Kinder mit oppositionellem und aggressivem Verhalten - Hogrefe
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Marcel Aebi · Rhainer Perriard<br />
Barbara Stiffler Scherrer · Ralph Wettach<br />
<strong>Kinder</strong> <strong>mit</strong><br />
<strong>oppositionellem</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>aggressivem</strong> <strong>Verhalten</strong><br />
Das Baghira-Training<br />
<strong>mit</strong> CD-ROM
<strong>Kinder</strong> <strong>mit</strong> <strong>oppositionellem</strong> <strong>und</strong> <strong>aggressivem</strong> <strong>Verhalten</strong>
<strong>Kinder</strong> <strong>mit</strong><br />
<strong>oppositionellem</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>aggressivem</strong> <strong>Verhalten</strong><br />
Das Baghira-Training<br />
von<br />
Marcel Aebi, Rhainer Perriard, Barbara Stiffler Scherrer<br />
<strong>und</strong> Ralph Wettach<br />
Göttingen · Bern · Wien · paris · OXFORD · praG · tOronto<br />
CAMBriDGE, MA · AMsterDAM · Kopenhagen · StOCKholm
Dr. phil. Marcel Aebi, geb. 1971. 1994-2001 Studium der Psychologie, Psychopathologie <strong>und</strong> Kriminologie in Zürich.<br />
Seit 2002 Psychologe <strong>und</strong> wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für <strong>Kinder</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie der Universität<br />
Zürich. 2009 Promotion. 2010 Fachtitel für Psychotherapie. Seit 2010 Forschungsleiter an der Fachstelle für <strong>Kinder</strong>- <strong>und</strong><br />
Jugendforensik in Zürich.<br />
Rhainer Perriard, geb. 1957. Ausbildung als Primarlehrer <strong>und</strong> Weiterbildung zum Schulischen Heilpädagogen. 1995-1997<br />
Ausbildung in personenzentrierter Beratung. 1986-2010 als schulischer Heilpädagoge in der <strong>Kinder</strong>station Brüschhalde<br />
tätig. 1999-2010 Schulleiter <strong>und</strong> Mitglied des Leitungsteams der <strong>Kinder</strong>station Brüschhalde. Seit 2007 regelmäßiger<br />
Baghira-Trainer. Seit 2010 Schulleiter im Sonderschulheim Stiftung Schloss Regensberg.<br />
Dr. med. Barbara Stiffler Scherrer, geb. 1967. Studium der Humanmedizin an der Universität Zürich. 1999 Promotion.<br />
Seit 2005 Oberärztin im <strong>Kinder</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrischen Dienst der Universität Zürich. 2006 Facharzttitel in <strong>Kinder</strong><strong>und</strong><br />
Jugendpsychiatrie <strong>und</strong> -psychotherapie.<br />
Dr. phil. Ralph Wettach, geb. 1968. Studium der Psychologie <strong>und</strong> Psychopathologie in Zürich. 2002 Promotion. 1993-2000<br />
wissenschaftlicher Mitarbeiter <strong>und</strong> Projektleiter am Institut für Suchtforschung Zürich. 2003-2005 Psychologe bei der<br />
Jugendberatung der Stadt Zürich. 2005-2010 Klinischer Psychologe am Zentrum für <strong>Kinder</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie der<br />
Universität Zürich. Seit 2007 verschiedene Lehraufträge. 2010 Fachtitel für Psychotherapie. Seit 2010 Fachbereichsleiter<br />
am Schulpsychologischen Dienst der Stadt Zürich.<br />
Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren,<br />
Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) <strong>mit</strong> Autoren bzw. Herausgebern große Mühe darauf verwandt, diese Angaben<br />
genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung<br />
<strong>und</strong> Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber <strong>und</strong> Verlag übernehmen<br />
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der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht<br />
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© 2012 <strong>Hogrefe</strong> Verlag GmbH & Co. KG<br />
Göttingen • Bern • Wien • Paris • Oxford • Prag • Toronto<br />
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engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig <strong>und</strong> strafbar. Das<br />
gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen <strong>und</strong> die Einspeicherung<br />
<strong>und</strong> Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />
Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar<br />
Baghira-Illustrationen: Rhainer Perriard, Zürich<br />
Gesamtherstellung: AZ Druck <strong>und</strong> Datentechnik, Kempten<br />
Printed in Germany<br />
Auf säurefreiem Papier gedruckt<br />
ISBN 978-3-8017-2303-3
Inhalt<br />
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
Kapitel 1: Theoretischer Hintergr<strong>und</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
1.1 Störung <strong>mit</strong> <strong>oppositionellem</strong> Trotzverhalten (SOT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />
1.1.1 Definition <strong>und</strong> Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />
1.1.2 Klinische Bedeutsamkeit der SOT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />
1.1.3 Aggressives <strong>Verhalten</strong> <strong>und</strong> Zusammenhang <strong>mit</strong> SOT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
1.1.4 Symptomdimensionen der SOT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
1.1.5 Komorbide Störungen <strong>und</strong> differenzialdiagnostische Abgrenzung der SOT . . . . . . . . . . . 15<br />
1.2 Erklärungsmodelle von <strong>oppositionellem</strong> <strong>und</strong> <strong>aggressivem</strong> <strong>Verhalten</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />
1.2.1 Häufige Risikofaktoren bei der Entstehung von <strong>aggressivem</strong> <strong>und</strong> <strong>oppositionellem</strong><br />
<strong>Verhalten</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />
1.2.2 Biologisch-motivationale Modelle von <strong>oppositionellem</strong> <strong>und</strong> <strong>aggressivem</strong> <strong>Verhalten</strong> . . . . 16<br />
1.2.3 Soziale Theorien der SOT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />
1.2.4 Kognitive Theorien der SOT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />
1.3 Störungsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />
1.4 Interventionsmethoden bei SOT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />
1.4.1 Kontingenzmanagement <strong>und</strong> Verstärkerpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />
1.4.2 Modelllernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />
1.4.3 Problemlösetrainings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />
1.4.4 Soziale Perspektivenübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />
1.4.5 Rollenspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />
1.4.6 Selbstverbalisation als Selbstinstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />
1.5 Wirksamkeit therapeutischer Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />
Kapitel 2: Konzept des Baghira-Trainings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29<br />
Kapitel 3: Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />
3.1 Verfahren zur Fremd- <strong>und</strong> Selbsteinschätzung von <strong>oppositionellem</strong> <strong>und</strong> <strong>aggressivem</strong><br />
<strong>Verhalten</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />
3.2 Indikation für die Teilnahme am Baghira-Training . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />
Kapitel 4: Evaluation des Baghira-Trainings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />
Kapitel 5: Aufbau des Baghira-Trainings <strong>und</strong> Hinweise zur Durchführung . . . . . . . 38<br />
5.1 Vor dem Trainingsbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38<br />
5.2 Übersicht über das Gruppen training . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38<br />
5.3 Aufbau der Module . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />
5.4 Voraussetzungen für die Durchführung des Trainings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />
5.4.1 Voraussetzungen bei den <strong>Kinder</strong>n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />
5.4.2 Voraussetzungen bei den Trainern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />
5.4.3 Zeitliche Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />
5.4.4 Raum <strong>und</strong> Aufzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
6<br />
Inhalt<br />
5.5 Sitzungsübergreifende Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />
5.5.1 Leitfigur Baghira . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />
5.5.2 Trainingsmappe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />
5.5.3 Gruppenregeln <strong>und</strong> Belohnungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />
5.5.4 Imaginationsgeschichten <strong>mit</strong> Entspannungselementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />
5.5.5 Rollenspiele <strong>und</strong> weitere Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />
5.5.6 Auflockerungsspiele <strong>und</strong> Pause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />
5.5.7 Hausaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />
5.5.8 Stimmungsbarometer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />
5.6 Schwerpunktsetzung im Training bei einzelnen <strong>Kinder</strong>n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45<br />
5.7 Schwierige Therapiesituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45<br />
5.7.1 Schwieriger Einstieg <strong>mit</strong> viel fältigen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45<br />
5.7.2 Keine konstruktiven Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />
5.7.3 Ein Kind ist abgelenkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />
5.7.4 Dysfunktionale gruppen dynamische Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />
5.7.5 Schlechte Mitarbeit <strong>und</strong> Verweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />
5.8 Unterschiede im ambulanten <strong>und</strong> stationären Setting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47<br />
Kapitel 6: Ablauf der einzelnen Trainingsmodule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48<br />
6.1 Modul 1: Kennenlernen <strong>und</strong> Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48<br />
6.2 Modul 2: Therapieziel <strong>und</strong> Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />
6.3 Modul 3: Gefühle <strong>und</strong> Selbstwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />
6.4 Modul 4: Umgang <strong>mit</strong> Wut <strong>und</strong> Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84<br />
6.5 Modul 5: Impuls- <strong>und</strong> Ärgerkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />
6.6 Modul 6: Konflikt <strong>und</strong> Problemlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100<br />
6.7 Modul 7: Empathie <strong>und</strong> Perspektivenübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107<br />
6.8 Modul 8: Positive <strong>und</strong> negative Rückmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114<br />
6.9 Modul 9: Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123<br />
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129<br />
Anhang: Übersicht über die Arbeitsmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133<br />
CD-ROM<br />
Die CD-ROM enthält PDF-Dateien aller Arbeitsmaterialien, die zur Durchführung<br />
des Therapieprogrammes notwendig sind.<br />
Die PDF-Dateien können <strong>mit</strong> dem Programm Acrobat ® Reader (eine kostenlose Version<br />
ist unter www.adobe.com/products/acrobat erhältlich) gelesen <strong>und</strong> ausgedruckt werden.
