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Leseprobe - Hogrefe

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Kapitel 1<br />

Schizophrene Störungen – Eine Kurzbeschreibung von<br />

Erkrankung und Verlauf<br />

1.1 Beschreibung der Symptomatik<br />

Das Störungsprofil schizophrener Erkrankungen ist<br />

ausgesprochen vielgestaltig. Nicht zufällig sprach<br />

Eugen Bleuler ja denn auch vor ca. 100 Jahre von<br />

der „Gruppe der Schizophrenien“ (Bleuler, 1911),<br />

um eben dieser Vielgestaltigkeit der klinischen<br />

Ausprägung Rechnung zu tragen. Im Folgenden<br />

werden wir die wichtigsten Symptome bei schizophrenen<br />

Störungen beschreiben, möchten aber<br />

bzgl. der diagnostischen Leitlinien im Detail auf<br />

das Kapitel 1.3 dieses Buches verweisen. Ebenso<br />

erfolgt die Darstellung wichtiger kognitiver, sozial-kognitiver<br />

und emotionaler Verarbeitungsstörungen<br />

ausführlich in den Kapiteln 2.1 und 2.2<br />

dieses Buches. Stimmenhören und wahnhafte<br />

Symptomatik spielen im Beschwerdeprofil der<br />

Patienten eine wichtige Rolle und sollen daher<br />

zuvorderst dargestellt werden (Vauth & Stieglitz,<br />

2007):<br />

Halluzinationen:<br />

– Wahrnehmungen ohne entsprechende Reizquelle.<br />

– Akustische Halluzinationen etwa bei 50 %<br />

aller Personen mit schizophrenen Erkrankungen,<br />

visuelle Halluzinationen bei 15 %<br />

und haptische oder taktile bei 5 % (Cutting,<br />

1995).<br />

Die häufigste akustische Halluzination ist das<br />

Stimmenhören. Andere akustische Sinnestäuschungen<br />

wie undifferenzierte Geräusche oder Knallen<br />

(sog. Akoasmen) sind viel seltener. Die Stimmen<br />

können laut und deutlich oder leise und verschwommen<br />

vernommen werden, aus der Nähe<br />

oder aus der Ferne, aus der Außenwelt oder dem<br />

eigenen Körper kommen. Häufig können die Patienten<br />

angeben, ob es sich um eine männliche<br />

oder weibliche Stimme handelt, aber nicht, zu<br />

wem diese gehört. Üblicherweise werden nur relativ<br />

kurze Sätze oder einzelne Worte vernommen.<br />

Bestimmte Formen des Stimmenhörens sind für<br />

schizophrene Störungen so charakteristisch, um<br />

die Diagnose einer schizophrenen Störung im<br />

ICD-10 zu rechtfertigen. Sie wurden von Kurt<br />

Schneider als sog. Symptome ersten Ranges bezeichnet<br />

(Schneider, 1992). Hierunter fasst man<br />

sog. dialogische, kommentierende oder imperative<br />

Stimmen.<br />

Dialogische, kommentierende und<br />

imperative Stimmen:<br />

– Dialogische Stimmen hört der Patient in<br />

Form von Rede und Gegenrede. Andere<br />

unterhalten sich über ihn: „Sie können sich<br />

das nicht vorstellen, aber die Nachbarn<br />

haben plötzlich mit dem lokalen Radiosender<br />

zusammen in der Nachbarswohnung<br />

eine Sendung über mich gemacht; ich<br />

konnte das direkt durch die Wand im meiner<br />

Wohnung hören.“<br />

– Bei kommentierenden Stimmen berichten<br />

