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Amnon und Tamar - Vergewaltigung und Politik Ruth Lapide im ...

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http://www.br-online.de/alpha/forum/vor0210/20021025.shtml<br />

Sendung vom 25.10.2002, 20.15 Uhr<br />

Alpha-Forum-extra: <strong>Amnon</strong> <strong>und</strong> <strong>Tamar</strong> - <strong>Vergewaltigung</strong> <strong>und</strong> <strong>Politik</strong><br />

<strong>Ruth</strong> <strong>Lapide</strong><br />

<strong>im</strong> Gespräch mit Dr. Walter Flemmer<br />

Flemmer: Liebe Zuschauerinnen <strong>und</strong> Zuschauer, herzlich willkommen zum Alpha-<br />

Forum-extra, zu einem Gespräch über zwei interessante biblische<br />

Gestalten <strong>und</strong> zu einem Thema, das man in der Bibel vielleicht gar nicht<br />

vermutet, nämlich zur Geschichte einer <strong>Vergewaltigung</strong>. Ich begrüße <strong>im</strong><br />

Studio Frau <strong>Ruth</strong> <strong>Lapide</strong>, die Judaistin <strong>und</strong> Historikerin. Frau <strong>Lapide</strong>, diese<br />

Geschichte spielt ja am Hof König Davids. Wie müssen wir uns diesen Hof<br />

vorstellen? So, wie ein heutiges saudi-arabisches Ambiente mit vielen<br />

Frauen, mit Dutzenden von Kindern? Wenn dem so wäre, dann hätte sich<br />

ja <strong>im</strong> vorderen Orient während ein paar Tausend Jahren möglicherweise<br />

gar nichts geändert.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, eigentlich nicht. David ist uns ja bekannt aus vielen Schriften der Bibel.<br />

Wir befinden uns jedenfalls ungefähr 2000 Jahre vor unserer Zeitrechnung.<br />

David ist der Mann Gottes, in allem, was er macht. Und es ist eigentlich –<br />

zumindest für mich – sehr ermutigend, dass uns bei all seiner Größe seine<br />

menschlichen Schwächen ebenfalls recht genau geschildert werden.<br />

Flemmer: Das meinte ich aber gar nicht, sondern ich meinte die Organisation dieses<br />

Königshofes, an dem es ja wohl ganz offensichtlich sehr viele Kinder<br />

gegeben hat.<br />

<strong>Lapide</strong>: Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen, vor allem wegen des<br />

Gegensatzes zu den heutigen orientalischen Verhältnissen. Er hatte<br />

nämlich weder 80 Söhne noch sehr, sehr viele Frauen. Die Bibel erzählt uns<br />

jedenfalls nur ausdrücklich von acht Frauen. Die letzte dieser Frauen ist die<br />

junge Avischak, die aber nicht mehr ganz als seine Gattin gerechnet<br />

werden kann.<br />

Flemmer: Aber auch das ist ja eine ganz schöne Anzahl von Frauen.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja. Die Kinder von diesen Frauen halten sich in ihrer Anzahl auch<br />

einigermaßen in Grenzen. Natürlich ging es an so einem Hofe drunter <strong>und</strong><br />

drüber. David ist kein reicher Potentat, er ist der erste König der Vereinigung<br />

der zwölf Stämme Israels, denn unter Saul hatte diese Vereinigung ja nicht<br />

geklappt. David kommt nach sieben Jahren seiner Herrschaft, die er in<br />

Hebron in seinem Stamm Juda verbracht hat, nach Jerusalem. Von dort,<br />

von Hebron, kommen die Mütter dieser Söhne, von denen wir heute<br />

sprechen werden, eigentlich her. In Jerusalem fängt jedenfalls diese große<br />

<strong>und</strong> glanzvollere Geschichte Israels erst so richtig an.<br />

Flemmer: An diesem Hof muss es ja eine ganze Menge von Intrigen gegeben haben.<br />

<strong>Lapide</strong>: Wie an jedem Königshof.<br />

Flemmer: Man hört von Eifersuchtsdramen, von großen Gegensätzen usw. Das heißt,<br />

es wurde einerseits <strong>Politik</strong> gemacht: Diese unterschiedlichen Frauen samt<br />

ihren Nachkommen betrieben alle ihre eigene <strong>Politik</strong>...


<strong>Lapide</strong>: Das ist gar keine Frage. Haben Sie denn schon mal eine Gruppe von<br />

Frauen gesehen, die alle <strong>im</strong> Harem unter einem Dach leben <strong>und</strong> die<br />

untereinander keine <strong>Politik</strong> betreiben? Ich jedenfalls nicht.<br />

Flemmer: Das ist scheinbar etwas schwierig, das st<strong>im</strong>mt. Wir befinden uns also an<br />

diesem Hof <strong>und</strong> in der Bibel heißt es, nun taucht <strong>Amnon</strong> auf. Er ist der Sohn<br />

einer Jesreelitin mit Namen Ahinoam.<br />

<strong>Lapide</strong>: Genau.<br />

Flemmer: Was bedeutet das, was bedeutet diese Bezeichnung "Jesreelitin"?<br />

<strong>Lapide</strong>: Jesreel ist dieses schöne <strong>und</strong> fruchtbare Tal, das heute noch genauso<br />

heißt, so ungefähr zwischen Haifa <strong>und</strong> Tiberias. Dieses Tal liegt also südlich<br />

der galiläischen Berge <strong>und</strong> nördlich der Berge von Nablus. Dieses schöne<br />

Tal Jesreel kommt in der Bibel <strong>im</strong>mer wieder einmal vor. Die Geschichte<br />

davor war doch so gewesen: David hatte mit der Michal ein unglaubliches<br />

Desaster erlebt. Michal war die Tochter Sauls <strong>und</strong> David hatte sie sehr<br />

geliebt. Diese ganze Geschichte ist ja eine der schillerndsten<br />

Liebesgeschichten in der Bibel. Später, viel später kommt sie dann ja zu<br />

David zurück, aber alles, wirklich alles läuft dann schief zwischen den<br />

beiden. Nach diesem Desaster mit Michal jedenfalls heiratete David zwei<br />

Frauen nacheinander. Er war damals freilich noch ein Freibeuter <strong>und</strong> noch<br />

nicht einmal König von Hebron. Die eine Frau ist diese Ahinoam aus<br />

Jesreel <strong>und</strong> die andere ist die Abigajil von Karmel, also sozusagen eine<br />

Frau aus Haifa. Man darf annehmen, dass diese Ahinoam nicht von den<br />

Stämmen Israels abstammt, dass sie also nicht-jüdisch war. Aber das<br />

ändert nichts an der Tatsache der Heirat zwischen ihr <strong>und</strong> David. Es gibt in<br />

der Bibel ja <strong>im</strong>mer wieder solche Gestalten, die eine wichtige Rolle spielen<br />

<strong>und</strong> keine Juden bzw. Jüdinnen von Geburt sind: Die Rahab bei Josua ist<br />

so eine Gestalt, aber auch später bei Salomo werden <strong>im</strong>mer wieder solche<br />

Personen auftreten. Ahinoam <strong>und</strong> Abigajil sind jedenfalls die ersten beiden<br />

Frauen von David, nachdem die Michal weg ist <strong>und</strong> er mit Michal keine<br />

Kinder hatte. Nun entsteht aber eine schreckliche Geschichte um die Frage,<br />

wer denn nun der Thronfolger sein wird.<br />

Flemmer: Der <strong>Amnon</strong> müsste doch als Erstgeborener eigentlich der Thronfolger sein.<br />

<strong>Lapide</strong>: Das sagen Sie.<br />

Flemmer: Nun, das wird sich ja <strong>im</strong> Verlauf der Geschichte zeigen, welche Konkurrenz<br />

da vorhanden ist.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, <strong>und</strong> wie kompliziert die Sachen sind.<br />

Flemmer: Zunächst einmal geschieht aber noch etwas völlig anderes, denn da geht<br />

es noch gar nicht um die Thronfolge. Man kann sich die Szenerie ungefähr<br />

so vorstellen: Die verschiedenen Söhne von David leben dort gemeinsam<br />

am Hof <strong>und</strong> treffen sich auch untereinander. Dabei fällt der Blick dieses<br />

<strong>Amnon</strong> nun eines Tages auf ein w<strong>und</strong>erschönes Mädchen. Dieses<br />

Mädchen ist aber leider mit ihm verwandt.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ich halte die Sache für komplizierter.<br />

Flemmer: Für noch komplizierter?<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, sehr wohl. David hatte entweder aufgr<strong>und</strong> von Überlastung oder<br />

vielleicht sogar mit Absicht seine Thronfolge nicht festgelegt. Wenn ich mir<br />

diese Texte alle so ansehe <strong>und</strong> mir dabei diesen Mann namens David<br />

vorstelle, dann kommt mir manchmal die Vorstellung, dass er auf diese<br />

Weise seine Söhne vielleicht an der Strippe halten wollte, dass sie sich also<br />

entsprechend bewähren <strong>und</strong> benehmen, bevor er best<strong>im</strong>mt, wer sein<br />

Nachfolger werden wird.<br />

Flemmer: Er will also dieser Interpretation nach diese Frage möglichst lange offen<br />

halten?