Vorwort<br />
Störungen <strong>mit</strong> <strong>oppositionellem</strong> <strong>und</strong> <strong>aggressivem</strong><br />
<strong>Verhalten</strong> bei <strong>Kinder</strong>n dürfen <strong>mit</strong> Recht ein breites<br />
Interesse in der Fachwelt <strong>und</strong> unter Laien beanspruchen.<br />
Sie sind häufig <strong>und</strong> haben in allen westlich<br />
geprägten Ländern in den letzten Jahrzehnten<br />
eindeutig zugenommen. Hier sind <strong>mit</strong> Altersschwankungen<br />
wahrscheinlich bis zu geschätzten<br />
20 % der <strong>Kinder</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen betroffen. Sowohl<br />
im Kindes- als auch im Jugendalter überwiegen<br />
die Jungen <strong>mit</strong> derartigen Störungen <strong>und</strong><br />
sind Sozialschichteffekte insofern bedeutsam, als<br />
niedrige Sozialschicht, niedriges Einkommen,<br />
Sozialhilfe <strong>und</strong> benachteiligte Wohnquartiere <strong>mit</strong><br />
einer Häufung von oppositionellen <strong>und</strong> aggressiven<br />
Störungen einhergehen. Der am stärksten<br />
provozierende Bef<strong>und</strong> der epidemiologischen<br />
Forschung dürfte jedoch in der Tatsache liegen,<br />
dass nur 15 bis 25 % der betroffenen <strong>Kinder</strong> professionelle<br />
Hilfe erhalten.<br />
In Einrichtungen der psychosozialen Versorgung<br />
kommen diese <strong>Kinder</strong> meist relativ spät zur Vorstellung<br />
<strong>und</strong> Maßnahmenplanung. Das Erscheinungsbild<br />
ihrer Auffälligkeiten ist vielfältig <strong>und</strong><br />
teilweise von zusätzlichen Störungen gekennzeichnet,<br />
wobei die lebensgeschichtliche Prägung<br />
der <strong>Verhalten</strong>sprobleme <strong>und</strong> zahlreiche Belastungsfaktoren<br />
ihre Spuren hinterlassen haben.<br />
Eine sorgfältige Abklärung <strong>mit</strong>hilfe von Interview<br />
<strong>und</strong> Fragebögen unter Einbezug des Kindes<br />
<strong>und</strong> aller bedeutsamen Bezugspersonen muss diesen<br />
vielfältigen Einflussfaktoren nachgehen <strong>und</strong><br />
ihrem relativen Stellenwert im Bedingungsgefüge<br />
oppositioneller <strong>und</strong> aggressiver Störungen Rechnung<br />
tragen. Dabei müssen mögliche, aber meist<br />
nicht zentral bedeutsame biologische Risikofaktoren<br />
<strong>und</strong> vor allem die zahlreichen psychosozialen<br />
Risikofaktoren erkannt <strong>und</strong> eingeschätzt werden.<br />
Ohne eine angemessene Berücksichtigung<br />
der individuellen, situativen, familiären, sozialen<br />
<strong>und</strong> gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren lässt<br />
sich auch für das einzelne betroffene Kind kein<br />
schlüssiges Bild von der Entstehungsgeschichte<br />
oppositioneller <strong>und</strong> aggressiver <strong>Verhalten</strong>sprobleme<br />
entwickeln.<br />
Die Herausforderungen in der Behandlung sind<br />
angesichts der Komplexität des Bedingungsgefüges<br />
<strong>und</strong> des Gefährdungspotenzials dieser Probleme<br />
beträchtlich. Letzteres besteht nicht nur in<br />
der Bedrohung von Dritten beziehungsweise der<br />
Gesellschaft allgemein durch <strong>Kinder</strong> <strong>und</strong> Jugendliche<br />
<strong>mit</strong> oppositionellen <strong>und</strong> aggressiven<br />
Störungen, sondern auch in der Beeinträchtigung<br />
der Entwicklung der Betroffenen. Für diese sind<br />
insbesondere bei früher Manifestation der Störungen<br />
zahlreiche Risiken deutlich erhöht, zu<br />
denen spätere Kriminalität <strong>und</strong> Gewalt, eine höhere<br />
Rate psychischer Störungen, schlechtere<br />
Bildungsabschlüsse <strong>und</strong> niedrigere berufliche<br />
Qualifikation, erhöhte Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> niedrigeres<br />
Einkommen, Abhängigkeit von Sozialhilfe,<br />
geringere soziale Einbindung, hohe Raten<br />
kurzlebiger <strong>und</strong> oft von Gewalt gekennzeichneter<br />
Partnerschaften, Versagen in der <strong>Kinder</strong>erziehung,<br />
eine höhere Krankheitsrate <strong>und</strong> eine verminderte<br />
Lebenserwartung gehören. Die Kosten für die<br />
Betroffenen <strong>und</strong> die Gesamtgesellschaft sind also<br />
immens <strong>und</strong> es müsste im besten Interesse aller<br />
liegen, eine Frühbehandlung durch Prävention<br />
<strong>und</strong> kompetente Behandlung zu unterstützen.<br />
Einrichtungen der psychosozialen Versorgung<br />
einschließlich der klinischen <strong>Kinder</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />
haben sich schon immer den<br />
Problemen von <strong>Kinder</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen <strong>mit</strong><br />
<strong>oppositionellem</strong> <strong>und</strong> <strong>aggressivem</strong> <strong>Verhalten</strong> stellen<br />
müssen. Dabei herrschte über lange Zeit eine<br />
Tendenz vor, sich zwar <strong>mit</strong> professioneller Sorgfalt<br />
der Diagnostik der Probleme zu widmen,<br />
hinsichtlich der Behandlung sich aber schwerpunktmäßig<br />
auf die Möglichkeiten korrigierender<br />
pädagogischer Bemühungen innerhalb <strong>und</strong><br />
außerhalb der Familie zu verlassen. Diese vorherrschende<br />
Haltung hat sich <strong>mit</strong> dem Aufkommen<br />
verhaltenstherapeutischer Interventionen gr<strong>und</strong>legend<br />
geändert, sodass einer früher nicht selten<br />
auch unter Experten anzutreffenden, relativen<br />
therapeutischen Hoffnungslosigkeit die Basis<br />
entzogen wurde. Die moderne <strong>Verhalten</strong>stherapie<br />
hat ihre Behandlungsprinzipien nicht nur in<br />
einem frühen Stadium zu einem beträchtlichen<br />
Teil in der Therapie von <strong>Kinder</strong>n <strong>mit</strong> sogenanntem<br />
störenden <strong>Verhalten</strong> ausgeformt, sondern in<br />
der Folgezeit durch die Entwicklung manualisierter<br />
Interventionsprogramme wesentlich dazu<br />
beigetragen, dass wirksame Behandlungsformen<br />
