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Georg Goldenberg<br />

Apraxien<br />

Fortschritte der Neuropsychologie


Apraxien


Fortschritte der Neuropsychologie<br />

Band 10<br />

Apraxien<br />

von Prof. Dr. Georg Goldenberg<br />

Herausgeber der Reihe:<br />

Dr. Angelika Thöne-Otto, Prof. Dr. Herta Flor,<br />

Prof. Dr. Siegfried Gauggel, Prof. Dr. Stefan Lautenbacher,<br />

Dr. Hendrik Niemann


Apraxien<br />

von Georg Goldenberg<br />

GöttinGen · Bern · Wien · Paris · OxfOrd · PraG · tOrOntO<br />

CamBridGe, ma · amsterdam · KOPenhaGen · stOCKhOlm


Prof. Dr. Georg Goldenberg, geb. 1949. 1969–1975 Studium der Medizin in Wien. 1987 Habilitation<br />

über „Neurologische Grundlagen bildlicher Vorstellungen“. 1992–1995 erster Oberarzt<br />

der zweiten neurologischen Abteilung des neurologischen Krankenhauses Rosenhügel, Wien.<br />

Seit 1995 Chefarzt der Klinik für Neuropsychologie am Klinikum Bogenhausen. 1996 Ernennung<br />

zum außerplanmäßigen Professor an der TU München für das Fachgebiet Neurologie.<br />

Forschungsschwerpunkt: Apraxien.<br />

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen<br />

(Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern große<br />

Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes<br />

abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz<br />

ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung<br />

und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem<br />

Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden<br />

nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen<br />

werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind<br />

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

© 2011 <strong>Hogrefe</strong> Verlag GmbH & Co. KG<br />

Göttingen • Bern • Wien • Paris • Oxford • Prag • Toronto<br />

Cambridge, MA • Amsterdam • Kopenhagen • Stockholm<br />

Rohnsweg 25, 37085 Göttingen<br />

http://www.hogrefe.de<br />

Aktuelle Informationen • Weitere Titel zum Thema • Ergänzende Materialien<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes<br />

ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere<br />

für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und<br />

die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Umschlagbild: © Bildagentur Mauritius GmbH<br />

Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar<br />

Druck: Hubert & Co, Göttingen<br />

Printed in Germany<br />

Auf säurefreiem Papier gedruckt<br />

ISBN 978-3-8017-2265-4


Inhaltsverzeichnis<br />

1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />

1.1 Historische Wurzeln der Apraxieforschung . . . . . . . . . . . 2<br />

1.2 Ein Strom der Handlungskontrolle von posterior<br />

nach anterior . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

1.3 Ideatorische und ideomotorische Apraxie . . . . . . . . . . . . 7<br />

1.4 Kritik des „Praxis-Systems“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />

2 Imitieren von Gesten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

2.1 Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

2.1.1 Varianten des Imitierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />

2.1.1.1 Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />

2.1.1.2 Körperteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

2.1.1.3 Sequenzialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />

2.1.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />

2.1.2.1 Imitieren und Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

2.1.2.2 Imitieren bei Alzheimer-Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

2.1.2.3 Mund- und Gesichtsapraxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

2.1.3 Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

2.2 Ätiologie und Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

2.2.1 Intrahemisphärische Lokalisation: Gliedmaßenapraxie . . 15<br />

2.2.2 Intrahemisphärische Lokalisation: Mund- und<br />

Gesichtsapraxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

2.3 Neuropsychologische und neurobiologische<br />

Störungstheorien und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

2.3.1 Gestörte Umsetzung der richtig konzipierten Geste in<br />

motorische Programme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />

2.3.2 Unterbrechung einer direkten Route von der visuellen<br />

Wahrnehmung zur motorischen Replikation<br />

von Aktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />

2.3.3 Gestörte Körperteilkodierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />

2.4 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />

2.4.1 Diagnostische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />

2.4.1.1 Links- und rechtshirnige umschriebene Läsionen,<br />

Aphasie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />

2.4.1.2 Frontale und diffuse Läsionen, Demenzen . . . . . . . . . . . 26<br />

2.4.1.3 Mund- und Gesichtsapraxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />

2.4.2 Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />

2.5 Alltagsrelevanz und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28<br />

V


3 Kommunikative Gesten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29<br />

3.1 Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29<br />

3.1.1 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />

3.1.2 Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />

3.2 Ätiologie und Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />

3.2.1 Intrahemisphärische Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />

3.2.2 Lateralität der Läsionen bei Linkshändern . . . . . . . . . . . 35<br />

3.3 Neuropsychologische und neurobiologische<br />

Störungstheorien und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36<br />