<strong>Lapide</strong>: Ja, das ist ganz eindeutig so. Genealogisch betrachtet ist <strong>Amnon</strong> tatsächlich<br />

der Erstgeborene, das ist gar keine Frage. Aber es kommt ja in der Bibel<br />

<strong>im</strong>mer wieder <strong>und</strong> wieder vor, dass der Erstgeborene eben nicht wie z. B.<br />

bei den Bauern in Bayern automatisch der Erbe ist. Übrigens verfährt Gott<br />

ja genauso: Weder Jakob noch Isaak sind z. B. Erstgeborene. Es ist also so<br />

wie oft: Der Nachfolger muss sich erst verdient machen, muss in diese<br />

Rolle hineinwachsen können. David sagt sich eben, dass er das noch eine<br />

ganze Weile abwarten möchte. Und schwer beschäftigt war er ja ansonsten<br />

allemal.<br />

Flemmer: Nun kommt ihm aber diese Liebesgeschichte in den Weg.<br />

<strong>Lapide</strong>: Hier sehe ich eine ganz deutliche <strong>und</strong> absichtsvolle Kombination am Werk,<br />

eine Kombination aus Liebe, Sex <strong>und</strong> <strong>Politik</strong>. Denn diese brennende Frage,<br />

wer denn nun der Thronfolger werden wird - ob das nun <strong>Amnon</strong> oder<br />

Abschalom, der Zweitgeborene, sein wird – kommt ja deutlich zum Tragen.<br />

Die Momente von Sex <strong>und</strong> Liebe laufen neben dieser Frage noch parallel.<br />

Flemmer: Der <strong>Amnon</strong> hätte sich ja nicht in die <strong>Tamar</strong>, also in die Schwester von<br />

Abschalom verlieben müssen: Er hätte unter diesen vielen, vielen Mädchen<br />

am Hof auch eine andere finden können.<br />

<strong>Lapide</strong>: Nun, was wollen Sie machen? Wo die Liebe hinfällt, fällt sie nun einmal hin.<br />

Ich glaube sogar, dass er wirklich in sie verliebt war. In Klammern möchte<br />

ich an dieser Stelle aber noch anmerken, dass es hier neben dem<br />

Abschalom auch einen Sohn von David mit Abigajil gibt. Abigajil war eine<br />

sehr schlaue Frau <strong>und</strong> sie hatte mit David, als er noch Freibeuter gewesen<br />

war, ebenfalls einen Sohn: Das war Kilab. Dieser Sohn hat aber große<br />

seelisch-psychische Probleme <strong>und</strong> so kommt er in diesem Rennen um die<br />

Thronfolge gar nicht vor. Dies führt dazu, dass es fast automatisch zu dieser<br />

Konkurrenz zwischen den beiden schönen <strong>und</strong> starken Söhnen <strong>Amnon</strong> <strong>und</strong><br />

Abschalom kommt. Die Bibel, die ja ansonsten sehr karg ist mit ihren<br />

Beschreibungen, sagt an dieser Stelle: "Und Abschalom war ein schöner<br />

Mann."<br />

Flemmer: Und die <strong>Tamar</strong>, seine Schwester, war ein schönes Mädchen.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, sie stammt ja auch aus dem gleichen Stamm. Sie waren darüber hinaus<br />

auch gepflegt <strong>und</strong> verwöhnt. Sie waren nämlich <strong>im</strong> Gegensatz zu <strong>Amnon</strong> –<br />

<strong>und</strong> das will etwas heißen, denn das spielt hier in psychologischer Hinsicht<br />

sicherlich eine Rolle – von begüterter Abkunft. <strong>Amnon</strong> seinerseits muss sich<br />

nämlich erst durchsetzen: Er stammt von einer einfachen Frau aus dem Tal<br />

Jesreel. Abschalom <strong>und</strong> <strong>Tamar</strong> hingegen sind Nachfahren des Königs von<br />

Geschur: Das ist ein Königreich in Transjordanien, deren Herrscher<br />

Vasallen von David waren. David hatte aus politischen Gründen die<br />

Tochter, die Maacha, aus diesem Herrscherhaus geheiratet. Diese Maacha<br />

soll jedenfalls sehr schön gewesen sein <strong>und</strong> ihre beiden Kinder dann<br />

ebenso. <strong>Tamar</strong>, dieser schöne Name, der bis heute in Gebrauch ist, leitet<br />

sich von der <strong>Tamar</strong>iske ab: Das ist ein schlanker, ranker <strong>und</strong> grüner Baum<br />

mit Früchten usw. Er hat eben all die Eigenschaften, die ein Orientale<br />

verwendet, wenn er Vollkommenheit ausdrücken will. <strong>Tamar</strong>, die Schwester<br />

von Abschalom, ist nun so eine vollkommene Schönheit.<br />

Flemmer: Dieser <strong>Amnon</strong>, der von der Mutterseite her aus einfachen Verhältnissen<br />

stammt, sieht nun dieses schöne Mädchen <strong>und</strong> verliebt sich schlagartig in<br />

sie. Er wird dann auch gleich krank vor lauter Liebe, wie es in der Bibel<br />

heißt. Er weiß also gar nicht, wie ihm geschieht. Das ist schon eine<br />

w<strong>und</strong>erbare Szene, die sich da sofort auftut.<br />

<strong>Lapide</strong>: Sie als Mann stellen sich das halt so vor. Ich hingegen glaube das nicht.<br />

Flemmer: Sie glauben das nicht? Warum nicht?<br />

<strong>Lapide</strong>: Nein, der Text sagt meiner Meinung nach anderes: Er stellt sich nur krank!


Flemmer: Moment, er wird doch erst in der zweiten Phase dazu gebracht, sich zu<br />

verstellen.<br />

<strong>Lapide</strong>: Gut, sagen wir so, er ist liebeskrank.<br />

Flemmer: In der ersten Information, die wir über ihn erhalten, heißt es jedenfalls, dass<br />

er von Liebe krank geworden sei. In dieser Situation sagt er sich, dass er sie<br />

nicht bekommen könne. Denn sie ist noch Jungfrau <strong>und</strong> vor allem doch<br />

seine Stiefschwester. Aus diesem Gr<strong>und</strong> rechnet er sich wenig Chancen<br />

aus.<br />

<strong>Lapide</strong>: Und das Schl<strong>im</strong>mste ist, dass es da diesen Erzkonkurrenten gibt, den<br />

Bruder von <strong>Tamar</strong>.<br />

Flemmer: Ja, dass es da also diesen Teil der Familie gibt, der ihm womöglich sein<br />

Erstgeburtsrecht stehlen will. Er hat dann aber das Glück, dass ihm ein<br />

Fre<strong>und</strong> einen Ratschlag gibt. Wie war das?<br />

<strong>Lapide</strong>: So sind die Männer eben untereinander, obwohl man doch normalerweise<br />

sagt, nur die Frauen wären untereinander so. Dieser Fre<strong>und</strong> sagt jedenfalls:<br />

"Komm, ich sehe doch, wie du leidest, wie du an dieser Frau hängst. Du<br />

stellst dich jetzt krank, <strong>und</strong> zwar so krank, dass es überzeugend ist <strong>und</strong> dein<br />

Vater kommen muss." Der arg beschäftigte König kommt dann tatsächlich,<br />

<strong>im</strong>merhin ist sein Erstgeborener schwer krank. Er sieht ihn, wie er da ganz<br />

elend auf seinem Lager liegt <strong>und</strong> zu ihm sagt: "Ich hätte nur noch einen<br />

Wunsch, ich möchte, dass mir <strong>Tamar</strong>, meine Halbschwester, ein wenig<br />

Gesellschaft leistet." <strong>Tamar</strong> soll ihm nur ein Süppchen machen, denn er hat<br />

doch keinen Appetit mehr: Er kann nichts mehr essen - angeblich - <strong>und</strong><br />

nichts interessiert ihn mehr am Leben.<br />

Flemmer: Sie soll ihm also ein Süppchen kochen bzw. ihm zwei Kringel backen, wie<br />

das Buber an dieser Stelle übersetzt. Wie auch <strong>im</strong>mer, sie soll ihm auf<br />

jeden Fall Essen bringen <strong>und</strong> ihn betreuen.<br />

<strong>Lapide</strong>: Sie soll jedenfalls länger bei ihm bleiben. Nach außen hin heißt dies, dass<br />

sie dort kochen muss <strong>und</strong> nicht nur einen kurzen Besuch machen kann.<br />