verfügbar <strong>und</strong> in überschaubaren Zeiträumen<br />
trainierbar wurden, um den großen Behandlungsbedarf<br />
abzudecken. Mit den Forderungen nach<br />
einem hohen Grad an Strukturierung, nachgewiesener<br />
Wirksamkeit <strong>und</strong> angemessenen Kosten,
8<br />
Vorwort<br />
die an alle verhaltenstherapeutischen Interventionen<br />
gestellt werden, haben sich diese Behandlungsprogramme<br />
sehr bald eine dominante<br />
Position unter den psychotherapeutischen Interventionen<br />
erworben.<br />
Nachdem diese Entwicklung zunächst sehr stark<br />
von angelsächsischen Behandlungsprogrammen<br />
bestimmt wurde, die entweder übersetzt oder bearbeitet<br />
oder aber als Modell für eigene Entwicklungen<br />
im deutschsprachigen Raum verwendet<br />
wurden, hat die Implementierung der <strong>Verhalten</strong>stherapie<br />
in der psychosozialen Versorgung auch<br />
hier in der Zwischenzeit ein derartiges Niveau<br />
erreicht, dass zunehmend Eigenentwicklungen<br />
verfügbar geworden sind. Das professionelle Interesse<br />
an derartigen Programmen ist groß <strong>und</strong><br />
wird sich <strong>mit</strong> Sicherheit auch auf das vorliegende<br />
Baghira-Training erstrecken. Dieses Programm<br />
ist aus der un<strong>mit</strong>telbaren Versorgungspraxis der<br />
<strong>Kinder</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie entstanden. Es<br />
wurde aus der klinischen Arbeit <strong>mit</strong> wirklich gestörten<br />
<strong>Kinder</strong>n erarbeitet <strong>und</strong> verdankt seine<br />
praktische Relevanz dieser Nähe <strong>und</strong> den Erfahrungen<br />
<strong>mit</strong> diesen <strong>Kinder</strong>n.<br />
Die interdisziplinär verankerten Autoren stellen<br />
sich den Herausforderungen der klinischen, therapeutischen<br />
<strong>und</strong> pädagogischen Arbeit in der realen<br />
Welt der Versorgung. Sie haben aus der reflektierenden<br />
Sicht auf diese Probleme ein theoretisch<br />
geleitetes <strong>und</strong> zugleich praktikables, trainierbares<br />
<strong>und</strong> wirksames Programm entwickelt. Das modular<br />
aufgebaute Programm verdankt seine Attraktivität<br />
seiner Kindzentrierung, seiner breiten, über<br />
den engen therapeutischen Rahmen hinausgehenden<br />
Einsetzbarkeit <strong>und</strong> dem Gruppenformat in<br />
Verbindung <strong>mit</strong> einer ansprechenden Gestaltung,<br />
die nicht zuletzt in der liebenswerten Figur des<br />
Baghira zum Ausdruck kommt. In der Fokussierung<br />
auf das Kind <strong>und</strong> die Verbesserung seiner<br />
Bewältigungsfertigkeiten <strong>und</strong> Sozialkompetenz<br />
liegt der besondere Charakter dieses kognitivverhaltenstherapeutischen<br />
Trainings. Der Bausteincharakter<br />
vieler verhaltenstherapeutischer<br />
Programme <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> auch der relative Beitrag zu<br />
multimodalen Interventionen werden auch dadurch<br />
verdeutlicht, dass ergänzende Programme<br />
wie Elterntrainings oder andere pädagogische<br />
Maßnahmen angeschlossen werden können.<br />
Es war für mich ein besonderes Privileg, die Entwicklung<br />
des Baghira-Trainings verfolgen <strong>und</strong> in<br />
diesem Prozess wahrnehmen zu dürfen, wie die<br />
Saat des verhaltenstherapeutisch orientierten<br />
Versorgungsgedankens in der <strong>Kinder</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />
in Zürich <strong>und</strong> andernorts in der<br />
jüngeren Vergangenheit aufgegangen ist. Den<br />
Autoren gilt meine Bew<strong>und</strong>erung für ihr differenziertes<br />
<strong>und</strong> praktisches Therapieprogramm,<br />
das unter normalen <strong>und</strong> nicht selten belastenden<br />
alltäglichen Arbeitsbedingungen erarbeitet wurde.<br />
Ich wünsche dem Baghira-Training eine breite<br />
Akzeptanz <strong>und</strong> auch mögliche Weiterentwicklungen<br />
in der Welt der psychosozialen Versorgung<br />
zum Wohle der <strong>Kinder</strong> <strong>mit</strong> <strong>oppositionellem</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>aggressivem</strong> <strong>Verhalten</strong>, ihrer Familien <strong>und</strong><br />
der Gemeinschaft.<br />
Aalborg, Basel <strong>und</strong> Zürich, im Sommer 2010<br />
Hans-Christoph Steinhausen
Einleitung<br />
Das vorliegende Baghira-Training ist ein Therapiemanual<br />
zur Förderung von sozial kompetentem,<br />
nicht <strong>aggressivem</strong> <strong>Verhalten</strong> von <strong>Kinder</strong>n,<br />
welche an oppositionellen oder aggressiven <strong>Verhalten</strong>sproblemen<br />
leiden. Das Baghira-Training<br />
ist als Gruppenprogramm für <strong>Kinder</strong> von 8 bis<br />
13 Jahren konzipiert <strong>und</strong> eignet sich für den Einsatz<br />
in sozialpädagogischen, schulischen <strong>und</strong><br />
kinderpsychiatrischen Einrichtungen. Als Leitfigur<br />
führt der Panther Baghira durch das Training.<br />
Baghira stammt aus dem Werk „Dschungelbuch“<br />
von Rudyard Kipling, in dem er als besonnener<br />
Partner Mogli, dem Menschenkind, zur Seite<br />
steht <strong>und</strong> ihm hilft, erfolgreich die zahlreichen<br />
gefährlichen Abenteuer im Dschungel zu bestehen.<br />
Baghira hat im Gruppentraining ebenfalls<br />
die Aufgabe, die <strong>Kinder</strong> zu begleiten <strong>und</strong> auf<br />
ihrem Weg fort von <strong>aggressivem</strong>, hin zu sozial<br />
kompetentem <strong>Verhalten</strong> zu unterstützen. Visuell<br />
ist er in Form von Aquarellen auf sämtlichen Arbeitsblättern<br />
präsent. In Fantasiegeschichten begleitet<br />
er die <strong>Kinder</strong> auf Reisen an fremde Orte.<br />
Er zeigt ihnen verschiedene Techniken <strong>und</strong> Strategien<br />
der Ärgerkontrolle <strong>und</strong> der friedlichen<br />
Konfliktlösung, welche in Form von Aufgaben<br />
<strong>und</strong> Spielen eingeübt werden. Die <strong>Kinder</strong> sind<br />
danach in der Lage, ihren Ärger <strong>und</strong> ihre aggressiven<br />
