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Georg Goldenberg<br />
Apraxien<br />
Fortschritte der Neuropsychologie
Apraxien
Fortschritte der Neuropsychologie<br />
Band 10<br />
Apraxien<br />
von Prof. Dr. Georg Goldenberg<br />
Herausgeber der Reihe:<br />
Dr. Angelika Thöne-Otto, Prof. Dr. Herta Flor,<br />
Prof. Dr. Siegfried Gauggel, Prof. Dr. Stefan Lautenbacher,<br />
Dr. Hendrik Niemann
Apraxien<br />
von Georg Goldenberg<br />
GöttinGen · Bern · Wien · Paris · OxfOrd · PraG · tOrOntO<br />
CamBridGe, ma · amsterdam · KOPenhaGen · stOCKhOlm
Prof. Dr. Georg Goldenberg, geb. 1949. 1969–1975 Studium der Medizin in Wien. 1987 Habilitation<br />
über „Neurologische Grundlagen bildlicher Vorstellungen“. 1992–1995 erster Oberarzt<br />
der zweiten neurologischen Abteilung des neurologischen Krankenhauses Rosenhügel, Wien.<br />
Seit 1995 Chefarzt der Klinik für Neuropsychologie am Klinikum Bogenhausen. 1996 Ernennung<br />
zum außerplanmäßigen Professor an der TU München für das Fachgebiet Neurologie.<br />
Forschungsschwerpunkt: Apraxien.<br />
Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen<br />
(Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern große<br />
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die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />
Umschlagbild: © Bildagentur Mauritius GmbH<br />
Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar<br />
Druck: Hubert & Co, Göttingen<br />
Printed in Germany<br />
Auf säurefreiem Papier gedruckt<br />
ISBN 978-3-8017-2265-4
Inhaltsverzeichnis<br />
1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />
1.1 Historische Wurzeln der Apraxieforschung . . . . . . . . . . . 2<br />
1.2 Ein Strom der Handlungskontrolle von posterior<br />
nach anterior . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />
1.3 Ideatorische und ideomotorische Apraxie . . . . . . . . . . . . 7<br />
1.4 Kritik des „Praxis-Systems“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />
2 Imitieren von Gesten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
2.1 Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
2.1.1 Varianten des Imitierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />
2.1.1.1 Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />
2.1.1.2 Körperteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
2.1.1.3 Sequenzialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />
2.1.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />
2.1.2.1 Imitieren und Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />
2.1.2.2 Imitieren bei Alzheimer-Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />
2.1.2.3 Mund- und Gesichtsapraxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />
2.1.3 Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
2.2 Ätiologie und Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
2.2.1 Intrahemisphärische Lokalisation: Gliedmaßenapraxie . . 15<br />
2.2.2 Intrahemisphärische Lokalisation: Mund- und<br />
Gesichtsapraxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />
2.3 Neuropsychologische und neurobiologische<br />
Störungstheorien und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />
2.3.1 Gestörte Umsetzung der richtig konzipierten Geste in<br />
motorische Programme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />
2.3.2 Unterbrechung einer direkten Route von der visuellen<br />
Wahrnehmung zur motorischen Replikation<br />
von Aktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />
2.3.3 Gestörte Körperteilkodierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />
2.4 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />
2.4.1 Diagnostische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />
2.4.1.1 Links- und rechtshirnige umschriebene Läsionen,<br />
Aphasie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />
