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1) Der Angriff - Über mich

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By<br />

Frauke Feind<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Was du liebst lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir – für immer.<br />

Konfuzius<br />

<strong>Über</strong> das Buch<br />

Eigentlich will Kelly nur in Ruhe ihren Feierabend genießen. Doch als ihr der schwer<br />

verletzte Sawyer vor die Füße fällt kann die junge Frau nicht die Augen vor seinem Leid<br />

verschließen. Sie nimmt ihn zu sich und pflegt ihn gesund. Damit nimmt ihr Leben eine<br />

Wendung wie sie schlimmer kaum sein kann. Sie wird in einen Strudel von Ereignissen<br />

gerissen, die sie an den Rand ihrer physischen und psychischen Leistungsfähigkeit treibt.<br />

Zusammen mit Sawyer, Kate, Jack und Sayid gelangt sie auf die Insel und lernt dort deren<br />

Bewohner kennen. Eine Bekanntschaft, auf die die junge Frau gerne verzichtet hätte. Nur die<br />

tiefe Liebe, die sie und Sawyer verbindet hilft Kelly, das Grauen zu überleben.<br />

Die Autorin<br />

Schon immer sagte man mir eine blühende Fantasie nach. Und ich hatte schon immer einen<br />

Hang zum Schreiben. Aufsätze, Diktate, später seitenlange Reiseberichte über unsere<br />

Urlaubsreisen. Meine erste Fanfiktion schrieb ich mit 26. Nicht, dass ich gewusst hätte, dass<br />

es eine Fanfiktion ist! Erst 2007 machte ich Bekanntschaft mit dieser ganz besonderen Art der<br />

Literatur. Und sah plötzlich eine Chance, meine kreative Seite mit anderen zu teilen. Ich legte<br />

los und veröffentlichte meine Ergüsse auf einer Website für Gleichgesinnte. Die ersten Leser<br />

stellten sich ein und ich schrieb wie im Rausch weiter. So ist es bis heute geblieben. Ich liebe<br />

das Schreiben und es macht <strong>mich</strong> süchtig, Kommentare von zufriedenen Lesern zu erhalten!<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Frauke Feind<br />

Mission<br />

impossible<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Alle Charaktere aus der Serie gehören dem jeweiligen TV Sender. Diese Fanfiktion dient<br />

der reinen Unterhaltung und ist ohne jedes finanzielle Interesse geschrieben<br />

und veröffentlicht worden.<br />

Verantwortung und Copyright für den Inhalt der Geschichte entspringen meiner Fantasie<br />

und sind daher mein Eigentum. Eine Verletzung von Urheberrechten ist nicht beabsichtigt.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

1) <strong>Der</strong> <strong>Angriff</strong> ............................................................................................................................ 6<br />

2) Sawyer .................................................................................................................................. 13<br />

3) <strong>Über</strong> die Insel ...................................................................................................................... 24<br />

4) Aufbruch nach LA .............................................................................................................. 38<br />

5) Verfolger .............................................................................................................................. 49<br />

6) Die Anderen ......................................................................................................................... 60<br />

7) <strong>Über</strong>fall! .............................................................................................................................. 71<br />

8) Eloise ................................................................................................................................... 83<br />

9) Absturz auf die Insel ........................................................................................................... 92<br />

10) Vereint ............................................................................................................................. 102<br />

11) Wann sind wir? ............................................................................................................... 114<br />

12) Gefangen ......................................................................................................................... 124<br />

13) Kein Ausweg .................................................................................................................... 137<br />

14) Sklaven ............................................................................................................................ 150<br />

15) <strong>Der</strong> Unfall ........................................................................................................................ 161<br />

16) Die Wahrheit ................................................................................................................... 171<br />

17) Verzweifelte Suche .......................................................................................................... 182<br />

18) Das Rad ........................................................................................................................... 196<br />

19) Die Entscheidung ............................................................................................................ 218<br />

20) Die DHARMA Initiative ................................................................................................. 228<br />

21) Mein Name ist Kelly ........................................................................................................ 237<br />

22) <strong>Der</strong> Schuss ....................................................................................................................... 249<br />

23) <strong>Der</strong> Lauf der Dinge ......................................................................................................... 263<br />

24) Fluch der bösen Tat ........................................................................................................ 276<br />

25) Todesurteil ....................................................................................................................... 287<br />

26) Die Flucht ........................................................................................................................ 300<br />

27) Gegen jede Chance .......................................................................................................... 310<br />

28) Oldham ............................................................................................................................ 320<br />

29) Daniels Plan .................................................................................................................... 330<br />

30) Aufarbeitung ................................................................................................................... 340<br />

31) Vorbereitungen ................................................................................................................ 348<br />

32) Die Bombe ....................................................................................................................... 360<br />

33) Auf Leben und Tod ......................................................................................................... 372<br />

34) John Locke ...................................................................................................................... 384<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

35) Memorys .......................................................................................................................... 393<br />

36) Jacob und Samuel ........................................................................................................... 404<br />

37) Die Statue ........................................................................................................................ 415<br />

38) Todfeinde ......................................................................................................................... 428<br />

39) Abschied .......................................................................................................................... 443<br />

Prolog ..................................................................................................................................... 448<br />

1) <strong>Der</strong> <strong>Angriff</strong><br />

Erleichtert atmete ich auf. Für heute hatte ich es geschafft. Ich wollte nur noch nach-<br />

hause und die Beine lang machen. In der Praxis war die Hölle los gewesen. Die Erkältungs-<br />

welle hatte uns noch immer fest im Griff. Vor drei Tagen hatte sich auch mein Chef, Dr.<br />

Keith Emerson, mit Fieber ins Bett gelegt. Er hatte einen befreundeten Kollegen, der in einer<br />

Gemeinschaftspraxis in Skelton tätig war, gebeten, ihn für ein paar Tage zu vertreten. So<br />

mussten meine Kollegin Carrie Archer und ich uns für eine kurze Phase an einen anderen<br />

Chef gewöhnen. Die Vertretung, ein Dr. Martin Brewster, war ein fähiger Allgemein-<br />

mediziner, aber ein Frauenheld wie er im Buche stand. Kaum eine halbe Stunde in der Praxis,<br />

baggerte er bereits erst Carrie, kurze Zeit später <strong>mich</strong> an. Ich hatte <strong>mich</strong> vor fünf Monaten erst<br />

von meinem Freund getrennt, eine sehr hässliche Trennung, und das Letzte, was ich brauchen<br />

konnte, war männliche Gesellschaft! So ließ ich Brewster klar abblitzen und auch bei Carrie<br />

biss er auf Granit. Das hielt ihn nicht im Geringsten davon ab, seinen fragwürdigen Charme<br />

an alle weiblichen Wesen in Wright, die älter als fünfzehn und jünger als siebzig waren, zu<br />

versprühen. Carrie und ich beobachteten sein Treiben amüsiert und kümmerten uns ansonsten<br />

um unsere Patienten.<br />

Scheinbar hatte es aus jeder Familie in Wright und Umgebung mindestens ein<br />

Familienmitglied erwischt und so konnten wir uns über Zulauf an Patienten nicht beklagen.<br />

Dass ich die einzige Person war, die nicht nieste, hustete oder Halsschmerzen hatte erfüllte all<br />

die Erkältungsopfer mit stiller Wut. Ich lebte jetzt vier Jahre in Wright, hatte noch nie eine<br />

Erkältung gehabt und das, obwohl im Frühjahr und Herbst wirklich fast alle sich große Mühe<br />

gaben, <strong>mich</strong> anzustecken. Wie es aussah überstand ich auch das diesjährige Frühlings-<br />

bombardement mit Bazillen unbeschadet und war darüber keineswegs böse. Für heute jeden-<br />

falls hatten wir es geschafft. Wir hatten aufgeräumt, Carrie war gegangen und ich hatte noch<br />

ein paar Patientenakten weg sortiert. Nun war ich auch fertig und schloss die Praxis ab. Als<br />

ich nach draußen trat, verzog ich angewidert das Gesicht. Das Wetter war absolut grässlich,<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

selbst für April. Und selbst für die Appalachen. Genervt hetzte ich im Laufschritt zum kleinen<br />

Drugstore hinüber.<br />

Bridget, die Besitzerin, hatte meine Sachen bereits zusammen gepackt, ich hatte ihr<br />

am frühen Nachmittag telefonisch durchgegeben, was ich benötigte. Hustend und schniefend<br />

meinte sie:<br />

„Hier hast du alles. Ich leg <strong>mich</strong> jetzt hin, dass sage ich dir aber!“<br />

Ich nickte mitleidig. „Ja, mach das, du siehst schlecht aus.“<br />

„Du nicht, wie immer.“, giftete Bridget verschnupft.<br />

Ich schnappte mir lachend die Tüte mit den Lebensmitteln und verließ den Laden. Ich<br />

war nun besser gelaunt, wenn auch etwas müde. Hastig machte ich <strong>mich</strong> auf den Weg zu<br />

meinem Wagen. Die schwere Einkaufstüte in der Hand stiefelte ich durch Pfützen und Matsch<br />

zu meinem dunkelblauen Jeep Commander. Als ich nur noch wenige Meter entfernt war, kam<br />

plötzlich aus dem Gebüsch hinter der Praxis ein Mann getaumelt. Er wankte orientierungslos<br />

auf den kleinen Praxisparkplatz.<br />

- Auch eine Möglichkeit, Bazillen zu bekämpfen. -<br />

dachte ich grinsend. Mit der Fernbedienung öffnete ich den Jeep und wollte die letzten<br />

Schritte hinter <strong>mich</strong> bringen, als plötzlich an der anderen Seite des Gebüsches, vielleicht drei-<br />

ßig Meter entfernt, fünf Männer auf den Parkplatz hasteten. <strong>Der</strong> Mann, der taumelnd auf <strong>mich</strong><br />

zu kam, sah sich erschrocken um und keuchte entsetzt auf. Er drehte sich in meine Richtung<br />

und wankte schneller auf <strong>mich</strong> zu. Und erst jetzt sah ich sein Gesicht und erkannte, dass ich<br />

<strong>mich</strong> gründlich geirrt hatte. Sein Gesicht war nämlich blutverschmiert, das Hemd an vielen<br />

Stellen von Schnitten aufgeschlitzt und blutig, an seiner linken Seite zeichnete sich auf seiner<br />

hellen Lederjacke ein dunkler Fleck ab, auf den er seine linke Hand presste. Auch an der<br />

Jeans auf beiden Oberschenkeln waren dunkle Flecken zu sehen. <strong>Der</strong> Mann war keineswegs<br />

Betrunken, er war schwer verletzt!<br />

Ich stand einige Sekunden wie gelähmt da und sah ihn auf <strong>mich</strong> zu schwanken. Dann<br />

erkannte ich, dass die Männer, die auf uns zu hasteten, Waffen zogen. Sie richteten sie auf uns<br />

und fingen sofort an zu schießen. <strong>Der</strong> junge Mann hatte <strong>mich</strong> fast erreicht und wimmerte<br />

schmerzerfüllt:<br />

„Helfen Sie mir, bitte ...“<br />

Wieder wurde geschossen und ich sah, wie der junge Mann zusammen zuckte und wie<br />

von einer Faust getroffen auf <strong>mich</strong> zu stolperte. Ich ließ ohne nachzudenken die Tüte fallen,<br />

fing den jungen Mann auf und riss die hintere Tür des Wagens auf. Ihn rücksichtslos hinein zu<br />

schubsen und selbst vorne hinter das Steuer zu gleiten war eins. <strong>Der</strong> Wagen sprang sofort an<br />

und ich gab Gas. Es knackte und knirschte, als ich ohne Zögern durch das Gebüsch vor<br />

meinem Wagen brach. Fürs Rückwärtsfahren und Ausparken war keine Zeit mehr. Mit einem<br />

Hopser des Jeeps, der empört aufzuschreien schien, erreichte ich nach wenigen Metern die<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Hauptstraße. Die Typen schossen noch kurz hinter uns her, drehten dann ab und hetzten durch<br />

das Gebüsch zurück. Ich saß mit zitternden Händen und schwer atmend am Steuer und über-<br />

legte blitzschnell. Irgendetwas sagte mir, dass es sich bei den Typen, die auf uns geschossen<br />

hatten, nicht um Polizisten handelte. Wir hatten in Wright nur einen Dorfsheriff, der sein Büro<br />

im Postoffice hatte. Sollte ich dort hinfahren, würde es vermutlich zu einer Eskalation<br />

kommen, denn die Typen würde wohl auch dort keine Rücksicht nehmen und sofort schießen.<br />

Ihnen musste sehr wichtig sein, den jungen Mann auf meinem Rücksitz zum Schweigen zu<br />

bringen. Langsam fuhr ich die Straße entlang und überlegte. Als jedoch hinter mir in einiger<br />

Entfernung ein roter Ford Explorer mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf die Straße<br />

schoss, schenkte ich mir weitere <strong>Über</strong>legungen und gab Vollgas. Ich war sicher, dass mussten<br />

die Männer sein, die auf uns geschossen hatten.<br />

Hektisch bog ich in eine Seitenstraße vor uns ein, raste weiter und bog nach wenigen<br />

Metern erneut ab, in die Orwell Lane. Auch diese war kurz und ich riss das Steuer nach links,<br />

kurz darauf bereits wieder nach rechts. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte mir, dass ich den<br />

Ford erst einmal abgeschüttelt hatte. Ich gab Gas und bog Minuten später scharf nach rechts<br />

in den Roseville Drive ab. Hier konnte ich wieder erheblich schneller fahren und erreichte<br />

schließlich wieder die Stonewall Road, die Verbindungsstraße nach Lanark. Erst hier wagte<br />

ich es, <strong>mich</strong> nach meinem Passagier umzusehen. Er lag besinnungslos auf der Rückbank und<br />

ich war nicht einmal sicher, ob er noch atmete.<br />

„Verdammte Scheiße, elende!“, fluchte ich verzweifelt.<br />

Was sollte ich tun? Unter Umständen fuhr ich hier gerade einen Toten spazieren. Die<br />

Typen, die ihm auf den Fersen gewesen waren, schienen äußerst brutal und rücksichtslos zu<br />

sein. Sie hatten ohne Rücksicht auf <strong>mich</strong> das Feuer eröffnet und irgendwie weckte das meinen<br />

Widerstandswillen! Plötzlich wusste ich, was ich machen konnte, ohne jemanden zu ge-<br />

fährden. Ich warf noch einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, sah den Explorer aber nicht<br />

und nickte zufrieden. Vor mir tauchte auf der rechten Seite die Norwoodlane auf und ich riss<br />

das Steuer herum. Dann gab ich wieder Vollgas und erreichte schnell das Ende der Straße.<br />

Hier begann ein schlecht befahrbarer Waldweg. Ohne zu Zögern fuhr ich in diesen ein. Erneut<br />

gab ich Gas und fuhr gute fünf Meilen im Zickzack durch das riesige Waldgebiet, das uns<br />

umgab.<br />

Die Appalachen waren ein dünn besiedeltes Gebiet und die Gegend um uns herum<br />

bildete da keine Ausnahme. Ich fuhr nach Nordosten und erreichte endlich die kleine Brücke,<br />

die über den Mill Creek führte. Gute zehn Minuten später hatte ich mein Ziel erreicht. Vor<br />

Jahren hatte mein inzwischen leider verstorbener Großvater hier eine Jagdhütte errichten<br />

lassen. Wobei das Wort Hütte stark untertrieben war. Es war ein richtiges Haus, mit Küche,<br />

Schlafzimmer, Bad und Wohnraum. Strom gab es nicht, aber das hatte uns nie gestört.<br />

Niemand hier wusste von dem Haus, Grandpa hatte Bauarbeiter aus Washington geholt, was<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

ich nicht verstanden hatte. Aber er hatte gelacht und geantwortete, dass das Haus etwas war,<br />

das wirklich absolut niemanden etwas anging. Eigenartigerweise war es bisher auch nicht<br />

entdeckt worden. Allerdings führte auch nur ein sehr schlecht befahrbarer Weg hierher und<br />

die Umgebung gehörte nicht zum Wander- oder Jagdgebiet. Hinter dem Haus war eine große<br />

Garage und in diese fuhr ich den Jeep hinein. Ich sprang aus dem Wagen, schloss das<br />

Garagentor und hetzte zur Tür, die durch die Garage ins Haus führte. Ich schloss auf, zündete<br />

einige Gaslampen an, schlüpfte im Schlafzimmer aus meiner dicken Winterjacke und eilte,<br />

ein Stoßgebet zum Himmel sendend, wieder zum Jeep zurück. Ich riss die hintere Tür auf und<br />

holte erst einmal tief Luft. Ich griff nach dem jungen Mann und versuchte, ihn in eine sitzende<br />

Position zu ziehen.<br />

Als ich das geschafft hatte, legte ich ihm zwei Finger an die Halsschlagader und<br />

atmete erleichtert auf, als ich schwachen Puls fühlte. Gott sei Dank lebte er noch. Jetzt kam<br />

ein hartes Stück Arbeit für <strong>mich</strong>. <strong>Der</strong> Junge war groß, bestimmt 1,90 m und wog dement-<br />

sprechend, obwohl er schlank und durchtrainiert war.<br />

„Okay, dann wollen wir mal. Kraftsport soll ja gut sein ...“, flüsterte ich leise.<br />

Ich packte den jungen Mann unter den Achseln und war dankbar, dass er ohne Be-<br />

sinnung war. So spürte er wenigstens keine Schmerzen. Es kostete <strong>mich</strong> fast zehn Minuten,<br />

bis ich ihn aus dem Wagen ins Haus, durch den Flur ins Schlafzimmer und dort aufs Bett ge-<br />

hievt hatte. Mir zitterten vor Anstrengung die Knie und ich war schweißgebadet. Aber er lag<br />

auf dem Bett. Als ich wieder zu Atem gekommen war rannte ich ins Badezimmer und raffte<br />

dort Handtücher, Waschlappen und einen erstklassig ausgestatteten Erste Hilfe Kasten an<br />

<strong>mich</strong> und schleppte alles ins Schlafzimmer. Ich hatte meine dicke Winterjacke vorhin achtlos<br />

auf den Boden geworfen und stieß sie jetzt mit dem Fuß noch ein wenig weiter aus dem Weg.<br />

Nun zog ich mir einen kleinen Tisch ans Bett, der im Schlafzimmer stand. Dort stellte ich<br />

alles ab und eilte in die Küche. Hier griff ich mir einen Eimer, der unter der kleinen Spüle im<br />

Schrank stand und füllte ihn mit Wasser. Auch diesen schleppte ich ins Schlafzimmer und nun<br />

kam Teil zwei der Kraftanstrengung: Ich musste meinem Patienten irgendwie die Kleidungs-<br />

stücke ausziehen. Wer schon einmal einen besinnungslosen Menschen bewegt hat, weiß, wie<br />

schwer ein solcher Mensch ist. Ich kämpfte minutenlang, dann war ich erneut klatschnass<br />

geschwitzt, aber der junge Mann lag nur noch in Boxershorts vor mir. Und nun endlich konnte<br />

ich <strong>mich</strong> seinen Verletzungen widmen.<br />

Die Wunden an seiner Seite sowie die an den Oberschenkeln waren offensichtlich Ein-<br />

stiche, aber zu klein für ein Messer. Es wirkte eher, als hätte ihm jemand einen kleinen<br />

Schraubendreher oder ähnliches in den Körper gerammt. Die Wunden waren nicht wirklich<br />

gefährlich, aber geschickt an sehr schmerzempfindlichen Stellen platziert und hatten stark<br />

geblutet. Ich reinigte sie gründlich und legte Pflasterverbände an. Das Gleiche war es mit den<br />

vielen Schnittwunden, die sich über seinen ganzen Oberkörper verteilten. Alle nur oberfläch-<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

lich, aber nichts desto weniger äußerst schmerzhaft. Wer immer sie dem jungen Mann zu-<br />

gefügt hatte, wusste was er tat. Mit geringstmöglichem Aufwand größtmögliche Schmerzen<br />

zufügen. Ich säuberte auch diese Wunden und verpflasterte sie. Nun musste ich <strong>mich</strong> um die<br />

Schusswunde kümmern und rollte den jungen Mann möglichst vorsichtig auf den Bauch. <strong>Der</strong><br />

Rücken war voller Blut und ich spülte den Waschlappen aus. Ich begann das Blut fort zu<br />

waschen. Und konnte endlich sehen, dass die Kugel etwa in Höhe des dritten Brustwirbels<br />

und ziemlich mittig, ganz leicht nach rechts versetzt, in seinen Rücken gedrungen war. Ich<br />

eilte in den kleinen Flur und suchte hektisch nach der leistungsstarken Taschenlampe, die im<br />

Flurschrank lag. Damit hetzte ich ins Schlafzimmer zurück. Mit Hilfe einer Pinzette er-<br />

weiterte ich das Einschussloch vorsichtig und konnte die Kugel schließlich sehen.<br />

„Verdammt!“ Ich fluchte ungehalten. Sie stecke im Querfortsatz des Brustwirbels,<br />

dicht am Spinalnerv und Rückenmark. „Oh, Gott.“<br />

Eine Kleinigkeit weiter rechts und er wäre für immer gelähmt gewesen oder tot. Ich<br />

überlegte hektisch. Raus musste sie. Wenn der junge Mann aber zu sich kommen sollte,<br />

während ich an seiner Wirbelsäule herum stocherte, und sich bewegte, konnte auch das eine<br />

Querschnittslähmung oder sogar seinen Tod bedeuten.<br />

„Es tut mir leid.“, sagte ich leise.<br />

Dann eilte ich in die Garage und raffte alles zusammen, was ich an Stricken finden<br />

konnte. Damit kehrte ich ins Schlafzimmer zurück. Nun begann ich, dem Jungen Hand- und<br />

Fußgelenke so stramm es ging an die Bettpfosten zu fixieren. Das war mir jedoch noch nicht<br />

sicher genug. Ich schob zwei Stricke unter ihm hindurch, schlang sie einmal um seinen<br />

Körper und zog sie nach rechts und links stramm. Die Enden verknotete ich fest am Bett-<br />

gestell. Ein Strick lag nun um seine Hüfte, der andere so hoch es ging um seinen Brustkorb.<br />

Einen letzten Strick warf ich über einen der Trägerbalken über dem Bett und band die<br />

Taschenlampe daran fest. Sie hing nun ziemlich genau über dem Einschussloch.<br />

Ich legte mir Watte, ein Skalpell, zwei kleine Wundspreizer, Pinzette und Verbands-<br />

material bereit. <strong>Über</strong>legend sah ich alles noch einmal an, dann schüttelte ich den Kopf. Was,<br />

wenn ich die Kugel mit der Pinzette nicht aus dem Knochen bekam? Okay, also noch einmal<br />

in die Garage und nach einer möglichst kleinen Zange suchen. Zum Glück war mein Groß-<br />

vater ein echter Handwerker und pedantisch ordentlich mit seinem Werkzeug gewesen und so<br />

fand ich an der Wand der aufgeräumten Werkbank eine kleine, spitz zulaufende, erstaunlich<br />

saubere Zange. Ich nickte zufrieden. Damit musste es gehen. Glücklicherweise hatte ich<br />

genug antiseptische Reinigungslösung da und in diese legte ich die Zange für einige<br />

Sekunden. Ich desinfizierte auch das Einschussloch gründlich. Ich war kein Arzt, aber die<br />

Kugel war gut zu sehen und ich musste es einfach riskieren.<br />

So sagte ich leise:<br />

„Es tut mir so leid!“, und erweiterte das Einschussloch mit einem kleinen Schnitt.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Mein Patient stöhnte auf, kam aber nicht wirklich zu sich. Erst, als ich das Loch mit<br />

einem kleinen Wundspreizer auseinander drückte, wachte er keuchend vor Schmerzen auf. Ich<br />

konnte darauf keine Rücksicht nehmen und war dankbar für die Eingebung, ihn fixiert zu<br />

haben. Er konnte sich wirklich kaum einen Zentimeter bewegen und das war auch gut so. Ich<br />

sondierte mit der Zange vorsichtig die Wunde, bis ich auf Widerstand stieß. Mitleidig sagte<br />

ich:<br />

„Das wird jetzt sehr weh tun.“<br />

Entschlossen versuchte ich, die Kugel zu fassen zu bekommen. Zweimal rutschte ich<br />

ab, hielt beide Male vor Schreck die Luft an. Endlich spürte ich, dass die kleinen Greifbacken<br />

sich fest um das Projektil schlossen. Ich atmete tief durch und betete, dass ich keinen Fehler<br />

machen würde. Ich begann, die Kugel langsam und so gerade wie möglich aus dem Knochen<br />

zu lösen. <strong>Der</strong> wehrlose junge Mann quittierte meine Behandlung mit gequälten Schmerzens-<br />

schreien und versuchte verzweifelt, sich loszureißen, um den Schmerzen ein Ende zu machen.<br />

Endlich hatte ich die verdammte Kugel heraus. Und nun verlor mein Patient zum Glück auch<br />

wieder die Besinnung.<br />

Ich reinigte die Wunde noch einmal gründlich und legte auch hier einen festen Druck-<br />

verband an. Erst jetzt wusch ich das restliche Blut von seinem Rücken, so gut es ging. Nun<br />

war nur noch sein zerschlagenes Gesicht zu behandeln. Ich löste die Fesseln und warf die<br />

Sticke achtlos auf den Boden. Vorsichtig drehte ich den Jungen wieder auf den Rücken und<br />

beugte <strong>mich</strong> über ihn. Ich begann sanft, das Blut von seinem Gesicht zu waschen. Natürlich<br />

musste er nun wieder aufwachen. Als er sah, dass sich jemand über ihn beugte, keuchte er<br />

angstvoll auf und versuchte, nach mir zu schlagen.<br />

„Haut ab ... Lasst <strong>mich</strong> zufrieden ... Verschwindet ...“, keuchte er panisch.<br />

Ich hatte keine Schwierigkeiten, seine Hände zu greifen und diese festzuhalten. <strong>Der</strong><br />

junge Mann war viel zu geschwächt, um ernsthaft Widerstand leisten zu können. Leise und<br />

beruhigend redete ich auf ihn ein.<br />

„Ganz ruhig. Pssst. Ich will Ihnen nichts tun. Beruhigen Sie sich. Sie sind in Sicher-<br />

heit, okay. Ich helfe Ihnen.“<br />

Minutenlang redete ich so mit Engelszungen auf ihn ein und ganz langsam entspannte<br />

er sich ein wenig. Er tat mir unendlich leid. So zugeschwollen seine Augen auch waren,<br />

strahlten sie dennoch panische Angst aus. Ich wartete noch eine Weile, dann fragte ich leise:<br />

„Alles klar? Ich muss Ihr Gesicht reinigen, okay? Ich versuche, Ihnen nicht unnütz<br />

weh zu tun, aber die Wunden müssen gereinigt werden.“<br />

Hatte ich vorher seine Hände fest gehalten, war es jetzt der junge Mann, der sich an<br />

meine Hände klammerte. Sein Zittern, das ich bis eben gespürt hatte, ließ langsam nach und<br />

sein Kopf sank ins Kissen zurück.<br />

„Okay ...“, quetschte er mühsam hervor und ließ <strong>mich</strong> los.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Angstvoll wartete er auf die Behandlung und ich begann, das Blut so sanft und vor-<br />

sichtig wie möglich abzuwaschen. Er hielt still, zuckte nur an besonders tiefen Platzwunden<br />

aufzischend vor Schmerzen zusammen. Endlich hatte ich alles Blut abgewaschen und ver-<br />

arztete die vielen kleinen Wunden, von denen einige ganz bestimmt nicht von Schlägen,<br />

sondern eindeutig von Schnitten herrührten. Einige Minuten später zierten diverse Pflaster<br />

sein Gesicht. Aber das Blut war weg und er sah nicht mehr wie ein Monster aus. Vollkommen<br />

erschöpft lag er still. Ich hob sanft seinen Kopf etwas an, zog das mit Blut und Wasser ver-<br />

schmierte Kissen unter ihm hervor und ersetzte es gegen das saubere zweite Kissen vom<br />

anderen Bett. Nun zog ich das Zudeck vorsichtig unter ihm heraus und deckte ihn damit zu.<br />