Impulse besser zu kontrollieren <strong>und</strong> angemessene<br />
Konfliktlösungen anstelle von körperlicher<br />
<strong>und</strong> verbaler Gewalt einzusetzen.<br />
Oppositionelles <strong>und</strong> aggressives <strong>Verhalten</strong> ist<br />
bei <strong>Kinder</strong>n <strong>und</strong> insbesondere bei Jungen häufig<br />
anzutreffen. Dabei können diese sozialen <strong>Verhalten</strong>sprobleme<br />
in ungünstiger Weise <strong>mit</strong> elterlichen<br />
Erziehungsschwierigkeiten <strong>und</strong> schulischen<br />
Leistungsproblemen zusammenwirken<br />
<strong>und</strong> sich gegenseitig verstärken. Rasch kann sich<br />
daraus ein gravierendes Problemverhalten entwickeln,<br />
welches das Einschreiten von Jugendhilfeeinrichtungen<br />
<strong>und</strong> Behörden notwendig<br />
macht, da Eltern, Lehrer 1 <strong>und</strong> weitere Bezugspersonen<br />
überfordert sind. Wirksame Interventionen<br />
sind daher notwendig, um den Problemen<br />
entgegenzuwirken <strong>und</strong> die betroffenen <strong>Kinder</strong>,<br />
Eltern <strong>und</strong> Bezugspersonen zu entlasten. In den<br />
letzten Jahrzehnten wurden darum zahlreiche<br />
Interventionsansätze für aggressives <strong>und</strong> oppositionelles<br />
Problemverhalten entwickelt <strong>und</strong> eingesetzt.<br />
Neben Trainingsangeboten für Eltern<br />
haben sich vor allem kognitiv-verhaltenstherapeutisch<br />
ausgerichtete Ärgerkontroll- <strong>und</strong> Problemlösungstrainings<br />
als wirksam erwiesen (vgl.<br />
Kapitel 1.5).<br />
Das Baghira-Training ist in den letzten Jahren am<br />
<strong>Kinder</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrischen Dienst der<br />
Universität Zürich entwickelt worden (für weitere<br />
Informationen siehe http://www.kjpd.uzh.ch). Dabei<br />
haben sich die Autoren von bestehenden Trainingsmanualen<br />
inspirieren lassen, neue Erkenntnisse<br />
aus Forschungsstudien einbezogen <strong>und</strong><br />
Verbesserungen aus der praktischen Erfahrung<br />
<strong>mit</strong> dem Gruppentraining eingebaut. Schließlich<br />
wurde das Baghira-Training bezüglich seiner Wirksamkeit<br />
überprüft. Als Erweiterung zu bestehenden<br />
Trainingsprogrammen für <strong>Kinder</strong> <strong>mit</strong> aggressiven<br />
<strong>und</strong> oppositionellen <strong>Verhalten</strong>sweisen wurde das<br />
Baghira-Training nicht nur für die ambulante<br />
Durchführung, sondern auch für den Einsatz im<br />
stationären Rahmen entwickelt. Das vorliegende<br />
Programm richtet sich neben Psychologen, Psychiatern<br />
<strong>und</strong> Therapeuten auch an Erzieher, Sozialpädagogen,<br />
Lehrer <strong>und</strong> Pflegekräfte. Dies ist<br />
wichtig, da <strong>Kinder</strong> <strong>mit</strong> aggressiven <strong>und</strong> oppositionellen<br />
<strong>Verhalten</strong>sproblemen oft zeitweilig oder<br />
dauerhaft in pädagogischen bzw. sozialpädagogischen<br />
Institutionen betreut werden. Das Baghira-<br />
Training bietet dort eine sinnvolle Ergänzung zu<br />
sozial- <strong>und</strong> sonderpädagogischen Maßnahmen<br />
<strong>mit</strong> dem Ziel, aggressives sowie oppositionelles<br />
<strong>Verhalten</strong> zu reduzieren <strong>und</strong> sozial kompetentes<br />
<strong>Verhalten</strong> aufzubauen. Es ist indessen darauf hinzuweisen,<br />
dass aggressive <strong>und</strong> oppositionelle<br />
<strong>Verhalten</strong>sprobleme meist komplexe Störungen<br />
darstellen, welche multimodale Interventionen<br />
notwendig machen.<br />
Durch die mehrjährige Entwicklung in interdisziplinärer<br />
Zusammenarbeit ist das Baghira-Training<br />
schließlich als mehrfach praxisgeprüftes Trainingsmanual<br />
entstanden, welches wissenschaftliche<br />
Gr<strong>und</strong>lagen berücksichtigt <strong>und</strong> dessen Durchführung<br />
den <strong>Kinder</strong>n neben den Lern- <strong>und</strong> Übungsinhalten<br />
auch Spaß <strong>und</strong> Freude bereitet <strong>und</strong> so<strong>mit</strong><br />
<strong>Kinder</strong> wie Trainer zu begeistern vermag.<br />
1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im folgenden Text ausschließlich die männliche Form verwendet. Wenn nichts<br />
weiter ausgeführt wird, sind die weiblichen Personen jeweils <strong>mit</strong>gemeint.
10<br />
Einleitung<br />
Bei der Entstehung des Baghira-Trainings haben<br />
zahlreiche Personen <strong>mit</strong>geholfen, bei denen sich<br />
die Autoren an dieser Stelle herzlich bedanken<br />
möchten: Astrid Hübecker, Jana Friese Jaworsky,<br />
Katharina Herdener Pinnekamp, Jasna Dellenbach<br />
<strong>und</strong> weitere Mitarbeiter des <strong>Kinder</strong>- <strong>und</strong><br />
Jugendpsychiatrischen Dienstes der Universität<br />
Zürich haben die Autoren bei der Konzeption, der<br />
Entstehung <strong>und</strong> der Durchführung des Baghira-<br />
Trainings tatkräftig unterstützt. Hans-Christoph<br />
Steinhausen hat die Autoren dazu ermuntert, das<br />
vorliegende Manual zu erarbeiten <strong>und</strong> sich fre<strong>und</strong>licherweise<br />
dazu bereit erklärt, das Vorwort zu<br />
schreiben. Weiter bedanken sich die Autoren bei<br />
Katharina Tschopp für die sorgfältige Lektorierung<br />
des Textes <strong>und</strong> ihre sprachlichen Hilfestellungen.<br />
Ein großes Dankeschön geht auch an alle<br />
<strong>Kinder</strong>, die das Baghira-Training bisher absolviert<br />
haben <strong>und</strong> an ihre Eltern. Durch ihre stetigen<br />
positiven, aber auch kritischen Anregungen<br />
<strong>und</strong> Rückmeldungen haben sie zu vielfältigen<br />
<strong>und</strong> praktischen Verbesserungen des Manuals<br />
beigetragen. Schließlich sei dem <strong>Hogrefe</strong> Verlag<br />
für die Publikation des Buches <strong>und</strong> Susanne Weidinger<br />
für die gute Zusammenarbeit <strong>und</strong> für die<br />
kompetente Unterstützung gedankt.