2.4.1.2 Frontale und diffuse Läsionen, Demenzen . . . . . . . . . . . 26<br />
2.4.1.3 Mund- und Gesichtsapraxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />
2.4.2 Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />
2.5 Alltagsrelevanz und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28<br />
V
3 Kommunikative Gesten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29<br />
3.1 Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29<br />
3.1.1 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />
3.1.2 Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />
3.2 Ätiologie und Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />
3.2.1 Intrahemisphärische Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />
3.2.2 Lateralität der Läsionen bei Linkshändern . . . . . . . . . . . 35<br />
3.3 Neuropsychologische und neurobiologische<br />
Störungstheorien und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36<br />
3.3.1 Asymbolie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36<br />
3.3.2 Verlust von Bewegungsformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37<br />
3.3.3 Pantomime als kommunikative Geste . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />
3.4 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />
3.4.1 Orientierende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />
3.4.2 Quantifizierung der Pantomimeprüfung . . . . . . . . . . . . . 41<br />
3.4.3 Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />
3.5 Alltagsrelevanz und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />
3.5.1 Gestentraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />
3.5.2 Generalisierung von Therapieerfolgen . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />
3.5.2.1 Generalisierung auf ungeübte Gesten . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />
3.5.2.2 Generalisierung auf alltägliche Kommunikation . . . . . . . 45<br />
4 Werkzeug und Objektgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />
4.1 Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />
4.1.1 Varianten des Werkzeug- und Objektgebrauchs . . . . . . . 46<br />
4.1.1.1 Routinehandlungen und mechanisches Problemlösen . . . 46<br />
4.1.1.2 Mechanische Werkzeuge und technische Geräte . . . . . . . 48<br />
4.1.1.3 Einzelne Handlungen und mehrschrittige<br />
Handlungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50<br />
4.1.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />
4.1.3 Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52<br />
4.2 Ätiologie und Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52<br />
4.2.1 Intrahemisphärische Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />
4.3 Neuropsychologische und neurobiologische<br />
Störungstheorien und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />
4.3.1 Gespeichertes Wissen und mechanisches<br />
Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />
4.3.2 Ursachen des Versagens bei mehrschrittigen<br />
Handlungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56<br />
4.4 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />
4.4.1 Gebrauch einzelner Werkzeuge und Objekte . . . . . . . . . . 57<br />
4.4.2 Mehrschrittige Handlungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />
4.5 Alltagsrelevanz und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60<br />
4.5.1 Therapie von Aktivitäten des täglichen Lebens . . . . . . . . 60<br />
VI
4.5.1.1 Therapeutische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60<br />
4.5.1.2 Generalisierung von Therapieerfolgen . . . . . . . . . . . . . . . 61<br />
5 Balkenapraxie und willensfremde<br />
motorische Aktionen einer Hand . . . . . . . . . . . . . . 62<br />
5.1 Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62<br />
5.1.1 Folgen der Durchtrennung des Corpus callosum . . . . . . . 63<br />