Flemmer: Der Fre<strong>und</strong> rät ihm also, dass er mittels dieser vorgetäuschten Krankheit die<br />

<strong>Tamar</strong> näher an sich heran, also in den eigenen Wohnbereich bringen<br />

könnte. Wenn sie so auf diese Weise erst einmal weg von der Öffentlichkeit<br />

wäre, dann könnte man ja weitersehen. Und genau das geschieht ja auch.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, alles läuft genau nach diesem schrecklichen Plan.<br />

Flemmer: David gibt <strong>Tamar</strong> also den Auftrag, sich um seinen erstgeborenen Sohn zu<br />

kümmern: Sie soll ihm das Süppchen kochen bzw. ihm diese Kringel<br />

backen. Und sie macht das dann auch.<br />

<strong>Lapide</strong>: Sie <strong>und</strong> ihr Bruder hegen jedenfalls keinen Argwohn <strong>und</strong> fallen darauf<br />

herein. Sie macht es <strong>und</strong> dann geschieht diese ganze Geschichte, die in<br />

der Bibel schonungslos berichtet wird.<br />

Flemmer: Sie kocht also zunächst einmal für ihn. Er meint dann, dass er nicht<br />

draußen mit ihr essen möchte, dass sie stattdessen zu ihm in die inneren<br />

Gemächer kommen soll. Sie soll also mehr oder weniger in sein<br />

Schlafz<strong>im</strong>mer kommen, weil er dort eben liegen muss, <strong>und</strong> sie ihn, diesen<br />

armen, kranken Mann, dort auch füttern könnte.<br />

<strong>Lapide</strong>: Dies wird uns in der Bibel alles ganz lebhaft <strong>und</strong> in allen Farben geschildert.<br />

Das ist richtig spannend <strong>und</strong> regelrecht bühnenreif.<br />

Flemmer: Das heißt, er ist fast am Ziel, sodass er sich sagt, dass er diese günstige<br />

Gelegenheit auf alle Fälle be<strong>im</strong> Schopf packen will. Plötzlich ist er also nicht<br />

mehr krank <strong>und</strong> will sie vergewaltigen. Was sagt sie daraufhin zu ihm?<br />

<strong>Lapide</strong>: Sie sagt: "Mach das nicht!" Sie ist natürlich fromm <strong>und</strong> anständig erzogen<br />

worden. "Du kannst doch unseren Vater ansprechen <strong>und</strong> mich dann


heiraten! Mach das doch lieber so!"<br />

Flemmer: Sie sagt vor allem aber: "Dies tut man nicht in Israel!" Das heißt, sie stellt<br />

sich auf den Standpunkt, dass es in Israel keinen Inzest gibt.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja.<br />

Flemmer: Das heißt, hier wird eine Regel aufgestellt, die Israel wohl auch von anderen<br />

Völkern <strong>und</strong> dabei vor allem natürlich von den Ägyptern abhebt.<br />

<strong>Lapide</strong>: Wo es ja Inzest gegeben hat.<br />

Flemmer: In Ägypten hat es jedenfalls bis ganz hoch hinauf in die Staatsspitze<br />

legit<strong>im</strong>en Inzest gegeben.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, es war so, dass gerade an der Spitze Geschwister untereinander<br />

geheiratet haben: Damit sie wussten, woran sie jeweils sind.<br />

Flemmer: Wie kann es denn sein, dass das in benachbarten Gesellschaften so völlig<br />

anders gesehen wird?<br />

<strong>Lapide</strong>: Das ist eben ganz einfach die Ethik vom Berge Sinai, die bei David –-<br />

allerdings noch nicht zu 100 Prozent – bereits durchschlägt. Inzest hin oder<br />

her, es ist jedenfalls so, dass man eine Halbschwester auch nicht so ohne<br />

weiteres heiraten kann. Es gibt <strong>im</strong> hebräischen Text auch einzelne Stellen,<br />

die man hier in Erwägung ziehen kann, um ihre Aussage besser verstehen<br />

zu können. Es könnte nämlich sein, dass ihre Mutter bereits schwanger<br />

gewesen war mit ihr, noch bevor David ihre Mutter geheiratet hat. Solche<br />

Sachen gibt es ja. Auf solche Stellen wird <strong>im</strong> hebräischen Text hingewiesen.<br />

Denn die Schwester zu heiraten, wäre ein unüberwindliches Problem <strong>und</strong><br />

so wird ausdrücklich <strong>im</strong>mer wieder von der "Halbschwester" gesprochen.<br />

Flemmer: Das heißt, <strong>Tamar</strong> stellt sich auf den Standpunkt: In Israel gilt das mosaische<br />

Gesetz, also das Gesetz vom Berge Sinai, in dem ganz ausdrücklich<br />

gesagt ist, dass man nicht bei seiner Schwester bzw. bei seinem Bruder<br />

liegen dürfe.<br />

<strong>Lapide</strong>: Wir haben hier eine interessante Sache vorliegen, die in der deutschen<br />

Sprache z. B. ja bis heute gültig ist. Bei uns gibt es doch das Wort<br />

"Bastard": Dieses Wort verwenden wir meistens, wenn wir solche Sachen<br />

übersetzen. Interessant ist in dem Zusammenhang jedenfalls, dass ein<br />

Bastard eigentlich kein Kind ist, wenn zwei unverheiratete Menschen etwas<br />

miteinander haben. Nein, ein Bastard ist vielmehr der Abkömmling von zwei<br />

Personen, von denen zumindest eine anderweitig verb<strong>und</strong>en ist. Das ist<br />

angeblich schl<strong>im</strong>m, denn das ruiniert die menschliche Ordnung, die heilige<br />

Ordnung.<br />

Flemmer: Die Ägypter hat das aber nicht ruiniert, sondern sie haben durch Inzest ganz<br />

bedeutende Herrscher hervorgebracht. In Israel war dem jedoch nicht so,<br />

dort war das verboten. Wie war das bei den anderen Nachbarvölkern?<br />

<strong>Lapide</strong>: Ganz verschieden. Bei den verschiedenen Völkern rings herum mit ihren<br />

vielen Kulten meinetwegen um die Astarten war es ja völlig egal, wen man<br />

geheiratet hat <strong>und</strong> wer geweiht wurde. Der geweihten Jungfrau hat jeder<br />

beiwohnen dürfen, bevor sie dann ihrer Gottheit diente. Diese strengen<br />

Gesetze vom Berge Sinai sind hingegen ganz anders. Dennoch setzen sie<br />

sich schön langsam durch bei den Stämmen Israels. Sie sagt ihm jedenfalls<br />

quasi: "Du kannst mich ja heiraten!" Ich habe diese Stelle auch deshalb<br />

<strong>im</strong>mer wieder mit so großer Spannung gelesen, weil mich das an die<br />

Geschichte von Josef <strong>und</strong> Maria erinnert: Da ist ohne weiteres die Ehe<br />

möglich, denn sie sind ja beide ungeb<strong>und</strong>en. Das ist überhaupt kein<br />

Problem.<br />

Flemmer: Sie sagt aber nicht nur, dass das in Israel nicht möglich sei, sondern dass<br />

sie sich auch in einen schrecklichen Zustand begibt, wenn das passiert. Sie<br />

fügt aber noch hinzu: "Auch du wirst dann innerhalb der Familie, innerhalb


Israels einen schweren Stand haben." Das heißt, beide müssten dann in<br />

Kauf nehmen, doch in einem gewissen Sinne geächtet zu sein.<br />

<strong>Lapide</strong>: Er n<strong>im</strong>mt das überhaupt nicht ernst.<br />

Flemmer: Er n<strong>im</strong>mt das nicht ernst <strong>und</strong> fällt über sie her.<br />

<strong>Lapide</strong>: Nur sie n<strong>im</strong>mt das ernst. Ihm ist das alles egal. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e glaube<br />

ich auch, dass bei ihm das politische Moment das entscheidende ist. Wir<br />

wissen doch, was es heißt, wenn Macht <strong>und</strong> Sex zusammenkommen. Die<br />