3.3.1 Asymbolie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36<br />

3.3.2 Verlust von Bewegungsformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37<br />

3.3.3 Pantomime als kommunikative Geste . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

3.4 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />

3.4.1 Orientierende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />

3.4.2 Quantifizierung der Pantomimeprüfung . . . . . . . . . . . . . 41<br />

3.4.3 Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />

3.5 Alltagsrelevanz und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />

3.5.1 Gestentraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />

3.5.2 Generalisierung von Therapieerfolgen . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />

3.5.2.1 Generalisierung auf ungeübte Gesten . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />

3.5.2.2 Generalisierung auf alltägliche Kommunikation . . . . . . . 45<br />

4 Werkzeug und Objektgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />

4.1 Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />

4.1.1 Varianten des Werkzeug- und Objektgebrauchs . . . . . . . 46<br />

4.1.1.1 Routinehandlungen und mechanisches Problemlösen . . . 46<br />

4.1.1.2 Mechanische Werkzeuge und technische Geräte . . . . . . . 48<br />

4.1.1.3 Einzelne Handlungen und mehrschrittige<br />

Handlungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50<br />

4.1.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />

4.1.3 Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52<br />

4.2 Ätiologie und Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52<br />

4.2.1 Intrahemisphärische Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />

4.3 Neuropsychologische und neurobiologische<br />

Störungstheorien und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />

4.3.1 Gespeichertes Wissen und mechanisches<br />

Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />

4.3.2 Ursachen des Versagens bei mehrschrittigen<br />

Handlungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56<br />

4.4 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />

4.4.1 Gebrauch einzelner Werkzeuge und Objekte . . . . . . . . . . 57<br />

4.4.2 Mehrschrittige Handlungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />

4.5 Alltagsrelevanz und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60<br />

4.5.1 Therapie von Aktivitäten des täglichen Lebens . . . . . . . . 60<br />

VI


4.5.1.1 Therapeutische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60<br />

4.5.1.2 Generalisierung von Therapieerfolgen . . . . . . . . . . . . . . . 61<br />

5 Balkenapraxie und willensfremde<br />

motorische Aktionen einer Hand . . . . . . . . . . . . . . 62<br />

5.1 Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62<br />

5.1.1 Folgen der Durchtrennung des Corpus callosum . . . . . . . 63<br />

5.1.1.1 Sensomotorische Diskonnektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63<br />

5.1.1.2 Verbal-motorische und taktil-verbale Diskonnektion . . . 63<br />

5.1.1.3 Alexie der linken Gesichtsfeldhälfte . . . . . . . . . . . . . . . . 64<br />

5.1.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64<br />

5.1.3 Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />

5.2 Ätiologie und Lokalisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />

5.3 Neuropsychologische und neurobiologische<br />

Störungstheorien und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66<br />

5.4 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67<br />

5.4.1 Willensfremde Handlungen einer Hand . . . . . . . . . . . . . . 67<br />

5.4.1.1 Zwangsgreifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />

5.4.1.2 Motorische Vernachlässigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />

5.4.1.3 Kinästhetische Ataxie („parietale Hand“) . . . . . . . . . . . . 70<br />

5.5 Alltagsrelevanz und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70<br />

6 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71<br />

7 Anhang<br />

Untersuchungsbogen für die Prüfung von Handstellungen<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83<br />

Untersuchungsbogen für die Prüfung von<br />

Fingerstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84<br />

Untersuchungsbogen für die Prüfung von<br />

kombinierten Hand- und Fingerstellungen. . . . . . . . . . . . 85<br />

Untersuchungsbogen für die Prüfung von Fußstellungen<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86<br />

Untersuchungsbogen für Pantomime des Objektgebrauchs<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87<br />