5.1.1.1 Sensomotorische Diskonnektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63<br />
5.1.1.2 Verbal-motorische und taktil-verbale Diskonnektion . . . 63<br />
5.1.1.3 Alexie der linken Gesichtsfeldhälfte . . . . . . . . . . . . . . . . 64<br />
5.1.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64<br />
5.1.3 Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />
5.2 Ätiologie und Lokalisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />
5.3 Neuropsychologische und neurobiologische<br />
Störungstheorien und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66<br />
5.4 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67<br />
5.4.1 Willensfremde Handlungen einer Hand . . . . . . . . . . . . . . 67<br />
5.4.1.1 Zwangsgreifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />
5.4.1.2 Motorische Vernachlässigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />
5.4.1.3 Kinästhetische Ataxie („parietale Hand“) . . . . . . . . . . . . 70<br />
5.5 Alltagsrelevanz und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70<br />
6 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71<br />
7 Anhang<br />
Untersuchungsbogen für die Prüfung von Handstellungen<br />
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83<br />
Untersuchungsbogen für die Prüfung von<br />
Fingerstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84<br />
Untersuchungsbogen für die Prüfung von<br />
kombinierten Hand- und Fingerstellungen. . . . . . . . . . . . 85<br />
Untersuchungsbogen für die Prüfung von Fußstellungen<br />
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86<br />
Untersuchungsbogen für Pantomime des Objektgebrauchs<br />
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87<br />
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />
VII
1 Einführung<br />
Eine weit verbreitete Definition der Apraxien beschreibt sie als „disorder of<br />
skilled movement not caused by weakness, akinesia, deafferentation, abnormal<br />
tone or posture, movement disorders (such as tremors or chorea), intellectual<br />
deterioration, poor comprehension, or uncooperativeness“ (Heilman<br />
& Rothi, 1993). Im Kern besagt diese Aufzählung von Ausschlussdiagnosen,<br />
dass Apraxien weder rein motorische noch rein kognitive Störungen sind.<br />
Sie betreffen die Grenze zwischen Kognition und Motorik. Auch mit dieser<br />
Klarstellung lässt die Definition Raum für viele Auslegungen und tatsächlich<br />
Tabelle 1:<br />
Störungen, die als Apraxien bezeichnet wurden, aber nicht die Kriterien des Kernbegriffs<br />
der Apraxie erfüllen<br />
Gliedkinetische Apraxie<br />
(Liepmann, 1908)<br />
Unimodale Apraxie<br />
(Freund, 1987)<br />
Magnetische Apraxie<br />
(Denny Brown, 1958)<br />
Gangapraxie<br />
(Gerstmann & Schilder,<br />
1926)<br />
Axiale Apraxie<br />
(Lakke, 1985)<br />
Konstruktive Apraxie<br />
(Kleist, 1934)<br />
Ankleideapraxie<br />
(Hécaen &<br />
De Ajuriaguerra, 1945)<br />
Ungeschickte und schlecht gezielte Bewegungen der zur<br />
Läsion kontralateralen Extremität bei normaler grober Kraft.<br />
Ursache sind fehlende bzw. fehlverarbeitete kinästhetische<br />
Afferenzen als Folge von subkortikalen oder postzentralen<br />
Läsionen.<br />
Fehlerhafte Zielbewegungen in Abhängigkeit von der Modalität,<br />
in der das Ziel wahrgenommen wird. Am besten untersucht<br />
sind fehlerhafte visuell gelenkte Zielbewegungen. Für<br />
sie ist allerdings der Ausdruck optische (oder visuomotorische)<br />
Ataxie gebräuchlicher (Karnath & Perenin, 2005). Bei<br />
einseitigen Läsionen kann sie auf die kontralaterale Hand<br />
oder auf Bewegungen im kontralateralen visuellen Halbfeld<br />
beschränkt sein. Beidseitige optische Ataxie ist Teil des Balint<br />
Syndroms.<br />
Greifschablone der Hand bei kontralateralen frontalen Läsionen.<br />
Gangstörung von Patienten mit ausgedehnten bilateralen<br />