Kapitel 1<br />
Theoretischer Hintergr<strong>und</strong><br />
Fallbeispiel ambulant:<br />
Der elfjährige Markus hatte schon als kleines Kind eine ausgeprägte Trotzphase <strong>und</strong> ein aufbrausendes<br />
Temperament. Während der Vater beruflich stark engagiert ist, kümmert sich die Mutter um die<br />
Betreuung <strong>und</strong> Erziehung der zwei <strong>Kinder</strong>. Markus <strong>und</strong> sein jüngerer Bruder haben oft Streit, wobei<br />
der Kleinere gerne provoziert <strong>und</strong> gemerkt hat, dass Markus darauf stark <strong>mit</strong> Wutanfällen reagiert.<br />
Die Mutter hat am Anfang versucht, die Jungen <strong>mit</strong>tels Gesprächen zu friedlichem <strong>Verhalten</strong> zu bewegen.<br />
Da dies wenig fruchtete, begann sie immer häufiger laut <strong>mit</strong> den <strong>Kinder</strong>n zu schimpfen.<br />
Markus befolgt die Anweisungen der Mutter oft nicht. Auch hier schimpft sie <strong>mit</strong> ihm, bis er manchmal<br />
das Gewünschte ausführt. Oft berichtet sie am Abend dem Vater von den Missetaten, der dann Strafen,<br />
wie einen Monat Fernsehverbot, verhängt. Den <strong>Kinder</strong>n gelingt es oft, die Strafen zu umgehen<br />
oder durch langes Quengeln eine Beendigung zu erreichen. Mit dem Eintritt in die <strong>Kinder</strong>tagesstätte<br />
<strong>und</strong> erst recht in die Schule verstärkten sich die sozialen Probleme. Markus wird oft gehänselt <strong>und</strong><br />
ärgert sich dann sehr, verfolgt andere <strong>Kinder</strong> <strong>und</strong> versucht, sie zu schlagen. Er hat aber einige Schulkameraden,<br />
<strong>mit</strong> denen er gut auskommt <strong>und</strong> sich in der Freizeit verabredet. Im Unterricht erbringt<br />
Markus genügende Leistungen, widerspricht aber der Lehrerin häufig oder redet <strong>mit</strong> seinem Banknachbarn.<br />
Die Erledigung der Hausaufgaben ist ein ständiger Kampf für die Mutter, da Markus diese<br />
immer bis zur letzten Sek<strong>und</strong>e hinausschiebt. Angesichts der bereits lange bestehenden Symptomatik<br />
empfiehlt die <strong>Kinder</strong>psychologin den Eltern, Erziehungsberatung in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig<br />
soll Markus eine Gruppentherapie <strong>mit</strong> dem Ziel, sozial angemessenes <strong>Verhalten</strong> zu lernen,<br />
beginnen.<br />
Fallbeispiel stationär:<br />
Sven ist zehn Jahre alt <strong>und</strong> besucht die vierte Klasse. Seine Lehrerin hat schon zahlreiche Gespräche<br />
<strong>mit</strong> ihm <strong>und</strong> seinen getrennt lebenden Eltern geführt. Die Hausaufgaben erledigt Sven schludrig<br />
oder gar nicht. Bei Konflikten auf dem Pausenplatz ist er regelmäßig involviert. Im darauf folgenden<br />
Klärungsgespräch <strong>mit</strong> Erwachsenen sieht er sich jeweils ausschließlich als Opfer. Beim Erhalt von<br />
Strafaufgaben diskutiert er <strong>und</strong> erledigt sie unsorgfältig. Wiederholt hat er seinen Mitschülern Stifte<br />
<strong>und</strong> Hefte gestohlen, einmal auch einen MP3-Player. Die Lehrerin beschreibt Sven als sehr unruhig<br />
<strong>und</strong> ablenkbar. Es fällt ihm schwer zu warten, bis er an der Reihe ist, <strong>und</strong> sein Schriftbild ist mangelhaft.<br />
Sven lebt <strong>mit</strong> seiner zwei Jahre jüngeren Schwester bei der Mutter; seinen Vater sieht er jedes<br />
zweite Wochenende. Mit der Schwester streitet er sich fast täglich. Auch <strong>mit</strong> der Mutter gibt es häufig<br />
Streit. Wenn sie ihm den Fernseher oder den PC ausschaltet, schimpft er lauthals <strong>und</strong> wirft <strong>mit</strong> Gegenständen.<br />
Kleineren Pflichten, wie den Tisch decken, kommt er nicht nach. Die Hausaufgaben<br />
erledigt er selten, oft schwindelt Sven der Mutter vor, keine zu haben. Insgesamt hat die Mutter das<br />
Vertrauen in Sven verloren, da er häufig Geschichten erfindet <strong>und</strong> ihr Nachrichten nicht zuverlässig<br />
über<strong>mit</strong>telt. Zweimal hat er 10 Euro aus ihrem Geldbeutel gestohlen. Seine Freizeit verbringt Sven<br />
<strong>mit</strong> einigen wenigen Jungen aus der Nachbarschaft. Auch <strong>mit</strong> ihnen streitet er sich ständig, wenn er<br />
z. B. beim Fußballspiel die Regeln zu seinen Gunsten auslegt. Aus dem Fußballverein wurde er ausgeschlossen,<br />
da er sich nicht an die Vorgaben des Trainers hielt. So ist Sven in der schulfreien Zeit<br />
oft alleine. Er weiß wenig <strong>mit</strong> sich anzufangen. Aufgr<strong>und</strong> des ausgeprägten Störungsbildes <strong>mit</strong> Beeinträchtigung<br />
in der Schule, in der Familie <strong>und</strong> im Kontakt <strong>mit</strong> Gleichaltrigen empfiehlt der zugezogene<br />
<strong>Kinder</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiater einen stationären kinderpsychiatrischen Aufenthalt zur eingehenden<br />
Diagnostik <strong>und</strong> multimodalen Therapie.
12<br />
Kapitel 1<br />
1.1 Störung <strong>mit</strong> <strong>oppositionellem</strong><br />
Trotzverhalten (SOT)<br />
1.1.1 Definition <strong>und</strong> Klassifikation<br />
Die gängigen psychiatrischen Klassifikationssysteme<br />
(die International Classification of Diseases,<br />
ICD-10, dt. von Dilling, Mombour, Schmidt &<br />
Schulte-Markwort, 2006, <strong>und</strong> das Diagnostic<br />
Statistical Manual of Mental Disorders, DSM-IV,<br />
dt. von Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003)<br />
unterscheiden zwei Formen von aggressiven <strong>Verhalten</strong>sstörungen:<br />
Die Störung des Sozialverhaltens<br />
<strong>mit</strong> <strong>oppositionellem</strong>, aufsässigen <strong>Verhalten</strong><br />
(bzw. Störung <strong>mit</strong> <strong>oppositionellem</strong> Trotzverhalten,<br />
SOT) beinhaltet ein Muster von aufsässigen,<br />
renitenten <strong>und</strong> trotzigen <strong>Verhalten</strong>sweisen, welches<br />
für das jeweilige Entwicklungsalter abnorm<br />
ist. Meist zeigt sich das <strong>Verhalten</strong> in Form einer<br />
Ablehnung von erwachsenen Autoritäten. Gleichzeitig<br />
fehlen ausgeprägte dissoziale <strong>und</strong> aggressive<br />
Handlungen. Dagegen beinhaltet eine schwerwiegendere<br />
Störung des Sozialverhaltens (SSV) ein<br />
Muster an delinquenten <strong>und</strong> dissozialen <strong>Verhalten</strong>sweisen,<br />
wobei Rechte von Personen verletzt<br />
<strong>und</strong> gesellschaftliche Regeln <strong>und</strong> Normen nicht<br />
akzeptiert werden. In zwei von fünf Fällen tritt<br />
eine SOT als Vorläufer einer schwerwiegenderen<br />
SSV auf (Nock, Kazdin, Hiripi & Kessler, 2007).<br />
Für die beiden Störungsbilder existieren verschie-<br />
Tabelle 1: Kriterien der Störung <strong>mit</strong> <strong>oppositionellem</strong> Trotzverhalten gemäß der ICD-10 <strong>und</strong> dem DSM-IV<br />
Symptome gemäß ICD-10<br />
• Wutausbrüche<br />
• streitet sich <strong>mit</strong> Erwachsenen<br />
• Ablehnung von Vorschriften Erwachsener<br />
• wohlüberlegtes Ärgern von anderen<br />
• Verantwortlich machen anderer für eigene<br />
Fehler<br />
• Empfindlichkeit <strong>und</strong> sich belästigt fühlen<br />
• Ärger <strong>und</strong> Groll<br />
• Gehässigkeit <strong>und</strong> Rachsucht<br />
• Lügen oder Brechen von Versprechen<br />
• Beginn körperlicher Auseinandersetzungen<br />
• Gebrauch von Waffen*<br />
• draußen bleiben bei Dunkelheit vor dem<br />
13. Lebensjahr<br />
• körperliche Grausamkeit*<br />
• Tierquälerei<br />
• Destruktivität gegenüber Eigentum anderer*<br />
• absichtliches Feuerlegen*<br />
• Stehlen von Wertgegenständen<br />
• Schule schwänzen vor dem 13. Lebensjahr<br />
• Weglaufen von den Eltern oder Bezugspersonen<br />
über Nacht<br />
• Angreifen von Personen (Raub usw.)*<br />
• Zwingen zu sexuellen Aktivitäten*<br />
• Tyrannisieren anderer<br />
• Einbruch in Häuser <strong>und</strong> Autos*<br />
Symptome gemäß DSM-IV<br />
• wird schnell ärgerlich<br />
• streitet sich <strong>mit</strong> Erwachsenen<br />
• widersetzt sich aktiv Anweisungen <strong>und</strong> Regeln<br />
Erwachsener<br />
• verärgert andere absichtlich<br />
• schiebt Schuld für Fehler auf andere<br />
• ist empfindlich <strong>und</strong> leicht verärgert<br />
• ist wütend <strong>und</strong> beleidigt<br />
• ist boshaft <strong>und</strong> nachtragend<br />
Anmerkung: * Brauchen innerhalb der letzten sechs Monate nur einmal aufgetreten sein, um als erfüllt zu gelten. Grau hinterlegt<br />
sind die acht Kernsymptome der SOT, welche in der ICD-10 <strong>und</strong> im DSM-IV vergleichbar sind.