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />

VII


1 Einführung<br />

Eine weit verbreitete Definition der Apraxien beschreibt sie als „disorder of<br />

skilled movement not caused by weakness, akinesia, deafferentation, abnormal<br />

tone or posture, movement disorders (such as tremors or chorea), intellectual<br />

deterioration, poor comprehension, or uncooperativeness“ (Heilman<br />

& Rothi, 1993). Im Kern besagt diese Aufzählung von Ausschlussdiagnosen,<br />

dass Apraxien weder rein motorische noch rein kognitive Störungen sind.<br />

Sie betreffen die Grenze zwischen Kognition und Motorik. Auch mit dieser<br />

Klarstellung lässt die Definition Raum für viele Auslegungen und tatsächlich<br />

Tabelle 1:<br />

Störungen, die als Apraxien bezeichnet wurden, aber nicht die Kriterien des Kernbegriffs<br />

der Apraxie erfüllen<br />

Gliedkinetische Apraxie<br />

(Liepmann, 1908)<br />

Unimodale Apraxie<br />

(Freund, 1987)<br />

Magnetische Apraxie<br />

(Denny Brown, 1958)<br />

Gangapraxie<br />

(Gerstmann & Schilder,<br />

1926)<br />

Axiale Apraxie<br />

(Lakke, 1985)<br />

Konstruktive Apraxie<br />

(Kleist, 1934)<br />

Ankleideapraxie<br />

(Hécaen &<br />

De Ajuriaguerra, 1945)<br />

Ungeschickte und schlecht gezielte Bewegungen der zur<br />

Läsion kontralateralen Extremität bei normaler grober Kraft.<br />

Ursache sind fehlende bzw. fehlverarbeitete kinästhetische<br />

Afferenzen als Folge von subkortikalen oder postzentralen<br />

Läsionen.<br />

Fehlerhafte Zielbewegungen in Abhängigkeit von der Modalität,<br />

in der das Ziel wahrgenommen wird. Am besten untersucht<br />

sind fehlerhafte visuell gelenkte Zielbewegungen. Für<br />

sie ist allerdings der Ausdruck optische (oder visuomotorische)<br />

Ataxie gebräuchlicher (Karnath & Perenin, 2005). Bei<br />

einseitigen Läsionen kann sie auf die kontralaterale Hand<br />

oder auf Bewegungen im kontralateralen visuellen Halbfeld<br />

beschränkt sein. Beidseitige optische Ataxie ist Teil des Balint<br />

Syndroms.<br />

Greifschablone der Hand bei kontralateralen frontalen Läsionen.<br />

Gangstörung von Patienten mit ausgedehnten bilateralen<br />

frontalen Läsionen oder kommunizierenden Hydrocephalus.<br />

Die Patienten „kleben“ am Boden, gehen kleinschrittig und<br />

mit Rücklage.<br />

Fehlen automatisierter Rumpfdrehungen zur Lageverbesserung<br />

im Liegen bei Parkinsonpatienten.<br />

Störungen des Abzeichnens und dreidimensionaler Konstruktionen.<br />

Gebräuchlicher und weniger missverständlich ist der<br />

Ausdruck „visuokonstruktive Störung“.<br />

Schwierigkeiten und Fehler beim Anziehen, die nicht unmittelbare<br />

Folge einer elementaren motorischen Behinderung<br />

sind. Sie können durch halbseitige Vernachlässigung, visuokonstruktive<br />

Störungen oder auch durch eine Apraxie im engeren<br />

Sinne bedingt sein.<br />

1<br />

Apraxien sind<br />

Störungen im<br />

Grenzgebiet<br />

zwischen<br />

Motorik und<br />

Kognition


Der Kernbegriff<br />

der Apraxien<br />

umfasst Störungen<br />

des Imitierens,<br />

der Ausführung<br />

kommunikativer<br />

Gesten und des<br />

Gebrauchs von<br />

Werkzeugen<br />

und Objekten<br />

wurde die Bezeichnung Apraxie für eine verwirrende Vielzahl von Störungen<br />

verwendet. Der Bogen reicht von der „Apraxie des Lidschlusses“ über<br />

die „Gangapraxie“, bis zur „Ankleideapraxie“ und „konstruktiven Apraxie“<br />

(s. Tab. 1). Es gibt aber einen Kern von Symptomen, für die die Bezeichnung<br />