Er reagierte nicht mehr und ich dachte, er sei wieder besinnungslos, aber plötzlich sagte er<br />

leise und schwach:<br />

„Kann ... Kann ich was zu Trinken ... bekommen?“<br />

Ich griff mir den Eimer und erwiderte:<br />

„Natürlich, ich hole Ihnen etwas.“<br />

In der Küche schüttete ich das Wasser in die Spüle und griff aus der Speisekammer<br />

eine Flasche Wasser. Damit kehrte ich ins Schlafzimmer zurück. Ich setzte <strong>mich</strong> neben den<br />

jungen Mann auf das Bett, drehte die Flasche auf und hob erneut sanft seinen Kopf an.<br />

Vorsichtig ließ ich ihn Trinken. Dankbar murmelte er irgendwas und ich ließ seinen Kopf<br />

zurück sinken. Und eine Minute später war ich sicher, dass er tief und fest eingeschlafen war.<br />

Ich räumte im Schlafzimmer auf und als ich hier fertig war ging ich erneut in die<br />

Küche. Ich machte im Herd Feuer und kurze Zeit später stand ein Topf mit Dosensuppe über<br />

den Flammen, und ein zweiter Topf mit Wasser. Ich schnappte mir eine Kaffeekanne, Filter<br />

und Kaffee und brühte mir die ganze Kanne voll auf. Während der Kaffee durchlief, feuerte<br />

ich den großen Kamin, der das ganze Haus beheizte, an. Als das Feuer schließlich vernünftig<br />

brannte, nahm ich mir meine Suppe, die Thermoskanne mit dem Kaffee, eine Tasse und<br />

marschierte ins Schlafzimmer zurück. Während ich die heiße Suppe aß, hatte ich erstmals<br />

Zeit, über das nachzudenken, was in den letzten drei Stunden geschehen war. Und plötzlich<br />

überkam <strong>mich</strong> das große Zittern. Ich griff mir eine Decke aus dem Schrank, wickelte <strong>mich</strong><br />

darin ein und setzte <strong>mich</strong> zurück ans Bett des Verletzten. Ich konnte es nicht fassen. Um 17<br />

Uhr war meine Welt noch in Ordnung gewesen. Ich hatte <strong>mich</strong> auf einen ruhigen Feierabend<br />

vor dem Fernseher gefreut, vielleicht mit einem Glas guten Rotwein. Und jetzt saß ich hier bei<br />

einem mir vollkommen unbekannten jungen, schwer verletzten Mann am Bett. Man hatte auf<br />

<strong>mich</strong> geschossen. Irgendjemand hatte versucht, den Jungen umzubringen. Und sicherheits-<br />

halber <strong>mich</strong> gleich mit, vermutlich als unliebsame Zeugin. Das gab es doch alles nicht. Ich<br />

wusste ja nicht einmal, ob ich hier einen Verbrecher gerettet hatte. Ich kam mir vor wie in<br />

einem Film.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Es dauerte eine Weile, bis ich <strong>mich</strong> wieder gefangen hatte. Dann begann ich rational<br />

darüber nachzudenken, wie es weiter gehen sollte. Wenn ich mir mit dem jungen Mann eine<br />

Laus in den Pelz gesetzt hatte, war ich ganz schön angeschissen. In den nächsten Tagen würde<br />

keine Gefahr von ihm ausgehen, die Verletzungen waren zu schwerwiegend und er hatte zu<br />

viel Blut verloren. Sollte ich das Gefühl haben, er wäre eine Gefahr für <strong>mich</strong> würde ich<br />

Gegenmaßnahmen ergreifen. Ich würde auf jedem Fall auf Nummer sicher gehen. Sobald ich<br />

merken würde, dass es ihm besser ging und er zu Kräften kam, würde ich ihm die Hände zu<br />

meiner eigenen Sicherheit ans Bett fesseln, bis ich sicher sein konnte, was und wer er war.<br />

Erst einmal war er für <strong>mich</strong> nur ein junger Mann, der verzweifelt Hilfe benötigt hatte. Alles<br />

andere würde sich in den nächsten Tagen zeigen. Ich griff nach seinem linken Handgelenk<br />

und tastete nach dem Puls. Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, dass dieser zwar<br />

langsam, aber kräftig schlug. Eine Haarsträhne war dem Verletzten in die Stirn gerutscht und<br />

meine Finger reagierten von selber: Ich strich sie ihm sanft aus der Stirn. Ich war ziemlich<br />

fertig, und so überlegte ich nicht mehr lange. Ich warf den Kamin noch einmal randvoll und<br />

schüttete Kohle oben auf das gestapelte Holz. Müde kehrte ich ins Schlafzimmer zurück, legte<br />

<strong>mich</strong> neben meinen Patienten auf das Bett und war Minuten später eingeschlafen, sicher, mit-<br />

zubekommen, falls der Verletzte unruhig werden würde.<br />

2) Sawyer<br />

Mitten in der Nacht wachte ich auf und stellte fest, dass der junge Mann sich unruhig<br />

hin und her wälzte. Ich setzte <strong>mich</strong> auf und legte ihm sanft eine Hand auf die Stirn. Sie war<br />

heiß. Er hatte Fieber. Das war nicht weiter verwunderlich. Es gelang mir zum Glück, ihm<br />

Wasser einzuflößen. Müde legte ich <strong>mich</strong> wieder neben ihn und in einem Impuls griff ich<br />

nach seiner rechten Hand. Er wurde ruhiger und ich war zufrieden. Und schlief wieder ein.<br />

Als ich erneut erwachte, war es draußen schon fast hell. Ich sah auf meine Uhr. Kurz nach 7<br />

Uhr. Mein erster Blick galt dem Verletzten. Schweiß glänzte auf dessen verquollenem Ge-<br />

sicht, was darauf hindeutete, dass er noch immer Fieber hatte. Ich stand auf und streckte <strong>mich</strong>.<br />

Nun ging ich in den Wohnraum, stellte fest, dass der Kamin noch Glut hatte und warf ein<br />

wenig Holz auf. Ich verschwand ins Bad und machte <strong>mich</strong> frisch. Dabei überlegte ich, was ich<br />

gegen das Fieber machen konnte, sollte es sehr viel höher steigen. Im schlimmsten Fall würde<br />

ich dem jungen Mann ganz nach Großmutterart Wadenwickel machen müssen. Erst einmal<br />

machte ich nur den Waschlappen vom Vortag wieder feucht und kehrte damit ins Schlaf-<br />

zimmer zurück. Ich tupfte meinem Patienten vorsichtig das Gesicht ab und legte ihm erneut<br />

die Hand auf die Stirn. Er zuckte unter der Berührung zusammen und murmelte im Fieber-<br />

schlaf etwas, dass ich nicht verstehen konnte. Einen Namen jedoch konnte man ziemlich deut-<br />

lich verstehen. Kate. Ich zuckte die Schultern. Er würde ein paar Tage brauchen, sich zu er-<br />

- 13 -


By<br />

Frauke Feind<br />

holen, dann würde ich sicher einiges erfahren. Seufzend dachte ich an die Praxis und an<br />

Carrie. Sie würde sich wundern, wo ich abgeblieben war und sich Sorgen machen, das war<br />

mir klar. Aber ebenso klar war mir, dass es besser war, wenn niemand ahnte, wo ich hin ver-<br />

schwunden war.<br />

Ich schob den Gedanken an die Praxis entschlossen bei Seite. Erst einmal bemühte ich<br />

<strong>mich</strong> nun, meinem Patienten wieder schlückchenweise Wasser einzuflößen, was ganz gut<br />

klappte. Anschließend schlug ich die Bettdecke beiseite und löste vorsichtig die Verbände<br />

über den Stich- und Schnittwunden. Eine schwache Rötung der Wundränder deutete auf eine<br />

leichte Entzündung hin. Das war aber nichts Gefährliches, es durfte nur nicht mehr werden.<br />

Ich hatte die antiseptische Lösung noch auf dem Tischchen stehen und tränkte einen Watte-<br />

bausch damit. Ich tupfte die Wunden gründlich ab, was den jungen Mann zusammenzucken<br />

ließ. Das Zeug brannte höllisch, das wusste ich aus eigener Erfahrung. Als ich zufrieden war,<br />

legte ich neue Verbände an. Nun rollte ich den Jungen vorsichtig auf den Bauch und verfuhr<br />

mit dem Einschussloch genauso. Auch hier stöhnte er, wachte allerdings nicht ganz auf. Zum<br />

Schluss begutachtete ich drei besonders tiefe Platzwunden an Stirn und Wangen und reinigte<br />

auch diese noch einmal gründlich mit dem Octenisept. Unruhig versuchte der Verletzte, sein<br />

Gesicht zur Seite zu nehmen, was ihm jedoch nicht gelang. Schließlich war ich aber fertig und<br />

setzte <strong>mich</strong> einen Moment zu ihm auf die Bettkante. Ich griff nach seiner Linken und sagte<br />

leise:<br />

„Du hast es geschafft, ich quäle dich nicht weiter. Schlaf dich gesund.“<br />

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass der junge Mann verdammt gut aussah, wenn man<br />

sich die vielen Verletzungen im Gesicht, die vielen Schwellungen, wegdachte. Er hatte<br />

blonde, nackenlange Haare, einen drei Tage Bart und graugrüne Augen, das hatte ich am Tag<br />

zuvor gesehen. Als ich die Zudecke wieder über ihn legte, kam ich nicht umhin, seine durch-<br />

trainierte, perfekte Figur zu begutachten.<br />

„Kate ist bestimmt deine Freundin, mein Lieber. So, wie du aussiehst, kannst du nicht<br />

alleine sein, das kann ich mir nicht vorstellen.“, sagte ich leise.<br />

************<br />

Die nächsten zwei Tage vergingen damit, dass ich meinem Patienten Wasser einflößte,<br />

wann immer es ging, ihm Händchen hielt, wenn er im Fieberschlaf zu unruhig wurde und be-<br />

gütigend auf ihn ein redete. Am Abend des zweiten Tages wurde er merklich ruhiger, das<br />

Fieber ging schnell zurück und er hatte eine friedliche, entspannte Nacht. Ich hatte ein<br />

schlechtes Gewissen, aber das ignoriert ich, als ich am Morgen mein mir selbst gegebenes<br />

Versprechen wahr machte, ihm die Arme über den Kopf drückte und seine Hände fest an die<br />

oberen Bettstreben fesselte. Ich saß neben ihm auf der Matratze und wartete, dass er endlich<br />

- 14 -


By<br />

Frauke Feind<br />

aufwachen würde. Und er tat mir den Gefallen. Noch bevor er richtig bei sich war, merkte er,<br />

dass er gefesselt war. Er riss die Augen auf, in denen nackte Panik flackerte, und keuchte ent-<br />

setzt:<br />

„Lasst <strong>mich</strong> in Frieden, ihr Schweine! Ich bring euch um!“<br />

Er zerrte an den Fesseln, in der verzweifelten Hoffnung, frei zu kommen, aber meine<br />

Knoten hielten. Panisch versuchte er, sich aufzusetzen. Ich beugte <strong>mich</strong> über ihn und hielt ihn<br />

mit sanfter Gewalt fest, drückte ihn auf die Matratze zurück.<br />

„Psst, bleib ganz ruhig, es passiert dir nichts. Ich will dir nichts tun, okay, reg dich<br />

nicht auf. Bleib ganz ruhig. Ich habe dir den Arsch gerettet, also mach dir keine Sorgen. Du<br />

bist schon seit drei Tagen hier, verstehst du, wenn ich dir etwas hätte tun wollen, hätte ich es<br />

schon lange gemacht, okay. Du musst wirklich keine Angst haben.“<br />

Langsam dämmerte dem jungen Mann wohl, dass ihm von mir keine unmittelbare Ge-<br />

fahr drohte und er entspannte ein wenig. Nur seine Brust hob und senkte sich unter hastigen,<br />

flachen Atemzügen.<br />

„Wo ... wo sind wir ... hier?“, fragte er hoffnungslos verwirrt und seine Augen<br />

flackerten unruhig durch den Raum.<br />

„In Sicherheit.“, erklärte ich ruhig und sah ihm in die Augen.<br />

Er hielt meinem Blick stand, was ich als gutes Zeichen wertete.<br />

„Wie lange bin ... ich schon hier?“, wollte er noch einmal verstört wissen.<br />

Ich beugte <strong>mich</strong> über ihn und legte ihm eine Hand auf die Stirn, um zu prüfen, ob<br />

diese noch heiß war. Wieder verspannte er sich unwillkürlich, atmete aber auf, als er merkte,<br />

dass ich ihm nichts tun wollte. Während ich prüfte, ob er noch Fieber hatte, antwortete ich:<br />

„Heute Abend sind es genau drei Tage.“<br />

Er schloss kurz die Augen, dann sagte er leise:<br />

„Drei Tage ... Solange war ich weg? Wer ... wer bist du?“<br />

Ich lachte leicht ironisch.<br />

„Nein, Freundchen, so läuft das hier nicht. Du wirst erst einmal mir einiges erklären.<br />

Immerhin wurde deinetwegen auf <strong>mich</strong> geschossen. Ich möchte von dir hören, wer du bist,<br />

was du bist, was das für Typen waren, was sie von dir wollten. Aber vorher musst du etwas<br />

Essen, okay.“<br />

Seine Augen folgten mir angstvoll, als ich aufstand und den Raum verließ. Hilf- und<br />

wehrlos dazuliegen war nicht schön für ihn, aber für <strong>mich</strong> notwendig, bis ich sicher sein<br />

konnte, dass mir keine Gefahr drohte. Augenblicke später war ich mit einem Teller Suppe<br />

zurück, die ich zusammen mit dem Kaffee an diesem Morgen aufgesetzt hatte. <strong>Der</strong> Gefesselte<br />

lag immer noch ziemlich verkrampft da und beobachtete <strong>mich</strong> nervös. Als ich neben ihm saß,<br />

stellte ich den Teller auf den Nachtschrank und griff über den Verletzten hinweg nach dem<br />

zweiten Kissen. Ich hob sanft seinen Kopf an und stopfte ihm das zweite Kissen darunter. So<br />

konnte er Essen, ohne sich zu verschlucken.<br />

- 15 -


ließ.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Das wird dir gut tun.“, sagte ich ruhig und begann, ihn zu füttern, was er verlegen zu-<br />

Als der Teller leer war, sagte ich:<br />

„So, jetzt erzähle mir ein wenig. Ich bin ganz Ohr.“ Und er begann zu Reden.<br />

„Mein Name ist ... Sawyer. Diese miesen Bastarde, ich weiß nicht, wer sie sind, sind<br />

schon ne ganze Weile hinter mir her. Sie wollten ... was von mir wissen, Informationen. Sie<br />

haben <strong>mich</strong> ... am ...“, er musste sich stark konzentrieren, das war zu merken. „Drei Tage?<br />

Dann haben sie <strong>mich</strong> Dienstagmorgen erwischt.“<br />

Er fing an zu zittern und atmete schnell und flach. Leise fuhr er fort:<br />

„Sie haben <strong>mich</strong> in den Wald geschleift und ... und gefoltert, damit ich ausspucke, was<br />

sie wissen wollten.“<br />

Er atmete heftig und in seinem gelb und blau schimmernden Gesicht sah man die<br />

Angst, die ihn umklammerte. Unwillkürlich legte ich meine Hand auf seine hastig sich<br />

hebende und senkende Brust und sagte beruhigend:<br />

„Keine Panik, hier bist du absolut sicher, wirklich. Keiner wird dir hier was tun.“<br />

Er seufzte leise und fuhr fort:<br />

„Irgendwie bin ich ihnen schließlich abgehauen. Sie hatten <strong>mich</strong> nicht gefesselt, nur<br />

festgehalten und ich konnte <strong>mich</strong> irgendwann losreißen und bin einfach gerannt. Dass ich dir<br />

dabei in die Arme gelaufen bin, erinner ich gar nicht mehr.“<br />

Er schwieg erschöpft und in seinem Gesicht war etwas, dass <strong>mich</strong> überzeugte, dass er<br />

die Wahrheit sagte.<br />

„Das waren keine Polizisten, oder?“<br />

Er lachte sarkastisch auf und schüttelte den Kopf.<br />

„Nein. Nein, das waren keine Bullen.“<br />

Ich sah ihn scharf an.<br />

„Ich weiß nicht, ob ich dir trauen soll. Aber ich glaube, ich riskiere es.“<br />

Ich öffnete die kleine Schublade im Nachttisch, griff nach einem Messer, das ich<br />

sicherheitshalber dort hinein gelegt hatte und beugte <strong>mich</strong> über ihn. Sofort war wieder Panik<br />

in seinen Augen. Er atmete keuchend und zuckte heftig zusammen. Aber ich durchtrennte nur<br />

die Stricke, die seine Arme in der unbequemen Position über dem Kopf an die Bettstreben<br />

gefesselt hatten. Erleichtert sackte er in sich zusammen und flüsterte:<br />

„Danke ...“<br />

Ich nickte, während ich ihm die Strickreste von den Handgelenken nahm.<br />

„Wenn du versuchst, mir etwas zu tun, werde ich dir das Messer so tief in den Bauch<br />

rammen, dass nicht mal ein Wunder dich retten kann, ist das klar?“<br />

Er nickte.<br />

wer du bist?“<br />

„Klar. Ich werde dir ganz bestimmt nichts tun.“ Zögernd fragte er: „Sagst du mir jetzt,<br />

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Ich nickte.<br />

„Ja. Ich bin Kelly Reardon.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

<strong>Der</strong> jetzt ungefesselt daliegende sah <strong>mich</strong> an. Was er sah, gefiel ihm. Eine vielleicht<br />

dreißig Jahre alte, brünette, schlanke junge Frau, die Haare in sanften Wellen bis fast zur<br />

Hüfte fallend, dunkle Augen, weich geschwungene Lippen, zarte Gesichtszüge, eine Frau, die<br />

Blicke auf sich zog. Er hob langsam die Rechte und hielt sie mir hin. Ich griff danach und er<br />

lächelte schwach. Erst jetzt bemerkte ich, dass er Grübchen hatte, die bei diesem wenn auch<br />

schwachen Lächeln aufblitzten. Er hielt meine Hand fest und sagte:<br />

„Hallo, Kelly. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Wenn du nicht ... Wenn du <strong>mich</strong><br />

einfach ... Wenn du abgehauen wärest, hätten sie <strong>mich</strong> in Streifen geschnitten.“<br />

Seine Stimme klang plötzlich, als kämpfe er mit Tränen.<br />

„Ich habe ehrlich nicht weiter darüber nachgedacht. Sie haben los geballert und ich<br />

habe dich ins Auto gestoßen und bin los gerast. Gedacht habe ich erst hinterher.“ Ich machte<br />

meine Hand sanft los und sagte: „Ich muss nach deinen Verletzungen sehen, okay?“<br />

Er nickte. „Wie kommt es, dass du das kannst?“, fragte er müde.<br />

„Ganz einfach. Ich bin Krankenschwester, Schwerpunkt Notfallmedizin, ich habe<br />

mein Examen in der Notaufnahme gemacht. Ich arbeite in Wright bei Dr. Emerson, bin seine<br />

Assistentin.“<br />

Ich hatte die Zudecke zur Seite geschlagen und löste vorsichtig die Pflaster, die die<br />

Verbände über den Wunden hielten. Sawyer versuchte, sich aufzurichten, um die Ver-<br />

letzungen ebenfalls anzusehen, schaffte es jedoch nicht. Er war noch zu schwach.<br />

„Bleib liegen, du bist noch lange nicht wieder fit. Du hast eine Menge Blut verloren.“<br />

Ich sah mir die Wunden an, tastete sie ab, aber Sawyer zeigte kaum noch Unbehagen.<br />

„Das sieht gut aus, da wird es auch ein Pflaster tun.“ Ich klebte also nur noch ein<br />

Pflaster über die kleinen Löcher und Schnitte und half Sawyer, sich auf den Bauch zu rollen.<br />

Die Einschusswunde nässte noch ein wenig und ich tupfte sie wieder gründlich mit Octenisept<br />

ab, was Sawyer zusammen zucken ließ.<br />

„Ah ... Verdammt, das Zeug brennt wie Feuer!“, keuchte er.<br />

Mitleidig sagte ich:<br />

„Ich weiß, aber es hilft sehr gut. Ich bin auch fast fertig.“<br />

Ich verband die Wunde neu, dann rollte mein Patient sich wieder auf den Rücken. Und<br />

nun löste ich die Pflaster im Gesicht.<br />

Dieses schillerte immer noch in allen Farben, aber die Schwellungen gingen deutlich<br />

zurück und die Wunden verheilten gut.<br />

„Ich denke, wir lassen die Pflaster weg, das heilt an der Luft am Besten. Du hast wirk-<br />

lich ganz schön was abbekommen. Die Wunden stammen aber nicht alle von Schlägen.“<br />

Er schüttelte den Kopf.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Nein ... Sie haben irgendwann mit nem Messer nachgeholfen.“<br />

Ich wurde blass.<br />

„Mein Gott ...“<br />

Sawyer fielen fast die Augen zu.<br />

„Ja, war nicht schön.“, murmelte er leise. „Ich bin saumüde.“ nuschelte er dann.<br />

„Schlaf ruhig, das wird dir gut tun. Ich bin hier und passe auf dich auf, versprochen.“<br />

Er öffnete noch einmal die Augen und jetzt lächelte er wirklich.<br />

„Danke. Für alles.“<br />

Er schloss die Augen und Sekunden später merkte ich an den tiefen, gleichmäßigen<br />

Atemzügen, dass er eingeschlafen war. Leise stand ich auf und ging in die Küche. Ich<br />

schenkte mir eine Tasse Kaffee ein und setzte <strong>mich</strong> aufs Sofa. <strong>Der</strong> Kamin knisterte und es war<br />

gemütlich warm im Haus. Während ich meinen Kaffee trank, dachte ich darüber nach, was<br />

Sawyer erzählt hatte. Ich war mir darüber im Klaren, dass er lange nicht alles gesagt hatte.<br />

Was die Kerle von ihm hatten wissen wollen, hatte er nicht erwähnt. Ebenso, was er in dieser<br />

abgelegenen Ecke gewollt hatte. Er musste von nicht allzu weit weg, irgendwo aus den<br />

Appalachen stammen, das sagte mir sein stark Südstaaten angehauchter Akzent. So sicher ich<br />

das wusste, so sicher wusste ich auch, dass mir von ihm keine Gefahr drohte. Und so war ich<br />

zumindest in der Beziehung deutlich entspannter. Allerdings hatte ich nun Angst, dass Sawyer<br />

möglicherweise noch Gefahr drohte. Sollten die Typen doch irgendwie herausfinden, wo ich<br />

mit ihm abgeblieben war, drohte sicher Gefahr für uns beide. Ich dachte darüber nach, wie es<br />

weiter gehen sollte. Waren die Typen überhaupt noch in der Nähe? Das war sicher stark ab-<br />

hängig davon, was sie von ihm hatten wissen wollen, wie wichtig das für sie war und was er<br />

ihnen letztlich verraten hatte. Und auch, wie wichtig es ihnen war, Sawyer und nun sicher<br />

auch <strong>mich</strong> als unliebsame Zeugin zu beseitigen. Ich spürte eine Gänsehaut auf meinem<br />

Rücken und erhob <strong>mich</strong> spontan.<br />

Ich marschierte in die Garage und tastete auf der Arbeitsfläche der Werkbank herum<br />

nach einem losen Brett. Schließlich hatte ich es gefunden. Wenn man nicht wusste, dass es da<br />

war, man hätte es nie gefunden. Mein Großvater hatte es so geschickt angebracht, dass ein<br />

Außenstehender nie darauf gekommen wäre, in dieser Werkbank nach einem Versteck zu<br />

suchen. Ich aber wusste, dass Grandpa hier zwei 9 mm Waffen aufbewahrte, zusammen mit<br />

Munition. Ich zog die relativ große Metallkiste, in der die beiden Walther PPK verwahrt<br />

waren, aus dem Loch und verschloss es sorgfältig wieder. Mit dem Kasten unter dem Arm<br />

kehrte ich ins Haus zurück. Ich ging ins Schlafzimmer und sah, dass Sawyer tief und ruhig<br />

schlief. Seit ich ihn her gebracht hatte, wirkte er das erste Mal wirklich vollkommen ent-<br />

spannt. Ich setzte <strong>mich</strong> vorsichtig auf meine Betthälfte und öffnete den Kasten. Verblüfft<br />

stellte ich fest, dass noch einiges mehr darin lag als nur die Waffen. Die beiden 9 mm lagen<br />

oben drauf, in Wachspapier gründlich eingewickelt, und darunter war ein großer Brief-<br />

umschlag zu sehen. Ich nahm die Walther PPKs heraus und legte sie neben <strong>mich</strong> auf das Bett.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Jetzt zog ich den dicken Briefumschlag hervor. Langsam öffnete ich ihn. Ich hatte plötzlich<br />

ein sehr merkwürdiges Gefühl im Magen. Als erstes sah ich einen weiteren, normalen Brief-<br />

umschlag, der ebenfalls ziemlich dick aussah. Ich zog diesen heraus und legte ihn unbeachtet<br />

neben <strong>mich</strong>. Dann zog ich den Schnellhefter hervor, der in dem Briefumschlag steckte. Ich<br />

lehnte <strong>mich</strong> an und schlug den Hefter auf. Er enthielt eine Reihe von Papieren, aber oben<br />

drauf war ein Brief in der Handschrift meines Großvaters geheftet. Ich fing an zu lesen.<br />

Liebste Kelly<br />

Wenn du das hier liest, bin ich vermutlich tot. Das ist okay. Ich habe ein<br />

langes, erfülltes Leben gehabt und es in vollen Zügen genossen.<br />

Meine liebe Kelly, es gibt in meinem Leben ein Geheimnis, dass ich dir nie<br />

verraten habe. Ich möchte, dass du weißt, dass dies zu deinem Schutz geschah,<br />

nicht etwa, weil ich dir nicht vertraut hätte! Auch über dich musst du etwas<br />

erfahren. Behalte dein neues Wissen für dich und nutze, was ich dir hinter-<br />

lassen werde.<br />

Kelly, es mag sein, dass eines Tages Fremde bei dir auftauchen. Sie werde dich<br />

vielleicht nach einer Insel fragen, von der du keine Ahnung hast. Du musst<br />

aber alles erfahren, daher sage ich es dir auf diesem Wege. Dein <strong>Über</strong>leben und<br />

dass vieler anderer Menschen hängt davon ab!<br />

Diese Insel ist etwas Besonderes! Wie besonders, kann selbst ich dir nicht sagen,<br />

der ich doch viele Jahre dort verbracht habe. Kelly, du selbst wurdest auf dieser<br />

Insel geboren! Deine Mutter starb bei deiner Geburt, das ist wahr, nur nicht<br />

in Lynchburg, wie dir erzählt wurde, sondern auf besagter Insel! Chrissy wäre<br />

in jedem Fall gestorben, das wusste sie auch. Kein Arzt dieser Welt hätte sie<br />

retten können. Sie hat nur noch den einen Wunsch gehabt, dir das Leben zu<br />

schenken. Alles andere war ihr egal. Dein Vater hat dich in Lynchburg auf-<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

gezogen, bis er auf die Insel zurück beordert wurde. Ich weiß nicht, ob er noch<br />

am Leben ist. Wenn ja, wirst du das sicher herausfinden können.<br />

Diese Leute, die ich erwähnte, werden von einem Benjamin Linus oder, was<br />

genauso schlimm wäre, von Charles Widmore kommen. Die Beiden bekriegen sich<br />

seit Jahrzehnten. Jeder behauptet, dass Beste für die Insel zu wollen, aber,<br />

Kelly, traue keinem von ihnen! Linus ist derjenige, der den Weg zur Insel<br />

weiß. Widmore versucht seit Jahren, diesen Weg zu finden, um auf die Insel<br />

zurückkehren zu können.<br />

Es gibt aber auch noch eine dritte Möglichkeit! Es gibt eine Gruppe von<br />

Menschen, die von der Insel wissen und dieses Wissen aus Gründen, die du er-<br />

fahren wirst, für sich behalten haben. Eines Tages werden diese Menschen auf<br />

die Insel zurückkehren müssen! Du kannst ihnen dabei helfen, denn du hast<br />

die Gabe, diese Insel zu finden. Allerdings brauchst du Hilfe dabei. Sollte<br />

eines Tages jemand kommen, der verzweifelt nach mir sucht, dann hilf diesem<br />