Macht reißt doch hinsichtlich des Sexes bis zum heutigen Tag so manche<br />

Dämme ein. Als ich diese Stelle gelesen habe, habe ich mich oft an diese<br />

Filmszenen, an diese furchtbaren Bilder aus dem Dritten Reich erinnert: In<br />

diesen schrecklichen Filmen der Riefenstahl aber auch von anderen kann<br />

man doch <strong>im</strong>mer wieder Tausende <strong>und</strong> Abertausende von Frauen sehen,<br />

wie sie Hitler regelrecht geil anjubeln. Nun, für meinen Geschmack war<br />

dieser Herr Hitler jedenfalls kein Ausb<strong>und</strong> von Attraktivität. Gut, das ist auch<br />

Geschmackssache, das gebe ich zu. Aber klar ist jedenfalls, was Macht für<br />

die Sexualität alles bedeuten kann. Um so mehr schätze ich genau aus<br />

diesem Gr<strong>und</strong> jene kleine <strong>Tamar</strong>. Er hingegen ist total blind.<br />

Flemmer: Sie hat ihn nicht angeh<strong>im</strong>melt.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, das sage ich doch. Und genau deswegen schätze ich auch ihr<br />

Verhalten so. Sie verhält sich musterhaft. Denn sie hätte ja auch sagen<br />

können: "Die Tür ist zu, jetzt ist mir alles egal!"<br />

Flemmer: <strong>Amnon</strong> war jedenfalls in dieser Situation nicht sehr gescheit. Denn<br />

eigentlich hätte ihm doch der Gedanke kommen müssen, dass ihm diese<br />

<strong>Vergewaltigung</strong> den Weg an die Macht versperren könnte, weil er<br />

deswegen doch <strong>im</strong>merhin aus der Gesellschaft ausgesperrt werden<br />

müsste.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ich glaube vielmehr, dass er es genau auf diesen Eklat mit dem Abschalom,<br />

mit dem Bruder von <strong>Tamar</strong>, abgesehen hatte. So kommt es später ja auch.<br />

Es kommen eben <strong>im</strong> Zuge dieser Erbfolgefrage furchtbare Sachen vor, was<br />

ganz einfach daran liegt, dass David seine Nachfolge nicht festgelegt hat. In<br />

Europa war das ja quer durch das Mittelalter <strong>im</strong>mer wieder ein Problem,<br />

wenn Sie nur mal an die berühmten Erbfolgekriege denken. Hier spielt eben<br />

auch noch ganz weit <strong>im</strong> Hintergr<strong>und</strong> die Sünde eine Rolle: Es geht also<br />

nicht nur um Liebe, Sex <strong>und</strong> <strong>Politik</strong>, also um dieses ganze Verhältnis<br />

zwischen David, <strong>Amnon</strong> <strong>und</strong> Abschalom. Nein, es geht auch noch um die<br />

Batseba, die ebenfalls puscht <strong>und</strong> drängt, um ihren Salomo nach vorne zu<br />

bringen, der in der ganzen Reihenfolge ja weit, weit hinten liegt.<br />

Flemmer: Das sind ja schreckliche Verhältnisse am Hof des großen Königs David,<br />

<strong>und</strong> auch spannende Verhältnisse. Man kann sagen, dass das vor allem<br />

auch menschliche Verhältnisse sind.<br />

<strong>Lapide</strong>: Es kann eben auch sein, dass der <strong>Amnon</strong> verunsichert ist, abgesehen von<br />

dieser Frage von Sex <strong>und</strong> Liebe. Er ist politisch verunsichert, weil er nicht<br />

weiß, wie das nun weitergehen wird. Abschalom ist der nächste Anwärter<br />

nach ihm, aber diese ganze Reihenfolge könnte sogar noch durcheinander<br />

kommen, weil da doch der sehr begabte <strong>und</strong> sehr geförderte Salomo <strong>im</strong><br />

Hintergr<strong>und</strong> lauert.<br />

Flemmer: Hat denn nach dieser Geschichte der <strong>Amnon</strong> eine zeitlang mit der <strong>Tamar</strong><br />

zusammengelebt? Oder hat er sie tatsächlich sofort hinausgeworfen? Hier<br />

scheint mir nämlich zwischen den beiden Versen doch so eine kleine, leere<br />

Stelle zu sein.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ich habe das ganz intensiv noch einmal nachgelesen <strong>und</strong> über diese Stelle<br />

auch mit Psychologen gesprochen. Ich habe sie gefragt, ob es so etwas<br />

denn bis auf den heutigen Tag geben könnte. Sie haben mir bestätigt, dass<br />

es so ein Verhalten wirklich bis zum heutigen Tag gibt. Es steht in der Bibel


nämlich dieser Satz: "So sehr er sie liebte" – vor der Tat, vor der<br />

<strong>Vergewaltigung</strong> –, "so sehr hasste er sie nachher." Ich habe die<br />

Psychologen danach gefragt <strong>und</strong> mir wurde bestätigt, dass es das bis heute<br />

gäbe. Er will sie also gar nicht heiraten: Es geht daher gar nicht um Liebe,<br />

nein, es geht nur um Sex.<br />

Flemmer: Er hat also sofort nach der <strong>Vergewaltigung</strong> zu seinem Diener gesagt: "Wirf<br />

sie raus, ich hasse sie jetzt!"<br />

<strong>Lapide</strong>: Es packt ihn sozusagen ein Ekel nach der Tat. So etwas gibt es tatsächlich.<br />

Sie sagt ihm daraufhin, dass das, was er jetzt mache, noch ärger sei als<br />

das, was er davor gemacht hätte. Ich kann ihr das gut nachfühlen: Diese<br />

Rücksichtslosigkeit, diese Grausamkeit hat sie sehr getroffen. Er hat sie<br />

zuerst physisch in Besitz genommen <strong>und</strong> danach sagt er dann quasi: "Das<br />

war es ja überhaupt nicht wert! Mach, dass du weg kommst! Solche wie<br />

dich finde ich haufenweise in den Straßen von Jerusalem!" Das ist doch<br />

eine unglaubliche Kränkung!<br />

Flemmer: Sie wird also hinausgeworfen, sie schreit <strong>und</strong> erregt damit am Hof<br />

Aufsehen. Auch König David wird das alles wohl zur Kenntnis genommen<br />

haben.<br />

<strong>Lapide</strong>: Am englischen Königshof haben wir doch auch <strong>im</strong>mer alles ganz genau<br />

erfahren, was meinetwegen der Prinz Charles am Telefon für schreckliche<br />

Sachen mit seiner Camilla besprochen hat. Diese peinlichen Gespräche hat<br />

ja auch die ganze Welt erfahren. So sind die Menschen halt nun einmal. Ich<br />

denke also, dass auch damals der ganze Hof wusste, was da passiert war.<br />

Denn solche Sachen sind an einem Hof nicht gehe<strong>im</strong> zu halten, zu diesem<br />

Schluss bin jedenfalls ich gekommen. Schon vor der Erfindung der heutigen<br />

Massenmedien <strong>und</strong> Telekommunikationseinrichtungen gab es zu viele<br />

Leute, die über solche Geschichten Bescheid wissen: Da hat es<br />

Bedienstete gegeben, die das Essen aufgetragen oder den Herrschenden<br />

meinetwegen die Kleider angelegt haben usw. Diese Geschichte endet für<br />

<strong>Tamar</strong> ja auch in einer Kleidungsfrage: Sie darf nämlich nicht mehr diese<br />

schöne Kleidung der Jungfrauen tragen.<br />

Flemmer: Sie ist regelrecht gebrandmarkt. Aber David verhält sich doch, wenn ich so<br />

sagen darf, recht seltsam. Eigentlich müsste er doch diesen Sohn nun<br />

bestrafen <strong>und</strong> verstoßen. Aber es heißt, er liebt diesen erstgeborenen<br />

Sohn.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, er liebt ihn. Vielleicht kommt das auch von der Mutter her. Sie wissen<br />

doch, dass solche Männer ihre Liebe oft von der Mutter auf den<br />

gemeinsamen Sohn übertragen. Das könnte also durchaus sein. Mit<br />

Abschalom hingegen hat er eine sehr gespannte Beziehung, aber darauf<br />

werden wir noch zu sprechen kommen. Übrigens ist auch schon der Name<br />

"<strong>Amnon</strong>" recht interessant. "<strong>Amnon</strong>" kommt von "Amen". "Amen" steht <strong>im</strong><br />

Hebräischen – <strong>und</strong> das ist für manchen gläubigen Christen auch nicht ganz<br />

unwichtig, weil Jesus doch sehr oft dieses Wort "Amen" benutzt – nämlich<br />

<strong>im</strong> Zusammenhang von "treuer Gott <strong>und</strong> König", denn <strong>im</strong> Hebräischen wird<br />

das "Amen" durch die drei Buchstaben "alef", "mem", "nun" gebildet, was<br />

wiederum "el melech neeman" heißt, also "treuer Gott <strong>und</strong> König". Von<br />

diesem "Amen" kommt nun jener Name "<strong>Amnon</strong>". Schon alleine die<br />