als Apraxie außer Zweifel steht und in deren Diskussion die Grenzziehung<br />

zwischen kognitiven und motorischen Aspekten der Handlungssteuerung<br />

immer ein zentrales Thema war. Ihnen ist gemeinsam, dass sie vorwiegend<br />

bei linkshirnigen Schädigungen auftreten und daher meist mit Aphasie verbunden<br />

sind und dass Fehlhandlungen beide Seiten des Körpers betreffen.<br />

Wenn die rechtsseitigen Extremitäten gelähmt sind, zeigt sich die Apraxie<br />

immer noch in Fehlhandlungen der ansonsten motorisch ungestörten linken<br />

Hand. Die Fehlhandlungen betreffen drei Domänen menschlichen Handelns:<br />

Das Imitieren von Gesten, die Ausführung kommunikativer Gesten und den<br />

Gebrauch von Werkzeugen und Objekten.<br />

1.1 Historische Wurzeln der Apraxieforschung<br />

Im Jahre 1861 berichtete Paul Broca vor der anthropologischen Gesellschaft<br />

in Paris über einen Patienten, der infolge einer linksfrontalen Läsion<br />

die Fähigkeit des Sprechens verloren hatte. Dieser Bericht markiert die<br />

Geburtsstunde der modernen Neuropsychologie. Broca merkte darin an,<br />

dass nicht nur der sprachliche Ausdruck des Patienten auf den Automatismus<br />

„tan tan“ beschränkt war, sondern auch seine Gesten oft unverständlich<br />

waren (Broca, 1861). Im Rückblick kann man fragen, ob „Tantan“<br />

nicht zusätzlich zur Aphasie eine Apraxie für die Ausführung kommunikativer<br />

Gesten hatte.<br />

Knappe zehn Jahre später behauptete der deutsche Psychiater Finkelnburg,<br />

dass die Einbußen aphasischer Patienten nicht auf sprachliche Unzulänglichkeiten<br />

beschränkt seien, sondern dass sie das allgemeine „Vermögen,<br />

sowohl Begriffe mittels erlernter Zeichen zu verstehen, wie auch Begriffe<br />

durch erlernte Zeichen kundzugeben“ verloren hätten. Er bezeichnete diesen<br />

Verlust als „Asymbolie“ (Finkelnburg, 1870) und führte als Beleg unter<br />

anderem fehlerhafte und „plumpe“ kommunikative Gesten an. Zum<br />

Beispiel machte eine „als fromme Katholikin aufgewachsene“ Patientin<br />

„beim gemeinsamen Tischgebet nie aus eigenem Antrieb das Zeichen des<br />

Kreuzes. Wenn die Umgebung sie dazu aufforderte, so griff sie unsicher<br />

tastend bald hinter’s Ohr, bald nach dem Halse, bis man es ihr vormachte,<br />

worauf sie die gesehene Bewegung exact nachahmte.“ Bei einem anderen<br />

Patienten fiel ihm auf, dass „seine Gesten auffallend ungeschickt, mitunter<br />

ganz incongruent zu dem, was er ausdrücken wollte“ waren, und er meinte,<br />

dass „auch das Verständnis für die Pantomimen anderer abnimmt“ (S. 450).<br />

Der Begriff „Apraxie“ wurde, zumindest in gedruckter Form, erstmals vom<br />

deutschen Sprachwissenschaftler Steinthal (1881) benutzt. Anders als Fin-<br />

2


kelnburg bezog sich Steinthal jedoch nicht auf gestörte kommunikative Gesten,<br />

sondern auf den Werkzeug- und Objektgebrauch. Er beschrieb einen<br />

Pa tienten, der „aphatisch und anarthrisch gewesen, doch bei Verstand geblieben<br />

[war]. Als er aber schreiben wollte, ergriff er die Feder verkehrt; auch<br />

Löffel und Gabel fasste er an, als ob er sie nie gebraucht hätte“ (S. 458).<br />

