmte sich die Finger auf. Die<br />

Person drinnen hatte ja inzwischen schon wieder Sorge, wo denn der andere oder<br />

die andere bleibt: Deswegen wurde dann auch gleich der Kaffee heiß gemacht und<br />

das Angebot gemacht, ihm oder ihr zuerst einmal die Hände zu wärmen. Das war<br />

einfach nur schön.<br />

<strong>Büssem</strong>: Sie haben das ja auf ein Jahr bzw. auf 13 Monate begrenzt. Ist denn die Marie jetzt<br />

wieder nach England gegangen und Sie wieder nach Hamburg? War das also ein<br />

Versuch, der einen Anfang und ein Ende hatte?<br />

<strong>Trinks</strong>: Wissen Sie, Exper<strong>im</strong>ente laufen ja manchmal auch ein wenig aus dem Ruder, wie<br />

man so sagt. Das ist ja <strong>im</strong>mer so: Man macht ein Exper<strong>im</strong>ent wie z. B. diesen<br />

zwischenmenschlichen Versuch. Dabei hat man eine Arbeitshypothese, denn sonst<br />

könnte man ja nicht anfangen: Man muss sich irgendwas vorstellen können<br />

darunter. Man stellt dann aber <strong>im</strong> Laufe des Exper<strong>im</strong>entes fest, dass alles doch<br />

anders wird, dass doch etwas herauskommt, <strong>mit</strong> dem man vorher gar nicht<br />

gerechnet hatte. Wir sind uns einfach sehr nahe gekommen. Es wurde menschlich<br />

sehr nahe. Und wir haben uns sehr, sehr gut vertragen. Nun, nachdem wir<br />

zurückkamen, ist eben die Frage: Was passiert, wenn wir in die Zivilisation<br />

zurückgeworfen werden? Ist das alles dann vergessen? Bleibt dann nichts mehr?<br />

Nein, es ist nicht so, es entwickelt sich weiter. Mir und Marie ist natürlich klar, dass<br />

wir aufpassen müssen: Wenn ich jetzt nur mehr <strong>im</strong> Büro sitzen würde und wir uns<br />

nur noch am Abend sehen würden, um meinetwegen gemeinsam ins Theater zu<br />

gehen usw., dann würde das nicht mehr funktionieren, denn das wäre dann ein<br />

völlig anderes Leben. Wir werden also sicherlich auch weiterhin das Abenteuer<br />

suchen und uns in Gegenden begeben, wo wir unabhängig von diesen<br />

Störelementen wieder zurück in diesen paradiesischen Zustand finden können oder<br />

ihn zumindest teilweise haben können. Ich glaube, dass das ganz wichtig ist –<br />

jedenfalls für uns beide.<br />

<strong>Büssem</strong>: Es gibt ja an Spitzbergen noch etwas Interessantes. Spitzbergen ist ja sozusagen<br />

<strong>im</strong>mer schon ein riesiges Labor der Erdwissenschaften gewesen. Newton hat<br />

behauptet, dass die Erde eine Orange ist, die Franzosen behaupteten, sie sei eine


Zitrone usw. In Spitzbergen ist dann bewiesen worden, dass die Erde eher das<br />

Aussehen einer Orange hat. Sie haben dort oben ja auch noch viele andere<br />

Sachen gefunden. Was ist denn so interessant an diesem Stück Erde namens<br />

Spitzbergen?<br />

<strong>Trinks</strong>: Sie sprachen soeben die Frage Zitrone oder Orange an. Ich darf hier vielleicht eine<br />

kleine Erinnerung herauskramen. Ich habe vor über 30 Jahren bei <strong>Prof</strong>essor Flügge<br />

in Freiburg meinen Doktor gemacht. Die Prüfungen liefen alle ganz toll, nur bei der<br />

letzten Prüfung gab es ein kleines Problem für mich. Die letzte Prüfungsfrage war<br />

nämlich: "Es ist ja toll, was Sie alles wissen, junger Mann. Wie hat man denn<br />

eigentlich das Meter definiert?" Ich sagte: "Das ist alles ganz einfach. Das Meter ist<br />

einfach nur ein best<strong>im</strong>mter Bruchteil des Erdumfangs." "Ja", sagte dann mein<br />

Prüfer, " das ist ja schön und gut, aber ist die Erde denn eigentlich wirklich eine<br />

Kugel, sodass der Erdumfang überall gleich wäre?" "Nein", antwortete ich, "natürlich<br />

nicht. Schon der alte Newton hat vor 400 Jahren in seinen berühmten 'Principia'<br />

gesagt, dass aufgrund der Tatsache, dass die Erde in ihrem Inneren flüssiges<br />

Magma hat und sie gleichzeitig um ihre eigene Achse rotiert, die Erde ein wenig<br />

abgeplattet wird. Das hat einfach <strong>mit</strong> der Rotation und den dabei entstehenden<br />

Fliehkräfte zu tun. Der alte Newton hat also schon vorhergesagt, dass die Erde<br />

eigentlich ein bisschen abgeplattet sein müsste und die Form einer Orange haben<br />

müsste." Dies wollte der Prüfer von mir hören und genau das habe ich auch erzählt.<br />