Menschen! Egal, ob es eine Frau oder ein Mann ist! Du musst wissen, ob der<br />

oder die Betreffende von Linus oder Widmore kommt! Sie werden nach mir<br />

suchen, aber nicht unter dem Namen Timothy Walsh! Nur diese Leute wissen<br />

diesen Namen, Kelly! Nur ihnen kannst du vertrauen. Hilf ihnen! Ich kann es<br />

nicht mehr. Keiner der von Linus oder Widmore kommt weiß von dem Namen!<br />

Du musst nach Los Angeles gehen und dort nach einer gewissen Eloise<br />

Hawking suchen. Sie ist die Frau, die dir helfen wird, die Insel zu finden.<br />

Ihr Sohn, Daniel Faraday, wird 1977 von seiner eigenen Mutter auf der Insel<br />

getötet werden. Nicht absichtlich, sie weiß nicht, dass er ihr Sohn ist! Das<br />

muss auf jedem Fall verhindert werden! Dass wird deine Aufgabe und die der<br />

Gruppe von Leuten sein, die ich ansprach. Ich wünschte so sehr, ich könnte dir<br />

helfen. Ich kann es nur noch, indem ich dir Mittel zur Verfügung stelle, die<br />

ihr mehr als benötigen werdet. In dem zweiten Briefumschlag ist Geld und die<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Verfügungsberechtigung für ein Bankkonto, dass ich für dich eingerichtet habe.<br />

Nutze das Geld sinnvoll.<br />

Meine geliebte Enkelin, ich weiß, dass ich <strong>mich</strong> auf dich verlassen kann! Ich<br />

liebe dich und hoffe, dass der Brief dich nicht viel zu spät erreicht.<br />

Dein Großvater<br />

Ich saß da und begriff nichts! Von welcher Insel sprach Grandpa? Wieso sollte ich<br />

dort geboren sein? Die Namen sagten mir rein gar nichts. Widmore und Linus ... Ich war<br />

völlig verwirrt. Wie sollte ich denn bitteschön etwas verhindern, das vor über dreißig Jahren<br />

geschehen war? Ich fragte <strong>mich</strong> wirklich, ob Grandpa vielleicht nicht mehr klar im Kopf ge-<br />

wesen war. Aber das konnte nicht sein. Ich hatte ja schließlich bis zu seinem Tod bei ihm ge-<br />

lebt. Er war erst zweiundsiebzig und fit in jeder Beziehung gewesen. Geistesabwesend griff<br />

ich nach dem kleinen Briefumschlag und öffnete diesen. Und wäre fast vom Bett gerutscht.<br />

Da lagen 1.000 Dollar Scheine drinnen, und zwar zwei Päckchen. Auf den Banderolen stand:<br />

50.000 Dollar in Banknoten zu $ 1.000.-. Ich hielt hier also 100.000 Dollar in meinen Händen.<br />

Mir wurde schlecht. Hastig stopfte ich das Geld zurück in den Umschlag und starrte ins Leere.<br />

Was sollte das alles? Plötzlich wurde Sawyer neben mir unruhig und ich warf den Brief-<br />

umschlag schnell in die Schublade meines Nachtschränkchens. Immer unruhiger wurde der<br />

junge Mann und fuhr mit einem erstickten Keuchen in die Höhe.<br />

Ich reagierte, ohne nachzudenken. Mich zu ihm beugen und ihn beruhigend in den<br />

Arm nehmen war eins. Ich spürte, dass er am ganzen Körper zitterte und sagte beruhigend:<br />

„Alles in Ordnung, Sawyer, du hast schlecht geträumt.“<br />

Einen Moment ließ er es zu, dass ich ihn sanft fest hielt, dann machte er sich frei und<br />

sank aufstöhnend in die Waagerechte zurück.<br />

„Scheiße.“, schnaufte er. „Ich bin vor ner Weile bei nem Flugzeugabsturz ... Naja, ich<br />

war an Bord, als es abstürzte. Davon hab ich grade geträumt.“<br />

Er beruhigte sich langsam und prustete schließlich angespannt:<br />

„Man, was für‟n Albtraum.“<br />

Erst jetzt bemerkte er die beiden Walther, die ich achtlos liegen gelassen hatte. Sofort<br />

glomm wieder Angst und Misstrauen in seinen faszinierenden Augen auf und ich beeilte<br />

<strong>mich</strong>, ihm zu sagen:<br />

„Hey, keine Panik, die sind nicht dafür gedacht, dich in die ewigen Jagdgründe zu<br />

schicken. Ich habe sie aus ihrem Versteck genommen, weil ich nicht sicher bin, ob die Typen,<br />

die dich gejagt haben, nicht doch noch in der Nähe sind. Solange wir uns hier aufhalten, droht<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

uns wohl keine Gefahr, da niemand von dem Haus hier weiß, aber wir können nicht ewig hier<br />

bleiben. Irgendwann ist die Speisekammer leer und wir werden uns etwas einfallen lassen<br />

müssen. Dann brauchen wir die vielleicht.“<br />

Sawyer sah <strong>mich</strong> an und entspannte wieder.<br />

„Ich kann dich da nicht noch tiefer mit rein ziehen, Kelly. Du bist meinetwegen schon<br />

in Lebensgefahr geraten. Wenn es mir besser geht, hau ich ab.“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, aber bis es soweit ist, kann noch viel passieren. Hör zu, ich kann mit einer Waffe<br />

umgehen, mein Grandpa hat es mir beigebracht. Ich bin durchaus im Stande, <strong>mich</strong> zu ver-<br />

teidigen. Mache dir erst mal um <strong>mich</strong> keine Sorgen. Du musst wieder gesund werden. Hast du<br />

Hunger?“<br />

auf.<br />

Sawyer nickte verlegen.<br />

„Und wie.“<br />

Ich lachte.<br />

„Ich werde dir etwas zu Essen machen.“<br />

Ich wollte aufstehen, aber noch viel verlegener hielt Sawyer <strong>mich</strong> zurück.<br />

„Warte mal. Ich ... ich müsste mal ... Ich ...“<br />

Er brachte nicht fertig, zu sagen, was ihn bedrückte, aber mir ging plötzlich ein Licht<br />

„Oh, du willst ins Bad, was? Komm, ich helfe dir.“<br />

Ganz langsam und vorsichtig half ich ihm, sich aufzusetzen und die Beine vom Bett zu<br />

schwingen. Er musste einige Male tief durchatmen, dann ging es ihm besser. Ich half ihm auf<br />

die Füße und erklärte:<br />

holfen.“<br />

„Stütz dich fest auf <strong>mich</strong>, ich habe im Krankenhaus schon ganz anderen Kalibern ge-<br />

Langsam setzten wir uns in Bewegung und erreichten das Bad. Mit zitternden Knien<br />

wankte Sawyer zum Klo hinüber und ich trat dezent auf den Flur hinaus. Nach ein paar<br />

Minuten hörte ich ihn leise sagen:<br />

„Bin fertig ...“<br />

Das klang so verlegen, dass ich grinsen musste. Schnell trat ich ins Bad und erwischte<br />

ihn gerade noch rechtzeitig, bevor seine Beine nachzugeben begannen. Ich umfasste seine<br />

schlanke Taille und er stützte sich stöhnend auf <strong>mich</strong>. So schaffte ich ihn ins Bett zurück.<br />

Schweißgebadet und vor Schwäche am ganzen Körper bebend lag er schließlich<br />

wieder lang. Ich hielt beruhigend seine Rechte und er hielt sich regelrecht an mir fest. Er<br />

brauchte mehrere Minuten, bis er sich einigermaßen gefangen hatte. Ich blieb bei ihm, bis sein<br />

Atem wieder ruhig kam und das Zittern aufgehört hatte. Lächelnd erklärte ich:<br />

„Ich mache uns mal was zu essen.“<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Er nickte nur und ich verschwand in die Küche, wo ich den Herd befeuerte. Ich kochte<br />

uns Nudeln und machte eine simple Tomatensoße dazu. Zwanzig Minuten später balancierte<br />

ich zwei Teller ins Schlafzimmer. Ich half Sawyer, sich aufzusetzen und stopfte ihm ein Sitz-<br />

kissen, das ich aus dem Wohnzimmer holte, in den Rücken.<br />

„Geht es so?“, fragte ich besorgt.<br />

Er nickte.<br />

„Jepp. Kein Problem.“<br />

Wir aßen unsere Nudeln und schließlich fragte ich beiläufig:<br />

„Sag mal, was hast du eigentlich in dieser abgelegenen Ecke getrieben?“<br />

Sawyer zögerte nur kurz.<br />

„Ach, was soll‟s. Hab jemanden gesucht. Nen nicht mehr ganz jungen Mann, der mir<br />

gegen diese Typen, die hinter mir her sind, helfen könnte.“ Er sah <strong>mich</strong> aus seinen grünen<br />

Augen an und fragte mit einem schiefen Grinsen: „Wie lange lebst du schon hier? Vielleicht<br />

kennst du ihn.“<br />

sein Name?“<br />

Ich schmunzelte.<br />

„Ich arbeite beim einzigen Arzt im Umkreis. Ich kenne wohl jeden hier. Wie ist denn<br />

Sawyer sah <strong>mich</strong> an.<br />

„Er heißt Timothy Walsh!“<br />

Ich spürte, wie ich blass wurde und Sawyer anstarrte wie ein Kalb mit zwei Köpfen.<br />

„Was ist?“, fragte dieser erschrocken.<br />

starren.<br />

„Wie ... wie heißt der Mann?“<br />

„Walsh, Timothy Walsh. Soll um die siebzig sein.“<br />

Immer noch war ich zu nichts anderem fähig, als Sawyer weiterhin fassungslos anzu-<br />

„Kelly, was ist denn? Hab ich was Verkehrtes gesagt?“<br />

Endlich wachte ich aus meiner Erstarrung auf.<br />

„Bist du sicher, dass der Name stimmt?“<br />

„Absolut. Wir suchen ihn schon ne Weile.“<br />

Ich sah Sawyer misstrauisch an.<br />

„Wer ist wir?“<br />

<strong>Der</strong> blonde Mann atmete tief durch.<br />

„Freunde und ich.“<br />

„Was sind das für Freunde?“<br />

„Sie saßen damals auch in dem abgestürzten Flugzeug, haben mit mir zusammen über-<br />

lebt.“, erklärte Sawyer kurz. Er schaute <strong>mich</strong> auffordernd an. „Was ist denn nun mit diesem<br />

Walsh? Kennst du ihn? Offensichtlich, so wie du geguckt hast.“<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Ich überlegte hektisch und entschied <strong>mich</strong> spontan, auf mein Bauchgefühl zu hören,<br />

das mir sagte, dass ich Sawyer vertrauen konnte. Ich hätte nicht einmal sagen können, warum<br />

ich das Gefühl hatte. Es war plötzlich da und ich wusste, ich konnte <strong>mich</strong> darauf verlassen.<br />

Ich holte tief Luft und drückte dem jungen Mann den Brief meines Großvaters in die Hand.<br />

Minutenlang herrschte Stille zwischen uns, Sawyer las aufmerksam die Worte, die mein<br />

Großvater mir hinterlassen hatte. Dann sagte er fassungslos:<br />

„Das gibt es ja nicht!“<br />

3) <strong>Über</strong> die Insel<br />

Sawyer hielt den Brief in der Hand und in seinem Kopf arbeitete es, wie in meinem.<br />

Leise und ziemlich erschöpft meinte er:<br />

„Du bist die Enkelin von diesem Walsh?“<br />

Ich sah ihn an und bemerkte, wie blass und müde er aussah. Ich nickte.<br />

„Ja, das bin ich offensichtlich, aber darüber werden wir später reden. Du solltest dich<br />

eine Weile ausruhen.“<br />

Ich stand auf, nahm ihm das Sitzkissen hinter dem Rücken weg und half ihm, sich be-<br />

quem hinzulegen. Er lag da und klapperte vor Schwäche mit den Zähnen.<br />

„Ist dir kalt?“, fragte ich besorgt.<br />

„N bisschen.“<br />

Ich ging an den Schrank und holte eine Decke heraus, die ich über Sawyers Zudeck<br />

legte. Dankbar lächelte er.<br />

„Das ist besser. Kelly?“<br />

„Ja?“<br />

und erwiderte:<br />

„Du musst das alles nicht tun.“<br />

Ich schaute ihn kurz an und nickte.<br />

„Ich weiß. Aber ich mache es gerne.“<br />

„Wegen des Briefes ...“<br />

Das war weniger eine Frage als vielmehr eine Feststellung. Ich schüttelte den Kopf<br />

„Nein, nicht deswegen. Ich habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, weißt du? Als<br />

ich sah, dass diese Schweine zu fünft hinter dir her waren, wurde ich wütend. Ich hätte dir auf<br />

jedem Fall geholfen, selbst, wenn du ein Verbrecher wärest.“<br />

Sawyer sah <strong>mich</strong> lange still an. Ruhig meinte er:<br />

„Das glaub ich dir sogar.“<br />

Er zitterte immer noch vor Kälte und hatte Schwierigkeiten, nicht mit den Zähnen zu<br />

Klappern. Ich schüttelte den Kopf.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Du frierst ja immer noch. Das geht nicht.“<br />

Entschlossen legte ich <strong>mich</strong> zu ihm ins Bett und zog mein Zudeck auch noch über uns.<br />

„Versteh das nur nicht verkehrt, klar?“, sagte ich ruhig.<br />

Eng kuschelte ich <strong>mich</strong> an den kranken, jungen Mann und blieb so liegen, bis ich<br />

merkte, dass das Zittern endlich nachließ und ruhige Atemzüge mir verrieten, dass er ein-<br />

geschlafen war. Erst jetzt löste ich <strong>mich</strong> sehr vorsichtig von ihm, holte mir meine Winter-<br />

jacke, die ich über <strong>mich</strong> breitete und schlief schließlich auch ein.<br />

************<br />

Ich wachte mitten in der Nacht davon auf, dass Sawyer sich neben mir bewegte. Meine<br />

innere Alarmanlage hatte sich darauf eingestellt, jede Regung von ihm mitzubekommen.<br />

Noch war er nämlich nicht über den Berg. Er hatte sich auf die Seite gedreht und wachte<br />

gerade auf. Als er sah, dass ich nur mit meiner Jacke zugedeckt war, wurden seine Augen<br />

dunkel und er sagte unglücklich:<br />

wichtiger.“<br />

„Hey, das ist doch Scheiße. Nimm dein Zudeck, du muss ja frieren wie sonst was.“<br />

Ich drehte <strong>mich</strong> ebenfalls auf die Seite und erklärte:<br />

„Nein, mir ist nicht kalt. Das ist schon in Ordnung, wirklich. Dir war kalt, das war<br />

„Vergiss es, nimm deine Decke, verflucht!“<br />

Ich schüttelte stur den Kopf.<br />

„Nein, nur, wenn dir warm genug ist.“<br />

„Ja.“, meinte er im Brustton der <strong>Über</strong>zeugung. „Mir ist warm genug.“<br />

Ich sah ihn genau an und bemerkte eine Gänsehaut am Hals und auf seinen Schultern,<br />

die unter dem Zudeck hervor guckten. Ich lachte leise und erwiderte:<br />

„Klar, das sehe ich. Du behältst die Decke, Punkt.“<br />

Er verdrehte die Augen.<br />

„Meine Fresse, bist du stur!“, stieß er entnervt hervor. Ein Schauer lief über seinen<br />

Körper und er fluchte ungehalten. „Verfluchte Scheiße, wieso ist mir so beschissen kalt?“<br />

Ich sah ihn besorgt an und erklärte: „Das kommt vom Blutverlust. Das regeneriert sich<br />

nicht in so kurzer Zeit. Aber du hast Recht, ganz warm ist mir auch nicht. Dreh dich auf die<br />

andere Seite, wenn du kannst.“<br />

Vorsichtig drehte er sich mit dem Rücken zu mir und ich rutschte wieder unter die Zu-<br />

decken. Eng schmiegte ich <strong>mich</strong> erneut an ihn und war erstaunt, dass es sehr angenehm war,<br />

seinen Körper zu spüren. Ich legte den rechten Arm um ihn und schnell wurde uns angenehm<br />

warm. Wir schliefen wieder ein.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Als ich aufwachte, war es hell draußen, die Sonne schien und Vögel zwitscherten.<br />

Sawyer hatte sich im Schlaf herum gedreht und so lag ich jetzt in seinen Armen. Ich spürte,<br />

dass ich rot wurde und versuchte, <strong>mich</strong> frei zu machen, ohne ihn zu wecken. Als ich es ge-<br />

schafft hatte, glitt ich leise vom Bett und verschwand ins Badezimmer. Ich stellte <strong>mich</strong> unter<br />

die Dusche, die durch ein ausgeklügeltes System vom Kamin beheizt ihr warmes Wasser<br />

produzierte, und duschte ausgiebig. Anschließend schlich ich, nur mit einem Handtuch um<br />

den Körper, ins Schlafzimmer zurück. Grandpa und ich hatten immer ein wenig Ersatz-<br />

kleidung hier. Ich griff mir frische Unterwäsche, Socken, Jeans und einen Pullover und kehrte<br />

ins Bad zurück. Dort zog ich <strong>mich</strong> an. Als ich fertig war verschwand ich in die Küche und<br />

feuerte den Herd an. Wasser aufsetzen war schon Routine geworden. Ich sah in der Speise-<br />

kammer nach, was ich uns zum Frühstück machen konnte. Groß war die Auswahl nicht.<br />

Schließlich entschied ich <strong>mich</strong> für Schweinefleisch aus der Dose und öffnete dazu ein Glas<br />

Pilze, die ich uns briet. Als ich gerade fertig war und das lukullische Frühstück auf Teller ver-<br />

teilen wollte, hörte ich aus dem Bad ein Rumpeln. Erschrocken eilte ich los, um nachzusehen,<br />

was passiert war. An der Badezimmertür zusammen gesackt fand ich Sawyer, der offensicht-<br />

lich alleine versucht hatte, auf die Toilette zu kommen. Hastig kniete ich neben ihm nieder<br />

und sagte besorgt:<br />

„Hey, bist du verrückt? Willst du dich umbringen? Du bist noch nicht wieder so bei<br />

Kräften, dass du hier im Haus herum springen kannst.“<br />

Er sah <strong>mich</strong> an und stöhnte kläglich:<br />

„Was du nicht sagst. Ist mir doch tatsächlich auch schon aufgefallen.“<br />

Ich griff nach ihm und sagte:<br />

„Komm, ich bringe dich ins Bett zurück. Und nächstes Mal rufe gefälligst, wenn du<br />

den Drang verspürst, herumzulaufen.“<br />

Mühsam und mit heftig zitternden Knien schafften wir es gemeinsam, Sawyer aufzu-<br />

richten und zurück ins Bett zu bringen. Vollkommen erledigt lag er still und starrte frustriert<br />

die Decke an. Schließlich sagte er leise:<br />

„Man, ich hab <strong>mich</strong> noch nie so hilflos und beschissen gefühlt. Und glaub mir, das<br />

sind nicht meine ersten Verletzungen.“<br />

Ich hatte ihn zugedeckt und sagte:<br />

„Weißt du, Blutverlust unterschätzen die meisten Menschen. Es wird einfach noch ein<br />

paar Tage dauern, dann bist du wieder auf den Beinen.“ Ich stand auf und sagte im Hinaus-<br />

gehen: „Jetzt gibt es erst mal Frühstück, danach wirst du dich schon besser fühlen.“<br />

Minuten später saßen wir auf dem Bett und futterten das dürftige Menü. Als wir fertig<br />

waren, erklärte ich Sawyer ruhig:<br />

„Kann ich dich eine Weile alleine lassen, oder versuchst du dann einen kleinen Aus-<br />

flug in den Wald? Ich möchte gerne ein paar Lebensmittel und Medikamente besorgen.“<br />

Sawyer verdrehte die Augen.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Harhar. Ich verspreche, liegen zu bleiben. Aber denkst du nicht, dass könnte gefähr-<br />

lich für dich werden?“<br />

Ich seufzte.<br />

„Mag sein, aber wenn wir hier verhungern, bringt uns das auch nicht gerade weiter.<br />

Ich werde natürlich nicht nach Wright fahren, sondern nach Beckley. Das wird nur leider eine<br />

ganze Weile dauern. Es sind zehn Kilometer und ich werde Nebenstraßen benutzen, das heißt,<br />

ich werde vermutlich gute drei Stunden unterwegs sein.“<br />

Sawyer nickte.<br />

„Kein Problem. Ich kann ja nicht weglaufen. Genau genommen kann ich ja nicht mal<br />

alleine pinkeln gehen.“<br />

Er klang frustriert und wütend.<br />

„Ich werde <strong>mich</strong> beeilen, das verspreche ich.“ Ich nahm die beiden 9 mm Waffen aus<br />

der Nachttischschublade und legte eine auf das Bett. „Ich nehme eine mit, man weiß ja nie. Es<br />

weiß hier in der Umgebung zwar keiner, dass diese Hütte existiert, aber ... Lass uns einfach<br />

auf Nummer sicher gehen.“<br />

Er griff nach der Waffe und kontrollierte sie mit geübten Fingern.<br />

„Alles klar. Nun mach schon dass du los kommst.“<br />

Er warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Sorge, Frust, aber auch noch<br />

etwas anderes lag in ihm. Ich nickte.<br />

„Gut, ich mache <strong>mich</strong> auf die Socken. Ich beeile <strong>mich</strong>, so gut es geht.“<br />

Ich wollte <strong>mich</strong> erheben, aber Sawyer hielt <strong>mich</strong> an der Hand fest.<br />

„Pass auf dich auf, okay?“<br />

Ich sah ihn an und lächelte.<br />

„Mach ich, versprochen.“<br />

Zögernd ließ er meine Hand los und ich erhob <strong>mich</strong>. Ich schnappte mir meine Jacke<br />

und kontrollierte, ob mein Portemonnaie in der Tasche steckte. Eilig hastete ich ins Wohn-<br />

zimmer und griff mir aus dem Waffenschrank einer Eingebung folgend Grandpas Jagdgewehr<br />

und ein wenig Munition, dann hetzte ich in die Garage. Ich legte das Weatherby auf die<br />

Rückbank und deckte es mit einer alten Decke ab. Minuten später war ich bereits auf dem<br />

Weg. <strong>Über</strong> Waldwege gelangte ich nach Skelton und fuhr auf Nebenstraßen bis Beckley. Ich<br />

sah <strong>mich</strong> paranoid immer wieder um, ob ich irgendwo den Ford Explorer sah, aber dem war<br />

natürlich nicht so. Schließlich hatte ich mein Ziel, ein kleines Shoppingcenter am Rande<br />

Beckleys, erreicht.<br />

Ich parkte den Jeep etwas abseits und hastete erst in einen Supermarkt und deckte uns<br />

mit frischen Lebensmitteln wie Eiern, Speck, Aufbackbrötchen, Brot, Käse, Fleisch, Gemüse,<br />

Kartoffeln und viel Obst und Salat gründlich ein, schleppte alles zum Wagen und eilte an-<br />

schließend zu einer Apotheke. Hier besorgte ich ein Eisenpräparat und Vitamine für Sawyer,<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

um ihm auf die Beine zu helfen. Aufatmend saß ich schließlich wieder im Wagen und machte<br />

<strong>mich</strong> auf den Rückweg. Es hatte länger gedauert als ich gedacht hatte, weil die Waldwege<br />

durch den vielen Regen der letzten Zeit noch schlechter zu befahren gewesen waren als üb-<br />

lich. Trotzdem nahm ich auf dem Heimweg die gleiche Route. Als ich vielleicht noch eine<br />

Meile vom Haus entfernt war, wurde ich plötzlich unruhig. Langsamer fuhr ich weiter und sah<br />

<strong>mich</strong> sehr aufmerksam um. Und dann blieb mein Herz vor Schreck fast stehen: Vor mir in<br />

vielleicht hundert Metern Entfernung stand ein roter Ford Explorer.<br />

„Oh Gott, Sawyer!“<br />

Ich setzte ein Stück zurück, stellte den Wagen ins Gebüsch und stieg aus dem Jeep.<br />

Ich griff mir die Walther aus dem Handschuhfach, steckte sie auf dem Rücken in den Hosen-<br />

bund, stopfte mir zwei Magazine in die Jackentasche und schnappte mir das Gewehr und die<br />

Munition. Hastig machte ich <strong>mich</strong> auf den Weg. Ich war wild entschlossen, Sawyer da raus zu<br />

holen! Mein Grandpa hatte gelehrt, <strong>mich</strong> anzupirschen und er hatte mir Schießen beigebracht.<br />

Er hatte dafür gesorgt, dass ich beim NRA als Schützin registriert worden war. Er hatte <strong>mich</strong><br />

immer mit auf die Jagd genommen und ich kannte <strong>mich</strong> im Wald mehr als gut aus. Leise und<br />

sehr vorsichtig schlich ich durch das dichte Gebüsch in einem Bogen zum Haus hinüber.<br />

Immer wieder sicherte ich meine Umgebung, konnte aber niemanden sehen. Plötzlich hörte<br />

ich vor mir Schüsse. Mir wurde schlecht. Aber ich zwang <strong>mich</strong>, langsam weiter zu gehen.<br />

Schließlich hatte ich die kleine Lichtung erreicht, auf der das Haus stand. Sofort sah ich, dass<br />

zwei Männer mit Waffen in den Händen auf der Terrasse standen und versuchten, die stabile<br />

Tür aufzubrechen. Ich zögerte keine Sekunde, sondern setzte das Gewehr an, zielte und<br />

drückte ohne Nachzudenken ab. <strong>Der</strong> erste Typ brach getroffen zusammen, dem Zweiten ge-<br />

lang es noch, herumzuwirbeln, doch schon traf auch ihn mein Schuss. Ich hetzte bereits<br />

weiter, zur Rückseite des Hauses. Wieder hörte ich Schüsse im Haus und erreichte keuchend<br />

die Garage. Eine Stimme schrie: „Das muss die Tussie sein, sieh nach. Tom und Harry<br />

werden sie erwischt haben. Mach schon. Wir schnappen uns Sawyer. Er hat keine Munition<br />

mehr.“ Angst um Sawyer schlug über mir zusammen wie eine Woge. Ich ging blitzschnell in<br />

Deckung und keine Sekunde zu früh. Ein Mann kam aus der Garage gehastet und eilte um das<br />

Haus herum. Wenn es noch immer die fünf Typen waren, die uns in Wright beschossen<br />

hatten, waren noch zwei im Haus. Ich hatte nur noch Angst, was ich drinnen vorfinden würde!<br />

Ich stellte das Gewehr ab, im Haus würde es <strong>mich</strong> nur behindern, und zog stattdessen die<br />

Walther aus dem Hosenbund, entsicherte sie und wartete.<br />

Kaum war der Typ um die Ecke verschwunden, rannte ich in die Garage und ins Haus.<br />

Leise bewegte ich <strong>mich</strong> in den Flur, hörte Kampfgeräusche und gleich darauf einen ab-<br />

gewürgten Schmerzensschrei, der eindeutig von Sawyer kam.<br />

„Los, raus jetzt hier. <strong>Der</strong> ist noch so fertig, er wird uns alles verraten. Und dann<br />

schneiden wir den Mistkerl in dünne Streifen.“<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Mir lief eine Gänsehaut über den Körper. Dieselbe Stimme gab die Anweisung und<br />

schon tauchten zwei Typen im Flur auf, die Sawyer brutal gepackt hatten und zwischen sich<br />

schleppten. Sie blieben erstaunt stehen, als sie <strong>mich</strong> sahen und ich zögerte erneut keine<br />

Sekunde. Ich zielte und drückte ab. <strong>Der</strong> Typ links von Sawyer wurde gegen die Wand ge-<br />

schleudert und blieb verkrümmt liegen. <strong>Der</strong> andere ließ Sawyer ebenfalls los und riss seine<br />