Steinthal betonte, dass das Problem nicht die motorische Ausführung des<br />

Objektgebrauchs betraf: „Nicht die Bewegung der Glieder an sich ist gehemmt,<br />

sondern die Beziehung der Bewegungen auf den zu behandelnden<br />

Gegenstand, die Beziehung des Mechanismus auf den Zweck ist gestört“.<br />

Er schloss: „Diese Apraxie ist eine offenbare Steigerung der Aphasie.“<br />

Finkelnburg beschrieb die Störung kommunikativer Gesten und Steinthal<br />

die des Werkzeug- und Objektgebrauchs. Sie waren sich aber einig in der<br />

Annahme einer unauflöslich engen Verbindung der Störungen mit der Aphasie.<br />

Die motorische Ausführung der gestörten Handlungen zogen sie nicht<br />

als mögliche Fehlerquelle in Betracht. Insbesondere Steinthal bekannte sich<br />

ausdrücklich zum „ideomotorischen“ Prinzip (Prinz, 1987), nach dem die<br />

Vorstellung einer motorischen Aktion automatisch ihre Ausführung auslöst,<br />

so dass der Übergang von der Vorstellung zur Ausführung keinen Zwischenraum<br />

lässt, in dem eine Unterbrechung oder Störung ansetzen könnte.<br />

Die bis heute maßgebenden theoretischen Grundlagen der Apraxieforschung<br />

wurden vom deutschen Psychiater Hugo Liepmann gelegt (Liepmann,<br />

1900, 1908; Goldenberg, 2003a). Liepmann führte eine systematische<br />

Gruppenstudie an Patienten mit rechts- und linkshirnigen Läsionen<br />

durch und stellte fest, dass nur die mit den linkshirnigen Läsionen Fehler<br />

bei der Ausführung kommunikativer Gesten machten, wobei es unter den<br />

Patienten mit linkshirnigen Läsionen und Apraxie einige gab, die nicht<br />

aphasisch waren. Er ließ die Patienten die Gesten, die sie auf Aufforderung<br />

nicht produzieren konnten, auch nachmachen und fand, dass sie auch damit<br />

Schwierigkeiten hatten. Liepmann etablierte damit nicht nur die Apraxie als<br />

eine von der Aphasie unabhängige Folge linkshirniger Läsionen, sondern<br />

er stellte auch die ideomotorische Einheit von Vorstellung und Ausführung<br />

motorischer Aktionen infrage. Er schrieb: „Störungen im Nach machen<br />

bekunden, dass hier nicht eine Ungenauigkeit des zeitliche räumlichen<br />

Bildes vorliegt, sondern eine Unfähigkeit, die Glieder gemäß bestimmten<br />

räumlichen Vorstellungen zu dirigieren“ (Liepmann, 1908, S. 26 f.).<br />

1.2 Ein Strom der Handlungskontrolle<br />

von posterior nach anterior<br />

Liepmann hatte in Philosophie promoviert, bevor er sich der Medizin zuwandte<br />

und seine Arbeiten sind vom philosophischen Hintergrund der<br />

Cartesianischen Teilung zwischen Geist und Gehirn geprägt. Sein grundsätzliches<br />

Anliegen war es, durch Lokalisieren von Hirnfunktionen psychi-<br />

3<br />

Die theoretischenGrundlagen<br />

der Apraxieforschung<br />

wurden Anfang<br />

des 20. Jahrhunderts<br />

vom<br />

deutschen<br />

Psychiater Hugo<br />

Liepmann<br />

gelegt


Liepmanns<br />

grundsätzliches<br />

Anliegen<br />

war es, durch<br />

Lokalisieren von<br />

Hirnfunktionen<br />

psychische<br />

Funktionen<br />

an materielle<br />

Eigenschaften<br />

des Gehirns zu<br />

binden<br />

sche Funktionen an materielle Eigenschaften des Gehirns zu binden. Er<br />

formulierte das sehr klar: „Es gilt, den Täter nicht in den raumlosen Eigenschaften<br />

der Seele, sondern an bestimmten Orten des Gehirnes zu suchen“<br />

(Liepmann, 1905, S. 37 f.). Liepmann akzeptierte zwar die Existenz von<br />

„intrapsychischen“ Prozessen, die von der Integrität der gesamten Hirnrinde<br />

abhängen und deshalb nicht weiter lokalisiert werden können, aber er<br />

wollte ihren Wirkbereich zu Gunsten lokalisierter Funktionen einschränken.<br />

Er entwickelte ein Modell der motorischen Handlungskontrolle und<br />

der Apraxien, dass sowohl den empirischen Befunden als auch diesem<br />

theoretischen Anspruch gerecht werden sollte.<br />

Abbildung 1 zeigt zwei Fassungen von Liepmanns Modell der Handlungskontrolle.<br />