die Patienten, dass die Stimmen die Ausführung<br />

von Alltagshandlungen kommentierten,<br />

wenn sie sich z. B. anziehen oder<br />

wenn sie die Salatschüssel von der Küche<br />

hinüber ins Esszimmer tragen: „Jetzt zieht<br />

er sich an.“ oder „Jetzt trägt sie die Salatschüssel<br />

herüber.“<br />

– Imperative Stimmen geben Anweisungen in<br />

der Art: „Tu’ dies … Lass das …“.<br />

Bei optischen Halluzinationen werden von den Patienten<br />

nicht alltägliche oder auch bizarre Bilder<br />

geschildert. Beispiele hierfür, die Cutting (Cutting,<br />

1995) in einer Übersicht aufführt sind etwa:<br />

„Ein großes Tier wie ein Polyp“, „Etwas wie eine<br />

Maus, die über den Flur läuft“, „Luftspiegelungen<br />

in einer Wüste“ oder „Rattenschwanz, der aus dem<br />

eigenen Gesäß kommt“. Beim Vorhandensein von<br />

taktilen (leiblichen) Halluzinationen fühlen sich<br />

die Patienten typischerweise am oder im Körper


10<br />

Kapitel 1<br />

elektrisch, magnetisch, durch Apparate, Strahlen<br />

oder andere physikalische Vorgänge beeinflusst<br />

oder verändert. Das Kriterium des „Gemachten“,<br />

die Zurückführung auf äußere Einflüsse muss<br />

dabei erfüllt sein. Ansonsten ist eher an das Vorliegen<br />

von Zoenästhesien (abnorme Leibgefühle<br />

von seltsamem, bizarrem Charakter) zu denken.<br />

Geruchs- und Geschmackshalluzinationen kommen<br />

bei schizophren Erkrankten relativ selten vor.<br />

Wahn:<br />

– Falsche Überzeugung, die auf nicht korrekten<br />

gedanklichen Prozessen über die äußere<br />

Realität basiert. Diese wird auch fest aufrechterhalten,<br />

wenn eine unbestreitbar und<br />

offensichtlich objektive Evidenz das Gegenteil<br />

belegt. Die Überzeugung wird nicht<br />

von anderen Mitgliedern des Kulturkreises<br />

oder einer Subkultur geteilt, ist also z. B.<br />

nicht Ausdruck einer religiösen Überzeugung.<br />

– Wahn tritt bei mehr als 90 % der schizophren<br />

Erkrankten im Verlaufe ihrer Erkrankung<br />

auf.<br />

Unterschieden wird meist zwischen Wahngedanken<br />

und -wahrnehmungen, wobei es sich bei letzteren<br />

um die wahnhafte Interpretation realer<br />

Wahrnehmungen handelt. Ein Beispiel für eine<br />

Wahnwahrnehmung von Conrad (1992) ist, wenn<br />

der Patient Tropfen sieht, die sich am Käse gebildet<br />

haben, und er dann denkt, dies sei so gemacht,<br />

um ihm zu verstehen zu geben, er müsse<br />

schwitzen, d. h. sich mehr einsetzen und besser<br />

bewähren. Wahngedanken und -wahrnehmungen<br />

können mehr oder weniger stark durch Begründungen<br />

miteinander verbunden sein (systematisierter<br />

Wahn). Wahninhalte können verschiedene Themen<br />

umfassen. Am häufigsten anzutreffen sind Themen<br />

der Beeinträchtigung durch Verfolgung oder Vergiftung,<br />

hypochondrische Befürchtungen (insbesondere<br />

der bevorstehende eigene Tod) sowie Größenideen<br />

in Form von besonderen Fähigkeiten,<br />

politischer oder religiöser Berufung.<br />

1.2 Epidemiologie und Verlauf<br />