Tatsache, dass David ihm diesen Namen gegeben hat, deutet auf eine<br />

besondere Beziehung hin - <strong>und</strong> natürlich auch auf ernste Absichten mit ihm.<br />

Flemmer: David setzt sich an dieser Stelle jedenfalls über das Gesetz hinweg, denn er<br />

wäre doch eigentlich auch der Hüter des Gesetzes.<br />

<strong>Lapide</strong>: Das ist schwer zu sagen. Sie wissen doch, wie Juristen das in der Regel<br />

auslegen können. Da hat es doch diesen Fre<strong>und</strong> gegeben, der das alles<br />

arrangiert hatte. Ich stelle jetzt mal ein Hypothese auf, mit der ich Ihre Frage<br />

beantworten möchte: Wenn man heute in den Polizeiakten liest, stellt man


<strong>im</strong>mer wieder fest, dass es heißt, die Frau wäre verführerisch angezogen<br />

gewesen, hätte den Täter angemacht usw. Man kann also gar nicht so<br />

leicht sagen, warum David ihn nicht bestraft hat. Am allerplausibelsten<br />

erscheint mir jedoch folgende mögliche Überlegung von David: "Das ist<br />

doch der zukünftige König Israels, den kann ich doch nicht wegen<br />

<strong>Vergewaltigung</strong> seiner Halbschwester bestrafen!" David hat zu dem<br />

Zeitpunkt es vermutlich noch für sicher gehalten, dass <strong>Amnon</strong> der<br />

Thronfolger ist.<br />

Flemmer: Man muss an dieser Stelle aber schon noch einmal auf diesen Satz<br />

zurückkommen, den <strong>Tamar</strong> zu <strong>Amnon</strong> gesagt hat: "Du könntest ja auch<br />

den König fragen <strong>und</strong> er würde mich wahrscheinlich dir nicht verweigern."<br />

Das heißt, der König hätte also das Recht gehabt, eine solche Verbindung<br />

möglicherweise zuzulassen – auch wenn es dieses Inzestverbot gab. Mir<br />

scheint es hier aber doch eine ganze Reihe von offenen Fragen <strong>und</strong><br />

Auslassungen zu geben.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ich habe das vorhin ja schon vorweggenommen, indem ich sagte, dass es<br />

Hinweise darauf gibt, dass sie schon vor der Beziehung ihrer Mutter mit<br />

David gezeugt worden war.<br />

Flemmer: Aber sie meinte mit ihrem Satz doch etwas Gr<strong>und</strong>sätzliches.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, aber sie meint das vermutlich nur unter diesen Umständen. Ich weiß<br />

nicht, ob das eine gr<strong>und</strong>sätzliche Angelegenheit war. Denn dieser Punkt,<br />

dieser Hinweis, den ich soeben angeführt habe, wird ja ausdrücklich tradiert.<br />

Damit kommen wir also auch weg von der schrecklichen Falle, ob jemand<br />

in so einem Fall sogar seine eigene Halbschwester heiraten darf, um Ehre<br />

<strong>und</strong> Würde aufrecht zu erhalten. Mir scheint eher diese Möglichkeit<br />

gegeben, dass sie gar nicht wirklich seine echte Halbschwester ist. Sie sagt<br />

nämlich so ungefähr: "Es gibt doch gar nichts, was dagegen spräche. Du<br />

liebst mich so entsetzlich <strong>und</strong> unser Vater wird best<strong>im</strong>mt alle Hebel in<br />

Bewegung setzen, damit unsere Heirat möglich wird."<br />

Flemmer: Könnte es sein, dass sie für einen Augenblick auch daran gedacht hat, sie<br />

könnte aufgr<strong>und</strong> einer Heirat mit dem Thronfolger auf legalem Weg an die<br />

Herrschaft kommen?<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, eben, das kann durchaus sein. Und genau das wird er ihr auch gesagt<br />

haben: "Du willst ja nur Macht <strong>und</strong> Sex verbinden!" Da ist schon was dran.<br />

Flemmer: Da sie mit dem Sex alleine aber nicht zufrieden war, musste sie eben<br />

hinausbefördert werden.<br />

<strong>Lapide</strong>: Diese Geschichte ist eben wie viele andere solche Geschichten wirklich<br />

sehr kompliziert <strong>und</strong> spannend zu gleich.<br />

Flemmer: Der Hof beschäftigt sich also mit diesem Ereignis <strong>und</strong> vor allem Abschalom<br />

wird daraufhin tätig. Er befragt zuerst einmal seine Schwester.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, aber ich hätte ganz einfach dazu geraten, Gras über die Sache<br />

wachsen zu lassen, sie dann später mit jemand anderem zu verheiraten<br />

<strong>und</strong> sie vom Palast wegzubringen. Das wäre doch schön gewesen für die<br />

<strong>Tamar</strong>. Aber der Abschalom ist viel zu scharf auf den Thron. Er ist also sehr<br />

besorgt um seine Ansprüche. Im Gr<strong>und</strong>e genommen nehme ich es also<br />

dem David, er möge mir verzeihen, doch sehr übel, dass er in seinem Haus<br />

solche Zustände hat möglich werden lassen. Natürlich wird er mir<br />

antworten, dass damals dauernd Kriege geherrscht haben, dass es<br />

dauernd Überfälle gegeben hat usw. Er hatte es ja in der Tat mit vielen<br />

fremden Völkern zu tun, die dauernd irgendwo rebelliert oder einen Krieg<br />

angezettelt haben. Da gab es die Ammoniter, die Moabiter, die Philister<br />

usw. Dagegen hat es ja so jemand wie unser heutiger B<strong>und</strong>eskanzler<br />

geradezu leicht. Was aber der David damals alles durchmachen musste! Er<br />

sagt ja auch einmal, "Ich kann doch nicht eure Amme spielen", als er von


den diversen Streitereien am Hof erfährt. Aber trotzdem hat er meiner<br />

Meinung nach Schuld, weil er eben seine Nachfolge nicht klärt <strong>und</strong> damit<br />

am Hof keine Ordnung herrscht.<br />

Flemmer: Man muss sich das so vorstellen, dass die Söhne an diesem Hof wohl ihre<br />

eigenen Wohnräume hatten. Abschalom n<strong>im</strong>mt dann also die <strong>Tamar</strong> in<br />

seinen Haushalt auf.<br />

<strong>Lapide</strong>: Was soll er denn sonst mit ihr machen? Sie ist ja gebrandmarkt.<br />

Flemmer: Man hätte sie vielleicht zur ihrer Mutter zurückbringen können.<br />

<strong>Lapide</strong>: Das wäre ja noch schl<strong>im</strong>mer. Da würden die Leute dort doch sagen: "Was?<br />

Die Prinzessin kommt zurück, weil da in Jerusalem so schreckliche Sachen<br />

passiert sein sollen?" Sie kennen doch die Menschen <strong>im</strong> Orient, da werden<br />

solche Geschichten <strong>im</strong>mer weiter <strong>und</strong> weiter aufgebläht. Nein, das ist<br />

unmöglich, vor allem deshalb, weil man ja bedenken muss, dass wir es hier<br />

mit dem Königreich Geschur jenseits des Jordans zu tun haben.<br />

Flemmer: Das Schl<strong>im</strong>me ist ja, dass die <strong>Tamar</strong> damit keine Chance mehr hat. Sie<br />

kann sich nur mehr <strong>im</strong> Haus ihres Bruders verkriechen.<br />

<strong>Lapide</strong>: Das tut sie dann ja auch. Sie ist wirklich ein armer Teufel.<br />

Flemmer: Sie ist damit eigentlich auf Lebenszeit geächtet <strong>und</strong> sie hat auch bei den<br />

Männern keine Chance mehr, aufgr<strong>und</strong> dieser Situation. Das ist allerdings<br />

eine Situation, die wir bis heute in manchen Gesellschaften antreffen.<br />

<strong>Lapide</strong>: Das wollte ich gerade ansprechen. Das ist wirklich heute noch so. Man<br />

spricht über solche Dinge nicht. Aber fragen Sie doch mal in den Basaren<br />

des Orients nach, was geschieht, wenn eine Bürgertochter so etwas<br />

erleben muss. Da ist für diese arme Frau nichts mehr zu machen. Es sei<br />

denn, ihr Vater wäre steinreich.<br />

Flemmer: Da heißt es dann wohl, dass eine vergewaltigte Frau selbst schuld sei: Sie<br />

hätte das eben nicht geschehen lassen dürfen. Damit wird sie aber aus der<br />

Gesellschaft ausgeschlossen.<br />

<strong>Lapide</strong>: Man sagt, dass der Täter unschuldig sei, weil ihn die Frau mit ihren kurzen<br />