Waffe hoch. Doch ich hatte meine eigene Waffe ja bereits im Anschlag und war daher erheb-<br />

lich schneller, drückte erneut ab. Getroffen sackte der Kerl zu Boden und ich fuhr herum, er-<br />

wartend, dass der fünfte Mann jeden Moment auftauchen würde. Das geschah jedoch nicht.<br />

Im Gegenteil hörte ich in einiger Entfernung einen Motor aufheulen. <strong>Der</strong> Kerl ergriff offen-<br />

sichtlich die Flucht. Ich eilte zu den zusammengebrochenen Mistkerlen und kontrollierte, ob<br />

sie tot waren. Das waren sie. Sekunden später lag ich schon neben Sawyer auf den Knien. Er<br />

blutete aus einer tiefen Platzwunde an der Stirn, kam aber gerade wieder zu sich. Er sah <strong>mich</strong><br />

und keuchte:<br />

Armen.<br />

Bett.“<br />

„Kelly ... Gott sei Dank.“<br />

Ich half ihm, sich aufzusetzen und in der nächsten Sekunde lagen wir uns in den<br />

Minutenlang hockten wir so da, dann stieß ich hervor:<br />

„Ich muss sehen, ob die beiden Typen draußen auch tot sind. Komm, ich helfe dir ins<br />

Mühsam stemmte er sich hoch und ich unterstützte ihn so gut es ging. Die paar<br />

Schritte bis ins Schlafzimmer forderten ihm alles ab, aber schließlich lag er wieder im Bett<br />

und ich eilte zur Vordertür und schloss diese auf. Sehr vorsichtig und mit der Walther im An-<br />

schlag trat ich nach draußen. Hier rührte sich nichts mehr. Einer der Typen lag verkrümmt am<br />

Boden und war tot, der andere war verschwunden. Offensichtlich hatte ich ihn nicht richtig<br />

getroffen und sein Kumpel hatte ihn mit genommen. Ich ließ den Kerl erst einmal liegen und<br />

eilte den Weg zurück, bis ich meinen Jeep erreicht hatte. Die nächsten Minuten spulte ich<br />

automatisch ab, wie von einem Computerprogramm gesteuert. Ich fuhr den Wagen zum Haus<br />

und stellte ihn in die Garage. Als nächstes holte ich das Gewehr aus dem Gebüsch, in dem ich<br />

es stehen gelassen hatte. Nun schleppte ich die Einkäufe in die Küche und verriegelte die<br />

Haustür wieder. Schließlich kehrte ich zu Sawyer zurück, der im Bett lag und ein Taschentuch<br />

auf die Wunde an der Stirn presste. Ich warf endlich meine dicke Jacke in die Ecke, ging ins<br />

Bad und holte den Erste Hilfe Kasten. Damit kehrte ich ins Schlafzimmer zurück, setzte <strong>mich</strong><br />

neben Sawyer auf das Bett und sagte sanft:<br />

„Lass mal sehen.“ Er nahm das Taschentuch weg und ich sah mir die Wunde an. Ich<br />

nickte und erklärte: „Da muss ich ein paar Stiche machen, tut mir leid.“<br />

Ich säuberte die Wunde vorsichtig, was Sawyer Tränen in die Augen trieb, nahm<br />

Nadel und Faden und verschloss die große Platzwunde mit vier Stichen. Sawyer biss<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

knirschend die Zähne aufeinander, doch ab und zu stöhnte er trotzdem leise auf. Als ich fertig<br />

war und ein breites Pflaster über die Wunde klebte, prustete er erleichtert:<br />

„Dr. Quinn, das war so schön ...“<br />

Ich sah ihn an und plötzlich, überwältigend brutal, wurde mir klar, dass ich gerade drei<br />

Menschen getötet hatte. Ich begann zu zittern und mir kamen Tränen. Ich heulte los wie der<br />

sprichwörtliche Schlosshund. Sawyer setzte sich mühsam auf und nahm <strong>mich</strong> in die Arme. Er<br />

hielt <strong>mich</strong> fest und streichelte mir beruhigend über den Rücken, sagte aber kein Wort. Es<br />

dauerte lange, bis ich <strong>mich</strong> endlich ein wenig gefasst hatte. Und erst jetzt machte der junge<br />

Mann den Mund auf.<br />

„Jetzt hast du mir schon zum zweiten Mal den Arsch gerettet. Ich weiß, wie schreck-<br />

lich es ist, Menschen zu töten, aber wenn du es nicht getan hättest, wäre ich jetzt tot und du<br />

vermutlich auch. Das hilft dir wenig, das ist mir klar, aber du hattest keine Wahl.“<br />

Ich schniefte und machte <strong>mich</strong> frei.<br />

„Du hast Recht, das hilft mir wirklich nicht.“<br />

Und plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, empfand ich irrationale Wut, Wut auf<br />

diesen Mann, der <strong>mich</strong> dazu gezwungen hatte, zu tun, was ich getan hatte. Ich stand abrupt<br />

auf und sah ihn kalt an.<br />

„Das ist deine Schuld. Deine verdammte Schuld! Wenn du nicht so dämlich gewesen<br />

wärest, dich schnappen zu lassen, wäre dass alles nicht passiert. Ich habe da draußen drei<br />

Leichen, die ich beseitigen muss. Ich hoffe, du bist zufrieden.“<br />

Ich drehte <strong>mich</strong> herum und eilte auf den Flur. Die Schlafzimmertür warf ich hinter mir<br />

zu, dass es krachte. Ich stand einen Moment reglos da und starrte die beiden Toten an, biss die<br />

Zähne zusammen und packte den Ersten unter den Achseln. Ich wollte gerade anfangen, ihn<br />

zur Garage zu ziehen, als die Schlafzimmertür wieder geöffnet wurde und Sawyer vor<br />

Schwäche zitternd im Türrahmen stand.<br />

„Ich ... helfe dir.“, stieß er verbissen hervor.<br />

Kalt sah ich ihn an.<br />

„Klar. Du hilfst mir. Sonst noch was? Schwing deinen Arsch bloß wieder ins Bett,<br />

sonst habe ich bald vier Leichen, die ich wegschaffen muss.“<br />

Er sah <strong>mich</strong> an, in seinen Augen eine Traurigkeit, die mir nun doch ins Herz schnitt,<br />

und drehte sich wortlos herum. Leise schloss er die Tür hinter sich und ich machte <strong>mich</strong> an<br />

die Arbeit.<br />

Mehr als drei Stunden brauchte ich, um die Toten in den Wald zu schaffen und zu ver-<br />

graben. Drei Stunden, in denen ich <strong>mich</strong> beruhigte, in denen mir immer klarer wurde, dass ich<br />

Sawyer verdammt Unrecht getan hatte und in denen mir meine harten Worte mehr und mehr<br />

leid taten. Als ich schließlich verschwitzt und dreckig wieder ins Haus ging, hatte ich <strong>mich</strong> in<br />

jeder Beziehung beruhigt. Ich ging gleich ins Badezimmer, wusch <strong>mich</strong> und marschierte zum<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Schlafzimmer. Einen Moment stand ich unschlüssig vor der Tür, doch schließlich öffnete ich<br />

sie entschlossen. Sawyer lag im Bett, drehte mir den Rücken zu und rührte sich nicht.<br />

Langsam ging ich zum Bett hinüber und setzte <strong>mich</strong> auf die Kante. Ich atmete tief ein.<br />

„Hör zu, es tut mir leid. Ich war vorhin völlig durcheinander. Verstehst du? Ich habe<br />

Menschen getötet! Ich habe die Beherrschung verloren. Ich hatte ... nicht das Recht, so was zu<br />

sagen, du hast wirklich keine Schuld daran.“<br />

Er reagierte nicht auf meine Worte und ich konnte es ihm nicht verdenken.<br />

„Sawyer, bitte, es tut mir wirklich leid, okay. Ich war mehr als ungerecht und habe nur<br />

einen Sündenbock gesucht.“<br />

Leise stieß er hervor:<br />

„Nein, du hattest absolut Recht. Ich hab dich in diese ganze Scheiße mit rein gezogen.<br />

Sobald es mir besser geht, werd ich verschwinden und du wirst <strong>mich</strong> nie wieder sehen, das<br />

versprech ich dir.“<br />

Komischerweise ließen seine Worte mir eine Gänsehaut über den Körper laufen. Ich<br />

legte ihm sanft eine Hand auf den Arm und sagte ruhig:<br />

„Du spinnst doch. Ich werde dir weiter helfen. Mehr als dich um Entschuldigung<br />

bitten kann ich nicht, aber ich werde dich bestimmt nicht alleine losrennen lassen.“<br />

Resigniert erwiderte Sawyer:<br />

„Ja, weil dein Großvater dich darum gebeten hat.“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Nein! Weil ich dich mag. Und weil ich das Gefühl habe, du wirst noch öfter Hilfe<br />

brauchen. Irgendetwas sagt mir, dass du nicht das erste Mal in Schwierigkeiten steckst.“<br />

Mir war schon am ersten Abend bei seiner Wundversorgung eine Narbe wie von einer<br />

Schusswunde an seiner linken Schulter aufgefallen.<br />

Ich zog sanft an Sawyers Arm und rollte ihn auf den Rücken. Er versuchte, einen ab-<br />

weisenden Blick aufzusetzen, aber das gelang ihm nicht. Im Gegenteil. In seinen Augen<br />

waren immer noch eine undefinierbare, tiefe Traurigkeit zu sehen und eine erschreckende<br />

Resignation.<br />

geschafft?“<br />

„Wie kommst du darauf?“, fragte er leise.<br />

„Weil du den Eindruck machst, als hättest du schon einiges erlebt.“<br />

Er verzog das Gesicht.<br />

„Du hast ja keine Ahnung.“ Er schwieg kurz, dann fragte er verlegen: „Hast du ... es<br />

Ich wusste, was er meinte und nickte.<br />

„Ja, die sind versorgt. Ich habe sie ein ganzes Stück entfernt im Wald vergraben. Die<br />

findet keiner.“ Mir lief ein Schauer über den Rücken. „Wie lange dauert es, bis man das ver-<br />

gisst?“, fragte ich unglücklich.<br />

Sawyer zuckte die Schultern.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich glaub nicht, dass es dafür ne feste Regel gibt. Denk nicht drüber nach, das ist das<br />

Beste. Du musst dir einfach sagen, wenn du es nicht getan hättest, wären wir jetzt mit großer<br />

Wahrscheinlichkeit beide tot. Ich auf jedem Fall.“ Ein dunkler Schatten huschte kurz über<br />

sein Gesicht. „Sie hätten <strong>mich</strong> ja nicht einfach nur gekillt ...“<br />

„Sie haben dich nicht gekriegt, das ist die Hauptsache. Und um das zu verhindern,<br />

würde ich es immer wieder machen ...“<br />

Ich schwieg verlegen. Sawyer grinste verhalten.<br />

„Ist das dein Ernst?“, fragte er <strong>mich</strong>. Ich nickte.<br />

„Ja, das ist es. Ich hatte solche ...“<br />

Verlegen verstummte ich. Ich wollte ihm nicht unter die Nase reiben, dass ich nur<br />

noch aus Angst um ihn bestanden hatte. Stattdessen fuhr ich fort:<br />

„Das sind Feiglinge.“ Ich stand etwas hektisch auf. „Ich habe dir ein paar Medis mit-<br />

gebracht und ich werde uns etwas vernünftiges zu Beißen machen.“<br />

Hastiger als geplant verließ ich das Schlafzimmer und marschierte in die Küche. Ich<br />

zündete den Herd an und räumte endlich die Einkäufe weg. Ich kochte uns Kartoffeln, Ge-<br />

müse und briet uns Steaks dazu. Ich war froh, trotz allem, dass ich den Ausflug in die Stadt<br />

gemacht hatte. Jetzt hatten wir frische Lebensmittel für mindestens zehn Tage und die Zeit<br />

würde reichen, Sawyer wieder auf die Beine zu bringen. Ich stellte die Teller, eine Flasche<br />

Wasser, eine weitere Flasche, Scotch, und Gläser, sowie die Medikamente auf ein Tablett,<br />

legte zusätzlich zwei Paracetamol dazu und trug alles ins Schlafzimmer. Sawyer lag ge-<br />

dankenverloren im Bett und sah mir entgegen. Dabei leuchteten seine Augen kurz auf, als ich<br />

das Schlafzimmer betrat. Doch sofort schaute er aus dem Fenster, wie, um zu verbergen, was<br />

in seinen Augen gefunkelt hatte. Ich sagte zufrieden:<br />

„So, jetzt gibt es etwas Anständiges zu Essen. Komm, ich helfe dir, dich hinzusetzen.“<br />

Ich reichte ihm eine Hand und zog ihn in eine sitzende Haltung, stopfte das Sitzkissen wieder<br />

in seinen Rücken und fragte:<br />

„Geht es so?“<br />

Er nickte.<br />

„Ja, kein Problem. Danke.“<br />

Ich blieb am Tisch sitzen und stellte Sawyer das Tablett auf die Beine. Nun schenkte<br />

ich uns einen doppelten Scotch ein und reichte Sawyer ein Glas.<br />

„Hier. Ich habe das Gefühl, das könnten wir vertragen.“<br />

Wir prosteten uns zu und kippten den Alkohol auf Ex hinunter, was mir bewies, wie<br />

dringend wir ihn hatten gebrauchen können. Dann begannen wir zu Essen. Wir ließen es uns<br />

schmecken und als wir fertig waren, nahm ich Sawyer das Tablett ab und fragte:<br />

„Was sagt dein Kopf? Willst du dich wieder hinlegen oder möchtest du noch einen<br />

Moment sitzen?“<br />

Er verzog das Gesicht und erwiderte:<br />

- 32 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„<strong>Der</strong> brummt, aber lass <strong>mich</strong> trotzdem noch ne Weile sitzen, okay.“<br />

„Klar. Hier, schluck die Tabletten, das ist Eisen, blutbildend, und das sind Vitamine,<br />

das wird dir helfen, wieder auf die Füße zu kommen. Außerdem habe ich dir zwei Schmerz-<br />

tabletten mitgebracht.“<br />

Sawyer griff nach den Tabletten und dem Glas mit Wasser und grinste frech.<br />

„Danke, Schwester Hathaway.“<br />

„Weißt du, ich möchte gerne wissen, wie die uns gefunden haben. Es hatte jedenfalls<br />

nichts mit meinem Ausflug zu tun.“ Ich sah Sawyer an. „Ich weiß nicht, ob wir hier noch<br />

halbwegs sicher sind. Sie kennen das Versteck und zwei sind entkommen. Wir sollten uns<br />

überlegen, wie es weiter gehen soll.“ Ich seufzte. „Es wäre schon sinnvoll, wenn du noch ein<br />

paar Tage Ruhe hättest. So, wie es dir jetzt geht, können wir nicht aufbrechen, wohin auch<br />

immer.“<br />

Er knurrte frustriert:<br />

„Ja, ich würd kaum bis zum Auto kommen. Ich hab keine Ahnung, ob es noch mehr<br />

sind oder ob sie nun ein paar Tage brauchen, um ihre Wunden zu lecken. Es waren immer nur<br />

diese fünf, die <strong>mich</strong> verfolgt haben. Aber das heißt nicht, dass sie nicht Verstärkung auf-<br />

treiben können. Wenn sie uns hier noch einmal überfallen, werden sie besser vorbereitet sein.<br />

Dann wird es nicht wieder gelingen, sie zu überraschen. Wir könnten uns hier zwar ver-<br />

schanzen, aber nicht für lange. Verdammt! Was denkst du, wann werd ich fit genug sein, dass<br />

wir hier abhaun können?“<br />

Ich antwortete spontan:<br />

„Drei, vier Tage wird es schon noch dauern, bis wir daran denken können, eine kleine<br />

Spritztour zu machen. Es nützt uns nämlich wenig, wenn wir zu früh aufbrechen und du<br />

unterwegs zusammen klappst. Wenn wir erst unterwegs sind können wir kaum irgendwo<br />

länger Rast machen. Wo sollen wir überhaupt hin, das ist die Frage.“<br />

Sawyer schmunzelte.<br />

„Zu Kate und Jack. Sie erwarten <strong>mich</strong> ohnehin zurück. Vermutlich denken sie sowieso<br />

schon das Schlimmste.“<br />

Ganz kurz huschte ein Schatten über sein Gesicht, als er die Namen im Zusammen-<br />

hang aussprach. Ich fragte interessiert:<br />

„Wer sind die Beiden?“<br />

Er biss sich kurz auf die Lippe und erklärte:<br />

„Sie saßen damals auch in der Maschine. Jack ist Arzt, wird dir gefallen. Und Kate ...<br />

Nun, sie ist jetzt mit ihm zusammen.“<br />

Wie er das sagte ließ vermuten, dass es ihm nicht schmeckte oder jedenfalls einmal<br />

nicht geschmeckt hatte. Ich fragte für den Moment nicht nach, denn Sawyer sah ziemlich er-<br />

schöpft und kaputt aus. Ich sah auf die Uhr. Es war fast 22 Uhr und so erklärte ich:<br />

- 33 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Du solltest schlafen, du musst ziemlich am Ende sein, was?“<br />

Er nickte.<br />

„Ja, ich bin alle. Das nervt.“<br />

Ich trat zu ihm und nahm das Sitzkissen weg. Müde ließ Sawyer sich in die<br />

Waagerechte sinken. Sofort aber fragte er höchst verlegen:<br />

dann?“<br />

„Ich muss noch mal pinkeln, wenn ich es nicht alleine zurück schaff, hilfst du mir<br />

„Natürlich.“<br />

Langsam setzte er sich noch einmal auf und schwang die Beine vom Bett. Es gelang<br />

ihm recht gut, auf die Füße zu kommen und er schaffte den Weg ins Bad und zurück auch<br />

alleine. Er sank schweißgebadet zurück ins Bett.<br />

„Legst du dich auch hin?“, wollte er wissen.<br />

Ich zögerte.<br />

„Bald. Ich werde draußen noch mal nach dem Rechten sehen und sicherheitshalber<br />

alle Türen und Fenster verriegeln. Schlaf du nur schon, ich komme auch gleich.“<br />

Skeptisch sah er <strong>mich</strong> an, nickte aber.<br />

„Okay. Gute Nacht.“<br />

„Gute Nacht.“<br />

Ich verließ das Schlafzimmer und machte eine Runde durchs Haus. Ich schloss die<br />

äußerst stabilen Fensterläden und verriegelte sie sicher. Im Flur schob ich den kleinen<br />

Schrank vor die Haustür. Nun ging ich zur Tür, die in die Garage führte. Ich trat vorsichtig<br />

hinaus und sah <strong>mich</strong> um, aber es war keine Gefahr zu spüren, nichts zu sehen oder zu hören.<br />

So ging ich zum Jeep und öffnete die Motorhaube. Hier lockerte ich ein Zündkabel und<br />

konnte nun sicher sein, dass der Wagen nicht einfach gestohlen werden konnte. Ich kehrte<br />

zufrieden ins Haus zurück und verschloss auch diese Tür gründlich. Auch hier schob ich einen<br />

kleinen Schrank, der Jagdkleidung enthielt, vor die Tür. So konnte ich ziemlich sicher sein,<br />

dass wir nicht überrascht werden konnten. Ich griff mir das Jagdgewehr, das ich im Wohn-<br />

zimmer hatte liegen lassen, nahm auch die beiden anderen Gewehre und alle Munition an<br />

<strong>mich</strong> und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Ich schloss leise die Tür, um Sawyer nicht zu<br />

stören, der tief und fest schlief. Ich lud die Waffen und stellte sie griffbereit neben das Bett.<br />

Die Walther reinigte ich und schob ein neues Magazin ein. Sie legte ich unter mein Kopf-<br />

kissen und grinste still. Ich kam mir vor wie Ziva David in meiner Lieblingsserie NCIS. Aber<br />

jetzt war ich zufrieden und machte <strong>mich</strong> lang. Ich zog das Zudeck über <strong>mich</strong> und versuchte,<br />

einzuschlafen. Doch zu sehr drehten sich meine Gedanken noch um das, was vorgefallen war.<br />

Wieder und wieder sah ich die drei Männer unter den Kugeln zusammen brechen. Irgendwann<br />

schlief ich trotzdem ein.<br />

- 34 -


By<br />

Frauke Feind<br />

************<br />

Drei weitere Tage vergingen ruhig und ungestört. Sawyer hielt sich tapfer daran, sich<br />

zu schonen und erholte sich schnell. Am Morgen des vierten Tages bat er <strong>mich</strong> verzweifelt:<br />

„Hey, Doc, wenn ich noch einen einzigen Tag hier herumliegen muss, dreh ich durch.<br />

Kann ich nicht mal ne Weile aufstehen?“<br />

Ich nickte.<br />

„Da ist nichts gegen einzuwenden.“<br />

Sawyer atmete erleichtert auf.<br />

„Oh, man, danke.“<br />

Er wollte sich aufsetzen, zuckte aber vor Schmerzen zusammen.<br />

„Was ist denn?“, fragte ich besorgt.<br />

„Nichts, mir tut nur das Kreuz weh von der verdammten Liegerei.“, schnaufte er und<br />

streckte sich ächzend.<br />

Ganz kurz hatte ich den Eindruck, einen dunklen Schatten über sein Gesicht huschen<br />

zu sehen, war mir aber nicht sicher, ob ich ihn mir nicht doch nur eingebildet hatte. Ich<br />

grinste.<br />

„Dann lass <strong>mich</strong> dich doch verwöhnen, ich bin gut darin, zu Massieren.“<br />

Erstaunt sah er <strong>mich</strong> an.<br />

„Ehrlich?“<br />

Ich nickte.<br />

„Warte.“<br />

Ich eilte ins Bad und nahm ein großes Badelaken und Massageöl aus dem Schrank.<br />

Damit kehrte ich ins Schlafzimmer zurück und breitete das Badelaken auf dem Bett aus.<br />

„Wenn ich bitten darf?“<br />

Er grinste frech und meinte:<br />

„Jederzeit.“<br />

Schnell rollte er sich auf den Bauch auf das Badelaken und ich turnte zu ihm auf das<br />

Bett. Ich träufelte ihm Massageöl auf den Rücken und bearbeitete ihn gute dreißig Minuten<br />

lang, den Bereich um die Wunde auslassend, bis ich deutlich spürte, dass sich die Ver-<br />

spannungen gelöst hatten.<br />

„So. Wie ist das?“, fragte ich und machte Platz, damit er sich aufsetzen konnte.<br />

Als er neben dem Bett stand, seufzte er wohlig.<br />

„Sehr viel besser. Danke ...“<br />

„Kein Problem. Willst du Duschen?“<br />

„Wenn ich darf?“<br />

Ich tat, als rieche ich etwas Unangenehmes und grinste.<br />

„Du darfst nicht nur, du musst sogar.“<br />

- 35 -


Klamotten?“<br />

Er verzog das Gesicht und meinte:<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Harhar.“ Kopfschüttelnd sah er an sich herunter und fragte: „Was ist mit meinen<br />

„Oh, die waren nur noch etwas für die Mülltonne, tut mir leid. Aber mein Großvater<br />

hatte annähernd deine Statur, nur etwas kräftiger.“<br />

Ich ging an den Schrank und öffnete ihn. Wehmütig betrachtete ich die Ersatzkleidung<br />

meines Großvaters, dann griff ich nach Jeans, Hemd, Socken und Boxershorts und drückte<br />

alles Sawyer in die Hand.<br />

„Hier, wenn es nicht ganz passt, wird das wohl nichts ausmachen. Während du duscht<br />

mache ich uns Frühstück, es ist ausnahmsweise mal herrlich warm draußen, wir können auf<br />

der Terrasse Essen. Wenn was ist rufe <strong>mich</strong>, verstanden!“<br />

Eine halbe Stunde später saßen wir gemeinsam am Terrassentisch und stopften zu-<br />

frieden Toast, Spiegeleier und Speck in uns hinein. Sawyer blühte regelrecht auf. Es war deut-<br />

lich zu merken, wie sehr er es vermisst hatte, an der frischen Luft zu sein. Als wir fertig ge-<br />

gessen hatten und ich uns eine zweite Tasse Kaffee geholt hatte, sagte ich:<br />

„Meinst du nicht, dass es langsam Zeit wird, mir mal zu erzählen, was es mit der Insel<br />

und dem Absturz und allem anderen auf sich hat?“<br />

„Hm. Ja, vielleicht hast du Recht. Du hast wohl das Recht zu wissen, um was es geht.<br />

Aber ich warne dich. Du wirst sicher vieles nicht glauben können, ich hab ja selbst<br />

Schwierigkeiten gehabt, es zu glauben, dabei war ich mitten drin. Erklären kann ich dir vieles<br />

übrigens auch nicht, einfach, weil ich es selbst nicht kapiere. Okay ...“ Er atmete tief durch<br />

und sagte bedrückt:<br />

„Vielleicht sollte ich dir erst mal ein wenig über <strong>mich</strong> erzählen.“<br />

Er stockte und ich merkte, dass es ihm ungeheuer schwer fiel, anzufangen. Schließlich<br />

meinte er leise:<br />

„Das wird dir nicht gefallen ... Ich hab Angst, dass du ... dass du <strong>mich</strong> verachten wirst<br />

wenn du alles weißt. Aber du musst das wissen. Also, hör zu und versuch bitte, <strong>mich</strong> nicht zu<br />

Hassen, okay?“<br />

Er sah <strong>mich</strong> geradezu flehend an und ich nickte ernst.<br />

„Sawyer, ich ... ich mag dich, ich werde dich weder Hassen noch Verachten, halte<br />

<strong>mich</strong> bitte nicht für so oberflächlich.“<br />

Er biss sich auf die Lippe und fing leise an zu Reden.<br />

Ich saß da und hörte zu. Erfuhr, dass sein Vater seine Mutter und sich selbst getötet<br />

hatte, weil seine Mutter auf einen Betrüger hinein gefallen war und diesem das ganze Bargeld<br />

der Familie gegeben hatte. Ich erfuhr weiterhin, dass Sawyer nach Australien geflogen war,<br />

um dort eben diesen Betrüger zu Töten und dass er erst hinterher gemerkt hatte, dass er einen<br />

Unschuldigen umgebracht hatte. Und ich erfuhr von dem Flugzeugabsturz und den unfass-<br />

- 36 -


By<br />

Frauke Feind<br />

baren Geschehnissen auf der Insel. Ich hörte von Jack Shephard, Kate Austen, Hugo „Hurley„<br />

Reyes, Sayid Jarrah, Jin und Sun Kwon, Charlie Pace, Claire Littleton und vielen anderen, so<br />

vielen, dass ich mir die Namen nicht merken konnte. Ich erfuhr, dass Benjamin Linus und<br />

Charles Widmore, die beiden Männer, die mein Großvater in seinem Brief erwähnt hatte, aus<br />

unterschiedlichen Gründen die Insel schützen wollten und hörte, dass beide ohne Gnade über<br />

Leichen gingen, um das Ziel ihrer Wünsche zu erreichen. Und ich erfuhr etwas absolut un-<br />

glaubliches: Nämlich, dass auf der Insel Zeitreisen möglich waren! Sawyer redete fast drei<br />

Stunden. Wir verbrauchten zwei Kannen Kaffee, dann endlich war er mit seiner Erzählung<br />

durch. Schweigen herrschte zwischen uns. Ich musste erst einmal sortieren, was ich alles er-<br />

fahren hatte. Zeitreisen. Mörder. Söldner. Eine Insel, die nicht gefunden werden konnte. Ich<br />

wusste nicht, ob ich hysterisch Kichern, Heulen oder doch lieber Sawyer in eine Psychiatrie<br />

bringen sollte. Er deutete mein Schweigen falsch und sagte bedrückt:<br />

„Ich bin ein Mörder und Betrüger, ich hab dich gewarnt. Jetzt wünscht du dir sicher,<br />

du hättest <strong>mich</strong> einfach den Kerlen überlassen, was? Ich kapier sowieso nicht, wieso ich dir<br />

das alles einfach so erzähle, irgendwie hast du was an dir, mir Sachen aus der Nase zu ziehen,<br />

die ich niemals sonst irgendjemandem erzählt hab. Ich weiß wirklich nicht, warum, aber ich<br />

hab absolutes Vertrauen zu dir. Ich kann‟s mir nicht erklären. Ist sonst wirklich nicht meine<br />