Über schizophrene Erkrankungen herrschen in der<br />

Allgemeinbevölkerung viele Vorurteile, die bereits<br />

in der langen Prodromalphase der Erkrankung von<br />

in der Regel 3 bis 5 Jahren, (vgl. Haefner, an der<br />

Heiden, Löffler, Maurer & Hamprecht, 1998) dazu<br />

führen, dass Betroffene und Angehörige zu spät<br />

professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Häufige<br />

Vorurteile sind, dass es sich um eine sehr seltene<br />

Erkrankung handelt, dass sie immer mit einer Gefährlichkeit<br />

einhergeht, die etwa dem Klischee des<br />

Dr. Jekyll und Mr. Hyde folgt („gespaltene Persönlichkeit“),<br />

und dass sie zu einer lebenslangen<br />

Lebensuntüchtigkeit führt. Epidemiologische<br />

Daten über den Verlauf der Erkrankung und deren<br />

Auftrittshäufigkeit machen klar, dass die Erkrankung<br />

durchaus nicht selten ist. Etwa 1 % der<br />

Bevölkerung, d. h. z. B. in Deutschland etwa<br />

800.000 Menschen, sind mindestens einmal in<br />

ihrem Leben von einer schizophrenen Episode<br />

betroffen. Das entspricht etwa der Einwohnerzahl<br />

einer Stadt wie Köln und der Häufigkeit des Auftretens<br />

einer Zuckererkrankung. Hinsichtlich der<br />

Gefährlichkeit ist zu sagen, dass keine erhöhte<br />

Auftretenshäufigkeit für Gewalttaten besteht,<br />

außer in den akuten Phasen der Erkrankung und<br />

unter Einfluss von Alkohol. Auch hinsichtlich der<br />

Lebensuntüchtigkeit muss man korrigierend feststellen,<br />

dass nur etwa 10 % der Erkrankten nicht<br />

dauerhaft außerhalb von Kliniken leben können.<br />

Und an die Stelle der Vorstellung von der gespaltenen<br />

Persönlichkeit tritt das Vulnerabilitäts-<br />

Stress-Kompetenz-Modell als heuristisches Ätiologiekonzept<br />

(s. u.). Die Punktprävalenz der<br />

Erkrankung beträgt 0,06 bis 0,83 % was in einem<br />

Land von der Bevölkerungszahl der Bundesrepublik<br />

Deutschland etwa 48.000 bis 665.000 akut<br />

erkrankten Patienten entspricht.<br />

Die Neuerkrankungsrate zeigt in epidemiologischen<br />

Studien eine weite Spanne z. B. von 0,7 bis<br />

1,4 neue Erkrankungsfälle pro Jahr auf 10.000<br />

Einwohner, was bei einer Bevölkerungsgröße wie<br />

in Deutschland 5.600 bis 12.000 Neuerkrankungen<br />

pro Jahr entspricht (Jablensky et al., 1992).<br />

Männer und Frauen sind von der Erkrankung<br />

nahezu gleich häufig betroffen. Das Ersterkrankungsalter<br />

unterscheidet sich jedoch je nach<br />

Geschlecht: Während die Männer zwischen dem<br />

15. und 35. Lebensjahr, also im Mittel um das<br />

30. Lebensjahr erkranken, sind Frauen zwischen<br />

dem 25. und 37. Lebensjahr, im Mittel um das<br />

36. Lebensjahr von der Krankheit erstmalig betroffen<br />

(Haefner et al., 1998). Die Langzeitverläufe<br />

schizophrener Erkrankungen sind sehr unterschiedlich.<br />

So hat die International Study of<br />

Schizophrenia (ISoS) der WHO (Moscarelli,


Schizophrene Störungen – Eine Kurzbeschreibung von Erkrankung und Verlauf 11<br />