Theoretischer Hintergr<strong>und</strong> 13<br />
dene diagnostische Richtlinien, wobei die ICD-<br />
10 gemeinsame Symptome für eine SOT <strong>und</strong><br />
SSV beinhaltet <strong>und</strong> so<strong>mit</strong> den kontinuierlichen<br />
Übergang zwischen SOT <strong>und</strong> SSV betont. Für<br />
die ICD-10-Diagnose einer SOT muss ein wiederholtes<br />
<strong>und</strong> mindestens sechs Monate andauerndes<br />
<strong>Verhalten</strong>smuster vorliegen, bei welchem<br />
entweder die Gr<strong>und</strong>rechte anderer oder die wichtigsten<br />
altersentsprechenden sozialen Normen<br />
oder Gesetze verletzt werden. Weiter müssen<br />
mindestens vier der in der linken Spalte der Tabelle<br />
1 aufgeführten, aber nicht mehr als zwei der<br />
zwischen 9 <strong>und</strong> 23 aufgelisteten Symptome während<br />
mindestens sechs Monaten vorhanden sein<br />
(Ausnahmen sind die in Tabelle 1 <strong>mit</strong> * bezeichneten<br />
Symptome, deren Auftreten nur einmal<br />
gefordert ist). Die Symptome müssen für das<br />
Entwicklungsalter unangemessen sein. Die Kriterien<br />
des DSM-IV für eine Störung <strong>mit</strong> <strong>oppositionellem</strong><br />
Trotzverhalten sind in der rechten Spalte<br />
der Tabelle 1 abgebildet <strong>und</strong> vergleichbar <strong>mit</strong><br />
den acht Kernsymptomen der SOT nach ICD-10.<br />
Durch das Ausschließen von weiteren Symptomen<br />
der SSV ist das Störungsbild gemäß DSM-IV<br />
klarer umrissen <strong>und</strong> besser für Forschungszwecke<br />
verwendbar. Die meisten der nachfolgenden<br />
Bef<strong>und</strong>e zu SOT beziehen sich darum auf die<br />
DSM-IV-Kriterien der SOT.<br />
Der im europäischen Raum üblichere Gebrauch<br />
der ICD-10 empfiehlt die Verwendung der Diagnose<br />
einer SOT vorwiegend bei <strong>Kinder</strong>n unter<br />
zehn Ja hren <strong>und</strong> mahnt auf dem Hintergr<strong>und</strong> der<br />
Unterscheidung von klinisch relevanten Störungen<br />
<strong>und</strong> entwicklungsnormalen <strong>und</strong> altersgemäßen<br />
Pubertätskonflikten zur Vorsicht bei der<br />
Vergabe der Diagnose an ältere <strong>Kinder</strong> <strong>und</strong> Jugendliche.<br />
Beide Klassifikationssysteme empfehlen<br />
eine Differenzierung nach Schweregrad<br />
(leicht/gering, moderat/<strong>mit</strong>tel, schwer/intensiv).<br />
Das DSM-IV unterscheidet zusätzlich zwischen<br />
Störungen <strong>mit</strong> Beginn vor <strong>und</strong> nach dem zehnten<br />
Lebensjahr. Dies basiert auf empirischen Bef<strong>und</strong>en<br />
aus Langzeituntersuchungen, bei welchen<br />
ein früh beginnender <strong>und</strong> chronischer Verlauf<br />
sowie ein in der Adoleszenz beginnender, zeitlich<br />
li<strong>mit</strong>ierter Verlauf gef<strong>und</strong>en wurde (Moffitt,<br />
1993; Moffitt, Caspi, Harrington & Milne, 2002;<br />
Nagin & Tremblay, 1999). Insgesamt handelt es<br />
sich bei der SOT <strong>und</strong> der SSV um in der <strong>Kinder</strong><strong>und</strong><br />
Jugendpsychiatrie häufig anzutreffende Störungsbilder<br />
<strong>mit</strong> Prävalenzraten (Krankheitshäufigkeiten)<br />
von 1 bis 3.4 % im Kindesalter <strong>und</strong> von<br />
5 bis 15 % im Jugendalter (Steinhausen, 2006).<br />
Jungen sind im Vergleich zu Mädchen drei- bis<br />
fünfmal häufiger von einer SOT oder einer SSV<br />
betroffen.<br />
1.1.2 Klinische Bedeutsamkeit<br />
der SOT<br />
Nach der Einführung der SOT in die medizinischen<br />
Klassifikationssysteme wurde die unzureichende<br />
Unterscheidbarkeit von SOT <strong>und</strong> normalem<br />
<strong>Verhalten</strong> sowie milderen Verlaufsformen<br />
von SSV kritisiert. So sind viele Symptome der<br />
SOT auch als Begleitsymptome einer SSV zu<br />
finden (Frick et al., 1992). Weiter treten auch im<br />
Kleinkindalter <strong>und</strong> insbesondere bei Ablösungsprozessen<br />
in der Adoleszenz viele Symptome der<br />
SOT vorübergehend auf, ohne die Diagnose zu<br />
rechtfertigen. Trotz dieser Bedenken, denen teilweise<br />
durch das etwas schwierig fassbare Kriterium<br />
der Abnormalität in den Diagnosesystemen<br />
Rechnung getragen worden ist, hat sich die SOT<br />
zwischenzeitlich als eigenständiges <strong>und</strong> bedeutsames<br />
Störungsbild etabliert. So konnten eine<br />
Unterscheidbarkeit der SOT-Symptome von normalem<br />
entwicklungsbedingtem <strong>Verhalten</strong> festgestellt<br />
werden (Keenan & Wakschlag, 2004). Das<br />
Auftreten der SOT im Jugendalter (Maughan,<br />
Rowe, Messer, Goodman & Meltzer, 2004) konnte<br />
unabhängig vom Vorliegen einer SSV bestätigt<br />
werden. Weiter zeigen von SOT Betroffene ein<br />
eigenständiges Profil von komorbiden, also gleichzeitig<br />
auftretenden, psychiatrischen Erkrankungen<br />
(Greene et al., 2002; Maughan et al., 2004;<br />
Simonoff et al., 1997); insbesondere die Entwicklung<br />
zusätzlicher emotionaler Störungen<br />
scheint für <strong>Kinder</strong> <strong>und</strong> Jugendliche <strong>mit</strong> SOT spezifisch<br />
zu sein (Nock et al., 2007). Im Vergleich<br />
zur SSV legen Zwillingsstudien eine unterschiedliche<br />
Beteiligung <strong>und</strong> unterschiedliches Zusammenwirken<br />
von Erb- <strong>und</strong> Umweltfaktoren bei der<br />
SOT nahe (Dick, Viken, Kaprio, Pulkkinen &<br />
Rose, 2005; Hudziak, Derks, Althoff, Copeland &<br />
Boomsma, 2005). Zudem konnte in einer Untersuchung<br />
bei den Insassen einer Jugendstrafanstalt<br />
das Vorliegen einer SOT als bester Vorhersagefaktor<br />
für spätere Rückfälligkeit bei männlichen<br />
Jugendlichen er<strong>mit</strong>telt werden (Plattner et al.,<br />
2009). Insgesamt zeigen die dargestellten Bef<strong>und</strong>e,<br />
dass es sich bei der SOT um ein klinisch<br />
relevantes Störungsbild handelt, welches gr<strong>und</strong>legende<br />
Fähigkeiten zur sozialen Anpassung beinhaltet<br />
<strong>und</strong> da<strong>mit</strong> nicht nur bei jüngeren <strong>Kinder</strong>n<br />
Relevanz besitzt.