Art.“<br />

Ich erwachte wie aus einem Traum und sah den jungen Mann an.<br />

„Ich weiß nicht, vielleicht liegt es daran, dass ich dir auch absolut vertraue. Das habe<br />

ich eigentlich schon getan, als wir noch kein einziges Wort gewechselt hatten. Es ist einfach<br />

... Ich verlasse <strong>mich</strong> auf mein Gefühl und das sagt mir, dass ich dir unbegrenzt vertrauen<br />

kann. Das ruft wohl so was wie Gegenvertrauen hervor.“ Ich schüttelte den Kopf. „Und zu<br />

dem, was du mir gerade erzählt hast: Nein, das tue ich nicht. Ich verachte dich nicht und ich<br />

bin nach wie vor froh, dass ich dir geholfen habe, klar! Du bist kein schlechter Mensch, du<br />

hast nur viele schlechte Entscheidungen getroffen. Aber das ist Vergangenheit, dafür würde<br />

ich dich ganz bestimmt nicht Hassen oder Verachten. Was du als Kind erleben musstest,<br />

reicht locker, um jeden Erwachsenen aus der Bahn zu werfen. Dass das Erlebnis nachhaltige<br />

Auswirkungen auf dich hatte ist doch wohl natürlich.“<br />

dachte<br />

Er sah <strong>mich</strong> ungläubig an.<br />

„Was?“<br />

Ich schaute ihm in die Augen, die so sehr seine Emotionslagen ausdrückten, und<br />

- Du weißt es vermutlich nicht einmal, aber in deinen Augen kann man lesen wie in<br />

einem offenen Buch. –<br />

Fest wiederholte ich:<br />

„Sawyer, ich sage es gerne noch einmal: Es ist mir egal, was du früher getan hast,<br />

okay? Du hast wohl mehr als genug Strafe gehabt, wenn auch nur die Hälfte von dem, was du<br />

- 37 -


By<br />

Frauke Feind<br />

mir erzählt hast, stimmt. Von mir wirst du keinen mahnenden Zeigefinger sehen. Und weißt<br />

du was? Ich glaube dir. Alles, nicht nur die Hälfte. Die Geschichte ist viel zu unglaubwürdig<br />

und fantastisch, als dass man sie sich ausdenken könnte. Jetzt macht das, was Grandpa ge-<br />

schrieben hat, auch viel mehr Sinn. Wenn diese ... Zeitsprünge dort möglich sind, könnte es<br />

tatsächlich irgendwie eine Möglichkeit geben, diesen Daniel Faraday zu retten.“<br />

Sawyer nickte.<br />

„Mag sein. Allerdings scheint keiner so richtig zu wissen, wie und ob man es über-<br />

haupt steuern kann.“<br />

Ich nickte verstehend.<br />

„Damit können wir uns beschäftigen, wenn es soweit ist. Mir ist aufgefallen, dass der<br />

Betrüger, der für den Tod deiner Eltern verantwortlich ist, auch Sawyer hieß, was hat das zu<br />

bedeuten?“<br />

<strong>Der</strong> junge Mann wurde rot und sagte leise:<br />

„Als ich neunzehn war, hatte ich beim Wetten 6.000 Bucks verloren. Hatte mir das<br />

Geld bei nem Kredithai geliehen und musste es schließlich zurückzahlen. Natürlich hatte ich<br />

eine solche Summe nicht. Als ich später nur noch die Wahl hatte zwischen gekillt werden<br />

oder das Geld irgendwie schnell ranschaffen hab ich <strong>mich</strong> an ne junge Frau mit nem reichen<br />

Kerl ran gemacht. Es gelang mir, ihr das Geld aus den Rippen zu leiern.“ Er lachte verzweifelt<br />

auf. „Ich wurde so selbst zu dem Mann, den ich jagte seit ich alt genug war. Also nannte ich<br />

<strong>mich</strong> seither Sawyer.“<br />

sagte:<br />

kommen.“<br />

„Verstehe. Und wie heißt du wirklich?“<br />

„Ford. James Ford.“<br />

4) Aufbruch nach LA<br />

Gedankenverloren schaute er in den dichten Wald, der uns umgab. Ich sah ihn an und<br />

„Gut, also Jim ... Hör mal, wir sollten überlegen, wie es weiter gehen soll.“<br />

Er kehrte zu mir zurück und nickte.<br />

„Ich denke, wir sollten uns bald auf den Weg machen, um zu Jack und Kate zu<br />

„Gut. Du wirst inzwischen fit genug sein, eine längere Autofahrt zu überstehen. Wo<br />

sind die Beiden denn?“<br />

Jim seufzte.<br />

„In LA. Dort treffen wir uns mit ihnen und den Anderen. In LA lebt auch Faradays<br />

Mutter. Sie scheint die einzige Person zu sein, die im Stande ist, die Insel nicht nur zu finden,<br />

sondern auch zu wissen, wie man wann dort hingelangen kann.“<br />

- 38 -


Ich überlegte. Dann sagte ich:<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Grandpa hat mir eine ganze Menge Geld hier gelassen. So haben wir damit keine<br />

Probleme. Gut, wir werden morgen früh aufbrechen. Aber eines möchte ich noch wissen. Was<br />

ist mit Kate und dir, beziehungsweise mit Kate und Jack?“<br />

Jim seufzte.<br />

„Das ist auch ne lange Geschichte. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich hatte <strong>mich</strong><br />

schon kurz nach dem Absturz in Kate verliebt. Sie jedoch hing an Jack wie ein Hund. Alles,<br />

was er sagte und tat, war für Kate Gesetz, egal, wie dämlich seine Entscheidungen waren.<br />

Irgendwann fing sie an, <strong>mich</strong> zu benutzen, um Jack eifersüchtig zu machen. Ich blöder Idiot<br />

hab mitgespielt. Verflucht, sie war die erste Frau, für die ich wirklich was empfunden hab,<br />

verstehst du? Ich hätte alles für sie getan. Als sie das erste Mal zusammen mit Hurley, Sun,<br />

Jack, Sayid und Aaron von der Insel runter kam, und Juliet und ich bei der DHARMA<br />

Initiative landeten, kamen wir zusammen. Drei Jahre war es wirklich schön mit Jules. Ich war<br />

überzeugt, sie wirklich zu lieben und Kate ein für alle Mal aus meinem Kopf bekommen zu<br />

haben. Und dann kamen Hurley, Kate, Sayid und Jack plötzlich zurück. Und sofort war dieses<br />

Gefühl wieder da. Als ich merkte, dass Jack und Kate nicht mehr zusammen waren, hatte ich<br />

sofort wieder die irre Hoffnung, dass sie zu mir kommen würde. Naja, das war ein Irrtum<br />

meinerseits, sie hing noch immer an unserem lieben Doc. Juliet gab auf, als sie merkte, dass<br />

ich ihr und vor allem mir selbst all die Jahre was vorgemacht habe und ich ...“ Er schüttelte<br />

völlig resigniert den Kopf. „Ich liebe Kate noch immer. Und sie nutzt es immer noch aus, dass<br />

sie Jack eifersüchtig machen kann mit mir. Jetzt sind sie wieder fest zusammen und es tut<br />

noch immer saumäßig weh.“<br />

Ich hatte ruhig zugehört und sagte jetzt:<br />

„Das tut mir sehr leid. Und zu diesen beiden sollen wir fahren?“<br />

„Ja, wir müssen wieder alle zurück auf die Insel, das scheint immer der Dreh- und<br />

Angelpunkt zu sein. Locke ist da geblieben, und auch Ben ... Dachte ich wenigstens.<br />

Allerdings, seit die Typen <strong>mich</strong> verfolgt haben, bin ich nicht mehr sicher, ob er wirklich auf<br />

der Insel geblieben ist. Nur er oder Widmore kommen eigentlich dafür in Frage, <strong>mich</strong> auf-<br />

halten zu wollen. Da wir aber immer noch nicht wissen, was deren Gründe sind, ist es ver-<br />

dammt schwer, zu entscheiden, wer es nun wirklich ist, der uns diese Kerle auf den Hals ge-<br />

hetzt hat. Wenn sie auch hinter den anderen <strong>Über</strong>lebenden her sind, könnte es sein, dass die<br />

schon gar nicht mehr Leben sind.“<br />

verfolgt.“<br />

„Wann hast du das letzte Mal mit Kate oder Jack gesprochen?“, wollte ich wissen.<br />

Er überlegte.<br />

„Drei Tage bevor die <strong>mich</strong> zu fassen kriegten. Da wurden sie scheinbar noch nicht<br />

Ich nickte.<br />

- 39 -


Bedenken.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Oder sie wurden nur beobachtet, weil sie nicht aktiv etwas versuchten.“, gab ich zu<br />

Er verzog das Gesicht genervt.<br />

„Das mag sein. Ich hab kein Handy benutzt, weil wir nicht sicher waren, ob sie das<br />

nicht orten könnten. Ich hab immer öffentliche Telefone benutzt. Und dabei sollten wir auch<br />

möglichst bleiben.“ Er sah <strong>mich</strong> direkt an und sagte: „Sag mal, wie hieß dein Großvater<br />

eigentlich richtig? <strong>Der</strong> Name Tim Walsh stimmt ja offensichtlich nicht.“<br />

„Den Namen habe ich nie von ihm gehört. Grandpa kam 1945 als zehnjähriger mit<br />

seinen Eltern Lena und Alvar Hanso aus Kopenhagen nach Amerika. Sein Vater Alvar war<br />

Geschäftsführer der Hanso Foundation. Grandpa hieß Lars, seine Schwester Rachel.“<br />

Jim stutzte.<br />

„<strong>Der</strong> Name kommt mir bekannt vor.“, sagte er überlegend.<br />

„Welcher? Lars?“<br />

Er schüttelte den Kopf.<br />

„Nein. Hanso ... Irgendwie hab ich den ... Moment. Hanso. Alvar? Alvar Hanso war in<br />

einem DHARMA-Schulungsfilm zu sehen. Er hat die DHARMA Initiative mit gegründet und<br />

finanziert!“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, von der Hanso Foundation weiß ich. Grandpa hat viel davon erzählt. Die<br />

Foundation hat einige wissenschaftliche Projekte betrieben. Soweit mir bekannt ist, wurde<br />

aber die Unterstützung der DHARMA Initiative 1987 beendet, was auch das Ende derselben<br />

einläutete.“<br />

Jim sah gedankenverloren ins Leere.<br />

„Wir haben nie wirklich herausgefunden, was die da eigentlich treiben, oder getrieben<br />

haben. Auch, warum die ‟Anderen‟, die sogenannten Hostiles, und die Dharmaisten sich bis<br />

aufs Blut bekämpft haben. Im Grunde wissen wir fast gar nichts. Jeder hat jeden immer nur<br />

belogen oder die Hälfte verschwiegen. Es sind so verdammt viele gestorben dort. Und so, wie<br />

ich das seh, wird auf der Scheißinsel sicher immer noch gestorben.“ Er seufzte. Dann sah er<br />

zu mir herüber. „Sag mal, Schwester Hathaway, wie sieht es denn mal mit was zu Beißen aus?<br />

Mir hängt der Magen in den Kniekehlen.“<br />

Ich sah auf meine Armbanduhr und erschrak. Es war schon kurz nach 17 Uhr. Kein<br />

Wunder, dass Jim Hunger hatte.<br />

„Himmel, das ist ja schon so spät. Klar mache ich etwas zu Essen. Es wird auch kalt,<br />

wir sollten langsam rein gehen.“<br />

Ich stand auf und Jim stemmte sich ebenfalls hoch. Er kam ein wenig ins Taumeln,<br />

sein Kreislauf war noch nicht wieder hundertprozentig in Ordnung. Ich war aber schon bei<br />

ihm und stützte ihn, indem ich meinen Arm um ihn legte.<br />

„Alles klar bei dir?“, fragte ich besorgt, aber er grinste frech.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Jepp. Ich hab‟s bloß so gerne, wenn du <strong>mich</strong> im Arm hältst.“<br />

Er atmete ein paar Mal tief ein.<br />

„Geht wieder.“<br />

Er streckte sich ein wenig und verzog das Gesicht.<br />

„Was?“, fragte ich besorgt.<br />

Er schüttelte den Kopf.<br />

„Nichts weiter, nur mein Rücken. Kein Problem.“<br />

Gemeinsam verschwanden wir ins Haus und ich marschierte in die Küche. Dort setzte<br />

ich Nudeln auf und bereitete uns eine kräftige Hackfleischsoße dazu. Wir setzten uns an den<br />

kleinen Esstisch und ließen es uns schmecken. Nach dem Abwaschen, bei dem Jim mir<br />

grinsend zuschaute, sagte ich streng:<br />

„So, mein Lieber, und jetzt schwingst du deinen Hintern wieder ins Bett. Das reicht<br />

für den ersten Tag.“<br />

Er widersprach nicht, sondern nickte.<br />

„Hast Recht, ich bin ziemlich alle.“ Kurz stockte er, dann fragte er <strong>mich</strong> leise:<br />

„Kommst du mit?“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, ich werde für Morgen alles zusammen suchen, damit wir gleich aufbrechen<br />

können. Außerdem will ich versuchen, uns eine Route zusammen stellen, die ein wenig un-<br />

auffälliger ist als die Highways. Dort werden sie uns sicher am ehesten vermuten, wenn sie<br />

wissen, dass wir nach LA müssen. Und ich darf ja wohl davon ausgehen, dass sie es wissen<br />

werden.“<br />

Jim nickte.<br />

„Logisch. Sie wissen ja von den Anderen. Okay, dann mal gute Nacht.“<br />

Er drehte sich herum und verschwand Richtung Schlafzimmer. Müde stieg er aus den<br />

Sachen, die einmal Kellys Großvater gehört hatten und legte sich ächzend ins Bett. Dabei<br />

dachte er an die junge Frau, die ihm den Arsch gerettet hatte. Schließlich schüttelte er den<br />

Kopf und griff stattdessen nach dem Schnellhefter von Kellys Großvater, blätterte darin<br />

herum. Und konnte nicht verhindern, dass er alle paar Minuten auf den Wecker, der auf<br />

seinem Nachtschrank stand, guckte. Er hatte das Gefühl, schon Stunden alleine hier herumzu-<br />

liegen. Fast war er versucht, wieder aufzustehen und zu schauen, wo Kelly blieb. Doch er riss<br />

sich zusammen und blieb liegen. Aber in Gedanken war er nicht bei dem, was er las, sondern<br />

bei seiner Krankenschwester.<br />

Ich sah Jim nach, ging hinaus auf die Terrasse und sammelte die Stühle und den Tisch<br />

ein, verstaute alles in der kleinen Gartenhütte. Anschließend kehrte ich ins Haus zurück und<br />

räumte ein wenig auf. In der Küche stellte ich die Lebensmittel, die wir mitnehmen wollten,<br />

in einen großen Korb. Diesen schleppte ich in die Garage und stellte ihn auf die Ladefläche<br />

- 41 -


By<br />

Frauke Feind<br />

des Jeeps. Nun ging ich ins Bad und räumte auch hier ein wenig auf. Morgen früh würde ich<br />

die Badutensilien in eine Badetasche stecken. Soweit war alles fertig und ich wanderte ins<br />

Wohnzimmer zurück. Hier griff ich mir eine sehr detaillierte USA Karte aus dem Schrank und<br />

versuchte, eine etwas abseits der Hauptstraßen gelegene Reiseroute nach LA zu finden. Wir<br />

würden vier bis fünf Tage unterwegs sein, es waren 3.600 Kilometer. Um die Appalachen zu<br />

überqueren, würden wir auf der Interstate 64 bleiben müssen, da führte kein anderer Weg<br />

hinüber. Es ging nur über Charleston, Virginia, weiter über Lexington, Louisville und<br />

Owensboro nach Evansville. Von dort konnten wir über kleinere Straßen bis Springfield,<br />

Missouri fahren. Das waren etwas mehr als 1.000 Kilometer, die wir sicher nicht an einem<br />

Tag schaffen würden. Von Springfield würde es weiter gehen über Oklahoma City, Amarillo,<br />

Albuquerque, Gallup, Flagstaff und Kingman nach LA. Alles in Allem eine Fahrt durch acht<br />

Bundesstaaten. Mir sank das Herz in die Hose. 3.600 Kilometer, auf denen unsere brutalen<br />

Gegner eine Menge Gelegenheiten hätten, uns aufzuspüren und zu Jagen. Ich schrieb mir die<br />

Route stichpunktartig auf. Ächzend machte ich <strong>mich</strong> nun gerade. Es war schon nach 22 Uhr<br />

und ich war müde. Ich kontrollierte noch einmal, ob alle Fenster verriegelt und die Türen ver-<br />

schlossen und mit den Schränken gesichert waren, dann ging ich ins Bad. Minuten später be-<br />

trat ich leise das Schlafzimmer.<br />

Jim schlief. Er war mit dem Schnellhefter in der Hand eingeschlafen. Ich schaute ihn<br />

einen Moment an. Er hatte immer noch sehr viel Farbe im Gesicht, die nicht von der Sonne<br />

her rührte. Aber die Schwellungen waren fast vollständig zurückgegangen. Er hatte sich nicht<br />

zugedeckt, sondern das Zudeck nur zur Seite geschlagen. Ich trat ans Bett, nahm ihm vor-<br />

sichtig den Schnellhefter aus den Fingern und legte diesen auf den Nachtschrank. Behutsam<br />

deckte ich ihn, um ihn nicht zu stören, zu. Er seufzte im Schlaf und drehte sich auf die linke<br />

Seite. Ich zog <strong>mich</strong> bis auf Slip und T-Shirt aus und legte <strong>mich</strong> vorsichtig auf meine Bett-<br />

hälfte, zog die Zudecke über <strong>mich</strong> und pustete die Kerze auf meiner Seite aus. Auf Jims Seite<br />

war sie fast herunter gebrannt und würde in wenigen Minuten von ganz alleine verlöschen.<br />

Ich rollte <strong>mich</strong> auf die rechte Seite und hatte so noch ein paar Minuten Muße, ihn zu be-<br />

trachten. Ich konnte nicht abstreiten, dass er verdammt gut aussah. Unter den Hämatomen im<br />

Gesicht kam immer mehr der braun gebrannte Teint zum Vorschein. Scheinbar verbrachte er<br />

viel Zeit im Freien, denn er war am ganzen Körper braun. Seit es ihm deutlich besser ging<br />

blitzten seine Grübchen immer häufiger auf. Er hatte ein süßes, freches Grinsen und wenn er<br />

grinste sah man ebenmäßige, weiße Zähne zwischen seinen Lippen blitzen. Aber seine Augen<br />

hatten <strong>mich</strong> vom ersten Tag an fasziniert. Man sagte, die Augen seien der Spiegel der Seele<br />

und bei Jim stimmte das zu einhundert Prozent. Sie drückten seine jeweilige Gefühlslage so<br />

sehr aus, dass es schon fast erschreckend war. Ich seufzte leise. Zum Glück flackerte in<br />

diesem Moment die Kerze und verlosch. Sonst hätte ich <strong>mich</strong> in seinem Gesicht vollkommen<br />

verloren. Ich schloss die Augen und war Minuten später eingeschlafen.<br />

- 42 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Mitten in der Nacht schreckte ich hoch. Jim neben mir wälzte sich zitternd und<br />

keuchend hin und her Er schien so fest in einem Albtraum gefangen, dass er sich nicht daraus<br />

lösen konnte. Ich zündete meine Kerze an, beugte <strong>mich</strong> über ihn und schüttelte ihn sanft<br />

wach.<br />

„Jim. Wach auf, du hast einen Albtraum!“<br />

Ich musste energischer Schütteln, dann aber fuhr er mit einem keuchenden Schrei<br />

senkrecht in die Höhe.<br />

„Du hast geträumt, es ist alles in Ordnung.“, sagte ich besänftigend.<br />

Mit heftig zitternden Händen fuhr er sich durch das schweißnasse Haar. Aus Augen,<br />

ganz dunkel vor Grauen, starrte er geradeaus und schien immer noch in dem Traum zu<br />

stecken. Spontan legte ich einen Arm um ihn und zog ihn an <strong>mich</strong>. Sein Kopf kam auf meiner<br />

Schulter zu Ruhen und ich redete weiter beruhigend auf ihn ein.<br />

„Es ist alles in Ordnung. Das war nur ein Albtraum.“<br />

Langsam, ganz langsam beruhigte er sich ein wenig und ich ließ <strong>mich</strong> in die<br />

Waagerechte zurück sinken, Jim einfach mit mir ziehend. Leise fragte ich:<br />

zu Sprechen.<br />

„Magst du erzählen, was du geträumt hast?“<br />

Es dauerte eine Weile, in der er an <strong>mich</strong> gekuschelt liegen blieb, bevor er leise anfing<br />

„Als Dad damals Mum und sich umbrachte, da ... lag ich in meinem Zimmer unterm<br />

Bett, verstehst du? Mum hatte <strong>mich</strong> dort versteckt, als Dad am Abend plötzlich sturz-<br />

betrunken vor der Haustür stand und anfing, wie ein Irrer dagegen zu schlagen. Sie hatte mir<br />

eingebläut, <strong>mich</strong> nicht zu rühren, egal, was passieren würde. So lag ich da unten, starr vor<br />

Angst, und bekam alles aus erster Hand mit. Irgendwann hatte Dad es geschafft, die Tür auf-<br />

zubrechen. Mum schrie, er solle verschwinden. Dann ... Sie schrie immer wieder: Nein, nein<br />

... Ich lag da unter meinem Bett und hörte sie weinen. Dad erschoss Mum im Flur, dann kam<br />

er in mein Zimmer. Ich konnte seine Beine sehen. Er setzte sich auf mein Bett und dann ... Es<br />

gab einen lauten Knall und Dads Beine zuckten ...“<br />

Entsetzt lauschte ich und ohne darüber nachzudenken zog ich Jim fest an <strong>mich</strong>. Er ließ<br />

es zu und ich spürte seine Schultern zucken.<br />

sein, was ...“<br />

„Das ist schrecklich!“, sagte ich verstört.<br />

Mit tränenerstickter Stimme flüsterte er:<br />

„War nicht sehr lustig, nein. Da wird mir wohl ein Albtraum dann und wann erlaubt<br />

Er blieb liegen, wo er war und ganz allmählich entspannte er wieder. Sein linker Arm<br />

verirrte sich dabei auf meinen Körper. Nach endlosen Minuten sagte er leise:<br />

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht stören.“<br />

„Das hast du nicht. Meinst du, du kannst weiter schlafen?“<br />

- 43 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Er nickte. Ich wedelte mit einer Hand die Kerze aus, ohne Jim loszulassen und er blieb<br />

ebenfalls einfach so liegen, wie er lag. Die vertraute Nähe, die plötzlich zwischen uns<br />

herrschte, wollte keiner von uns aufgeben. Schweigend lagen wir in der Dunkelheit und<br />

spürten den anderen. Plötzlich sagte Jim ruhig:<br />

„Das hab ich noch nie jemandem erzählt.“<br />

Ich zuckte richtig zusammen, als seine Stimme so plötzlich durch die Dunkelheit des<br />

Raumes klang.<br />

„Vielleicht musstest du es mal loswerden. Ich bin kein Psychologe, aber über be-<br />

stimmte Sachen muss man einfach Reden.“<br />

Einen Moment schien er nachzudenken. Schließlich meinte er:<br />

„Mag sein.“<br />

Still lagen wir da, keiner von uns konnte sich aufraffen, den anderen loszulassen und<br />

so schliefen wir schließlich in genau dieser Haltung wieder ein.<br />

Am kommenden Morgen lagen wir beim Aufwachen noch immer eng aneinander ge-<br />

kuschelt da und lösten uns verlegen von einander.<br />

„Na, hast du noch gut geschlafen?“, fragte ich, um etwas zu sagen.<br />

Jim wurde rot und grinste verschämt.<br />

„Kann man wohl sagen. Bei so nem Kissen.“<br />

Irgendwie schaffte er es mit der frechen Bemerkung, die peinliche Verlegenheit<br />

zwischen uns zu beseitigen. Ich lachte.<br />

„Na, da bin ich ja beruhigt.“<br />

Wir lagen ziemlich dicht beieinander und sahen uns an. Jim schien zu überlegen.<br />

„Du ahnst nicht, wie sehr es mir heute Nacht geholfen hat, dass du ... naja, dass du für<br />

<strong>mich</strong> da warst. Wenn ich diesen Albtraum sonst hab, kann ich manchmal nächtelang nicht<br />

wieder richtig schlafen. Ich will dir bestimmt keinen Honig ums Maul schmieren, aber <strong>mich</strong><br />

so schnell so zu beruhigen hat noch niemand geschafft. Danke.“<br />

Er sagte dies ruhig und sah mir dabei auch ruhig in die Augen. Mir hatte eine flapsige<br />

Antwort auf der Zunge gelegen, aber diese schluckte ich hinunter und antwortete stattdessen<br />

genauso ruhig und ernst:<br />

„Das habe ich gerne getan, du brauchst dich nicht zu bedanken. Es freut <strong>mich</strong> wirk-<br />

lich, dass ich dir überhaupt helfen konnte. Was du da als Kind miterleben musstest, ist mehr,<br />

als jeder Erwachsene ertragen würde. Du hast jeden Grund, Albträume zu haben.“<br />

Ich wollte noch etwas hinzufügen, schluckte aber auch das hinunter.<br />

„Es ist schon komisch. Ich war immer extrem misstrauisch, selbst, wenn ich Leute<br />

lange kannte. Aber dir erzähle ich Dinge, die ich nicht einmal Kate erzählt hab. Bist du so was<br />

wie ne gute Fee?“<br />

- 44 -


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Frauke Feind<br />

Bei den letzten Worten funkelte wieder Frechheit in seinen Augen und ich grinste.<br />

„Ich glaube, dass würden die drei Herren dahinten im Wald anders sehen. Gute Fee wäre<br />

sicher das Letzte, was ihnen zu mir einfallen würde.“<br />

Das erste Mal, seit er bei mir war, lachte Jim wirklich völlig entspannt auf.<br />

„Das stimmt wohl. Ich nehme an, selbst Hexe würde nicht reichen, auszudrücken, was<br />

sie über dich denken.“<br />

Sein Lachen war ansteckend und obwohl ich noch lange nicht mit der Tatsache, drei<br />

Menschen getötet zu haben, fertig war, konnte ich nicht anders und stimmte in sein Lachen<br />

ein.<br />

Schließlich aber beruhigten wir uns und standen auf. Irgendwie hatte die vergangene<br />

Nacht eine Veränderung herbei geführt. Welcher Art diese Veränderung war, konnte ich noch<br />

nicht wirklich sagen, aber sie war zu spüren. Zusammen packten wir die letzten Sachen in<br />

einen Koffer, den ich im Schrank gefunden hatte. Sie Sachen meines Großvaters waren Jim<br />

nur unwesentlich zu weit und so bat er darum, sie mitnehmen zu dürfen. Viel war es ohnehin<br />

nicht. Zwei Jeans, vier T-Shirts, zwei dickere und zwei dünnere Hemden, eine fast neue<br />

Jeansjacke und Unterwäsche. Ich selbst hatte in der Hütte eine ähnliche Sammlung von<br />

Kleidungsstücken, die ich ebenfalls komplett einpackte. Grandpas dicken Parka und meine<br />

Winterjacke legten wir auf den Rücksitz. Wir schleppten die Waffen zum Wagen, verstauten<br />

sie ebenfalls auf dem Rücksitz, die Walthers steckten wir uns in den Hosenbund. Munition<br />

war noch reichlich da, wir nahmen natürlich alles mit. Sicherheitshalber packte ich auch den<br />

Kasten mit dem Erste Hilfe Material ins Auto. Nun verrammelten wir die Hütte gründlich und<br />

ich bat Jim, die Motorhaube zu öffnen. Erstaunt tat er, worum ich ihn bat und ich steckte das<br />