1994) über einen Zeitraum von 14 bis 25 Jahren<br />

in 14 Ländern (Harrison et al., 2001) zeigen können,<br />

dass 50 % der Patienten einen eher günstigen<br />

Verlauf aufweisen: mit einem Rollenfunktionsniveau<br />

über einen Cut off-Wert des Global Assessment<br />

of Functioning (GAF) von 60 und einen<br />

Wert auf dem Disablement Assessment Schedule<br />

(DAS) der WHO von 0 bis 2, dass heißt mit einer<br />

sehr guten bis annehmbaren Rollenfunktionsfähigkeit<br />

bei keiner bis minimaler Symptomatologie.<br />

Ferner wurde in dieser Studie gezeigt, dass<br />

16 % der Betroffenen, die im frühen Erkrankungsverlauf<br />

nur teilweise remittieren auch nach<br />

Jahren noch einen günstigen Verlauf nehmen<br />

können. Eine Vollremission zeigen jedoch lediglich<br />

15 bis 25 % der Betroffenen im Langzeitverlauf.<br />

Nur 20 % der Patienten haben eine singuläre<br />

psychotische Episode. Wenn man jedoch feinere<br />

Kriterien einer passageren psychotischen Labilisierung<br />

heranzieht, haben bis zu 90 % der Betroffenen<br />

innerhalb des ersten Jahres nach einer<br />

Ersterkrankung einen „minor relapse“ (Combs<br />

et al., 2007). Unglücklicherweise kann man gegenwärtig<br />

die Patienten, die lediglich einmal erkranken<br />

oder nur „minor relapses“ im Intervall<br />

aufweisen, nicht zuvor identifizieren. 80 % der<br />

Betroffenen haben mehr als eine psychotische Episode<br />

(Ohmori, Ito, Abekawa & Koyama, 1999; Robinson,<br />

Woerner & Alvir, 1999; Wiersma, Nienhuis,<br />

Slooff & Giel, 1998). Aufgrund der hohen<br />

Auftrittshäufigkeit sind die volkswirtschaftlichen<br />

Kosten der Erkrankung enorm (Knapp, King, Pugner<br />

& Lapuerta, 2004; Moscarelli, 1994; Wiersma,<br />

Kluiter, Nienhuis, Ruphan & Giel, 1995). Dies<br />

liegt vor allem am frühen Erkrankungsausbruch,<br />

an der hohen Rezidiv- und Chronifizierungsneigung,<br />

an den hohen Kosten durch Arbeitsunfähigkeit,<br />

Rehabilitations- und Frühberentungsmaßnahmen.<br />

So stellen schizophrene Erkrankungen<br />

eine der teuersten seelischen Störungen überhaupt<br />

dar (Falloon, Coverdale & Brooker, 1996; Kissling,<br />

1991; Penn, Van der Does, Spaulding & Garbin,<br />

1993).<br />

Einer der wohl wichtigsten Befunde der Forschungen<br />

der letzten 5 Jahre ist, erkannt zu haben,<br />

dass Menschen mit schizophrenen Störungen häufig<br />

bereits 5 bis 7 Jahre vor der Ersthospitalisation<br />

zunehmende Verhaltensauffälligkeiten und Rollenfunktionsstörungen<br />

entwickeln (Haefner et al.,<br />

1998). Die initialen Beschwerden im Frühverlauf<br />

der Erkrankung sind eher unspezifisch und werden<br />

vom Hausarzt, Schulpsychologen, Lehrern<br />

und Mitarbeitern in psychologischen und studentischen<br />

Beratungsstellen sowie in Erziehungsberatungsstellen<br />

häufig als Adoleszenzkrise verkannt.<br />

Typisch für das Risikoprofil sind eine<br />

Tendenz zum sozialen Rückzug (soziale Anhedonie).<br />

Weiter sind kognitive Funktionseinschränkungen<br />

im Bereich der Aufmerksamkeit,<br />

verbalen Merkfähigkeit, auch des abstrahierenden<br />

Denkens typisch. Dies führt zu Leistungsbeeinträchtigungen<br />

in der schulischen und beruflichen<br />

Ausbildung sowie im Studium. Weiter<br />

sind Antriebs- und Initiativemangel charakteristisch,<br />

die vom sozialen Umfeld oft als Bruch mit<br />

der Primärpersönlichkeit erlebt werden und die<br />

nicht durch depressive Syndrome im Hintergrund<br />

erklärbar sind. Die Betroffenen selbst erleben<br />

häufig im Vorfeld der Ersterkrankung<br />

einen Verlust der Steuerbarkeit des eigenen Gedankengangs<br />

und in späteren Stadien dieser Vorläuferperiode<br />

(Klosterkotter, Hellmich, Steinmeyer<br />

& Schultze-Lutter, 2001) zeigen sich<br />

auch kleinere (meist nur stunden- oder tageweise<br />

auftretende) psychotische Episoden mit<br />

halluzinatorischer oder wahnhafter Symptomatik<br />

(sog. BLIPS = brief limited psychotic episodes).<br />

Ein frühes Erkennen und damit eine frühe<br />

optimale Behandlung trägt ganz wesentlich zu<br />

einer Verbesserung des gesamten Erkrankungsverlaufes<br />

bei: Es konnte gezeigt werden, dass die<br />

Dauer der unbehandelten Psychose (DUP) wesentlich<br />

dazu beiträgt, wie die Prognose der Erkrankung<br />

ist (Haley, Drake, Bentall & Lewis,<br />

2003; Larsen et al., 2001; McGlashan, 1999).<br />

Merke:<br />

Die DUP sagt voraus, wie schnell Patienten<br />

unter einer zielgerichteten Pharmakotherapie<br />

eine Symptomremission erreichen, wie vollständig<br />

die Remission ist, wie stark die Rollenfunktionsbehinderung<br />

in der Folge der Erkrankung<br />

ist und sogar wie das Ansprechen auf<br />

psychosoziale Intervention ist.<br />

In den ersten 3 bis 5 Jahren des Erkrankungsverlaufes<br />

wird bzgl. der Behinderungen und der<br />

Symptomatik ein Plateau erreicht. Man spricht<br />

daher in diesem Zusammenhang auch von der<br />

sog. „critical period“ (Birchwood & Spencer,<br />

2001). Durch eine frühe optimierte Behandlung<br />

wird versucht, dieses Plateau auf einem möglichst<br />

hohen Niveau zu stabilisieren.