Kleidern usw. angemacht hätte. Wie gesagt, anders ist das nur, wenn der<br />

Vater sehr, sehr reich ist <strong>und</strong> das ganze Geschehen mit Geld zudecken<br />

kann.<br />

Flemmer: Es gibt ja das Beispiel, dass eine vergewaltigte Frau letztlich sogar noch<br />

gesteinigt wird.<br />

<strong>Lapide</strong>: Sicher, das ist das Problem.<br />

Flemmer: Das heißt, wir finden hier in der Bibel eben letztlich doch auch ein Beispiel<br />

für eine gewisse Unterdrückung der Frau damals.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, das ist bis auf den heutigen Tag doch der Fall. Ich sage mir <strong>im</strong>mer, dass<br />

wir alle Kinder Gottes sind, dass wir alle von Gott geschaffen sind. Es ist<br />

wirklich so angelegt, dass Adam <strong>und</strong> Eva die Würde des Menschen von<br />

Gott erhalten haben: Beide haben die Menschenwürde bekommen!<br />

Sicherlich gibt es in der Bibel viele, viele großartige Frauen, über die wir ja<br />

auch schon gesprochen haben. Trotzdem gibt es auch dort diese furchtbare<br />

Hackordnung. Wenn es hart auf hart geht, dann ist der Mann eben stärker,<br />

Würde hin, Würde her. Und es ist doch heute noch so!<br />

Flemmer: In der vorliegenden Geschichte ist es jedenfalls so, dass der Abschalom<br />

Rache schwört: "Das zahle ich ihm he<strong>im</strong>! Wir werden ihn auf die Seite<br />

räumen." Das ist doch wohl sein Entschluss.<br />

<strong>Lapide</strong>: Wobei hier aber eindeutig beide Sachen mitspielen. Es geht erstens um die<br />

Würde seiner Schwester. Und <strong>im</strong> Orient ist es doch heute noch so: Wenn<br />

der eigenen Schwester etwas geschieht, dann muss der Bruder oder dann


müssen die Brüder eingreifen.<br />

Flemmer: Der Bruder muss die Schwester rächen, er muss für sie eintreten.<br />

<strong>Lapide</strong>: Bis in den ganz fernen Osten gilt doch bis heute diese Schwesternehre.<br />

Aber das ist nur ein Motiv bei Abschalom, denn hier spielen schon auch<br />

seine eigenen Interessen eine Rolle. Abschalom hat ganz klar das Gefühl,<br />

dass <strong>Amnon</strong> größere Chancen hat, das Erbe anzutreten.<br />

Flemmer: Hier sieht er aber nun seine Chance: Er hat damit einen Gr<strong>und</strong>, gegen<br />

<strong>Amnon</strong> vorzugehen.<br />

<strong>Lapide</strong>: Erstens das <strong>und</strong> zweitens hegt er da mit Recht noch einen ganz anderen<br />

Verdacht. Denn es spricht ja einiges dafür, dass <strong>Amnon</strong> mit dieser ganzen<br />

Geschichte eigentlich Abschalom treffen wollte. Die kleine <strong>Tamar</strong> war hier<br />

nur ein Instrument in dieser schrecklichen Geschichte. Aber der Abschalom<br />

ist hier doch recht raffiniert: Er ist jung genug <strong>und</strong> sagt sich daher, dass er<br />

zunächst einmal ein bisschen Gras über die Sache wachsen lassen will.<br />

Flemmer: Er wartet also ab. Was macht er dann?<br />

<strong>Lapide</strong>: Seine Schwester bleibt bei ihm. Sie tut mir <strong>im</strong>mer wieder Leid, wenn ich das<br />

lese: Sie ist gebrandmarkt <strong>und</strong> darf die Kleidung der Prinzessinnen nicht<br />

mehr tragen. Dieses schöne Kleid heißt auf Hebräisch übrigens "chetonet<br />

ha pass<strong>im</strong>", das ist das gleiche Wort für "Gewand", das schon bei der<br />

Geschichte um Josef erwähnt wurde. Jakob, sein Vater, hatte ihm doch, um<br />

ihn als seinen Lieblingssohn zu kennzeichnen, ein besonderes Gewand<br />

geschenkt. Dieses Gewand ist damals dem Josef aber bekanntlich auch<br />

schlecht bekommen. Die <strong>Tamar</strong> darf jedenfalls dieses Gewand nicht mehr<br />

tragen. Was das für eine junge Frau bedeutet, kann man sich doch<br />

vorstellen.<br />

Flemmer: Sie muss sozusagen in Sack <strong>und</strong> Asche gehen.<br />

<strong>Lapide</strong>: Sie lebt also bei ihrem Bruder. Gut, es geht ihr natürlich nicht insofern<br />

schlecht, als sie hungern müsste. Nein, sie darbt nicht, aber der Status, den<br />

sie jetzt einn<strong>im</strong>mt, ist für eine Frau natürlich grausig. Und nun vergehen also<br />

zwei Jahre. David seinerseits untern<strong>im</strong>mt nichts, um Ordnung an seinem<br />

Hof zu schaffen. Es kommen stattdessen noch mehr Frauen samt ihren<br />

Kindern hinzu. Inzwischen ist er freilich kein Freibeuter mehr. Nachdem er<br />

sieben Jahre in Hebron gewesen war, ist er nun in Jerusalem. Insgesamt<br />

hat er ja 40 Jahre regiert. Dort in Jerusalem wird der Hof nun groß <strong>und</strong><br />

interessant. Es kommen andauernd fremde Delegationen <strong>und</strong> die ganze<br />

Sache wird <strong>im</strong>mer schöner, interessanter <strong>und</strong> verführerischer. Nach zwei<br />

Jahren sagt also der Abschalom, dass nun eine Entscheidung über die<br />

Nachfolgefrage fallen müsse. Ich glaube, es geht ihm gar nicht so sehr um<br />

seine kleine Schwester. Er macht dann etwas, das <strong>im</strong> Orient bis zum<br />

heutigen Tag sehr üblich ist: Er macht ein Schafschurfest. Das ist schon<br />

etwas Großartiges. Ich kann mir vorstellen, dass das <strong>im</strong> Allgäu oder an der<br />

Nordsee, wo es ja auch viele Schafe gibt, <strong>im</strong>mer noch ein schönes Fest ist.<br />

Flemmer: Das ist jedenfalls ein Anlass, um zu feiern. Man hat die Schafe geschoren<br />

<strong>und</strong> die Wolle daraus gewonnen. Diese Wolle stellt ja auch den Reichtum<br />

der Leute dar. Aus dem Gr<strong>und</strong> macht man also ein Riesenfest.<br />

<strong>Lapide</strong>: Genau, das ist doch schön. Auf so ein Fest sollten wir mal gehen. Wenn die<br />

Schafe alle ges<strong>und</strong> sind, wenn sie kein BSE haben usw., dann gibt das<br />

schon einen Gr<strong>und</strong> zu feiern, wenn sie geschoren worden sind. Bei so<br />

einem Fest gibt es natürlich auch etwas zu trinken.<br />

Flemmer: Abschalom sagt also, dass er ein großes Fest veranstalten will. Aus diesem<br />

Gr<strong>und</strong> geht er zum König <strong>und</strong> sagt wohl so ungefähr zu ihm:<br />

<strong>Lapide</strong>: "Ich bin doch sozusagen der Zweit-Erstgeborene. Ich möchte meine<br />

Geschwister an diesem schönen Fest teilhaben lassen."