Zündkabel wieder fest. Er grinste begeistert und meinte:<br />

„Hey, du denkst wirklich an alles.“<br />

Ich starrte ihn dumm an und schlug mir mit der Hand vor die Stirn.<br />

„Eben nicht! Jetzt hätte ich fast das Geld und die Papiere hier gelassen.“<br />

Ich eilte noch einmal ins Haus und schnappte mir den Schnellhefter, den Brief-<br />

umschlag mit dem Geld, der Bankvollmacht und der dazugehörigen Bankkarte nebst Pin-<br />

Nummer, überlegte kurz und stopfte mir auch noch das Messer, dass seit dem ersten Tag in<br />

der Nachttischschublade lag, mit samt der Scheide in die Tasche, dann war ich sicher, wirk-<br />

lich alles zu haben. In der Garage stiegen wir ins Auto und ich startete den Jeep. Es ging los.<br />

3.600 endlose Kilometer Fahrt, quer durch die USA.<br />

Die ersten Kilometer durch den dichten Wald schwiegen wir. Ich sah <strong>mich</strong>, genau wie<br />

Jim, immer wieder paranoid um, ob ich irgendwo in einem Querweg einen roten Ford Ex-<br />

plorer sehen würde, aber das passierte nicht. Schließlich brach Jim das Schweigen.<br />

„Willst du in Wright niemandem darüber Informieren, wo du hin verschwindest?“<br />

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Frauke Feind<br />

Ich hatte über diese Frage lange und intensiv nachgedacht. Erst hatte ich Carrie Be-<br />

scheid sagen wollen, doch davon war ich ab gekommen. Wenn sie nicht wusste, wo ich hin<br />

verschwunden war, brauchte sie hoffentlich auch keine Angst vor Belästigungen haben.<br />

ich also.<br />

„Es ist das Beste, wenn niemand von mir erfährt. So gefährde ich keinen.“, erwiderte<br />

„Da hast du auch wieder Recht.“, stimmte Jim mir zu.<br />

<strong>Über</strong> diverse Waldwege gelangten wir schließlich nach Cranberry und von dort war es<br />

nur ein Katzensprung zur Interstate 64. Es war kurz nach halb 10 Uhr und ich gab Gas. Fünf-<br />

zig Kilometer später erreichten wir bei Chelyan den Kanawha River. Die 64 führte jetzt<br />

etliche Kilometer an dessen südlichen Ufer entlang. Vor Virginias Hauptstadt Charleston ver-<br />

lief die 64 über den Kanawha River, wir blieben allerdings auf der südlichen Seite. Noch vor<br />

11 Uhr hatten wir Charleston passiert und überquerten kurz darauf den Fluss, um wieder auf<br />

die 64 zu gelangen. Nun führte diese am nördlichen Ufer weiter. Doch nicht sehr weit. Bei<br />

Scary gelangten wir erneut über den Kanawha und hier verließen wir den Fluss auch end-<br />

gültig.<br />

Bis Chesapeake verlief die 64 durch die hügelige Landschaft der Allegheny Mountains<br />

von West Virginia und fünfundfünfzig Kilometer weiter, bei Huntington überquerten wir die<br />

Grenze nach Kentucky. Hier machten wir einen kurzen Stopp bei einem McDonalds, holten<br />

uns Kaffee und einen Cheeseburger und schon ging es weiter. Unser nächstes Ziel war das<br />

hundertachtzig Kilometer entfernte Lexington. Dort kamen wir gegen 14.30 Uhr an und<br />

machten erneut eine kurze Pause, um etwas zu Trinken und auf die Toilette zu gehen. Als wir<br />

weiter fuhren, fiel mir auf, dass Jim still und in sich gekehrt war. Schließlich fragte ich ihn:<br />

„Ist alles in Ordnung?“ Er nickte.<br />

„Ja, geht schon. Mach dir keine Sorgen.“<br />

Allerdings kam das ziemlich verkniffen über seine Lippen und ich erwiderte:<br />

„Das hört sich aber nicht wirklich so an.“<br />

Er schnaufte wütend und meinte gereizt:<br />

„Mir tut der Rücken weh, ich hab Kopfschmerzen und weiß nicht mehr, wie ich sitzen<br />

soll, zufrieden?“<br />

Ich sah ihn besorgt an und stellte fest, dass er ziemlich fertig aussah. So steuerte ich<br />

den nächsten Rastplatz an und hielt dort an. Ich stieg unter Jims Protest aus dem Wagen und<br />

forderte ihn auf, ebenfalls auszusteigen. Ich hatte aus der Hütte ein Kissen und beide Zu-<br />

decken in den Laderaum gestopft. Jetzt packte ich schnell ein wenig um, nahm die Gewehre<br />

nach vorne und bereitete Jim auf der Rückbank mit Decken und dem einen Zudeck ein mög-<br />

lichst bequemes Lager. Ich forderte ihn auf:<br />

„Mach es dir dort so bequem wie möglich.“<br />

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Frauke Feind<br />

Mürrisch und verlegen turnte er in den Wagen zurück und legte sich vorsichtig auf die<br />

Rückbank. Erstaunt merkte er, wie bequem er hier liegen konnte. Dass er die Beine nicht aus-<br />

strecken konnte, störte kaum. Dankbar ächzte er:<br />

„Das ist besser, danke.“<br />

Ich zog fürsorglich das zweite Zudeck über ihn, schloss die Tür und es ging weiter.<br />

Bei Louisville passierten wir die Grenze nach Indiana und durchquerten den Südzipfel<br />

des Bundesstaates und als wir gegen 16.30 Uhr Evansville passierten fragte ich Jim:<br />

„Geht es noch ein wenig?“<br />

„Wenn‟s unbedingt sein muss.“<br />

„Ich würde gerne bis Paducah kommen. Dann haben wir für den ersten Tag ganz gut<br />

was geschafft. Das sind noch ungefähr hundertvierzig Kilometer, wenn du die noch schaffst?“<br />

Müde nickte Jim.<br />

„Ja, aber beeil dich bitte, okay?“<br />

Ich lächelte.<br />

„Natürlich.“<br />

So gab ich wieder Gas und beeilte <strong>mich</strong> wirklich, ohne die Geschwindigkeitsbe-<br />

grenzung allzu sehr überzustrapazieren. Eben nach 18 Uhr fuhr ich auf den Parkplatz eines<br />

schönen Holiday Inn und sagte zu Jim:<br />

„Ich besorge uns ein Zimmer, warte hier solange.“<br />

Schnell eilte ich an die Rezeption und nahm ein Zimmer mit King Size Bett. Als ich<br />

bezahlt und den Schlüssel erhalten hatte, eilte ich zum Wagen zurück und fuhr direkt vor<br />

unser Zimmer. Jim hatte sich bereits aufgesetzt und ich half ihm ein wenig beim Aussteigen.<br />

Steif und verspannt streckte er sich erst einmal. Er wollte sich den Koffer greifen, aber ich<br />

war schneller. Er warf mir einen strafenden Blick zu, nickte jedoch ergeben. Zusammen be-<br />

traten wir das schöne, große Zimmer und Jim sank erleichtert auf das Bett. Ich stellte den<br />

Koffer ab und eilte noch einmal nach draußen, um die Waffen zu holen. Ich hatte Glück,<br />

niemand sah <strong>mich</strong>, als ich mit dem länglichen Deckenpaket das Zimmer betrat. Ich schloss die<br />

Tür ab und sah <strong>mich</strong> um. Auf dem Tisch lag eine Menu Karte von einer nahe gelegenen<br />

Pizzeria und ich fragte Jim:<br />

„Pizza?“<br />

Er grinste erschöpft.<br />

„Gute Idee. Salami mit Pilzen und extra viel Käse.“<br />

Ich bestellte und schon zehn Minuten später kamen die Pizzas. Hungrig futterten wir<br />

sie auf, wobei ich nicht alles schaffte, aber tatkräftig von Jim unterstützt wurde. Als auch er<br />

satt war, ließ er sich wieder auf das Bett sinken. Ich öffnete den Koffer und nahm die Tasche<br />

mit den Badutensilien heraus. In weiser Voraussicht hatte ich das Massageöl eingepackt und<br />

holte jetzt ein großes Badelaken und ein kleines Handtuch aus dem Bad. Beide legte ich auf<br />

das Bett und erklärte:<br />

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Frauke Feind<br />

„So, dann machen Sie sich mal frei, junger Mann.“<br />

Jim warf mir einen Blick zu, bei dem mir eigenartig warm wurde und begann, mit<br />

einem anzüglichen Grinsen sein Hemd und die Stiefel, Jeans und Socken auszuziehen.<br />

Schließlich stand er in Boxershorts vor mir und fragte:<br />

„Reicht das?“<br />

Bevor ich wusste, was ich sagte, rutschte mir:<br />

„Vorerst ...“, heraus und Jims Grinsen wurde noch breiter.<br />

Ich merkte, wie mir das Blut in die Wangen schoss und lachte nervös.<br />

„Leg dich endlich hin.“<br />

Steif und mit einem leisen Ächzen legte Jim sich auf den Bauch auf das Badelaken<br />

und ich kniete <strong>mich</strong> neben ihm auf das Bett. Ich träufelte Massageöl auf seinen Rücken und<br />

begann, ihn sanft zu massieren. Nach einigen Minuten wurde mein Griff fester und Jim<br />

konnte ab und zu ein wohliges Stöhnen nicht verhindern. Gute dreißig Minuten arbeitete ich,<br />

dann spürte ich, wie seine Muskulatur sich mehr und mehr löste und er unter meinen Händen<br />

entspannte. Während ich ihn massierte hatte ich Zeit genug, erneut zu bewundern, wie eben-<br />

mäßig und weich seine Haut war. Im Gedanken trat ich mir in den Hintern und erklärte<br />

schließlich fast enttäuscht:<br />

„So, das sollte reichen. Wie fühlt es sich an?“<br />

„Großartig, kein Vergleich, danke, Kelly. Wenn jetzt noch die Kopfschmerzen ver-<br />

schwinden, könnte ich Bäume ausreißen.“<br />

Er wollte sich herum drehen, aber ich bat:<br />

„Warte noch einen Moment, ich werde noch mal ein wenig deine Schultern und deinen<br />

Nacken bearbeiten.“<br />

Auch hier waren Verspannungen zu spüren, die ich schnell fort massiert bekam. Ich<br />

wischte ein paar Ölreste mit dem kleinen Handtuch fort, rutschte vom Bett und sagte:<br />

„So, das war es aber wirklich. Das wird in ein paar Tagen sicher völlig weg sein.“<br />

Er sah <strong>mich</strong> an und diesmal irrte ich <strong>mich</strong> nicht: Eindeutig husche ein Schatten kurz<br />

über sein Gesicht.<br />

Jim drehte sich langsam auf den Rücken und schloss seufzend die Augen.<br />

„Meine Birne platzt noch immer. Aber sonst ist es erheblich besser.“<br />

Er stand vorsichtig auf und ich nahm das Badelaken weg. Er verschwand kurz im Bad,<br />

kam schnell zurück und sah, dass ich die Betten inzwischen aufgedeckt hatte. Kurz stockte<br />

sein Schritt, als ihm, wie Sekunden vorher mir, klar wurde, dass wir hier unter einem Zudeck<br />

liegen würden. Langsam kam er zum Bett hinüber und machte sich lang. Leise stöhnend rieb<br />

er sich die Stirn. Ich verschwand nun auch schnell ins Bad, wo ich unter anderem versuchte,<br />

meine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bekommen, dann kehrte ich ebenfalls in das<br />

Schlafzimmer zurück. Ich entledigte <strong>mich</strong> nun auch meiner Sachen, zog den BH unter dem T-<br />

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Frauke Feind<br />

Shirt aus und legte <strong>mich</strong> ebenfalls ins Bett. Die lange Fahrerei hatte auch <strong>mich</strong> geschafft.<br />

„Immer noch Kopfweh?“, fragte ich mitleidig.<br />

Ein zustimmendes Grunzen antwortete mir. Ich stopfte mir das Kissen in den Rücken<br />

und setzte <strong>mich</strong> wieder auf. Jetzt erklärte ich:<br />

„Rutsch mal etwas herum, lege mir deinen Kopf auf die Beine, ja, so.“<br />

Als er bequem lag, fing ich sanft an, meine Fingerspitzen über seine Schläfen gleiten<br />

zu lassen. Er lag mit geschlossenen Augen da und genoss die Behandlung sichtlich. Und nach<br />

einiger Zeit meinte er verblüfft:<br />

„Hey, die Kopfschmerzen lassen nach!“<br />

Ich machte noch einige Minuten weiter, dann seufzte er:<br />

„Kann man dich kaufen?“<br />

Ich lachte.<br />

„Nein. Ich bin nicht käuflich.“<br />

„Schade. Ich würde jeden Preis bezahlen.“<br />

Ganz dunkel und sanft klang seine Stimme bei diesen Worten und er rutschte von<br />

meinen Beinen herunter und machte es sich bequem.<br />

„Wenn ich dich heute Nacht wieder nerv, hau mir eine rein.“<br />

Ich legte <strong>mich</strong> ebenfalls zurecht und erklärte:<br />

„Werde ich machen. Schlaf gut.“<br />

„Du auch. Gute Nacht.“<br />

************<br />

5) Verfolger<br />

Früh am nächsten Morgen waren wir bereits wieder auf der Straße. Wir hielten uns auf<br />

kleineren Straßen und so brauchten wir für die knapp vierhundertzwanzig Kilometer bis<br />

Springfield, Missouri, über fünf Stunden. Hier legten wir eine Pause ein und gönnten uns ein<br />

verspätetes Frühstück. Anschließend ging es weiter. Heute war Jim besser drauf und wir<br />

unterhielten uns viel. Ich fragte nach den unglaublichen Dingen, die auf der Insel passiert<br />

waren und Jim gab bereitwillig Auskunft, soweit es ihm möglich war.<br />

„Was hatte eure Entführung denn für einen Sinn?“, wollte ich wissen.<br />

Er hatte mir gerade erzählt, dass Kate, Jack und er einige Zeit in den Händen dieses<br />

Benjamin Linus gewesen waren. Jim schüttelte den Kopf und meinte:<br />

„Frag <strong>mich</strong> was Leichteres. Scheinbar ging es ihnen darum, Jack zu ‟überreden‟ Ben<br />

zu operieren, der irgendeinen ... Tumor an der Wirbelsäule hatte. Kate und ich waren nur<br />

Druckmittel.“<br />

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Frauke Feind<br />

Er schaute aus dem Fenster und war in Gedanken wohl wieder bei den ‟Anderen‟,<br />

denn sein Gesicht verzog sich angewidert.<br />

„Sie haben Kate und <strong>mich</strong> in Bärenkäfige gesteckt. Später haben sie uns für sie<br />

Schuften lassen. Wir mussten auf einem Weg durch den Dschungel Steine klopfen und weg<br />

schaffen. Dass sie drohten, <strong>mich</strong> zu erschießen, wenn Kate es nicht schaffte, Jack zu der<br />

Operation zu überreden, hab ich erst hinterher erfahren. Ein junger Bengel, der ebenfalls in<br />

einem dieser Käfige hockte, verhalf mir schließlich zur Flucht, aber wir wurden geschnappt,<br />

bevor wir auch nur das Lager verlassen konnten. <strong>Der</strong> Junge, Karl, wurde weg geschafft und<br />

ich wanderte wieder in meinen Käfig. Dann haben sie <strong>mich</strong> geholt. Ich wurde zusammen ge-<br />

schlagen und wachte auf, festgeschnallt an ein Art OP Tisch.“<br />

Seine Stimme zitterte bei der Erinnerung daran.<br />

„Sie haben mir ...“ Er musste tief durch atmen, dann fuhr er leise und stockend fort:<br />

„... eine Spritze direkt ... direkt ins Brustbein gerammt. Mir gingen die Lichter aus und als ich<br />

wieder zu mir kam, hatte ich ne Wunde auf der linken Brustseite und Ben hat mir erzählt, dass<br />

sie mir ne Art Herzschrittmacher eingesetzt hatten. Er machte mir klar, dass ich auf meinen<br />

Pulsschlag achten sollte. Alles, was über hundertvierzig ginge, würde mein Herz zum Platzen<br />

bringen dank des netten, kleinen Gerätes. Und er legte mir freundlich nahe, Kate nichts zu<br />

sagen, weil sie sonst mit ihr das Gleichen machen würden. Ein oder zwei Tage nach dem Ein-<br />

griff kam einer der Typen, ein völlig durch geknallter Psycho namens Danny zu uns und<br />

zerrte <strong>mich</strong> aus dem Käfig. Er fing an, <strong>mich</strong> windelweich zu schlagen und ich wehrte <strong>mich</strong><br />

nicht, weil ich dachte, es reißt mein verdammtes Herz auseinander. Er zwang Kate, zuzu-<br />

geben, dass sie <strong>mich</strong> liebt.“<br />

Jim lachte leise und frustriert.<br />

„Als sie es endlich sagte, zerrte der Kerl <strong>mich</strong> in den Käfig zurück. Was das sollte,<br />

weiß ich bis heute nicht. Irgendwann kam Ben, morgens, in aller Frühe, und schleppte <strong>mich</strong><br />

einen Berg hinauf. Ich hab ihn irgendwann gefragt, warum er, wenn er <strong>mich</strong> killen will, mir<br />

nicht einfach ne Kugel in den Kopf jagt, statt mein Herz zum Explodieren zu bringen. Am<br />

Gipfel angekommen erklärte er mir, dass das mit dem Schrittmacher nur Verarsche gewesen<br />

war und zeigte mir dann, dass wir auf einer anderen, erheblich kleineren Insel vielleicht zwei<br />

Kilometer vor der Küste waren. Fliehen hatte also keinen Zweck, wenn uns nicht Schwimm-<br />

häute oder Flügel wachsen würde.“<br />

Ich hatte erschüttert zugehört und fragte entsetzt:<br />

„Und wie seid ihr da wieder raus gekommen?“<br />

Jim schüttelte den Kopf, wie um trübe Gedanken zu vertreiben.<br />

„Naja, ein paar Tage später stand Danny erneut vor meinem Käfig. Es war mitten in<br />

der Nacht und Kate war bei mir. Sie hatte es geschafft, aus ihrem Käfig raus zu kommen und<br />

mit einem Stein mein Käfigschloss zu zerschlagen. Sie wollte, dass wir zusammen fliehen.<br />

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Frauke Feind<br />

Erst jetzt sagte ich ihr die Wahrheit, nämlich, dass wir auf ner anderen kleineren Insel waren,<br />

und fliehen keinen Sinn hatte. Sie blieb bei mir und so erwischte Danny uns. Ich weiß nicht,<br />

warum er so einen unbändigen Hass auf <strong>mich</strong> hatte, jedenfalls kam er mit nem Kumpel zu-<br />

sammen in den Käfig. Es kam zu nem kurzen Kampf, sein Freund überwältigte Kate und<br />

drohte, sie zu erschießen, wenn ich nicht aufgeben würde. Er zwang <strong>mich</strong> aus dem Käfig,<br />

befahl mir, <strong>mich</strong> in den Matsch zu Knien und wollte mir eine Kugel in den Kopf jagen.“<br />

den Arm.<br />

Jim zitterte bei der Erinnerung daran und ich legte ihm unwillkürlich eine Hand auf<br />

„Als er grade abdrücken wollte, ging sein Walkie Talkie los. Jack hatte schließlich<br />

doch mit der OP angefangen und Ben absichtlich lebensgefährlich verletzt. Er forderte unsere<br />

sofortige Freilassung und so konnten wir entkommen. Juliet und Bens Tochter Alex halfen<br />

uns bei der Flucht, unter der Bedingung, dass wir Karl mitnehmen sollten. Am Strand, als<br />

Alex uns gerade ein Boot geben wollte, wurden wir von Danny und ein paar seiner Kumpel<br />

erwischt. Bevor er <strong>mich</strong> doch noch killen konnte, gelang es Juliet, ihn zu erschießen. Wir<br />

kehrten ohne Jack zur Hauptinsel zurück und irgendwann später befreiten wir auch ihn<br />

schließlich.“<br />

Man merkte ihm an, dass er mit den Gedanken bei dieser grausamen Zeit der Ge-<br />

fangenschaft weilte. Vielleicht tat es ihm aber gut, einmal mit einem Außenstehenden darüber<br />

zu sprechen. Ich musste die Hand wieder von seinem Arm nehmen, da ich kurz beide Hände<br />

am Lenkrad brauchte, und hatte das Gefühl, ein kurzes Bedauern auf seinem Gesicht zu<br />

sehen. Ich überlegte, dann fragte ich:<br />

„Wie bist du zu der Schusswunde an der Schulter gekommen? Ist das auch auf der<br />

Insel passiert?“<br />

Er nickte.<br />

„Ja, ungefähr acht Wochen nach dem Absturz hatten wir unter Anleitung von Michael<br />

alle zusammen ein Floß gebaut. Mike, Walt, Jin und ich machten uns mit dem Teil auf den<br />

Weg, Hilfe zu holen. Schon in der ersten Nacht kamen in nem alten Motorboot ein paar von<br />

den ‟Anderen‟ und überfielen uns auf dem Wasser. Sie entführten Walt und sprengten das<br />

Floß in die Luft, nachdem sie uns beschossen hatten. Wir trieben im Wasser, Jin wurde von<br />

uns getrennt. Ich hatte die Schusswunde ab bekommen und schaffte es trotzdem irgendwie,<br />

Mike aus dem Wasser zu ziehen und auf ein Wrackteil zu hieven. Und da hab ich mir die<br />

Kugel selbst raus geholt, mit den Fingern. An Land zurück fielen wir einer kleinen Gruppe<br />

von Leuten aus dem Heckteil des Flugzeugs in die Finger, die erst dachten, wir würden zu den<br />

‟Anderen‟ gehören. <strong>Der</strong> Irrtum klärte sich schnell und wir machten uns zusammen auf den<br />

Rückweg zu unserem Camp. Auf halber Strecke bin ich schließlich zusammen gebrochen und<br />

sie haben <strong>mich</strong> das letzte Stück geschleppt. Jack hat ne Menge zu tun gehabt, <strong>mich</strong> wieder auf<br />

die Beine zu kriegen.“<br />

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Frauke Feind<br />

Das kam fast fröhlich und ich sah Jim an, dass er Spaß daran hatte, diesen Jack zu<br />

ärgern. Ungläubig fragte ich nach:<br />

„Du hast die Kugel wirklich mit deinen Fingern raus geholt?“<br />

Grinsend nickte Jim. „Jepp. Nur Pflaster hatten wir nicht dabei.“ Er sah wieder aus<br />

dem Fenster und meinte:<br />

„Wenn ich gewusst hätte, wie es endet, hätte ich vielleicht im wahrsten Sinne des<br />

Wortes die Finger davon gelassen.“<br />

Ich konnte mir denken, was passiert war.<br />

„Die Wunde hat sich sicher heftig entzündet, oder? All der Dreck, der eingedrungen<br />

sein dürfte, das feuchte Dschungelklima, idealer Nährboden für jede Infektion. Ich vermute,<br />

du hattest eine gepflegte Sepsis?“<br />

Jim nickte.<br />

„Aber wie. Ich hab scheinbar drei Tage regelrecht im Koma gelegen. Kate sagte, ich<br />

hätte extrem hohes Fieber gehabt, Schüttelfrost und es stand ziemlich auf der Kippe. Wir<br />

hatten ja auch keine vernünftigen Medikamente. Jack musste <strong>mich</strong> sprichwörtlich mit Spucke<br />

und Wasser zusammen flicken.“<br />

Irgendwie empfand ich Dankbarkeit für Jack, schüttelte den Gedanken aber schnell ab.<br />

Das war albern. Ich schaute in den Rückspiegel, um einen <strong>Über</strong>holvorgang einzuleiten, und<br />

schrak heftig zusammen. Vier Wagen hinter uns sah ich einen roten Ford Explorer. Nun gab<br />

es davon eine ganze Menge in den USA, aber als ich den Wagen erblickte, wurde mir heiß<br />

und kalt zugleich!<br />

Jim bemerkte mein Zusammenzucken und sah sich erstaunt um. Und wurde blass.<br />

„Scheiße!“, stieß er erschrocken hervor.<br />

Ich konnte ihm nur zustimmen. Unruhig sah ich immer wieder in den Rückspiegel.<br />

„Sind sie das?“, fragte ich nervös.<br />

Jim zuckte die Schultern.<br />

„Frag <strong>mich</strong> was Leichteres. Wie sollen sie uns aufgetrieben haben?“<br />

Ich schüttelte ratlos den Kopf. „Was weiß ich. Vielleicht sind sie es ja auch gar nicht.“<br />

Wir hatten vor einiger Zeit Tulsa, Oklahoma, passiert und hatten nun bis Oklahoma City<br />

hundertfünfzig Kilometer ohne eine Ortschaft vor uns. Sollten es unsere Verfolger sein, die da<br />

in dem Explorer saßen, hatten sie auf dieser Strecke jede Möglichkeit, uns anzugreifen.<br />

„Was sollen wir machen? So tun, als wären sie es nicht? Oder versuchen, irgendwo in<br />

Deckung zu gehen?“<br />

Jim war ähnlich ratlos.<br />

„Wenn sie uns hier auf der Straße angreifen, haben wir die Chance, ihnen davon zu<br />

fahren, wenn es uns gelingt, ihnen ein paar platte Reifen zu bescheren. Andererseits hätten wir<br />

vielleicht eine Chance, sie in Oklahoma City abzuschütteln.“<br />

Ich seufzte.<br />

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Frauke Feind<br />

„Aber sie wissen scheinbar, wo wir hin wollen. Und sie wissen vielleicht auch schon,<br />

wer ich bin. Dann wird es garantiert gefährlicher für uns. Denn scheinbar lag ihnen ja sehr<br />

viel daran, dich aufzuhalten, zu Grandpa zu gelangen und ebenso viel, zu erfahren, zu wem du<br />

eigentlich wolltest.“<br />

Jim nickte.<br />

„Oh, ja, ihnen lag sehr viel daran.“<br />

Seine Linke strich unbewusst über seine Seite, dort, wo die Kerle ihm den Schrauben-<br />

zieher ins Fleisch gerammt hatten. Ihm war klar, dass er nicht sehr viel länger durchgehalten<br />

hätte, und wäre ihm nicht doch noch die Flucht gelungen, hätte er alles verraten, was er<br />

wusste. Dieses Wissen ärgerte und beschämte ihn, machte es ihm doch klar, dass er nicht so<br />

hart und stark war, wie er gerne gewesen wäre. Aber ein Fachmann hätte Jim sagen können,<br />

dass jeder Mensch Schmerzen nur begrenzt auszuhalten im Stande war und früher oder später<br />

bereit sein würde, alles zu tun, um weitere Qualen zu vermeiden. Aus diesem Grunde war<br />

Folter ja ein so probates Mittel, Informationen zu erhalten. Ich bemerkte, dass Jim offensicht-<br />

lich trüben Gedanken nach hing und frage:<br />

„Worüber denkst du nach? Wie wir ihnen entkommen können?“<br />

Ertappt schüttelte er den Kopf.<br />

„Nein, eigentlich hab ich darüber nachgedacht, dass ich kurz davor war, ihnen alles zu<br />

verraten, was sie wissen wollten.“<br />

Er starrte verbissen aus dem Fenster und ich ahnte, was ihm durch den Kopf ging.<br />

„Jim, das ist kein Zeichen von Schwäche, okay? <strong>Der</strong> menschliche Körper ist nicht so<br />

konstruiert, unbegrenzt Schmerzen ertragen zu können. In der Medizin waren Schmerzmittel<br />

das Erste, wonach geforscht wurde. Schon die Frühformen des Homo sapiens waren darauf<br />

aus, Möglichkeiten zu finden, Schmerzen zu lindern. Jedes Lebewesen möchte Schmerzen<br />

vermeiden. Du hast vermutlich länger durchgehalten als viele andere dies gekonnt hätten und<br />

bist sogar noch aus eigener Kraft entkommen. Du hast keinen Grund, dich zu schämen.“<br />

Jim sah <strong>mich</strong> an und ein Lächeln umspielte kurz seine Lippen.<br />

„Kannst du Gedanken lesen?“, fragte er <strong>mich</strong>.<br />

Ich lachte.<br />

„Ja, wenn sie sich auf einem Gesicht so offen widerspiegeln wie gerade bei dir.“<br />