14<br />
Kapitel 1<br />
Wie die ICD-10- <strong>und</strong> DSM-IV-Kriterien nahelegen,<br />
scheint die Symptomatik der SOT stark in<br />
Abhängigkeit des <strong>Verhalten</strong>s von elterlichen Bezugspersonen<br />
zu stehen. Eine vorangegangene<br />
Untersuchung konnte zeigen, dass oppositionelles<br />
Trotzverhalten gegenüber Erwachsenen <strong>und</strong><br />
oppositionelles Trotzverhalten gegenüber gleichaltrigen<br />
Peers zwei verschiedene diagnostische<br />
Konstrukte darstellen, die zwar korrelieren, aber<br />
dennoch unterscheidbar sind (Taylor, Burns,<br />
Rusby & Foster, 2006). Es scheint so<strong>mit</strong> Sinn zu<br />
machen, die Zielpersonen (Erwachsener oder<br />
Peer) des oppositionellen <strong>Verhalten</strong>s bei der Erfassung<br />
der SOT <strong>mit</strong> zu berücksichtigen. Trotzdem<br />
ist davon auszugehen, dass <strong>Kinder</strong> <strong>mit</strong> SOT<br />
übergreifende Defizite in ihren sozialen <strong>und</strong><br />
emotionalen Fertigkeiten aufweisen <strong>und</strong> unabhängig<br />
von der Zielperson durch aggressives<br />
<strong>Verhalten</strong> auffallen.<br />
1.1.3 Aggressives <strong>Verhalten</strong><br />
<strong>und</strong> Zusammenhang <strong>mit</strong> SOT<br />
Die Formen von <strong>aggressivem</strong> <strong>Verhalten</strong> unterscheiden<br />
sich je nach Alter <strong>und</strong> Entwicklungsstand<br />
des Kindes. Bereits im Säuglingsalter sind<br />
Formen des Ärgers in der Mimik des Kindes vorhanden.<br />
Das größte Ausmaß an aggressiven <strong>Verhalten</strong>sweisen<br />
wird im Kleinkind- <strong>und</strong> Vorschulalter<br />
beobachtet, im Laufe der Entwicklung nimmt<br />
die Frequenz von <strong>aggressivem</strong> <strong>Verhalten</strong> ab, wobei<br />
hingegen versteckte Erscheinungsformen <strong>und</strong><br />
die Auswirkung der Aggressionen bis ins Jugendalter<br />
zunehmen. Dieser Verlauf ist vor dem<br />
Hintergr<strong>und</strong> einer verbesserten Selbstkontrolle<br />
<strong>und</strong> der zunehmenden Sozialisation des Kindes<br />
zu verstehen.<br />
Die acht Kernsymptome der SOT in den ICD-10-<br />
<strong>und</strong> DSM-IV-Kriterien beinhalten keine direkte<br />
Form von körperlich <strong>aggressivem</strong> <strong>Verhalten</strong>,<br />
sondern fokussieren auf emotionale Stimmung<br />
<strong>und</strong> die Auswirkung einer prinzipiellen Verweigerungshaltung,<br />
welche direkte Aggression beinhalten<br />
kann, aber nicht muss. Erst die Kriterien<br />
10, 13 <strong>und</strong> 20 der ICD-10 nehmen direkt Bezug<br />
auf körperliche Aggressionsformen gegenüber<br />
anderen Personen. Ein hohes Ausmaß an körperlicher<br />
Aggression wird dann im Rahmen einer SSV<br />
codiert. Trotzdem scheint es sinnvoll zu sein,<br />
auch das diffusere aggressive Potenzial in Form<br />
von Wutausbrüchen, Rachsucht <strong>und</strong> Verweigerungen<br />
im Rahmen einer SOT zu erfassen. Diese<br />
Symptome sind meist auch Vorläufer ernsthaften<br />
aggressiven <strong>Verhalten</strong>s (Patterson, DeBaryshe &<br />
Ramsey, 1989; Stevenson & Goodman, 2001).<br />
1.1.4 Symptomdimensionen der SOT<br />
Vor dem Hintergr<strong>und</strong> der heterogenen Symptomstruktur<br />
der SOT <strong>und</strong> der gr<strong>und</strong>legenden sozialen<br />
Bedeutung des Störungsbildes für weitere psychische<br />
Erkrankungen <strong>und</strong> soziale Anpassungsprozesse<br />
(Burke et al., 2005; Lahey et al., 1999)<br />
wurden auf der Basis der DSM-IV-Kriterien verschiedene<br />
Symptomdimensionen der SOT definiert,<br />
welche als SOT Reizbarkeit, SOT Dickköpfigkeit<br />
<strong>und</strong> SOT Boshaftigkeit bezeichnet werden<br />
können (Stringaris & Goodman, 2009a). Diese<br />
drei SOT-Dimensionen konnten als eigenständige<br />
Faktoren der Störung bestätigt werden (Aebi<br />
et al., 2010). Weiter haben Stringaris <strong>und</strong> Goodman<br />
(2009a, 2009b) nachgewiesen, dass SOT<br />
Reizbarkeit <strong>mit</strong> aktuellen <strong>und</strong> auch späteren emotionalen<br />
<strong>und</strong> stressinduzierten Störungen in Zu-<br />
Tabelle 2: Symptomdimensionen der SOT <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> zusammenhängende Störungen<br />
SOT-Dimensionen SOT Reizbarkeit SOT Dickköpfigkeit SOT Boshaftigkeit<br />
Zugehörige<br />
Symptome<br />
• wütend <strong>und</strong> beleidigt<br />
• empfindlich<br />
• schnell ärgerlich<br />
• streitet<br />
• schiebt Schuld auf<br />
andere<br />
• verweigert sich<br />
• boshaft<br />
• rachsüchtig<br />
• ärgert andere absichtlich<br />
Zusammenhänge<br />
<strong>mit</strong> weiteren<br />
Störungen<br />
Stressbezogene<br />
Störungen:<br />
Generalisierte Ängste,<br />
Depression<br />
ADHS; Impuls- <strong>und</strong><br />
Selbststeuerungsproblematik<br />
Schwerwiegendere SSV,<br />
antisoziale Persönlichkeitsstörung
Theoretischer Hintergr<strong>und</strong> 15<br />
sammenhang steht <strong>und</strong> SOT Dickköpfigkeit einen<br />
Bezug zur Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung<br />
(ADHS) aufweist. Die Dimension SOT<br />
Boshaftigkeit ist ein Vorhersagefaktor für späteres<br />
manifestes aggressives <strong>Verhalten</strong>. Diese Bef<strong>und</strong>e<br />
zeigen, dass die SOT eine komplexe Störung darstellt,<br />
deren Behandlung unterschiedliche klinische<br />
Interventionen je nach vorherrschender Symptomdimension<br />
erforderlich macht. Tabelle 2 zeigt<br />