Das links abgebildete, frühere Modell geht davon aus, dass die<br />

Vorstellung einer geplanten motorischen Aktion als „intrapsychischer“<br />

Prozess durch das Zusammenwirken der gesamten Hirnrinde zustande<br />

kommt und daher nicht weiter lokalisiert werden kann. Er nannte diese<br />

Vorstellung „Bewegungsformel“. Ihre motorische Ausführung wird von der<br />

motorischen Rinde gesteuert, die in der Zentralregion des Gehirns lokalisiert<br />

4<br />

linke<br />

Hand<br />

linkes<br />

Sensomotorium<br />

Horizontalschema<br />

2<br />

1<br />

C<br />

rechtes<br />

Sensomotorium<br />

B = Balken C vertritt den Gesamtkortex<br />

B<br />

rechte<br />

Hand<br />

L. H.<br />

C. t.<br />

C. p.<br />

Stirnpol<br />

1 1a R.<br />

2 3<br />

H.<br />

3<br />

Anmerkungen: Die Abbildung zeigt zwei Versionen von Liepmanns Modell. In dem links gezeigten,<br />

1908 publizierten Schema ist die Vorstellung der intendierten Handlung ein „intra-psychischer“ Prozess,<br />

der durch Zusammenwirken des gesamten Cortex zustande kommt und nicht weiter lokalisiert<br />

werden kann. In der rechts gezeigten, 1925 publizierten Fassung ist die Genese der Bewegungsformel<br />

eine Leistung der linken Hemisphäre geworden und innerhalb der Hemisphäre ein Werk posteriorer<br />

Rindenregionen. Dem lag die Überlegung zugrunde, dass die Vorstellung der intendierten Bewegung<br />

zumeist in der visuellen Modalität als bildliche Vorstellung der Bewegung entsteht, und dass visuelle<br />

Vorstellungen von visuellen Rindenfeldern erzeugt werden. Aus diesen Überlegungen resultierte das<br />

Postulat eines von posterior nach anterior gerichteten Stroms der Handlungskontrolle. L. H.: Linkshirniges<br />

Zentrum der rechten Hand; R. H.: Rechtshirniges Zentrum der linken Hand; C. o., C. p., C. t.:<br />

cortikaler Ursprung der occipitalen, parietalen und temporalen Assoziationsfasern zum linkshirnigen<br />

Handzentrum.<br />

Abbildung 1:<br />

Liepmanns Modell der Handlungskontrolle<br />

n C. i.<br />

C. o.<br />

C. o.


ist. Die „ideomotorische“ Einheit von Vorstellung und Ausführung der<br />

Handlung setzt daher intakte Verbindungen zwischen den Zentralregionen<br />

und der restlichen Rinde voraus. Werden sie durch eine Läsion in einer<br />

Hemisphäre unterbrochen, würden die der betroffenen Hemisphäre gegenüberliegenden<br />

Extremitäten apraktisch. Um den Befund, dass linksseitige<br />

Läsionen Apraxie beider Hände und rechtsseitige Läsionen gar keine Apraxie<br />

verursachen, zu erklären, postulierte Liepmann, dass die Umsetzung<br />

des Handlungsentwurfs in motorische Programme an die Verbindung zur<br />

linken Zentralregion gebunden ist. Er dachte, dass eine solche Asymmetrie<br />

Folge der Rechtshändigkeit sein könnte. Weil die rechte Hand in den meisten<br />

anspruchsvollen Tätigkeiten die führende ist, übernimmt die ihr zugeordnete<br />

linke Zentralregion die Kontrolle auch über die untergeordnete<br />

linke Hand. Zur Ausübung dieser Kontrolle ist die Verbindung der beiden<br />

Zentralregionen durch das Corpus callosum notwendig. Unterbrechungen<br />

des Corpus callosum führen daher zu einer Apraxie nur der linken Hand<br />

(Liepmann & Maas, 1907).<br />

In der rechts gezeigten, 1920 publizierten Fassung ist die Genese der Bewegungsformel<br />