Ich warf erneut einen Blick in den Rückspiegel und erschrak. <strong>Der</strong> Ford war nur noch<br />

zwei Wagen hinter uns.<br />

„Scheiße!“, entfuhr mir.<br />

Jim drehte sich ebenfalls wieder herum und fluchte ungehalten.<br />

„Himmel, Arsch und Zwirn. Die kommen näher. Ich kann aber nicht erkennen, wer in<br />

der Karre sitzt.“ Ein Schatten huschte über sein Gesicht und er fügte genervt hinzu: „Noch<br />

mal kriegen die <strong>mich</strong> nicht. Nicht lebend!“<br />

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Frauke Feind<br />

Er griff in die Mittelablage, wo wir die Walthers deponiert hatten und nahm eine der<br />

Waffen in die Hand. Er kontrollierte diese mit geübten Fingern und behielt sie in der Hand.<br />

Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken und ich verspürte eine Angst, die mir gar nicht ge-<br />

fiel. Und nicht um <strong>mich</strong>! Da wir aus dem Einzugsbereich Tulsas heraus kamen, wurde der<br />

Verkehr deutlich weniger, was die Gefahr für uns größer machte. Wenn es wirklich die Typen<br />

waren, die uns folgten, wurde das Risiko für uns mit jedem Kilometer, den wir uns weiter von<br />

Tulsa entfernten, größer. Vor uns waren überhaupt keine Fahrzeuge mehr, der letzte Wagen<br />

war gerade auf eine Farmroad abgebogen. Hinter uns waren nur noch zwei Fahrzeuge und der<br />

Explorer. Ich gab Gas. In eine Polizeikontrolle zu geraten und wegen überhöhter Ge-<br />

schwindigkeit gestoppt zu werden erschien mir das kleinere Risiko zu sein.<br />

Mit jedem Kilometer, den ich schneller wurde, wurde deutlicher, dass in dem Ford<br />

wirklich Jims Verfolger sitzen mussten, denn auch dieser Wagen beschleunigte! Er überholte<br />

den letzten, uns trennenden Wagen und war nun unmittelbar hinter uns. Und noch 100 Kilo-<br />

meter bis Oklahoma City. Verzweifelt sah ich Jim an. Dieser grinste verkniffen.<br />

„Nun wissen wir es wenigstens sicher. Hast du dein Handy mit?“<br />

Ich nickte.<br />

„In meiner Jackentasche.“, erklärte ich.<br />

Jim griff auf die Rückbank und schnappte sich meine Jacke. Er zog das Handy heraus<br />

und fragte nach meinem Pin. Nachdem er diesen eingetippt hatte wählte er eine Nummer.<br />

Noch hatten wir Empfang, ob es so bleiben würde, wussten wir nicht.<br />

„Hey, ich bin‟s.“ Er hatte offensichtlich jemanden erreicht. „Ja, ich leb noch. Be-<br />

tonung auf noch. Hör zu, ich kann jetzt nicht alles erklären. Ich hab die Enkelin von Timothy<br />

Walsh ausfindig gemacht, sie ist hier bei mir. Wir sind auf dem Weg zu euch, aber ob wir es<br />

schaffen ist fraglich. Wir sind im Moment zwischen Tulsa und Oklahoma City unterwegs.<br />

Wir werden verfolgt und ob wir es schaffen, zu entkommen, ist nicht sicher. Die werden auch<br />

auf euch jemanden angesetzt haben. Passt auf euch auf. Sollte ich noch Gelegenheit be-<br />

kommen, melde ich <strong>mich</strong> wieder.“<br />

Er lauschte auf eine Antwort und sagte er sarkastisch:<br />

„Na klar, das ist im Augenblick auch meine größte Sorge. Ich melde <strong>mich</strong> wieder,<br />

wenn ich kann.“<br />

Er drückte das Gespräch weg und schüttelte den Kopf.<br />

„Die haben noch nichts von Beobachtern gemerkt.“ Er sah sich um und stellte fest,<br />

dass der Explorer langsam, aber sicher näher kam.<br />

„Wenn wir es bis Oklahoma City schaffen, könnten wir dort versuchen, uns einen<br />

anderen Wagen zu besorgen.“<br />

- 54 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Vor uns tauchte die Abfahrt nach Bristow auf und ich hatte eine Idee. Ohne weiter<br />

nachzudenken, riss ich das Steuer herum und schlitterte mit quietschenden Reifen in die Aus-<br />

fahrt. Jim klammerte sich erschrocken fest und keuchte:<br />

„Hey, du fährst wie ein Henker!“<br />

Ich antwortete nicht, sondern gab erneut Gas und Minuten später hatten wir die ersten<br />

Häuser erreicht.<br />

„Das ist unsere einzige und letzte Chance, würde ich sagen.“, erklärte ich.<br />

Bristow war keine ganz kleine Stadt, vielleicht gelang es mir hier, unsere Verfolger<br />

solange abzuschütteln, bis wir einen anderen Wagen gefunden hatten. Ich bog im Zickzack in<br />

verschiedene Straßen ein und sah immer wieder in den Rückspiegel. Vor uns tauchte ein<br />

Parkhaus auf und spontan riss ich das Steuer erneut herum und tauchte in das Parkhaus ein.<br />

Ich betete zu Gott, dass wir die Verfolger wenigstens für den Moment losgeworden waren und<br />

fragte:<br />

„Kannst du einen Wagen aufbrechen und kurzschließen?“<br />

Jim sah <strong>mich</strong> erstaunt an, nickte aber.<br />

„Werd ich schon irgendwie schaffen.“<br />

Ich nickte und erklärte verbissen:<br />

„Wirst du schaffen müssen, sonst sind wir am Arsch!“<br />

Ich behielt den Rückspiegel im Auge, sah aber im Moment keinen Explorer hinter uns.<br />

Dass wir einen Wagen stehlen mussten war mir zwar alles andere als Recht, aber eine Wahl<br />

hatten wir nicht. Wir sahen uns die geparkten Autos im Vorbeifahren an und schließlich sagte<br />

Jim hastig:<br />

„Da, der wäre richtig.“<br />

Er hatte einen silbernen, älteren Cherokee Geländewagen mit getönten Scheiben ent-<br />

deckt. Neben dem Wagen war eine Parklücke und ich fuhr in diese hinein. Hastig sprangen<br />

wir aus dem Auto, Jim ein wenig steif, und sahen uns um. Mutterseelenallein standen wir in<br />

der Etage und ich nickte Jim zu.<br />

„Dann lass mal sehen.“<br />

Er nickte und überlegte kurz. Hastig öffnete er die Heckklappe des Jeeps und suchte<br />

nach dem Werkzeugkasten. Er öffnete diesen und wühlte darin herum, bis er ein Stück Binde-<br />

draht gefunden hatte. Mit einem Schraubenzieher hebelte er das Fenster auf der Fahrerseite<br />

vorsichtig ein kleines Stück auf, sodass er Platz für den Draht hatte, den er zu einer kleinen<br />

Schlinge gebogen hatte. Glücklicherweise hatte der Cherokee noch richtige Knöpfe zum<br />

Öffnen und so gelang es Jim relativ schnell, die Tür mit Hilfe der Schlinge zu öffnen.<br />

Unendlich erleichtert atmete ich auf. Während Jim die Kabel unterhalb der Lenksäule heraus<br />

riss lud ich unsere Sachen in den Cherokee um. Verlegen schrieb ich auf ein Stück Papier eine<br />

Entschuldigung für den Wagenbesitzer, erklärte ihm, dass er den Jeep behalten konnte und<br />

- 55 -


By<br />

Frauke Feind<br />

warf die letzten Teile aus dem Cherokee in den Commander. Als Jim sah, dass ich den Zettel<br />

gut sichtbar am Jeep befestigte, zeigte er mir einen Vogel. Dann aber lächelte er.<br />

„Du bist unglaublich.“<br />

Ich wurde rot.<br />

„Was denn? Das ist ein Notfall, wir sind doch keine billigen Autodiebe! Die Besitzer<br />

machen einen guten Tausch und vielleicht hetzen sie uns so nicht gleich die Highwaypatrol<br />

hinterher.“<br />

Ich hatte alle Sachen ausgetauscht und fragte:<br />

„Was ist denn nun, Meister? Kriegen wir das noch vor Weihnachten hin?“<br />

Gerade in diesem Moment sprang der Cherokee endlich an und Jim grinste.<br />

„Ja, Ma‟am. Wenn ich denn mal bitten dürfte?“<br />

Wir stiegen ein, ich fuhr wieder, Jim war einfach noch nicht wieder fit genug. Er hatte<br />

damit auch keine Probleme.<br />

Uns immer wieder paranoid umschauend fuhr ich aus dem zweiten Ausgang des Park-<br />

hauses hinaus und ordnete <strong>mich</strong> auf der Straße in den ziemlich heftigen Verkehr ein.<br />

ich nervös.<br />

„Was wollen wir machen? Auf die Interstate zurück oder auf der 66 bleiben?“, fragte<br />

Jim überlegte und meinte:<br />

„Vielleicht sollten wir auf der 66 bleiben, da ist bestimmt etwas mehr Betrieb. Viele<br />

Touristen. Wenigstens ab und zu eine Ortschaft und wir könnten uns im Notfall schnell mal in<br />

die Büsche schlagen.“<br />

Ich nickte.<br />

„Hast Recht. Also, auf geht‟s, ich bin eigenartigerweise noch nie auf der Route 66<br />

unterwegs gewesen.“<br />

Ich achtete auf Verkehrsschilder, während Jim sich immer wieder umsah. Aber<br />

scheinbar hatten wir die Kerle erst einmal abgehängt.<br />

einer Weile.<br />

„Wir werden wohl einen Umweg nach LA in Kauf nehmen müssen.“, meinte Jim nach<br />

Ich hatte gerade ein Hinweisschild zur 66 entdeckt und bog ab. Genervt erwiderte ich:<br />

„Ja, da wird uns kaum was anderes übrig bleiben.“<br />

Er seufzte.<br />

„Noch länger den Arsch breit sitzen.“<br />

Ich grinste.<br />

„Lieber einen schmerzenden Hintern als eine Kugel im Kopf.“<br />

„Da hast du auch wieder Recht.“<br />

Er drehte sich erneut im Sitz herum und musterte aufmerksam die Fahrzeuge hinter<br />

uns, aber es war keine roter Ford Explorer zu sehen. Erleichtert schnaufte er und meinte zu-<br />

frieden:<br />

- 56 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Wir haben sie scheinbar fürs Erste wirklich abgeschüttelt.“ Er sah <strong>mich</strong> an und fragte:<br />

„Sag mal, hat dein Handy GPS?“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, hat es. Warum?“<br />

„Dann sollten wir es loswerden. Ich weiß nicht, aber die hatten auch auf der Insel<br />

schon ne Menge technische Möglichkeiten, wenn auch alles ein wenig veraltet war. Und falls<br />

die von Widmore kommen, haben sie hier sicher jede technische Spielerei zur Verfügung.“<br />

Ich nickte verstehend.<br />

„Okay, dann werden wir es in Depew verlieren.“<br />

Er schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, lass es uns lieber in Oklahoma City verlieren, da haben sie weniger <strong>Über</strong>sicht,<br />

wohin wir von dort verschwinden.“<br />

************<br />

Wir kamen gut voran, unsere Verfolger tauchten nicht wieder auf. Wir erreichten<br />

Oklahoma City gegen 16.30 Uhr. Und hier hatte ich eine Idee. Ohne etwas zu sagen steuerte<br />

ich den Airport an. Jim sah verwirrt aus der Wäsche, dann aber strahlte er. „Aber die<br />

Waffen?“ Ich zuckte die Schultern.<br />

„Das ist ja wohl in LA kein Problem, neue Waffen zu bekommen. Aber ich denke, so<br />

ist es am sinnvollsten. Im Flugzeug sind wir sicher.“<br />

ich:<br />

Ich steuerte auf die Abflughalle zu und bekam einen guten Parkplatz. Besorgt sagte<br />

„Na, komm, geht es?“<br />

Er nickte und stieg ein wenig steif aus und streckte sich ächzend. Zusammen<br />

marschierten wir zum Eingang und sahen uns um. Ich deutete auf den Ticket Counter der<br />

United Airlines und zehn Minuten später hatten wir Tickets für einen Flug nach LA in der<br />

Hand, der um 18.25 Uhr startete. Wir gingen zum Wagen zurück, stopften alles, was wir noch<br />

mitnehmen wollten, in den Koffer, deckten die Waffen gründlich ab und marschierten in das<br />

Airportgebäude zurück. Schnell checkten wir den Koffer ein, suchten uns ein Restaurant und<br />

aßen erst einmal etwas. Jim sah schlecht aus, ihn strengte die ganze Reise natürlich noch sehr<br />

an. Aufmunternd sagte ich:<br />

„Hey, wir haben es bald geschafft, dann kannst du dich ausruhen.“<br />

Verlegen, weil ich seine Erschöpfung bemerkt hatte, schnaufte er.<br />

„Ja, toll.“<br />

Ich legte ihm die Hand auf den Arm und erklärte:<br />

„Jim, dass du noch ziemlich schlapp bist, ist normal. Es dauerte eben eine Weile, bis<br />

der Körper Blutverlust ganz ausgeglichen hat. Mach dir darum keinen Kopf, okay.“<br />

- 57 -


Resigniert nickte er.<br />

„Du bist der Doc.“<br />

Ich lächelte und erklärte:<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Genau. Und ich verordne dir ein wenig Ruhe, wenn wir erst in LA sind.“<br />

Er grinste.<br />

„Aber nur, wenn du <strong>mich</strong> wieder pflegst.“<br />

„Klar, <strong>mich</strong> wirst du so schnell nicht wieder los.“, schmunzelte ich.<br />

Leise, wie zu sich selber, meinte er:<br />

„Daran könnt ich <strong>mich</strong> gewöhnen ...“<br />

Die Zeit bis zum Abflug verbrachten wir auf einer Bank, von der aus man einen guten<br />

Blick auf die Eingänge hatte. Aufmerksam beobachteten wir die ein und ausgehenden<br />

Menschen, aber keiner schenkte uns Beachtung oder kam uns bekannt vor. Trotzdem wurden<br />

wir immer nervöser und als unser Flug endlich aufgerufen wurde, sprangen wir erleichtert auf<br />

und eilten zum Gate hinüber. Als wir schließlich in die Sitze des Flugzeugs sanken, fiel uns<br />

ein ganzes Gebirge vom Herzen. <strong>Der</strong> Start verlief problemlos und als wir in der Luft waren<br />

meinte Jim plötzlich grinsend:<br />

„Wenn ich n bisschen nervös werd, denkt dir nichts dabei, okay? Ich bin nicht mehr<br />

der ruhigste Passagier seit dem Absturz.“<br />

und dachte<br />

Lachend erklärte ich:<br />

„Wäre ich auch nicht, das kannst du mir gerne glauben.“<br />

Fünf Minuten später war er tief und fest eingeschlafen. Ich grinste still vor <strong>mich</strong> hin<br />

- Ja, die Nervosität in Person! –<br />

Eine Stewardess kam und fragte leise, ob sie etwas für uns bringen könnte. Ich bat um<br />

einen Scotch, Jim ließ ich schlafen, er hatte Ruhe wirklich noch bitter nötig. Ich bekam<br />

meinen Drink und hing meinen Gedanken nach. Irgendwann sackte Jims Kopf an meine<br />

Schulter und ich ließ ihn so sitzen. Erst, als wir zur Landung ansetzten, fast drei Stunden<br />

später, weckte ich ihn sanft.<br />

„Jim. Du musst aufwachen, wir landen gleich.“<br />

Seufzend schlug er die Augen auf und merkte, wie er saß. Verlegen machte er sich<br />

gerade und sagte gähnend.<br />

„Oh, man, tut mir leid.“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Ist doch nicht das erste Mal, dass ich dir als Kopfkissen diene.“<br />

Irgendwie hatte ich den Eindruck, er überlege, ob er <strong>mich</strong> küssen sollte, und ich<br />

spürte, dass ich nichts dagegen gehabt hätte. Doch der Moment verflog, als die Durchsage<br />

kam, sich anzuschnallen, die Tische hoch zu klappen und die Sitze aufrecht zu stellen. Fast<br />

bedauernd wandten wir uns von einander ab.<br />

- 58 -


klärte:<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

************<br />

Eine Stunde später standen wir am Taxistand und ergatterten einen Wagen. Jim er-<br />

„Morningside Park, Crenshaw Blvd.“<br />

<strong>Der</strong> Taxifahrer nickte und reihte sich in den abendlichen Verkehr ein. Während der<br />

Fahrt stellten wir unsere Uhren zwei Stunden zurück, sie standen noch auf Central Standard<br />

und mussten hier in Kalifornien auf Pacific Standard umgestellt werden. Bis Morningside<br />

Park waren es etwas mehr als acht Kilometer und langsam nahm der Verkehr ab. Das Haus,<br />

zu dem Jim den Taxifahrer dirigierte, lag in einer sehr gepflegten Wohngegend mit hübschen<br />

Häusern. Ziemlich erledigt stiegen wir aus, bezahlten und Jim deutete auf eine Einfahrt.<br />

„Hier.“<br />

Wir marschierten den gepflegten Weg bis zum Haus hoch und er klopfte. Es dauerte<br />

nicht lange und ein Mann um die vierzig, schlank, mit kurzem, dunklem Haar und dunklen<br />

Augen öffnete die Tür. Grinsend meinte Jim:<br />

da!“<br />

„Hallo, Doc.“<br />

Jack starrte Jim an, dann <strong>mich</strong> und stieß verblüfft hervor:<br />

„Mensch, mit dir haben wir noch gar nicht gerechnet. Kommt rein. Kate. Sawyer ist<br />

Aus einer Tür trat eine bildhübsche junge Frau in den Flur. Sie sah Jim an und seufzte<br />

erleichtert auf. Im nächsten Moment hing sie ihm am Hals und stotterte:<br />

„Bin ich froh, dich zu sehen! Wir sind fast ausgeflippt. Was war denn los? Als wir<br />

nichts mehr von dir hörten, dachten wir, du wärest tot.“<br />

Jim ließ die Umarmung grinsend zu und erklärte:<br />

„Hallo, Sweet Cheeks. Das wär ich auch gewesen ohne die Hilfe Kellys.“<br />

Er machte sich sanft los und zog <strong>mich</strong> an sich.<br />

„Kelly, das sind Jack und Kate. Jack, Kate, dass hier ist meine gute Fee, Kelly<br />

Reardon. Sie ... Ach, das ist ne lange Geschichte und ich bin ziemlich alle. Lasst uns das<br />

später besprechen, okay?“<br />

Ich hatte Kate und Jack die Hand gereicht und sagte jetzt:<br />

„Jim müsste eigentlich ins Bett. Er war ziemlich schwer verletzt und ist lange noch<br />

nicht wieder fit. Und wir haben ein paar anstrengende Tage hinter uns.“<br />

Kate warf mir einen nicht zu deutenden Blick zu nickte aber.<br />

„Natürlich. Kommt, ich zeige euch das Gästezimmer.“<br />

- 59 -


By<br />

Frauke Feind<br />

6) Die Anderen<br />

Ich schnappte mir den Koffer, den ich abgestellt hatte und wir folgten Kate durch<br />

einen Flur bis zu einer Treppe, die in die erste Etage führte. Wir stiegen nach oben und<br />

schließlich öffnete die junge Frau vor uns eine Tür.<br />

„Hier. Ihr habt euer eigenes Bad. Wollt ihr noch etwas essen?“<br />

Jim nickte.<br />

„Gerne. Wir haben in Oklahoma City nur nen kleinen Snack gehabt.“<br />

Kate nickte verstehend.<br />

„Gut, macht euch frisch, ich mache etwas zu Essen für euch. Kommt einfach runter,<br />

wenn ihr soweit seid.“<br />

Sie warf Jim noch einen leidenschaftlichen Blick zu und verließ das Zimmer. Wir<br />

standen einen Moment still da. Schließlich fragte ich, um das verlegene Schweigen zu<br />

brechen:<br />

„Willst du schnell unter die Dusche?“<br />

Er nickte.<br />

„Ja, würd ich gern.“<br />

„Gut, ich packe unsere Klamotten aus. Lass dir ruhig Zeit, das warme Wasser wird<br />

deinem Rücken gut tun. Nachher massiere ich dich wieder, wenn du möchtest.“<br />

Er grinste.<br />

„Dumme Frage, klar möchte ich.“<br />

Er verschwand ins Bad und ich packte die paar Sachen, die wir bei uns hatten in den<br />

Kleiderschrank, der im Gästezimmer stand. Plötzlich hörte ich Jim aus der Dusche rufen:<br />

„Kelly, kannst du mir die Duschsachen bringen?“<br />

Ich schnappte mir die Badetasche und stand einen Moment zögernd vor der Bade-<br />

zimmertür. Mädchenhafte Schamhaftigkeit war sonst nicht meine Art, das konnte man sich als<br />

Krankenschwester gar nicht leisten, aber jetzt verspürte ich plötzlich Hemmungen, einfach ins<br />

Bad zu gehen. Ich schüttelte den Kopf. Was sollte das? Entschlossen öffnete ich die Tür und<br />

betrat den Raum. Ich packte die Badetasche aus und reichte Jim Shampoo, Seife, Zahnbürste<br />

und Zahncreme. Er hatte scheinbar keine Bedenken, denn er drückte die Duschtür auf und<br />

grinste dankbar. Ich konnte nicht verhindern, dass mein Blick sekundenlang an seinem<br />

nackten Körper hängen blieb und wieder einmal stellte ich fest, wie gut dieser Kerl gebaut<br />

war und aussah. Ich wandte <strong>mich</strong> ab und verließ das Badezimmer ein wenig eiliger als ge-<br />

plant.<br />

Ich legte Jim saubere Sachen auf das Bett und zog mir selbst frische Jeans und ein<br />

sauberes Jeanshemd an. Dann setzte ich <strong>mich</strong> auf das Bett und wartete. Nach gut zehn<br />

Minuten kam Jim, nur mit einem Handtuch um die schlanke Hüfte, zurück ins Zimmer. Als er<br />

- 60 -


By<br />

Frauke Feind<br />

sah, dass ich ihm sauberes Zeug bereit gelegt hatte, strahlten seine Augen vor Freude kurz<br />

auf. Man merkte deutlich, dass er es nicht gewohnt war, dass jemand so simple Sachen für ihn<br />

tat. Ungeniert legte er das Handtuch aufs Bett und zog sich an. Gähnend erklärte er:<br />

„Lass uns runter gehen, bevor ich im Stehen einschlafe.“<br />

„Unbedingt. Ich habe Hunger.“<br />

Nebeneinander stiegen wir nach unten und wurden im Esszimmer bereits erwartet.<br />

Kate hatte uns Steaks, Bohnen und Pommes frites zubereitet und wir aßen mit gutem Appetit.<br />

Die Stimmung am Tisch war sehr eigenartig. Kate beobachtete <strong>mich</strong> misstrauisch, Jack be-<br />

hielt Jim und Kate sehr genau im Auge und ich kam nicht umhin, Jim zu beobachten. <strong>Der</strong><br />

jedoch blieb völlig gelassen und aß still sein Abendbrot. Als wir schließlich satt und zufrieden<br />

die Teller zurück schoben meinte Jack:<br />

„Was war denn nun, oder ist noch mit dir?“, und sah Jim abwartend an.<br />

„Nichts, was Kelly nicht in Ordnung bringen könnte, Chef.“, erwiderte Jim ruhig.<br />

„Seid uns nicht böse, aber ich würd <strong>mich</strong> gerne hinlegen. Wir werden morgen alles be-<br />

sprechen, da werd ich fitter sein.“<br />

Er stand auf und ich erhob <strong>mich</strong> ebenfalls.<br />

„Gute Nacht und vielen Dank für das Abendbrot.“, sagte ich freundlich und wir ver-<br />

abschiedeten uns von Jack und Kate für die Nacht.<br />

Wir stiegen wieder nach oben und Jim fragte:<br />

„Machst du dein Versprechen wahr?“<br />

„Welches Versprechen?“, fragte ich geistesabwesend.<br />

„Na, <strong>mich</strong> zu massieren.“<br />

Er grinste <strong>mich</strong> frech an und begann provozierend, sein Hemd aufzuknöpfen. Ich<br />

musste kichern.<br />

„Hey, ich wusste gar nicht, dass ich es dir versprochen habe.“<br />

Jim legte den Kopf auf eine unnachahmliche Weise ein wenig schief und sah <strong>mich</strong><br />

herausfordernd an.<br />

„Na, komm schon, du hast gesagt, du würdest <strong>mich</strong> massieren, da hab ich <strong>mich</strong> jetzt<br />

drauf verlassen.“<br />

Ich lachte.<br />

„Okay, mache dich frei, ich hole ein Handtuch.“<br />

Dass er mir verträumt nachschaute, als ich ins Bad verschwand, sah ich nicht. Ich<br />

suchte in dem kleinen Schrank im Bad nach einem großen Handtuch, schnappte mir zusätz-<br />

lich ein kleines Gästehandtuch, und griff nach dem Massageöl. Alles trug ich zu Jim zurück<br />

und breitete das Handtuch auf dem Bett aus. Auffordernd nickte ich und er legte sich auf das<br />

Badelaken, allerdings auf den Rücken. Grinsend sah er <strong>mich</strong> an und meinte:<br />

„Fang an.“<br />

Ich zeigte ihm einen Vogel und erklärte:<br />

- 61 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„So eine Masseuse bin ich nicht, Mister. Dreh dich gefälligst herum.“<br />

Beleidigt rollte er sich auf den Bauch und ich kniete <strong>mich</strong> neben ihm auf das Bett. Es<br />

war nur ein Queen Size und wir würden daher in der Nacht zwangsläufig enger nebeneinander<br />

liegen. Ich träufelte Massageöl auf Jims Rücken und begann an den Schultern und im Nacken<br />

mit der Massage und arbeitete <strong>mich</strong> bis zu den Lendenwirbeln hinunter. Ab und zu seufzte er<br />

wohlig und schließlich meinte er:<br />

„Du solltest Geld dafür nehmen, du machst das wirklich gut.“<br />

Ich lachte.<br />

„Wünsch dir das lieber nicht, ich wäre teuer. Du könntest dir <strong>mich</strong> gar nicht leisten.“<br />

Ich rieb das letzte Öl mit dem kleineren Handtuch ab und erklärte: „So, fertig.“<br />

Jim rollte sich auf die Seite und ich zog das Handtuch unter ihm hervor.<br />

Als ich aus dem Bad zurückkam, lag Jim auf dem Rücken, hatte die Arme entspannt<br />

unter dem Kopf verschränkt und sah <strong>mich</strong> an.<br />

„Und? Wie findest du die Stimmung?“, fragte er grinsend.<br />

„Ehrlich?“<br />

„Ehrlich.“<br />

Ich seufzte.<br />

„Nun, ich hatte das Gefühl, Kate wünscht <strong>mich</strong> zur Hölle, Jack dich.“<br />

Jim lachte.<br />

„Das trifft es in etwa. Aber ...“ Er stockte kurz, dann fuhr er ein wenig verlegen fort:<br />

„... das Komische ist, es war das erste Mal, seit ich Kate kenne, dass ich in ihrer Gegenwart<br />

nicht das Sabbern gekriegt hab.“<br />

Aus irgendeinem Grund freuten <strong>mich</strong> diese Worte und ich erwiderte:<br />

„Vielleicht kommst du ja doch langsam über sie hinweg?“<br />

Jim beobachtete aufmerksam, wie ich <strong>mich</strong> aus meinen Klamotten schälte, bis ich nur<br />

noch Slip und T-Shirt an hatte. Leise sagte er:<br />

nehmen.“<br />

„Ja, vielleicht hab ich meinen Blick für andere ... Menschen wieder gefunden.“<br />

Sein kurzes Zögern fiel mir nicht auf. Ich nickte.<br />

„Kann gut sein. Sie scheint mit Jack glücklich zu sein.“<br />

Ich reichte Jim die Hand und sagte:<br />

„Heb deinen Luxuskörper mal aus dem Bett, sonst kann ich die Decke nicht zur Seite<br />