frontalen Läsionen oder kommunizierenden Hydrocephalus.<br />
Die Patienten „kleben“ am Boden, gehen kleinschrittig und<br />
mit Rücklage.<br />
Fehlen automatisierter Rumpfdrehungen zur Lageverbesserung<br />
im Liegen bei Parkinsonpatienten.<br />
Störungen des Abzeichnens und dreidimensionaler Konstruktionen.<br />
Gebräuchlicher und weniger missverständlich ist der<br />
Ausdruck „visuokonstruktive Störung“.<br />
Schwierigkeiten und Fehler beim Anziehen, die nicht unmittelbare<br />
Folge einer elementaren motorischen Behinderung<br />
sind. Sie können durch halbseitige Vernachlässigung, visuokonstruktive<br />
Störungen oder auch durch eine Apraxie im engeren<br />
Sinne bedingt sein.<br />
1<br />
Apraxien sind<br />
Störungen im<br />
Grenzgebiet<br />
zwischen<br />
Motorik und<br />
Kognition
Der Kernbegriff<br />
der Apraxien<br />
umfasst Störungen<br />
des Imitierens,<br />
der Ausführung<br />
kommunikativer<br />
Gesten und des<br />
Gebrauchs von<br />
Werkzeugen<br />
und Objekten<br />
wurde die Bezeichnung Apraxie für eine verwirrende Vielzahl von Störungen<br />
verwendet. Der Bogen reicht von der „Apraxie des Lidschlusses“ über<br />
die „Gangapraxie“, bis zur „Ankleideapraxie“ und „konstruktiven Apraxie“<br />
(s. Tab. 1). Es gibt aber einen Kern von Symptomen, für die die Bezeichnung<br />
als Apraxie außer Zweifel steht und in deren Diskussion die Grenzziehung<br />
zwischen kognitiven und motorischen Aspekten der Handlungssteuerung<br />
immer ein zentrales Thema war. Ihnen ist gemeinsam, dass sie vorwiegend<br />
bei linkshirnigen Schädigungen auftreten und daher meist mit Aphasie verbunden<br />
sind und dass Fehlhandlungen beide Seiten des Körpers betreffen.<br />
Wenn die rechtsseitigen Extremitäten gelähmt sind, zeigt sich die Apraxie<br />
immer noch in Fehlhandlungen der ansonsten motorisch ungestörten linken<br />
Hand. Die Fehlhandlungen betreffen drei Domänen menschlichen Handelns:<br />
Das Imitieren von Gesten, die Ausführung kommunikativer Gesten und den<br />
Gebrauch von Werkzeugen und Objekten.<br />
1.1 Historische Wurzeln der Apraxieforschung<br />
Im Jahre 1861 berichtete Paul Broca vor der anthropologischen Gesellschaft<br />
in Paris über einen Patienten, der infolge einer linksfrontalen Läsion<br />
die Fähigkeit des Sprechens verloren hatte. Dieser Bericht markiert die<br />
Geburtsstunde der modernen Neuropsychologie. Broca merkte darin an,<br />
dass nicht nur der sprachliche Ausdruck des Patienten auf den Automatismus<br />
„tan tan“ beschränkt war, sondern auch seine Gesten oft unverständlich<br />
waren (Broca, 1861). Im Rückblick kann man fragen, ob „Tantan“<br />
nicht zusätzlich zur Aphasie eine Apraxie für die Ausführung kommunikativer<br />
Gesten hatte.<br />
Knappe zehn Jahre später behauptete der deutsche Psychiater Finkelnburg,<br />
dass die Einbußen aphasischer Patienten nicht auf sprachliche Unzulänglichkeiten<br />
beschränkt seien, sondern dass sie das allgemeine „Vermögen,<br />
sowohl Begriffe mittels erlernter Zeichen zu verstehen, wie auch Begriffe<br />
durch erlernte Zeichen kundzugeben“ verloren hätten. Er bezeichnete diesen<br />
Verlust als „Asymbolie“ (Finkelnburg, 1870) und führte als Beleg unter<br />
anderem fehlerhafte und „plumpe“ kommunikative Gesten an. Zum<br />
Beispiel machte eine „als fromme Katholikin aufgewachsene“ Patientin<br />
„beim gemeinsamen Tischgebet nie aus eigenem Antrieb das Zeichen des<br />
Kreuzes. Wenn die Umgebung sie dazu aufforderte, so griff sie unsicher<br />
tastend bald hinter’s Ohr, bald nach dem Halse, bis man es ihr vormachte,<br />
worauf sie die gesehene Bewegung exact nachahmte.“ Bei einem anderen<br />
Patienten fiel ihm auf, dass „seine Gesten auffallend ungeschickt, mitunter<br />
ganz incongruent zu dem, was er ausdrücken wollte“ waren, und er meinte,<br />