Er stellte mir dann aber die doch recht unangenehme Frage: "Wie hat man denn<br />

das nun gemessen vor Hunderten von Jahren?" – Heute gibt es dafür ja GPS und<br />

Satelliten usw. – Da fing ich an zu stottern und wusste keine Antwort. Und jetzt, dort<br />

oben, habe ich während meiner Expedition alte Tagebücher studiert. Eigentlich<br />

durch Zufall habe ich dabei gefunden, dass man genau vor 100 Jahren an genau<br />

der Stelle, an der ich gerade meine Expedition machte, nämlich auf Nordostland,<br />

durch geodätische Messungen diese Hypothese nachweisen konnte. Man hat <strong>mit</strong><br />

dem Theodoliten die Abstände zwischen best<strong>im</strong>mten Berggipfeln gemessen,<br />

während man gleichzeitig die Breitengrade und die Höhe zu den Sternen und zur<br />

Sonne gemessen hat. Daraus konnte man nämlich die Erdform best<strong>im</strong>men. Man<br />

hat also genau 1901 herausgefunden, dass die Erde tatsächlich, wie das Newton<br />

vorhergesagt hatte, ein bisschen abgeplattet ist. Ich zog also <strong>mit</strong> Marie und meinem<br />

Sextanten, den ich noch von meiner Seefahrerei hatte, ebenfalls auf jenen großen<br />

Berg, von dem aus man das bereits vor genau 100 Jahren gemessen hatte, um<br />

selbst diese Messung nachvollziehen zu können. Ich konnte also sozusagen meine<br />

Prüfungsfrage nachliefern. Das war sehr befriedigend für mich.<br />

<strong>Büssem</strong>: Das war natürlich für einen <strong>Physiker</strong> ein schöner Erfolg. Sie sehen ja Ihre Aufgabe<br />

ganz offensichtlich nicht nur in der Wissenschaft, sondern gleichzeitig auch in der<br />

menschlichen Erfahrung. Vor allem aber geht es Ihnen darum, das alles<br />

weiterzugeben. Sie sind ja nicht umsonst Lehrender, Sie schreiben nicht umsonst<br />

Bücher usw. Sie erwähnten schon, dass Sie als <strong>Prof</strong>essor <strong>im</strong>mer wieder gesagt<br />

haben: "Es ist wichtig, dass ihr etwas tut, dass ihr hinausgeht!" Sie selbst haben<br />

einmal gesagt, dass es nicht nur wichtig sei, wie die physikalischen Gesetze<br />

funktionieren, sondern dass es ebenfalls wichtig sei zu wissen, wie man einem<br />

Eisbären begegnet. War denn dieses Konzept in Ihrer Lehrtätigkeit erfolgreich?<br />

<strong>Trinks</strong>: Ja, sehr. Ich habe festgestellt, dass vor allem die jungen Studierenden an meinen<br />

Lippen hängen, wie man fast sagen kann, wenn ich so ein bisschen aus dem<br />

Nähkästchen plaudere. Mir geht es also um die Physik verbunden <strong>mit</strong> den<br />

Erfahrungen, die man dort oben machen kann. Mir selbst geht es ja <strong>im</strong>mer mehr –<br />

das liegt vielleicht auch an meinem Alter – um die großen Zusammenhänge.<br />

Physik, Entstehung des Lebens und zwischenmenschliche Dinge hängen doch<br />

irgendwie zusammen. Das sind Prinzipien, die sich in jedem Gebiet <strong>im</strong>mer wieder<br />

aufs Neue darstellen. Es ist manchmal schwer, das <strong>mit</strong> wissenschaftlicher<br />

Genauigkeit und <strong>mit</strong> wissenschaftlicher Messtechnik zu messen: Wie sollte man<br />

denn Emotionen oder Gefühle messen können? Wie sollte man das Einverständnis<br />

hinsichtlich best<strong>im</strong>mter Prinzipien messen können? Aber man erahnt das eben<br />

doch. Und dabei hat mir eben auch dieses Jahr sehr gut geholfen: Wenn man in<br />

dieser großen Einsamkeit ist, wenn man da über sich diese unermessliche Anzahl


von Sternen sehen kann und wenn man <strong>im</strong> Hintergrund dabei <strong>mit</strong> der Frage quasi<br />

schwanger geht, wie das Leben eigentlich entstanden ist, dann glaubt man doch<br />

Zusammenhänge sehen und erahnen zu können. Wenn ich das an meine Zuhörer,<br />

an meine Studenten weitergebe, dann herrscht daran <strong>im</strong>mer ein sehr, sehr großes<br />

Interesse. Dies vor allem dann, wenn man das Ganze <strong>mit</strong> alltäglichen Erfahrungen<br />

würzt.<br />

<strong>Büssem</strong>: Vielen Dank, Herr <strong>Prof</strong>essor. Wir haben die Gewissheit, dass auch in Zukunft noch<br />

Reisen ins ewige Eis unternommen werden. Vielleicht erfahren wir ja auch noch die<br />

Antwort auf die Frage, ob das Leben dort entstanden ist. Vielen Dank und bis zum<br />

nächsten Mal.<br />

© Bayerischer Rundfunk

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