Flemmer: Und deswegen will er sie alle einladen.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, alle sind eingeladen. Und dann bittet er den König, doch auch zu<br />

kommen. David sagt daraufhin jedoch in etwa: "Ach, das ist ja alles sehr<br />

schön, aber du solltest das nicht ganz so groß aufziehen. Ich komme<br />

best<strong>im</strong>mt nicht." Möglicherweise war David ja auch tatsächlich selbst in<br />

dieser Phase seiner Herrschaft noch so bescheiden. Ich darf das anhand<br />

der Psalmen <strong>im</strong>merhin so annehmen. Andererseits spielt da<br />

möglicherweise ein Kalkül eine Rolle, über das man hinsichtlich des<br />

englischen Königshauses in jeder Illustrierten lesen kann: Die Königsfamilie<br />

verreist nie gemeinsam in einem einzigen Flugzeug! Man reist also <strong>im</strong>mer<br />

getrennt.<br />

Flemmer: David sagt also damit: "Es ist schon gefährlich genug, wenn er da alle seine<br />

Brüder einlädt, da muss ich nicht auch noch hingehen!"<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, er rät ihm also, das Ganze auf Sparflamme zu machen <strong>und</strong> sich nur<br />

einige seiner Geschwister auszusuchen. Er sagt ihm jedenfalls ganz<br />

deutlich, dass er nicht alle, nicht alle Brüder auf einmal einladen soll. Das ist<br />

so wie heute: Nicht alle aus der Königsfamilie tauchen gemeinsam auf<br />

einem Fest auf. Aber Abschalom verfolgt natürlich seinen eigenen Plan: Er<br />

verzichtet darauf, den König einzuladen, aber alle seine Brüder werden<br />

eingeladen. Dort auf dem Fest gibt es herrliches Essen <strong>und</strong> vor allem viel<br />

Alkohol. Dort gibt es sogar schon ein Getränk – das wird einige hier in<br />

Bayern vielleicht speziell interessieren –, das eine gewisse Bier-Ähnlichkeit<br />

haben könnte. Der Wein hingegen war natürlich schon lange bekannt, den<br />

gibt es bekanntlicherweise schon seit Noah.<br />

Flemmer: Es gibt also ein Riesenfest. Noch in der Vorbereitung auf dieses Fest sagt<br />

Abschalom zu seinen Dienern, dass er sie nun bräuchte. Was sagt er da<br />

genau zu ihnen?<br />

<strong>Lapide</strong>: Er sagt zu ihnen: "Bewirtet mir bitte den <strong>Amnon</strong> ganz besonders luxuriös<br />

<strong>und</strong> zuvorkommend. Gebt ihm viel zu trinken <strong>und</strong> lasst es an nichts fehlen.<br />

Wenn es gute Sachen gibt, dann gebt sie vor allem dem <strong>Amnon</strong>. Aber<br />

behaltet ihn auch ein bisschen <strong>im</strong> Auge." Es kommt dann, wie es kommen<br />

muss, <strong>Amnon</strong> wird betrunken.<br />

Flemmer: "Wenn er dann richtig betrunken ist, dann tötet ihn!" Das war der Auftrag<br />

von Abschalom an seine Diener. Er liefert dafür auch noch eine<br />

Begründung.<br />

<strong>Lapide</strong>: Apropos, die <strong>Tamar</strong> ist auf diesem Fest auch mit dabei. Nun, wir haben es<br />

vorhin ja schon angesprochen: Dieser Mord an <strong>Amnon</strong> ist gewissermaßen<br />

ihre Ehrenrettung.<br />

Flemmer: Die <strong>Vergewaltigung</strong> ist damit gesühnt.<br />

<strong>Lapide</strong>: Es ist dort zwar nicht mehr die Rede von ihr, aber ich könnte mir doch<br />

vorstellen, dass sie von diesem Moment an wieder in der Gesellschaft<br />

verkehren kann. Die Sache ist nämlich erledigt, die Rechnung beglichen.<br />

Abschalom lässt also <strong>Amnon</strong> umbringen.<br />

Flemmer: <strong>Amnon</strong> wird umgebracht <strong>und</strong> damit ist seine Geschichte zu Ende. Aber<br />

insgesamt geht die Geschichte weiter, vor allem natürlich in der Reaktion<br />

des Königs darauf.<br />

<strong>Lapide</strong>: Diese Geschichte ist selbstverständlich nicht zu Ende. Wir sagten ja schon,<br />

dass es hier um Gewalt, Liebe bzw. Sex <strong>und</strong> um <strong>Politik</strong> geht. Die politische<br />

Frage, die dahinter steht, ist ja nicht gelöst. David äußert sich nämlich<br />

<strong>im</strong>mer noch nicht, wer sein Nachfolger werden soll. Es geht also <strong>im</strong>mer<br />

noch um die Frage, was nun geschehen wird.<br />

Flemmer: David war also nicht auf dieses Fest gegangen <strong>und</strong> sitzt in seinem Haus,<br />

wo ihn eine Botschaft erreicht.


<strong>Lapide</strong>: Oh ja, schrecklich, diese Sache mit den Botschaftern. Wenn so ein<br />

Botschafter angehetzt kommt, dann werden natürlich sofort ganz<br />

schreckliche Gedanken wach. Das ist ja auch <strong>im</strong> alten Griechenland nicht<br />

anders gewesen, wenn so ein Botschafter angerannt kam. Es kommen also<br />

Botschafter bei David an <strong>und</strong> an ihrem Tempo kann man schon ablesen,<br />

dass es um etwas Schreckliches geht. Bei den Botschaftern geht es ja auch<br />

<strong>im</strong>mer darum, wer als Erster die Nachricht übermittelt: Es ist freilich<br />

keineswegs verbürgt, ob st<strong>im</strong>mt, was sie sagen.<br />

Flemmer: Die ganze Sache wird also oft aufgebauscht.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, je mehr Kilometer eine Nachricht zurückgelegt hat, umso verfälschter ist<br />

sie meistens. Das ist heute oft nicht anders. Häufig genug ergeht es dem<br />

Überbringer der Nachricht freilich auch schlecht: Der Potentat kühlt<br />

zunächst einmal an demjenigen sein Mütchen, der ihm eine Nachricht<br />

gebracht hat, die ihm nicht gefällt. Es ist also so, dass der erste Kurier oder<br />

Nachrichtenüberbringer ankommt bei David: Der Staub wirbelt nur so auf,<br />

so schnell ist er unterwegs. Alle wissen, da muss etwas Schl<strong>im</strong>mes passiert<br />

sein. Dieser Mann sagt jedenfalls zu David: "Abschalom hat sämtliche<br />

Königskinder umgebracht!" Es folgt dann das, was heute auch oft der Fall<br />

ist: Man muss auf weitere Details <strong>und</strong> Bestätigungen erst noch warten. Es<br />

kommt aber so schnell keine zweite Nachricht. David geht die ganze Sache<br />

nun aber doch unter die Haut: Er fängt wirklich an anzunehmen, dass alle<br />

seine Kinder umgebracht worden sind, die Abschalom zu seinem Gelage<br />

eingeladen hatte. Er traut das dem Abschalom jedenfalls zu. Den <strong>Amnon</strong>,<br />

den Thronanwärter, hingegen muss er scheinbar <strong>im</strong>mer noch recht gerne<br />

gehabt haben, denn David n<strong>im</strong>mt ihm seine Tat gegen die <strong>Tamar</strong> <strong>im</strong>mer<br />

noch nicht übel, indem er dem Abschalom quasi einen Massenmord<br />

zutraut. Es dauert dann eine ganze Weile, bis ein weiterer<br />

Nachrichtenüberbringer ankommt <strong>und</strong> dem David berichtet, dass er sich<br />

beruhigen kann, es ist nur <strong>Amnon</strong> ermordet worden.<br />

Flemmer: Es kommt dann ein meiner Meinung nach sehr wichtiger Satz, nämlich der<br />

Satz "<strong>und</strong> König David weinte". König David zeigt hier also eine ganz starke<br />

Emotion. Für die Bibel ist diese Emotionalität allerdings allgemein etwas<br />

sehr Charakteristisches, denn auch in anderen Geschichten kommt das ja<br />

<strong>im</strong>mer wieder vor. In anderen Legenden, die die Menschheit kennt, sind die<br />

Herrscher hingegen meist völlig emotionslos: Es kommt dort nie vor, dass<br />

ein König weint. Das heißt, die Bibel zeigt uns diesen König David auch in<br />

seiner ganzen menschlichen Schwäche. In dieser Situation überwältigt ihn<br />

jedenfalls der Verlust seines Erstgeborenen <strong>und</strong> er weint. Es heißt an dieser<br />

Stelle, dass auch die anderen Königssöhne mit ihm um <strong>Amnon</strong> geweint<br />

hätten. Das ist eine Formulierung, die man sonst bei der Beschreibung von<br />

Herrschergeschichten so nirgends finden kann.<br />

<strong>Lapide</strong>: Das finde ich auch. Ich habe das be<strong>im</strong> Lesen der Geschichte um David<br />

<strong>im</strong>mer wieder gemerkt. Normalerweise wird er ja als steinern, als hart, als<br />

jemand geschildert, der auch über Leichen geht. Trotzdem wird in der Bibel<br />

gezeigt, dass er erstens auch liebesfähig ist <strong>und</strong> zweitens auch seinen Gott<br />

liebt. Drittens, <strong>und</strong> das zeigt uns hier dieser Fall, liebt er seine Kinder.<br />

Meiner Meinung nach kommt das allerdings schon ein bisschen arg spät<br />

zum Tragen. Dieser Zug der Liebe gegenüber seinen eigenen Kindern<br />

kommt von da an <strong>im</strong>mer wieder durch bei ihm. Besonders <strong>im</strong> Hinblick auf<br />