dass „auch das Verständnis für die Pantomimen anderer abnimmt“ (S. 450).<br />
Der Begriff „Apraxie“ wurde, zumindest in gedruckter Form, erstmals vom<br />
deutschen Sprachwissenschaftler Steinthal (1881) benutzt. Anders als Fin-<br />
2
kelnburg bezog sich Steinthal jedoch nicht auf gestörte kommunikative Gesten,<br />
sondern auf den Werkzeug- und Objektgebrauch. Er beschrieb einen<br />
Pa tienten, der „aphatisch und anarthrisch gewesen, doch bei Verstand geblieben<br />
[war]. Als er aber schreiben wollte, ergriff er die Feder verkehrt; auch<br />
Löffel und Gabel fasste er an, als ob er sie nie gebraucht hätte“ (S. 458).<br />
Steinthal betonte, dass das Problem nicht die motorische Ausführung des<br />
Objektgebrauchs betraf: „Nicht die Bewegung der Glieder an sich ist gehemmt,<br />
sondern die Beziehung der Bewegungen auf den zu behandelnden<br />
Gegenstand, die Beziehung des Mechanismus auf den Zweck ist gestört“.<br />
Er schloss: „Diese Apraxie ist eine offenbare Steigerung der Aphasie.“<br />
Finkelnburg beschrieb die Störung kommunikativer Gesten und Steinthal<br />
die des Werkzeug- und Objektgebrauchs. Sie waren sich aber einig in der<br />
Annahme einer unauflöslich engen Verbindung der Störungen mit der Aphasie.<br />
Die motorische Ausführung der gestörten Handlungen zogen sie nicht<br />
als mögliche Fehlerquelle in Betracht. Insbesondere Steinthal bekannte sich<br />
ausdrücklich zum „ideomotorischen“ Prinzip (Prinz, 1987), nach dem die<br />
Vorstellung einer motorischen Aktion automatisch ihre Ausführung auslöst,<br />
so dass der Übergang von der Vorstellung zur Ausführung keinen Zwischenraum<br />
lässt, in dem eine Unterbrechung oder Störung ansetzen könnte.<br />
Die bis heute maßgebenden theoretischen Grundlagen der Apraxieforschung<br />
wurden vom deutschen Psychiater Hugo Liepmann gelegt (Liepmann,<br />
1900, 1908; Goldenberg, 2003a). Liepmann führte eine systematische<br />
Gruppenstudie an Patienten mit rechts- und linkshirnigen Läsionen<br />
durch und stellte fest, dass nur die mit den linkshirnigen Läsionen Fehler<br />
bei der Ausführung kommunikativer Gesten machten, wobei es unter den<br />
Patienten mit linkshirnigen Läsionen und Apraxie einige gab, die nicht<br />
aphasisch waren. Er ließ die Patienten die Gesten, die sie auf Aufforderung<br />
nicht produzieren konnten, auch nachmachen und fand, dass sie auch damit<br />
Schwierigkeiten hatten. Liepmann etablierte damit nicht nur die Apraxie als<br />
eine von der Aphasie unabhängige Folge linkshirniger Läsionen, sondern<br />
er stellte auch die ideomotorische Einheit von Vorstellung und Ausführung<br />
motorischer Aktionen infrage. Er schrieb: „Störungen im Nach machen<br />
bekunden, dass hier nicht eine Ungenauigkeit des zeitliche räumlichen<br />
Bildes vorliegt, sondern eine Unfähigkeit, die Glieder gemäß bestimmten<br />
räumlichen Vorstellungen zu dirigieren“ (Liepmann, 1908, S. 26 f.).<br />
1.2 Ein Strom der Handlungskontrolle<br />
von posterior nach anterior<br />
Liepmann hatte in Philosophie promoviert, bevor er sich der Medizin zuwandte<br />
und seine Arbeiten sind vom philosophischen Hintergrund der<br />
Cartesianischen Teilung zwischen Geist und Gehirn geprägt. Sein grundsätzliches<br />
Anliegen war es, durch Lokalisieren von Hirnfunktionen psychi-<br />
3<br />
Die theoretischenGrundlagen<br />
der Apraxieforschung<br />
wurden Anfang<br />
des 20. Jahrhunderts<br />
vom<br />
deutschen<br />
Psychiater Hugo<br />
Liepmann<br />
gelegt
Liepmanns<br />
grundsätzliches<br />
Anliegen<br />
war es, durch<br />
Lokalisieren von<br />
Hirnfunktionen<br />
psychische<br />
Funktionen<br />
an materielle<br />
Eigenschaften<br />
des Gehirns zu<br />
binden<br />
sche Funktionen an materielle Eigenschaften des Gehirns zu binden. Er<br />