12<br />

Kapitel 1<br />

1.3 Diagnostische Leitlinien<br />

Die diagnostischen Leitlinien nach ICD-10 für<br />

schizophrene Störungen sind in Tabelle 1 zusammengefasst.<br />

Das ICD-10 unterscheidet dabei, diagnostische<br />

Symptome nach der Sicherheit mit<br />

der diese Auffälligkeiten mit dem Vorliegen einer<br />

schizophrenen Erkrankung verbunden sind (hohe<br />

Sicherheit – nur ein Merkmal ist erforderlich, geringe<br />

Sicherheit – zwei Merkmale sind erforderlich).<br />

Die diagnostische Terminologie wird im Folgenden<br />

nicht näher ausgeführt, da es dazu sehr gute<br />

Glossare gibt, z. B. das AMDP-System (AMDP,<br />

2007). Dagegen wird hier mehr Wert auf häufige<br />

Fehlurteile in der diagnostischen Urteilsbildung<br />

gelegt. Insbesondere der Hausarzt oder der Kliniker<br />

in einer Rehabilitationsklinik oder psychosomatischen<br />

Einrichtungen, der in seiner professionellen<br />

Ausbildung keine oder wenig praktische<br />

Erfahrung im psychiatrischen Kernbereich hatte,<br />

wird die Negativsymptomatik oder kognitive Störungen<br />

nicht hinreichend als therapeutische Zielsymptomatik<br />

erkennen oder umgekehrt vorschnell<br />

aus wahnhafter oder halluzinatorischer Symptomatik<br />

auf das Vorliegen einer schizophrenen Störung<br />

schließen. Verkannt und damit unzureichend<br />

behandelt werden dabei v. a. depressive, bipolaren<br />

und schizoaffektiven Störungen. Im Folgenden<br />

sollen wichtige differenzierende Merkmale nebeneinandergestellt<br />

werden:<br />

– Bei wahnhaften Syndromen verweist z. B. eine<br />

Attribution des Verfolgtwerdens durch einen<br />

äußeren „Feind“ eher auf eine schizophrene<br />

Störung, eine Attribution auf Verfolgung wegen<br />

eines vermeintlichen (moralischen) Vergehens<br />

eher auf eine depressive Störung.<br />

– Während der Depressive sich selbst gewissermaßen<br />

als „Täter“ sieht, sieht der schizophren<br />

Erkrankte sich selbst eher als „Opfer“ einer<br />

Verschwörung und Intrige, die ihm nach Leib<br />

und Leben, Gesundheit oder anderem trachtet.<br />

– Neben dem Thema Schuld/Versündigung ist<br />

Verarmung ein wichtiges Thema wahnhafter<br />

Depressionen.<br />

Tabelle 1:<br />

Klinisch-Diagnostische Leitlinien nach ICD-10<br />

Zeitkriterium<br />

mindestens<br />

eines der<br />

folgenden<br />

Merkmale<br />

oder durch<br />

mindestens<br />

zwei<br />

Zusatzkriterien<br />

Während der meisten Zeit innerhalb eines Zeitraumes von mindestens einem<br />

Monat sollte die Symptomatik bestehen. Diese ist gekennzeichnet entweder<br />

durch<br />

a) Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung, Gedankenentzug oder Gedankenausbreitung;<br />

b) Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten, deutlich bezogen<br />

auf Körper- oder Gliederbewegungen oder bestimmte Gedanken, Tätigkeiten<br />

oder Empfindungen, Wahnwahrnehmung;<br />

c) Kommentierende oder dialogische Stimmen, die über die Patienten reden oder<br />

andere Stimmen, die aus bestimmten Körperstellen kommen;<br />

d) Anhaltender, kulturell unangemessener, bizarrer Wahn, wie der, das Wetter<br />

kontrollieren zu können oder mit Außerirdischen in Verbindung zu stehen;<br />

– anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität, täglich während mindestens<br />