die Symptomdimensionen der SOT <strong>und</strong> ihre Bezüge<br />
zu weiteren Erkrankungen <strong>und</strong> sozialen <strong>Verhalten</strong>sstörungen.<br />
1.1.5 Komorbide Störungen<br />
<strong>und</strong> differenzialdiagnostische<br />
Abgrenzung der SOT<br />
Meist weisen <strong>Kinder</strong> <strong>und</strong> Jugendliche, die von<br />
einer SOT betroffen sind, auch weitere psychische<br />
Beeinträchtigungen auf. Die Zusammenhänge<br />
zwischen SOT <strong>und</strong> SSV sind weiter oben<br />
schon ausgeführt worden. Weitere häufige komorbide<br />
Störungen sind die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung<br />
(ADHS; ICD-10:<br />
F90), Störungen der Impulskontrolle (ICD-10:<br />
F63) <strong>und</strong> depressive Störungen (ICD-10: F32;<br />
Loeber, Burke, Lahey, Winters & Zera, 2000;<br />
Steinhausen, 2006). Zudem treten im Jugendalter<br />
neben den oppositionellen <strong>Verhalten</strong>sweisen auch<br />
Störungen durch Substanzkonsum (ICD-10: F10<br />
bis F19) auf. Durch den frühen Beginn von ADHS<br />
werden die sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen<br />
<strong>und</strong> elterlichen Bezugspersonen beeinträchtigt<br />
<strong>und</strong> altersgemäße soziale Fertigkeiten können<br />
nicht oder nur ungenügend erlernt werden. In<br />
Kombination <strong>mit</strong> weiteren Faktoren entsteht so<br />
häufig aggressives <strong>und</strong>/oder oppositionelles <strong>Verhalten</strong>.<br />
Dagegen treten die depressiven Erkrankungen<br />
<strong>und</strong> substanzgeb<strong>und</strong>enen Suchtstörungen<br />
vor dem Hintergr<strong>und</strong> einer SOT/SSV oft als Reaktion<br />
auf soziale <strong>und</strong> schulische Probleme auf<br />
(Loeber et al., 2000).<br />
Die komorbiden Störungen der SOT weisen einen<br />
Zusammenhang <strong>mit</strong> den im vorherigen Abschnitt<br />
diskutierten SOT-Störungsdimensionen auf. Dabei<br />
ist insbesondere die ADHS zu nennen, die<br />
gehäuft in der Kombination <strong>mit</strong> SOT auftritt. Die<br />
<strong>Kinder</strong> <strong>und</strong> Jugendlichen, die unter ADHS leiden,<br />
reagieren meist impulsiv <strong>und</strong> verweigernd<br />
auf Aufforderungen von Erziehungspersonen,<br />
was sich in den Symptomen der SOT Dickköpfigkeit<br />
zeigt. Weiter sind aber auch die Selbststeuerungsdefizite<br />
bei der ADHS <strong>mit</strong> Defiziten in<br />
der Emotionsregulation verb<strong>und</strong>en, was in der<br />
Irritabilitätsdimension der SOT erfasst wird. Auf<br />
ADHS ist aufgr<strong>und</strong> der hohen Prävalenz <strong>und</strong> der<br />
Zusammenhänge <strong>mit</strong> den SOT Dimensionen bei<br />
der Diagnostik <strong>und</strong> Therapie besonders zu achten.<br />
Die Abgrenzung gewisser Symptome der SOT,<br />
die eine phänomenologische Ähnlichkeit zu den<br />
Symptomen anderer psychischer Störungen aufweisen,<br />
gestaltet sich nicht immer einfach (F. Petermann,<br />
Döpfner & Schmidt, 2007). In erster<br />
Linie ist die SOT von zeitlich begrenzten Anpassungsstörungen<br />
abzugrenzen, insbesondere der<br />
Anpassungsstörung <strong>mit</strong> vorwiegender Störung<br />
des Sozialverhaltens (ICD-10: F43.24) <strong>und</strong> der<br />
Anpassungsstörung von Gefühlen <strong>und</strong> Sozialverhalten<br />
(ICD-10: F43.25). Diese folgen innerhalb<br />
eines Monats auf eine identifizierbare psychosoziale<br />
Belastung <strong>und</strong> halten nicht länger als sechs<br />
Monate an. Zudem werden die vollständigen Kriterien<br />
für eine SOT oder eine weitergehende SSV<br />
nicht erfüllt. Anpassungsstörungen sind daher<br />
bezüglich ihrer Intensität <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
zeitlichen Begrenzung als weniger gravierend<br />
einzustufen. Weiter ist die emotionale Störung<br />
<strong>mit</strong> Geschwisterrivalität abzugrenzen, bei welcher<br />
oppositionelles <strong>und</strong> aggressives <strong>Verhalten</strong> zu beobachten<br />
ist, das <strong>mit</strong> intensiven negativen Gefühlen<br />
gegenüber einem un<strong>mit</strong>telbar jüngeren Geschwister<br />
einhergeht <strong>und</strong> innerhalb der ersten<br />
sechs Monate nach dessen Geburt einsetzt. Meist<br />
gehen <strong>mit</strong> der emotionalen Störungen <strong>mit</strong> Geschwisterrivalität<br />
auch regressive Symptome (Einnässen,<br />
Daumenlutschen) <strong>und</strong> Schlafstörungen<br />
einher, die ansonsten für SOT eher untypisch<br />
sind (F. Petermann et al., 2007). Letztendlich ist<br />
eine Differenzierung zur dissozialen Persönlichkeitsstörung<br />
vorzunehmen, welche häufig aus<br />
einer SOT/SSV hervorgeht <strong>und</strong> so<strong>mit</strong> deren chronischen<br />
Verlauf darstellt. Sie beinhaltet zudem<br />
Symptome sowohl der SOT (andauernde Reizbarkeit,<br />
Beschuldigung anderer, geringe Frustrationstoleranz)<br />
wie auch der SSV (Missachtung<br />
sozialer Regeln, gewalttätiges <strong>Verhalten</strong>). Zudem<br />
geht die dissoziale Persönlichkeitsstörung <strong>mit</strong><br />
häufigen Beziehungsabbrüchen <strong>und</strong> einem Mangel<br />
an Empathie einher. Die Abgrenzung zu SOT<br />
<strong>und</strong> SSV erfolgt primär über das Kriterium des<br />
Alters, da die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung<br />
erst ab 18 Jahren vergeben werden<br />
kann <strong>und</strong> eine SOT/SSV als Störungskonzept<br />
auf das Kindes- <strong>und</strong> Jugendalter beschränkt ist.