formulierte das sehr klar: „Es gilt, den Täter nicht in den raumlosen Eigenschaften<br />
der Seele, sondern an bestimmten Orten des Gehirnes zu suchen“<br />
(Liepmann, 1905, S. 37 f.). Liepmann akzeptierte zwar die Existenz von<br />
„intrapsychischen“ Prozessen, die von der Integrität der gesamten Hirnrinde<br />
abhängen und deshalb nicht weiter lokalisiert werden können, aber er<br />
wollte ihren Wirkbereich zu Gunsten lokalisierter Funktionen einschränken.<br />
Er entwickelte ein Modell der motorischen Handlungskontrolle und<br />
der Apraxien, dass sowohl den empirischen Befunden als auch diesem<br />
theoretischen Anspruch gerecht werden sollte.<br />
Abbildung 1 zeigt zwei Fassungen von Liepmanns Modell der Handlungskontrolle.<br />
Das links abgebildete, frühere Modell geht davon aus, dass die<br />
Vorstellung einer geplanten motorischen Aktion als „intrapsychischer“<br />
Prozess durch das Zusammenwirken der gesamten Hirnrinde zustande<br />
kommt und daher nicht weiter lokalisiert werden kann. Er nannte diese<br />
Vorstellung „Bewegungsformel“. Ihre motorische Ausführung wird von der<br />
motorischen Rinde gesteuert, die in der Zentralregion des Gehirns lokalisiert<br />
4<br />
linke<br />
Hand<br />
linkes<br />
Sensomotorium<br />
Horizontalschema<br />
2<br />
1<br />
C<br />
rechtes<br />
Sensomotorium<br />
B = Balken C vertritt den Gesamtkortex<br />
B<br />
rechte<br />
Hand<br />
L. H.<br />
C. t.<br />
C. p.<br />
Stirnpol<br />
1 1a R.<br />
2 3<br />
H.<br />
3<br />
Anmerkungen: Die Abbildung zeigt zwei Versionen von Liepmanns Modell. In dem links gezeigten,<br />
1908 publizierten Schema ist die Vorstellung der intendierten Handlung ein „intra-psychischer“ Prozess,<br />
der durch Zusammenwirken des gesamten Cortex zustande kommt und nicht weiter lokalisiert<br />
werden kann. In der rechts gezeigten, 1925 publizierten Fassung ist die Genese der Bewegungsformel<br />
eine Leistung der linken Hemisphäre geworden und innerhalb der Hemisphäre ein Werk posteriorer<br />
Rindenregionen. Dem lag die Überlegung zugrunde, dass die Vorstellung der intendierten Bewegung<br />
zumeist in der visuellen Modalität als bildliche Vorstellung der Bewegung entsteht, und dass visuelle<br />
Vorstellungen von visuellen Rindenfeldern erzeugt werden. Aus diesen Überlegungen resultierte das<br />
Postulat eines von posterior nach anterior gerichteten Stroms der Handlungskontrolle. L. H.: Linkshirniges<br />
Zentrum der rechten Hand; R. H.: Rechtshirniges Zentrum der linken Hand; C. o., C. p., C. t.:<br />
cortikaler Ursprung der occipitalen, parietalen und temporalen Assoziationsfasern zum linkshirnigen<br />
Handzentrum.<br />
Abbildung 1:<br />
Liepmanns Modell der Handlungskontrolle<br />
n C. i.<br />
C. o.<br />
C. o.
ist. Die „ideomotorische“ Einheit von Vorstellung und Ausführung der<br />
Handlung setzt daher intakte Verbindungen zwischen den Zentralregionen<br />
und der restlichen Rinde voraus. Werden sie durch eine Läsion in einer<br />
Hemisphäre unterbrochen, würden die der betroffenen Hemisphäre gegenüberliegenden<br />
Extremitäten apraktisch. Um den Befund, dass linksseitige<br />
Läsionen Apraxie beider Hände und rechtsseitige Läsionen gar keine Apraxie<br />
verursachen, zu erklären, postulierte Liepmann, dass die Umsetzung<br />
des Handlungsentwurfs in motorische Programme an die Verbindung zur<br />
linken Zentralregion gebunden ist. Er dachte, dass eine solche Asymmetrie<br />
Folge der Rechtshändigkeit sein könnte. Weil die rechte Hand in den meisten<br />
anspruchsvollen Tätigkeiten die führende ist, übernimmt die ihr zugeordnete<br />
linke Zentralregion die Kontrolle auch über die untergeordnete<br />
linke Hand. Zur Ausübung dieser Kontrolle ist die Verbindung der beiden<br />
Zentralregionen durch das Corpus callosum notwendig. Unterbrechungen<br />