eines Monats, begleitet von flüchtigen oder undeutlich ausgebildeten<br />

Wahngedanken ohne deutliche affektive Beteiligung oder begleitet von lang<br />

anhaltenden überwertigen Ideen;<br />

– Neologismen, Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankenfluss,<br />

was zu Zerfahrenheit oder Danebenreden führt;<br />

– katatone Symptome wie Erregung, Haltungsstereotypien oder wächserne<br />

Biegsamkeit (Flexibilitas cerea), Negativismus, Mutismus und Stupor;<br />

– „negative“ Symptome wie auffällige Apathie, Sprachverarmung, verflachte<br />

oder inadäquate Affekte (Es muss sichergestellt sein, dass diese Symptome<br />

nicht durch eine Depression oder eine neuroleptische Medikation verursacht<br />

werden).


Schizophrene Störungen – Eine Kurzbeschreibung von Erkrankung und Verlauf 13<br />

– Bei manischen Syndromen (Antriebssteigerungen,<br />

Distanzlosigkeit, vermehrte Geldausgaben,<br />

reduzierter Schlaf bei erhaltener oder gar gesteigerter<br />

Tagesfrische/Leistungsfähigkeit) sind<br />

expansive Wahninhalte häufiger, bei denen der<br />

Betroffene sich als Auserwählter im Rahmen<br />

einer menschheitsretteden oder religiös inspirierten<br />

Mission fühlt.<br />

– Ähnlich verhält es sich bei einer halluzinatorischen<br />

Symptomatik: Während der Depressive<br />

meist kritisierende, abwertende oder beschimpfende<br />

Stimmen hört, sind für Schizophrenie<br />

(Alltagshandlungs-)kommentierende, imperative<br />

Stimmen („Tu dies/Lass dass“) oder auch<br />

dialogisierende Stimmen typisch (Stimmen unterhalten<br />

sich über den Betroffenen).<br />

– Auch werden formale Denkstörungen und Negativsymptomatik<br />

(Antriebsinitiative, kognitive<br />

Funktionsstörungen) bei schizophrenen Störungen<br />

oft unzureichend als wichtige pathognomonische<br />

Krankheitszeichen (Erstrangsymptome)<br />

gesehen (Vauth, 2003).<br />

Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass der<br />

Kliniker sich in der diagnostischen Urteilsbildung<br />

von formalen Denkstörungen, Ich-Störungen (Gedankenausbreitung,<br />

Gedankenentzug usw.), von<br />

der An- und Abwesenheit gleichzeitiger manischer<br />

oder depressiver Symptome, von den Attributionen<br />

der wahnhaften Ängste (Wie erklärt sich<br />

der Patient z. B., dass er verfolgt wird?) und den<br />

Stimmeninhalten (s. o.) stärker leiten lassen sollte.<br />

Dies ist differenzialdiagnostisch wichtiger als die<br />

Frage, ob halluzinatorische oder wahnhafte Symptomatik<br />

vorliegt.