eine Leistung der linken Hemisphäre geworden und innerhalb<br />

der Hemisphäre ein Werk posteriorer Rindenregionen (S. 536). Dem<br />

lag die Überlegung zugrunde, dass die Bewegungsformel zumeist in der<br />

visuellen Modalität als bildliche Vorstellung der intendierten Bewegung,<br />

entsteht, und dass visuelle Vorstellungen von visuellen Rindenfeldern erzeugt<br />

werden. Nach wie vor wird aber angenommen, dass die Umsetzung<br />

der Vorstellung in motorische Aktionen an intakte Verbindungen anderer<br />

Hirnregionen zur motorischen Rinde gebunden ist. Die Verschiebung der<br />

Bewegungsformel in visuelle Rindenfelder macht aus der Umsetzung der<br />

Vorstellung in motorische Kommanden einen von posterior nach anterior<br />

gerichteten Strom der Handlungskontrolle, der unter dem Parietallappen<br />

zur Zentralregion zieht. Während in dem frühen Modell parietale Läsionen<br />

nur eine von mehreren Möglichkeiten waren, Verbindungen der Zentralregionen<br />

zur restlichen Rinde zu behindern, bekamen sie in dem neuen Modell<br />

eine zentrale Rolle, weil sie den gesamten Strom von der Vorstellung<br />

zur motorischen Ausführung einer Handlung unterbrechen.<br />

In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Liepmanns Schema der Apraxia<br />

vielfach abgelehnt, denn es stand in Widerspruch zu den damals vorherrschenden<br />

holistischen und anti-lokalisationistischen Auffassungen (De Ajuriaguerra<br />

& Tissot, 1969). Seine „Wiederauferstehung“ im letzten Drittel<br />

dieses Jahrhunderts ging von einer Gruppe von Neurologen, Linguisten und<br />

Psychologen in Boston aus. Ihr prominentester Vertreter war der Neurologe<br />

Norman Geschwind (1965, 1975). Geschwind interessierte vor allem die<br />

Ausführung kommunikativer Gesten. Er folgte Liepmann in der Annahme,<br />

dass parietale Läsionen zur Apraxie führen, weil sie Faserverbindung von<br />

posterior nach anterior unterbrechen. Er verlegte aber den Ursprung des<br />

Stroms in das Wernicke Sprachzentrum im hinteren Temporallappen, weil<br />

5<br />

Liepmann nahm<br />

an, dass die<br />

Umsetzung von<br />

Vorstellungen<br />

in motorische<br />

Aktionen durch<br />

Faserverbindungen<br />

vermittelt<br />

wird, die von<br />

okzipitalen Hirnregionen<br />

durch<br />

den Parietallappen<br />

zur motorischen<br />

Rinde<br />

ziehen


Anmerkungen: Oben: Liepmanns letzte Fassung des posterior nach anterior Schemas der Handlungskon<br />

trolle und der daraus abgeleiteten Varianten der Apraxien (1920). Läsionen im Parietallappen verursachen<br />

„ideo-kinetische“ Apraxie, bei der die Vorstellung der geplanten Bewegung intakt, aber die Umsetzung<br />

in motorische Aktionen gestört ist. Das mittlere Schema wurde vom amerikanischen Neurologen<br />

Norman Geschwind (1975) und das untere von seinem Schüler Kenneth Heilman (1993) vorgeschlagen.<br />

Alle drei Versionen sagen voraus, dass parietale Läsionen Apraxien verursachen, die besonders die Ausführung<br />

von kommunikativen Gesten auf Aufforderung betreffen. M: motor cortex; PM: premotor cortex;<br />

SMG: supramarginal gyrus; AG: angular gyrus; W: Wernicke’s area; VVA: visual association area;<br />

VA: primary visual area.<br />

6<br />

frontal<br />

lobe<br />

premotor<br />

region<br />

Broca's<br />

area<br />

precentral<br />

gyrus<br />

Sylvian<br />

fi ssure<br />

temporal<br />

lobe<br />

central<br />

sulcus<br />

parietal<br />

arcuate lobe<br />

fasciculus<br />

parietal<br />

operculum<br />

Ideomotorisch<br />

Wernicke's<br />

area<br />

Ideatorisch<br />

occipital<br />

lobe<br />

Abbildung 2:<br />

Versionen des von posterior nach anterior gerichteten Stroms der Handlungskontrolle

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