des Corpus callosum führen daher zu einer Apraxie nur der linken Hand<br />
(Liepmann & Maas, 1907).<br />
In der rechts gezeigten, 1920 publizierten Fassung ist die Genese der Bewegungsformel<br />
eine Leistung der linken Hemisphäre geworden und innerhalb<br />
der Hemisphäre ein Werk posteriorer Rindenregionen (S. 536). Dem<br />
lag die Überlegung zugrunde, dass die Bewegungsformel zumeist in der<br />
visuellen Modalität als bildliche Vorstellung der intendierten Bewegung,<br />
entsteht, und dass visuelle Vorstellungen von visuellen Rindenfeldern erzeugt<br />
werden. Nach wie vor wird aber angenommen, dass die Umsetzung<br />
der Vorstellung in motorische Aktionen an intakte Verbindungen anderer<br />
Hirnregionen zur motorischen Rinde gebunden ist. Die Verschiebung der<br />
Bewegungsformel in visuelle Rindenfelder macht aus der Umsetzung der<br />
Vorstellung in motorische Kommanden einen von posterior nach anterior<br />
gerichteten Strom der Handlungskontrolle, der unter dem Parietallappen<br />
zur Zentralregion zieht. Während in dem frühen Modell parietale Läsionen<br />
nur eine von mehreren Möglichkeiten waren, Verbindungen der Zentralregionen<br />
zur restlichen Rinde zu behindern, bekamen sie in dem neuen Modell<br />
eine zentrale Rolle, weil sie den gesamten Strom von der Vorstellung<br />
zur motorischen Ausführung einer Handlung unterbrechen.<br />
In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Liepmanns Schema der Apraxia<br />
vielfach abgelehnt, denn es stand in Widerspruch zu den damals vorherrschenden<br />
holistischen und anti-lokalisationistischen Auffassungen (De Ajuriaguerra<br />
& Tissot, 1969). Seine „Wiederauferstehung“ im letzten Drittel<br />
dieses Jahrhunderts ging von einer Gruppe von Neurologen, Linguisten und<br />
Psychologen in Boston aus. Ihr prominentester Vertreter war der Neurologe<br />
Norman Geschwind (1965, 1975). Geschwind interessierte vor allem die<br />
Ausführung kommunikativer Gesten. Er folgte Liepmann in der Annahme,<br />
dass parietale Läsionen zur Apraxie führen, weil sie Faserverbindung von<br />
posterior nach anterior unterbrechen. Er verlegte aber den Ursprung des<br />
Stroms in das Wernicke Sprachzentrum im hinteren Temporallappen, weil<br />
5<br />
Liepmann nahm<br />
an, dass die<br />
Umsetzung von<br />
Vorstellungen<br />
in motorische<br />
Aktionen durch<br />
Faserverbindungen<br />
vermittelt<br />
wird, die von<br />
okzipitalen Hirnregionen<br />
durch<br />
den Parietallappen<br />
zur motorischen<br />
Rinde<br />
ziehen
Anmerkungen: Oben: Liepmanns letzte Fassung des posterior nach anterior Schemas der Handlungskon<br />
trolle und der daraus abgeleiteten Varianten der Apraxien (1920). Läsionen im Parietallappen verursachen<br />
„ideo-kinetische“ Apraxie, bei der die Vorstellung der geplanten Bewegung intakt, aber die Umsetzung<br />
in motorische Aktionen gestört ist. Das mittlere Schema wurde vom amerikanischen Neurologen<br />
Norman Geschwind (1975) und das untere von seinem Schüler Kenneth Heilman (1993) vorgeschlagen.<br />
Alle drei Versionen sagen voraus, dass parietale Läsionen Apraxien verursachen, die besonders die Ausführung<br />
von kommunikativen Gesten auf Aufforderung betreffen. M: motor cortex; PM: premotor cortex;<br />
SMG: supramarginal gyrus; AG: angular gyrus; W: Wernicke’s area; VVA: visual association area;<br />
VA: primary visual area.<br />
6<br />
frontal<br />
lobe<br />
premotor<br />
region<br />
Broca's<br />
area<br />
precentral<br />
gyrus<br />
Sylvian<br />
fi ssure<br />
temporal<br />
lobe<br />
central<br />
sulcus<br />
parietal<br />
arcuate lobe<br />
fasciculus<br />
parietal<br />
operculum<br />
Ideomotorisch<br />
Wernicke's<br />
area<br />
Ideatorisch<br />
occipital<br />
lobe<br />
Abbildung 2:<br />
Versionen des von posterior nach anterior gerichteten Stroms der Handlungskontrolle