Kapitel 2<br />

Behinderungsprofil – Kognitive Funktionseinschränkungen,<br />

Beeinträchtigung der sozialen Kognition und der Emotionalität<br />

Trotz der großen Fortschritte durch die Entwicklung<br />

von Antipsychotika der zweiten Generation<br />

mit wesentlich günstigeren Wirkungs-/Nebenwirkungsprofilen<br />

(Keefe, Silva, Perkins & Lieberman,<br />

1999; Meltzer & McGurk, 1999) und der zahlreichen<br />

neuen nicht nur störungs-, sondern auch<br />

problemfokussierten kognitiv-verhaltenstherapeutischen<br />

Ansätzen in der Behandlung schizophrener<br />

Störungen (Heinssen, Liberman & Kopelowicz,<br />

2000; Lehman et al., 2003; Penn, Waldheter, Perkins,<br />

Mueser & Lieberman, 2005) ist nach wie<br />

vor das Ausmaß an funktionaler Restitution („recovery“)<br />

sehr begrenzt. So zeigte eine neuere prospektive<br />

Längsschnittstudie über fünf Jahre (Robinson,<br />

Woerner, McMeniman, Mendelowitz &<br />

Bilder, 2004), dass in einer repräsentativen Stichprobe<br />

von Patienten mit schizophrenen und schizoaffektiven<br />

Störungen nach einer ersten Krankheitsepisode,<br />

doch immerhin ca. 50 % der Patienten<br />

mindestens über zwei Jahre nahezu vollständig remittiert<br />

sind (remission, symptomatic recovery);<br />

weiter konnte gezeigt werden, dass nur ca. 25 %<br />

einer Berufstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt<br />

nachgehen (functional recovery) und beides lediglich<br />

2,5 % der Patienten erreichen (full recovery).<br />

Rollenfunktionsdefizite im Alltag (Cook &<br />

Razzano, 2000; Green, Kern, Braff & Mintz,<br />

2000; Green & Nuechterlein, 1999) konnten als<br />

weitgehend unabhängig von der Remission der<br />

Positivsymptomatik nachgewiesen werden (Penn,<br />

Corrigan, Bentall, Racenstein & Newman, 1997).<br />

Daher hat man im letzten Jahrzehnt damit begonnen,<br />

Hindernisse für eine möglichst weitgehende<br />

funktionale Restitution („recovery“) und eine<br />

erfolgreiche Behandlung und Rehabilitation zu<br />

identifizieren. Eine zunehmende Anzahl von<br />

Übersichtsarbeiten belegt empirisch, dass sowohl<br />

kognitive Funktionsstörungen, wie auch Defizite<br />

im Bereich der Motivation (Antrieb, Initiative bei<br />

Negativsymptomatik) als auch Störungen im Bereich<br />

der sozialen Kognitionen (Interpretieren und<br />

Auffassen sozialer Stimuli) einen wesentlich größeren<br />

Einfluss auf die soziale und berufliche Integration<br />

von Menschen mit schizophrenen Störungen<br />

haben als die Positivsymptomatik (Green,<br />

1996; Green et al., 2000; Green et al., 1999; Vauth,<br />

Rüsch, Wirtz & Corrigan, 2004). Die therapeutische<br />

Fokussierung von Störungen der Kognitionen,<br />

der sozialen Kognitionen und der Emotionalität<br />

ist aber mit der Hoffnung verbunden, das<br />

Rehabilitationspotenzial der Patienten auszuweiten,<br />

ja auch an Vulnerabilitätsaspekten der Störung<br />

selbst rezidivprophylaktisch anzusetzen. Vor<br />

allem kognitive Defizite wie Beeinträchtigung in<br />

Vigilanz, Gedächtnis und exekutiven Leistungen<br />

(Hypothesenbildung und -testung, Arbeitsgedächtnis)<br />

und die Negativsymptome haben sich hier<br />

als Haupthindernisse identifizieren lassen (Green,<br />

1996; Green et al., 2000; Green et al., 1999). Diese<br />

Forschungsergebnisse haben die Frage aufgeworfen,<br />

auf welche Weise kognitive Funktionsdefizite<br />

mit möglichst weitgehender funktionaler Restitution<br />

und dem Ansprechen auf psychosoziale Interventionen<br />

verbunden sind.<br />

2.1 Beeinträchtigungen der<br />

Kognition als Behandlungshindernisse<br />

Kognitive Funktionsstörungen sind bei schizophrenen<br />

Erkrankungen sehr häufig (Bilder et al.,<br />

1995; Heaton, McAdams & Ku, 1994; Palmer,<br />

Heaton & Paulsen, 1997; Velligan & Bow-Thomas,<br />

1999). Sie bestehen relativ früh im Krankheitsverlauf,<br />

sind relativ stabil über die Zeit und<br />

unabhängig von der Positivsymptomatik (Gold &<br />

Harvey, 1993; Sharma & Harvey, 2000). Besonders<br />