Abschalom gilt das.<br />

Flemmer: Die Verfasser dieser Geschichten, die Schreiber der Bibel, scheinen also<br />

keine Heroengeschichten konzipiert zu haben. Sie haben auch keine<br />

Propagandageschichten geschrieben. Stattdessen stellen sie ganz einfach<br />

menschliche Situationen dar. Auch dies unterscheidet ja die Bibel von allen<br />

anderen Dokumenten der Menschheitsgeschichte.<br />

<strong>Lapide</strong>: Dies sehe ich auch so. Das gilt für die Bibel wirklich von Anfang an. Ich sehe


diesen Unterschied vor allem gegenüber der griechischen Tradition ganz<br />

genauso. Bei den Griechen residiert Zeus mit seinen Frauen <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel,<br />

während dort unten auf der Erde nur ein paar so Würmer herumkrebsen,<br />

nämlich diese kleinen Menschlein, die die Arbeit zu leisten haben. Zeus hat<br />

dann auch noch gelegentlich ein paar Techtelmechtel mit den schönsten<br />

Menschentöchtern: verkleidet als Schwan oder meinetwegen als Stier <strong>und</strong><br />

dabei die Europa entführend. Das Neue an der Genesis hingegen ist diese<br />

Menschenwürde, ist die Gottebenbildlichkeit von uns Menschen, was <strong>im</strong>mer<br />

das auch genau bedeutet. Wir dürfen jedenfalls laut Genesis in diese<br />

Gottebenbildlichkeit hineinwachsen, wenn wir denn nur wollen. Diese<br />

schlichte Nachricht ist das Neue an der Genesis: Die Würde des Menschen<br />

ist unantastbar! Wenn ich mir das schöne Gr<strong>und</strong>gesetz anschaue, dann<br />

sehe ich <strong>im</strong>mer wieder diese Ähnlichkeit mit der Bibel.<br />

Flemmer: Es wird in der Bibel vom Scheitern berichtet ebenso wie vom Leid <strong>und</strong> von<br />

der Liebe. Das geht eben dann auch so weit, dass ein König tatsächlich<br />

weint.<br />

<strong>Lapide</strong>: Vor allem wird beschrieben, dass wir Menschen <strong>im</strong>mer Kinder Gottes<br />

bleiben. Ganz wichtig ist dabei auch <strong>und</strong> vor allem Folgendes. Diese<br />

ganzen Geschichten werden uns deshalb so genau beschrieben, weil diese<br />

Menschen ja etwas ganz Best<strong>im</strong>mtes zu jeder Zeit hätten machen können:<br />

Sie hätten nämlich Umkehren können. Die Metanoia, die Umkehr, ist<br />

jederzeit möglich.<br />

Flemmer: Aber auch dem König kann all das zustoßen, was einem einfachen<br />

Menschen zustoßen kann: Er ist nicht ausgenommen von diesen<br />

Erfahrungen, er ist nicht abgehoben, er ist nicht sakrosankt.<br />

<strong>Lapide</strong>: Wo gibt es denn das sonst in der europäischen Herrschergeschichte?<br />

David hat trotz allem seine Kinder lieb! Trotz dieser schrecklichen<br />

Geschichten. Bei Abschalom ist es ja schl<strong>im</strong>m genug, was er anstellt.<br />

Später macht er dann sogar noch viel schrecklichere Sachen. Aber David<br />

sagt auch dann noch zu seinem General Joab: "Pass mir auf das Kind<br />

Abschalom auf!" Abschalom bleibt für David also selbst dann noch "das<br />

Kind", sein Kind.<br />

Flemmer: Nach dem Mord an <strong>Amnon</strong> muss Abschalom aber den Hof verlassen, das<br />

ist klar. Denn David ist über seine Tat auf alle Fälle empört.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, erstens ist David empört. Aber es ist auch so, dass an diesen<br />

orientalischen Höfen <strong>im</strong>mer viele verschiedene Kräfte vorhanden sind, die<br />

gegeneinander auftreten. Ich nehme an, dass er sich einfach als gefährdet<br />

gesehen hat: Der "Süße" fühlte sich wohl mit Recht gefährdet. Und er hat es<br />

in gewisser Hinsicht viel leichter als alle anderen, denn der verstorbene<br />

<strong>Amnon</strong> <strong>und</strong> alle anderen Königssöhne kommen ja aus bescheideneren<br />

Verhältnissen als er. Er ist ein Königssohn <strong>und</strong> geht ganz einfach wieder<br />

zurück zur Familie nach Geschur. Das ist natürlich recht bequem. Dort lebt<br />

er dann eine lange Zeit, während der er sich allerdings nach Hause sehnt.<br />

Flemmer: David erfährt in der ganzen Zeit ebenfalls eine Veränderung. Das heißt, die<br />

Zeit heilt W<strong>und</strong>en, wie man hier sagen muss. Die Bibel sagt uns an dieser<br />

Stelle jedenfalls, dass sich David mit der Zeit von all diesem Leid <strong>und</strong> von<br />

der Trauer um <strong>Amnon</strong> löst.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, einerseits. Andererseits wird er aber auch älter. Es muss nämlich auch<br />

seiner Ansicht nach etwas geschehen am Hof. Denn die anderen Söhne,<br />

die nachwachsen, drängen ebenfalls nach vorne. Das Durcheinander mit<br />

der Thronfolge wird also langsam gefährlich. Die ganzen Leute um David<br />

herum betrachten das alles mit Sorge: seine Weichheit gegenüber dem<br />

Sohn Abschalom, der ihm fehlt, <strong>und</strong> das Nachdrängen der anderen Söhne.<br />

Joab, der Hauptberater von David, ist ein sehr kluger Mann. Er ist der Sohn<br />

der Zeruja, der Schwester Davids. Wenn ich von der Frau in der Bibel


spreche, führe ich <strong>im</strong>mer gerne diese Zeruja als Beispiel an. Es gibt hier<br />

nämlich eine Schwester Davids mit drei w<strong>und</strong>ervollen Söhnen, die alle in<br />

Davids Diensten stehen. Sie sind großartige Männer, die<br />

zugegebenermaßen auch der Gewalt nicht abhold sind. Interessant ist<br />

dabei jedoch, dass deren Vater nie erwähnt wird: mit keiner Silbe! Es gibt<br />

also in der Bibel einige solcher Geschichten, in denen nur die Frau wichtig<br />

ist <strong>und</strong> der Mann noch nicht einmal mit Namen erwähnt wird. Zerujas Mann<br />

ist jedenfalls nicht wichtig. Joab sieht also, was sich da abspielt, weil er wie<br />

meistens an Davids Seite ist, <strong>und</strong> greift dann ein. David ist freilich zunächst<br />

einmal sehr hartnäckig <strong>und</strong> eigensinnig.<br />

Flemmer: David lässt also den Abschalom zurückkommen.<br />

<strong>Lapide</strong>: Ja, aber auf eine sehr dramatische Art. Die Bibel spricht hier wörtlich davon,<br />

dass Abschalom drei Jahre bei seinem Großvater in Geschur ist. Wer weiß,<br />

wie lange das tatsächlich gedauert hat. Seine Mutter Maacha ist dort sehr<br />

beliebt <strong>und</strong> Abschalom bekommt später eine Tochter, die er nach seiner<br />

Mutter ebenfalls Maacha nennt. Diese junge Frau spielt später noch eine<br />

gewisse Rolle, denn sie wird dann in der Nachfolge von Rehabeam Königin<br />

von Juda. Obwohl also Abschalom nicht zum Thronfolger wird, bekommt<br />

seine Linie mittels seiner Tochter doch noch eine Königin. Es gibt zum<br />

Schluss also doch einen Frieden zwischen all diesen Kräften, die da <strong>im</strong><br />

Königshaus aufeinander prallen. Aber, ich kann das hier nur ganz leise<br />

vorwegnehmen, denn das gehört schon nicht mehr zum Thema "<strong>Amnon</strong>"<br />

hinzu, <strong>im</strong> weiteren Verlauf spielt hier ebenfalls eine kluge Frau eine ganz<br />

wichtige Rolle.<br />

Flemmer: Ja, ich bedanke mich bei Ihnen, dass Sie uns deutlich gemacht haben, dass<br />

es zur Zeit Davids genauso lebendig wie in unserer Gegenwart zuging,<br />

dass die Geschichten, die die Bibel erzählt, lebendige <strong>und</strong> menschennahe<br />

Geschichten sind. Ihnen, liebe Zuschauerinnen <strong>und</strong> Zuschauer, herzlichen<br />

Dank fürs Zuschauen.<br />

© Bayerischer R<strong>und</strong>funk

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