akzentuierte kognitive Defizite finden sich in den<br />

Bereichen der verbalen Merkfähigkeit, der selektiven<br />

Aufmerksamkeit (Ablenkbarkeit: Unterscheiden<br />

von Wichtigem und Unwichtigem) und der<br />

Daueraufmerksamkeit (den Spannungsbogen auch<br />

über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten<br />

können) sowie der Handlungsplanung und -organisation.<br />

Kognitive Funktionsstörungen sind die<br />

wohl stärksten Negativprädiktoren für eine erfolgreiche<br />

soziale (Partnerschaft; Freundeskreis) und<br />

berufliche Integration (Anstellung auf dem ersten<br />

Arbeitsmarkt) sowie auch für das Ansprechen auf<br />

psychosoziale Interventionen wie berufliche Rehabilitation,<br />

Symptommanagement und soziales<br />

Kompetenztraining (Green, 1996; Green et al.,


Behinderungsprofil – Kognitive Funktionseinschränkungen 15<br />

1999; Vauth, Dreher-Rudolph & Stieglitz, 1999).<br />

Daher sollte auch bei der Behandlungs- und Rehabilitationsplanung<br />

eine neuropsychologische<br />

Basisdiagnostik erfolgen. Dies wird leider oft<br />

versäumt und stattdessen mit vorurteilbeladenen<br />

Alltagskonzepten durch den Kliniker gearbeitet,<br />

die zu einer systematischen Unter- bzw. Überschätzung<br />

der Leistungsfähigkeit des Patienten<br />

führen können. Künftiges Funktionieren wird aus<br />

der Zuordnung zur Erkrankungsgruppe abgeleitet:<br />

Dies hat eher mit „labeling“ und Stigmatisierung<br />

(Vauth, Kleim, Wirtz & Corrigan, 2007) als<br />

mit einer rationalen Ableitung von Rehabilitationsempfehlungen<br />

zu tun. Auch lassen sich in der<br />

Leistungsdiagnostik leistungsmotivationsrelevante<br />

Verhaltensbeobachtungen machen: Wie geht der<br />

Patient mit den Bedingungen Zeitdruck, Steigerung<br />

von Schwierigkeitsgrad und Frustration bei<br />

Misserfolg um, wie verändern sich Leistungsparameter<br />

wie Bearbeitungsgeschwindigkeit bzw.<br />

Fehlerrate als Reaktion darauf?<br />

Tabelle 2:<br />

Neuropsychologische und leistungsdiagnostische Untersuchungsverfahren zur Erfassung des neurokognitiven<br />

Behinderungsprofils schizophrener Patienten (in Anlehnung an Green, 1996; Naber, Lambert & Krausz, 1999)<br />

Bereich<br />

Aufmerksamkeit<br />

selektive Aufmerksamkeit<br />

Vigilanz und Aufmerksamkeit<br />

Im Hinblick auf die Akutbehandlung und vor allem<br />

auch auf die berufliche Rehabilitation kommt der<br />

Erfassung kognitiver Funktionen eine zentrale Bedeutung<br />

zu: Übersichtsarbeiten (z. B. Vauth et al.,<br />

2000) weisen darauf hin, dass diese Variablen<br />

(z. B. selektive Aufmerksamkeit, verbale Merkfähigkeit,<br />

exekutive Funktionen) häufig für die soziale<br />

Integration und berufliche Funktionsfähigkeit<br />

wichtigere Prädiktorvariablen darstellen als<br />

die Symptomatik (Ausnahme: Postakut persistie-<br />

Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit<br />

Wortflüssigkeit (divergentes Denken)<br />

Exekutive Steuerungsfunktion (kognitive<br />

Umstellfähigkeit, Planung)<br />

Planung<br />

Gedächtnis<br />

Phonological looping (working memory)<br />

Arbeitsgedächtnis (working memory,<br />

executive system)<br />

Raumverarbeitung<br />

Verfahren<br />

– Continous Performance-Test (Sensitivitätsindex der<br />

Degraded Stimulus Version)<br />

– Zahlen-Symbol-Test aus dem HAWIE-R<br />

– Stroop-Test<br />

– Continuous-Performance-Test (Diskriminationsabfall<br />

vom ersten bis zum letzten Drittel)<br />

– Trail-Making-Test A (einfache Reiz-Reaktionsaufgaben)<br />

– IST-Wortflüssigkeit<br />

– Wisconsin Card Sorting Test (WCST)<br />

– Trail Making Test B (TMT-B)<br />

– Labyrinth-Test<br />

– Tower-Tests (z. B. Tower of Hanoi, Tower of London)<br />

– Logical Memory in der WMS-R (Wechsler Memory<br />

Scale-revised)<br />

– Rey Auditory Verbal Learning Test (dt.: Verbaler<br />

Lern- und Merkfähigkeitstest)<br />

– Zahlen nachsprechen – vorwärts (digits forward)<br />

– Letter Number Span<br />

– Mosaik-Test aus dem HAWIE-R

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