Er ließ sich bereitwillig in die Senkrechte ziehen und sekundenlang standen wir uns<br />

ganz dicht gegenüber. Ich konnte den Duft seines frisch geduschten Körpers riechen und den<br />

leichten Hauch von Massageöl, der ihn umgab. Hastiger als ich es vorgehabt hatte trat ich<br />

zurück und beugte <strong>mich</strong> über das Bett. Ich schlug die Zudecke zur Seite und legte <strong>mich</strong> hin.<br />

Jim stand noch einen Moment still, dann legte er sich ebenfalls ins Bett. Fast parallel zogen<br />

- 62 -


By<br />

Frauke Feind<br />

wir das Zudeck über uns und lagen schweigend nebeneinander. Schließlich sagte ich wenig<br />

überzeugend:<br />

„Ich bin müde, lass uns Schlafen.“<br />

Ich streckte die Hand aus und schaltete die Nachttischlampe aus. Als es dunkel im<br />

Raum war sagte Jim ein wenig traurig:<br />

„Gute Nacht, schlaf gut.“<br />

Kurz erwiderte ich:<br />

„Gute Nacht.“<br />

Ich drehte <strong>mich</strong> auf die Seite und starrte die Wand an. In Gedanken war ich weiter bei<br />

Jim, grübelte darüber nach, dass meine Gefühle ihm gegenüber sich dramatisch einem Punkt<br />

näherten, den ich nicht geplant und auch nicht einkalkuliert hatte. Energisch versuchte ich, die<br />

Gedanken bei Seite zu schieben.<br />

Irgendwann musste ich eingeschlafen sein. Ich wachte davon auf, dass Jim neben mir<br />

unruhig war. Im Raum war es dank einer Straßenlampe vor dem Haus nicht ganz dunkel und<br />

ich konnte sehen, dass er sich im Schlaf unruhig bewegte und Unverständliches vor sich hin<br />

murmelte. Ich seufzte leise. Bei dem, was er schon alles durch gemacht hatte, war es kein<br />

Wunder, dass er immer wieder von Albträumen gequält wurde. Ich überlegte kurz, ihn zu<br />

wecken, entschied <strong>mich</strong> aber anders. Stattdessen rollte ich <strong>mich</strong> auf die Seite zu ihm und griff<br />

mit meiner linken Hand nach seiner Rechten, die unruhig über die Bettdecke zuckte. Meine<br />

Rechte legte ich ihm nach kurzem Zögern auf die Brust. Ich konnte spüren, wie diese sich<br />

unter hastigen Atemzügen hob und senkte und sein Herz gegen die Rippen hämmerte. Im<br />

Schlaf umklammerte er meine Hand fest und sein Kopf bewegte sich unruhig auf dem Kissen<br />

hin und her. Aber schon nach kurzer Zeit wurde er deutlich ruhiger und schlief schließlich<br />

wieder ganz entspannt. Erleichtert atmete ich auf. Ich ließ meine Hände, wo sie waren und<br />

schlief selbst schnell wieder ein, sicher, dass er ohne weitere Albträume schlafen würde.<br />

Als ich erneut aufwachte hatte ich das Gefühl angeschaut zu werden. Müde öffnete ich<br />

die Augen und sah direkt in zwei faszinierend grüne Augen, die keine zwanzig Zentimeter<br />

von mir entfernt blitzten. Ertappt zuckte Jim zusammen. Er hielt noch immer meine Hand in<br />

seiner und hatte die andere Hand auf meine Rechte gelegt, die noch auf seiner Brust ruhte.<br />

„Hab ich wieder rum genervt heut Nacht?“, fragte er leise.<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, aber nicht schlimm, du wurdest sofort ruhiger, als ich ...“<br />

Ich verstummte verlegen.<br />

„Danke.“, sagte er leise und ließ zögernd meine Hände los.<br />

Er drehte sich auf den Rücken und erneut war ein schöner Moment vorbei. Einige<br />

Minuten lagen wir schweigend nebeneinander, dann erhob ich <strong>mich</strong> abrupt und sagte ein<br />

wenig genervt:<br />

- 63 -


„Ich gehe unter die Dusche.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Jim verstand mein genervt sein falsch und biss sich auf die Lippe.<br />

- Schlag sie dir bloß schnell wieder aus dem Kopf, du Idiot! -<br />

fuhr er sich gedanklich an und erhob sich seufzend. Dass er anfing sich in Kelly zu<br />

verlieben machte die ganze Angelegenheit unnütz kompliziert. Als ob es in dieser ganzen<br />

Situation nicht schon Komplikationen genug gab.<br />

Ein Raum weiter, unter der Dusche, gingen mir ähnliche Gedanken durch den Kopf.<br />

- Du solltest es am besten wissen, Lady. Selbst, wenn er glaubt, etwas für dich zu<br />

empfinden, bist du bestens darüber informiert, dass Männer dazu neigen, sich in ihre<br />

Krankenschwestern zu verlieben. Das hast du mehr als einmal erlebt. Also, schlage dir das<br />

aus dem Kopf! -<br />

Ich hielt mein Gesicht in den Wasserstrahl und hatte das Gefühl, damit auch Jim von<br />

mir abzuwaschen. Als ich ins Zimmer zurück kam, war Jim bereits fort. Ich zog <strong>mich</strong> an,<br />

kämmte meine Haare durch und ging ebenfalls nach unten. In der Küche traf ich auf Kate, die<br />

gerade frischen Kaffee aufsetzte.<br />

„Morgen. Jack und Sawyer sitzen auf der Terrasse. Magst du was essen?“, fragte sie<br />

<strong>mich</strong> freundlich.<br />

Ich erwiderte:<br />

„Guten Morgen. Nein, das ist lieb gemeint, aber eine Tasse Kaffee reicht mir morgens.<br />

Soll ich dir irgendwas helfen?“<br />

Kate lachte.<br />

„Nicht nötig. <strong>Der</strong> Kaffee ist gleich durch, setz dich gerne schon raus.“<br />

Ich nickte und sah <strong>mich</strong> suchend um. Kate erklärte:<br />

„Zweite Tür rechts.“<br />

Ich nickte abermals und marschierte los. Ich fand das Wohnzimmer und sah auf der<br />

Terrasse draußen Jack und Jim sitzen. Langsam trat ich zu den beiden Männern hinaus. Jack<br />

begrüßte <strong>mich</strong> ruhig.<br />

„Guten Morgen. Setz dich doch.“<br />

Ich nickte und suchte mir einen Stuhl gegenüber von Jim, in den ich <strong>mich</strong> fallen ließ.<br />

Minuten später kam Kate dazu und erklärte:<br />

„Sayid, Hurley, Sun und Jin werden gleich hier sein, so braucht ihr nur einmal zu<br />

erzählen, was los gewesen ist.“<br />

Ich sah sie an und meinte:<br />

„Na, da kriege ich gleich die ganze Mannschaft vorgestellte, was?“<br />

„Ja, wir haben nicht viel Zeit, daher ist es besser so.“<br />

Sie schenkte mir eine Tasse Kaffee ein und fragte Jim:<br />

„Willst du auch noch?“<br />

Jim nickte.<br />

- 64 -


<strong>Über</strong>lebenden.<br />

„Gerne, danke, Freckles.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Er ließ sich seine Tasse noch einmal voll schenken, dann warteten wir auf die anderen<br />

Wir brauchten nicht lange zu warten. Als es Minuten später an der Haustür klingelte,<br />

stand Jack auf, um zu öffnen. Augenblicke später kam er mit vier Leuten im Schlepptau<br />

zurück, die Jim alle freudig umarmten. Nur der dunkelhäutige Sayid begrüßte Jim lediglich<br />

mit einem Nicken.<br />

„Sawyer.“<br />

Hurley war ein ungemein dicker junger Mann um die dreißig, dessen wilde Locken bis<br />

über seine Schultern hingen. Er hatte fröhliche Augen und grinste Jim an.<br />

„Mann, Alter, wir haben uns fast in die Hose gemacht, als du nichts von dir hast hören<br />

lassen. Was ist denn los gewesen?“<br />

Die Koreaner, Jin und Sun, nickten. Die hübsche, junge Frau warf Jim einen freund-<br />

lichen Blick zu. Mit nur sehr leichtem Akzent fragte sie:<br />

„Hurley hat Recht. Wir haben uns Sorgen gemacht. Was ist passiert?“<br />

Jack bat jetzt:<br />

„Setzt euch doch erst mal. Sawyer wird gleich alles erzählen. Das hier ist die Enkelin<br />

von Timothy Walsh. Kelly Reardon. Kelly, das sind Jin und Sun Kwon, Hugo Reyes, er wird<br />

allgemein Hurley genannt und Sayid Jarrah.“<br />

Wir begrüßten uns und erst jetzt setzten sich die Gäste. Sie sahen Jim auffordernd an.<br />

„Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, erzähl schon, Alter.“, meinte Hurley.<br />

Ein wenig missmutig seufzte Jim.<br />

„Ja, ja, geht ja schon los, Moppelchen. So viel gibt es nicht zu erzählen. Dass diese<br />

Typen seit Charlotte hinter mir her waren, wisst ihr. Ich hatte von nem Kerl in Beckley er-<br />

fahren, dass ein Mann in Wright, einem winzigen Kaff in der Nähe von Beckley, unter dem<br />

Namen Walsh vor Jahren ein Abschleppunternehmen gehabt hatte. Also hab ich <strong>mich</strong> auf die<br />

Socken gemacht, um <strong>mich</strong> in Wright umzuhören. Dabei war ich leider unaufmerksam und hab<br />

<strong>mich</strong> in Lanark morgens beim Verlassen eines Drugstores schnappen lassen. Sie haben mir ne<br />

Waffe in den Rücken gerammt und <strong>mich</strong> zu ihrem Wagen gezwungen. Dann sind wir ein<br />

Stück gefahren und schließlich sind die Typen mit mir einen Waldweg rein. Sie sind ne ganze<br />

Ecke in den Wald rein, dann haben sie angehalten und <strong>mich</strong> aus dem Wagen gezerrt.“<br />

Er trank einen Schluck Kaffee und redete weiter.<br />

„Sie haben <strong>mich</strong> gefragt, wen ich suchen würde. Ich hab ihnen gesagt, dass ich<br />

niemanden suche, aber sie wussten genau Bescheid, nur den Namen wussten sie nicht. Erst<br />

haben sie es noch halbwegs freundlich versucht, dann fingen sie an, <strong>mich</strong> zu bearbeiten. Zwei<br />

hielten <strong>mich</strong> fest, die anderen drei benutzten <strong>mich</strong> als Punching-Ball.“<br />

- 65 -


fuhr er fort:<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Ich sah, dass er schauderte. Jetzt wünschte ich, ich hätte <strong>mich</strong> neben ihn gesetzt. Leise<br />

„Als das nichts nützte fingen sie an, mir nen Schraubenzieher in den Körper zu<br />

Rammen und mir Schnitte am ganzen Oberkörper zu verpassen.“<br />

Sun, Kate und Hurley waren blass.<br />

„Alter. Scheiße Mann, das ist nicht gut!“, stieß Hurley hervor.<br />

Jim schluckte trocken.<br />

„Sie gaben nicht auf und fingen an, mir auch kleine Schnitte im Gesicht zu verpassen.<br />

Als das auch nichts nutzte kriegten sie sich in die Haare, wie es weiter gehen sollte. Tja, und<br />

da konnte ich <strong>mich</strong> irgendwie losreißen und bin nur noch gerannt. Fragt <strong>mich</strong> nicht, woher ich<br />

noch die Kraft hatte, weiß ich nämlich nicht. Sie sind hinter mir her. Irgendwann bin ich auf<br />

nen kleinen Parkplatz zwischen zwei Häusern getaumelt, ich war am Ende. Ich hab kaum<br />

noch was mit bekommen. Dr. Quinn, den Rest kannst du erzählen.“<br />

Ich nickte.<br />

„Ich hatte gerade Feierabend gemacht und wollte zu meinem Wagen, als ich ihn aus<br />

dem Gebüsch taumeln sah. Erst dachte ich, er wäre betrunken, doch dann sah er <strong>mich</strong> an und<br />

ich konnte all das viele Blut sehen. Als er nur noch wenige Schritte von mir entfernt war,<br />

kamen in einigem Abstand von uns fünf Männer aus dem Wald gerannt und haben quasi<br />

sofort das Feuer auf uns eröffnet. Jim wurde getroffen, doch es gelang mir, ihn in meinen<br />

Wagen zu befördern und wir konnten fliehen. Mein Großvater hat eine Jagdhütte in der Nähe<br />

von Wright im Wald, von der niemand etwas weiß. Dort habe ich Jim hingeschafft.“<br />

Jack unterbrach <strong>mich</strong> verwirrt.<br />

„Was? Er war schwer verletzt und du hast ihn in den Wald geschafft?“<br />

Kühl sah ich den Arzt an.<br />

„Ich bin Krankenschwester, Jack, ich konnte ihm helfen.“, erklärte ich. „Er hatte<br />

Stichwunden in der linken Seite und in beiden Oberschenkeln, der Schuss hatte ihn in Höhe<br />

des dritten Brustwirbels getroffen und sein Gesicht ...“<br />

Ich schüttelte <strong>mich</strong> unwillkürlich und wechselte einen Blick mit Jim, dessen Augen<br />

wieder einmal deutlich machten, was er fühlte. Dunkel vor Grauen und ein Ausdruck von<br />

Gehetztheit war in ihnen zu sehen, der <strong>mich</strong> erschütterte. Es war mir plötzlich vollkommen<br />

egal, was er oder die Freunde denken mochten, ich stand auf und trat zu Jim hinüber. Sanft<br />

legte ich ihm eine Hand auf die Schulter. Und konnte spüren, wie er sofort ruhiger wurde.<br />

Schnell erzählte ich zu Ende.<br />

„Ich habe Jim verarztet, die Kugel steckte im Querfortsatz des dritten Brustwirbels,<br />

aber es gelang mir, sie herauszuholen. Er brauchte zwei Tage, um zu sich zu kommen. Dann<br />

erholte er sich langsam. Irgendwann gingen uns die Lebensmittel aus und ich entschied <strong>mich</strong>,<br />

nach Beckley zu fahren, um einzukaufen. Als ich zur Hütte zurück kam, waren die fünf Typen<br />

dort! Ich hatte sicherheitshalber ein Gewehr mitgenommen und so gelang es mir, drei der An-<br />

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Frauke Feind<br />

greifer zu ... Erschießen. Sie hatten Jim bereits überwältigt und wollten ihn weg schleppen.<br />

Zwei konnten fliehen, einer davon verletzt. Ein paar Tage später sind wir dann aufgebrochen<br />

hierher. Hinter Tulsa haben wir gemerkt, dass wir verfolgt wurden, aber es gelang uns, die<br />

Kerle in Bristow abzuhängen. Wir stahlen einen Wagen und fuhren weiter nach Oklahoma<br />

City, wo wir uns in den Flieger setzten. Und hier sind wir nun.“<br />

Schweigen herrschte in der Runde. Sayid sah <strong>mich</strong> misstrauisch an, Jack ungläubig.<br />

„Du hast die Kugel raus geholt? Aus seiner Wirbelsäule?“, fragte er jetzt perplex.<br />

„Stell dir vor, ja, das habe ich.“, erklärte ich grinsend.<br />

„Und ich kann <strong>mich</strong> noch bewegen, El Jacko.“, vervollständigte Jim den Satz.<br />

Ich sah ihn an und lächelte aufmunternd. Dann kehrte ich zu meinem Stuhl zurück.<br />

Sayid brachte auf den Punkt, was wir wohl alle dachten.<br />

„Wenn die Typen auch eure Spur verloren haben, wissen sie trotzdem, wo ihr hin<br />

wolltet. Sie werden also über kurz oder lang hier auftauchen. Wir sollten darauf vorbereitet<br />

sein. Du hast wirklich drei von ihnen erschossen?“<br />

Jetzt war es Jim, der mir einen aufmunternden Blick zuwarf. Leise sagte ich:<br />

„Ja, das habe ich. Es war schrecklich, aber Jim war in Gefahr und ... Ich musste doch<br />

etwas unternehmen.“<br />

Sayid sah immer noch voller Misstrauen zu mir herüber.<br />

„Okay, vergessen wir das mal für einen Moment. Wer sagt uns, dass du wirklich bist,<br />

wer du vorgibst zu sein?“<br />

Ich sah Jarrah verwirrt an und fragte:<br />

„Wer sollte ich denn wohl sonst sein?“<br />

Kalt erwiderte der Iraker:<br />

„Ein Spitzel?“<br />

Jim wurde rot vor Zorn und fuhr auf:<br />

„Du elender Dreckskerl wirst hier nicht sitzen und Kelly beschuldigen! Wenn sie nicht<br />

gewesen wäre, hätten die Mistkerle irgendwann alles aus mir heraus gefoltert und ich wäre<br />

schon lange tot. Sie hat einen Brief von ihrem Großvater, in dem er sie bittet, allen zu helfen,<br />

die ihn unter dem Namen Timothy Walsh kennen. Wisst ihr was? Wenn ihr so was denkt, seht<br />

doch zu, wie ihr ohne <strong>mich</strong> klar kommt. Ich hab von diesem paranoiden Iraker und diesem<br />

ganzen Scheiß die Schnauze so voll. Warum beschuldigst du nicht gleich <strong>mich</strong>, <strong>mich</strong> ihnen<br />

freiwillig ausgeliefert zu haben?“<br />

Alle starrten Jim überrascht an. Dieser stand auf und verließ wutschnaubend die<br />

Terrasse. Er stapfte ins Haus und ließ uns sprachlos zurück. Doch ich war nur für wenige<br />

Augenblicke sprachlos, dann sprang ich ebenfalls auf und erklärte kalt:<br />

„Jim hat Recht. Wir haben einiges auf uns genommen, um hier her zu euch zu<br />

kommen, und alles, was ihr mir entgegen bringt ist Misstrauen. Ich kann verstehen, dass ihr<br />

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Frauke Feind<br />

alle ein wenig paranoid seid, wenn es stimmt, was Jim erzählt hat. Aber so schlimm, wie es zu<br />

sein scheint, solltet ihr wirklich darüber nachdenken, eure Paranoia von einem guten<br />

Therapeuten behandeln zu lassen.“<br />

zurück.<br />

Kate war aufgestanden und schickte sich an, Jim ins Haus zu folgen, aber ich hielt sie<br />

„Bleib hier bei deinen Freunden, ich denke, du hast lange genug mit ihm gespielt.“<br />

Ich drehte <strong>mich</strong> herum und folgte Jim ins Haus. Schnell stieg ich die Treppe nach oben<br />

und fand ihn auf dem Bett liegend, die Arme unter dem Kopf verschränkt.<br />

„Hey, du.“, sagte ich leise und setzte <strong>mich</strong> zu ihm.<br />

„Irgendwann reiß ich dem paranoiden Mistkerl den Arsch auf.“, stieß Jim wütend<br />

hervor. „<strong>Der</strong> hat doch wohl wirklich einen Knall. Er hat natürlich Verständnis für die Typen,<br />

er war Verhörspezialist.“<br />

Ich spürte eine Gänsehaut auf dem Rücken. Sanft legte ich Jim eine Hand auf den<br />

Körper. Ruhig fragte ich:<br />

„Wie soll es jetzt weiter gehen?“<br />

Jim sah <strong>mich</strong> an und sagte ruhiger:<br />

„Das ist mir so was von egal. Ich hab die Schnauze echt voll. Wir werden gejagt, ge-<br />

foltert, fast umgebracht, eingesperrt und sollen uns immer und immer wieder um diese<br />

Scheißinsel kümmern.“<br />

Ich stand auf und ging an den Kleiderschrank. In die oberste der drei Schubladen des<br />

Schrankes hatte ich den Schnellhefter gelegt. Diesen nahm ich heraus und setzte <strong>mich</strong> wieder<br />

auf das Bett.<br />

„Vielleicht sollten wir ihnen die Unterlagen zeigen, die mein Großvater hinterlassen<br />

hat.“, sagte ich ruhig.<br />

Jim schien sich etwas beruhigt zu haben. Er richtete sich auf und schwang die Beine<br />

vom Bett. Ärgerlich sagte er:<br />

„Es tut mir so leid, dass ...“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Vergiss es. Das war ja nicht deine Schuld. Ich danke dir, dass du dich so vehement<br />

für <strong>mich</strong> eingesetzt hast.“<br />

Er grinste.<br />

„War mir ein Vergnügen. Willst du wirklich wieder runter?“<br />

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich, am liebsten ...“ Ich verschwieg sicher-<br />

heitshalber, was ich am liebsten getan hätte, nämlich mit Jim in unsere Hütte zurückkehren.<br />

Stattdessen seufzte ich und fuhr fort:<br />

„Aber es wird wohl keine andere Möglichkeit geben.“<br />

Resigniert nickte Jim.<br />

„Also, zum Henker, lass uns wieder nach unten gehen.“<br />

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Frauke Feind<br />

Einen Moment überlegte er, einfach den Arm um <strong>mich</strong> zu legen, ließ es aber. Wir<br />

setzten uns in Bewegung und kamen gerade rechtzeitig, mitzuerleben, wie auf der Terrasse<br />

alle durcheinander redeten. Jack versuchte, sich Gehör zu verschaffen, Hurley brabbelte auf<br />

Sayid ein und Jin versuchte, Sun zu beruhigen, die wiederum lautstark auf Kate einredete. Als<br />

Jim und ich auf die Terrasse zurücktraten, herrschte augenblicklich Ruhe.<br />

Schließlich sagte Jack verlegen:<br />

„Es tut uns leid, okay? Das war ein bescheidener Anfang. Lasst es uns noch einmal<br />

von vorne beginnen. Sayid ...“<br />

Dieser sah <strong>mich</strong> an und erklärte frustriert:<br />

„Hör zu, Kelly, es tut mir leid. Ich bin wirklich inzwischen krankhaft misstrauisch.<br />

Wenn Sawyer dir erzählt hat, was wir auf der Insel und später hier erlebt haben, kannst du das<br />

vielleicht ein wenig verstehen. Ich hoffe, du nimmst mir meine Worte nicht zu übel und ent-<br />

schuldige <strong>mich</strong> in aller Form bei dir.“<br />

Misstrauen.“<br />

lich<br />

Ich hatte ruhig zugehört und nickte jetzt.<br />

„Ist schon in Ordnung, vielleicht könnt ihr wirklich nicht mehr anders, als jedem zu<br />

Ich sah zu Kate hinüber, die <strong>mich</strong> finster musterte. Mein Blick signalisierte ihr deut-<br />

- Ich habe jedes Wort so gemeint wie ich es sagte! -<br />

und sie schluckte. Nun wandte sie den Blick Jack zu. Jim stand die ganze Zeit wortlos<br />

neben mir. Jetzt zog er <strong>mich</strong> auf einen der Stühle und diesmal setzte er sich neben <strong>mich</strong>.<br />

Damit demonstrierte er, dass wir auf jedem Fall zusammenhalten würden und ich war ihm<br />

dankbar. Nachdem wir alle wieder saßen, reichte ich Jack, der mir noch am vernünftigsten<br />

schien, den Schnellhefter.<br />

„Hier. Darin findest du den Brief meines Großvaters und eine Menge Informationen<br />

über ihn, die DHARMA Initiative und die Hanso Foundation.“<br />

Sayid fragte ernst:<br />

„Was weißt du über die DHARMA Initiative und die Foundation?“<br />

Ich schüttelte den Kopf und erklärte:<br />

„So gut wie nichts. Mein Urgroßvater war Alvar Hanso. Ihn kenne ich kaum, er war<br />

ein ebenso großer Paranoiker wie ... Jedenfalls lebte er sehr zurückgezogen und hat kaum<br />

einen Menschen zu sich gelassen. Ich habe ihn nur ein oder zwei Mal überhaupt gesehen.<br />

<strong>Über</strong> sein Unternehmen weiß ich nur, was mein Grandpa mir erzählt hat. Sein Vater hat die<br />

Foundation gegründet, wann genau ist nicht bekannt. Zusammen mit seiner Frau Lena und<br />

seinen Kindern Lars und Rachel kam er 1945 aus Kopenhagen nach Amerika. Damals scheint<br />

es die Foundation schon gegeben zu haben. Was die im Einzelnen gemacht haben, geht unter<br />

anderem aus den Unterlagen hervor. Sicher ist jedoch, dass die Foundation eure DHARMA<br />

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Frauke Feind<br />

Initiative finanziert hat. Diese wurde von zwei Doktoranden der Michigan State University<br />

gegründet, Gerald und Karen DeGroot. Sie werden in den Unterlagen ebenfalls erwähnt.<br />

Warum die Foundation die Finanzierung übernahm, weiß ich nicht.“<br />

Sayid hatte, wie die anderen auch, aufmerksam zugehört. Nun fragte er:<br />

„Weißt du etwas über die DHARMA Initiative?“<br />

Ich schüttelte bedauernd den Kopf.<br />

„Nein, nur, was aus den Unterlagen hervor geht und das ist wenig genug. Aber das<br />

wisst ihr schon selber, sagte Jim.“<br />

Jack nickte.<br />

„Ja, wir haben vieles auf der Insel erfahren. Aber eben lange nicht alles. Weißt du<br />

denn, worum es bei unserem Auftrag geht?“<br />

Jim antwortete an meiner Stelle.<br />

„Ja, ich hab es ihr gesagt.“ Ich nickte zustimmend.<br />

„Richtig. Wir sollen diesen Daniel Faraday retten, verhindern, dass seine eigene<br />

Mutter ihn tötet.“<br />

Ich sah die anderen der Reihe nach an und fragte schließlich:<br />

„Warum soll er unbedingt gerettet werden?“<br />

Allgemeines Schulterzucken antwortete mir.<br />

„Okay, und warum wollen diese Typen, die hinter Jim her waren, das unbedingt ver-<br />

hindern wie es scheint?“<br />

Erneutes Schulterzucken.<br />

„Das ist eben unser Problem.“, erklärte Hurley. „Wir sollen immer etwas machen,<br />

immer ist es sehr wichtig und nie wissen wir, warum wir es machen sollen.“<br />

ich jetzt.<br />

„Was hat es denn mit diesem Benjamin Linus und Charles Widmore auf sich?“, fragte<br />

„Nun, Ben war zusammen mit seinem Vater als Kind bei der DHARMA Initiative.<br />

Bens Vater Roger war einfacher Arbeiter, Trinker und behandelte Ben schrecklich. Als Ben<br />

noch ein Junge war, 1977, waren wir, Sawyer, Jack, Juliet, Sayid, Miles, Jin, Hurley und ich<br />

dort. Frag nicht.“<br />

Kate grinste <strong>mich</strong> an.<br />

„Sayid versuchte, Ben zu Töten, um die Zukunft zu verändern. Fast hätte er es ge-<br />

schafft, aber wir konnten nicht zuschauen, wie ein unschuldiges Kind stirbt. Deswegen haben<br />

Sawyer und ich den Verletzten zu den ‟Anderen‟ gebracht. Wie es aussieht, haben diese schon<br />

immer auf der Insel gelebt. Sie waren Feinde der Dharmaisten, warum genau, haben wir nie<br />

erfahren. Aus irgendeinem Grund konnte Ben bei ihnen gerettet werden. Und wurde einer von<br />

ihnen, irgendwann auch ihr Anführer. Er war es auch, der später, im Dezember 1992, die<br />

gesamte DHARMA Initiative ausrotten ließ. Er leitete einen Giftgasangriff, bei dem so gut<br />

wie alle Dharmaisten getötet wurden. Widmore war als junger Mann ebenfalls auf der Insel<br />

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Frauke Feind<br />

und scheint aus uns unbekannten Gründen verbannt worden zu sein. Seither versucht er ver-<br />

zweifelt, die Insel wiederzufinden, um zurück zu kehren. Was genau Ben und Widmore im<br />

Schilde führen ...“<br />

Ich unterbrach Kates Erklärung:<br />

„Lass <strong>mich</strong> raten: Wisst ihr nicht.“<br />

Kate nickte.<br />

„Du sagst es.“<br />

7) <strong>Über</strong>fall!<br />

„Was wir wissen ist, dass Daniels Mutter, Eloise Hawking, hier in LA lebt und sie<br />

weiß auch, wie wir auf die Insel zurückkommen.“, warf Jack ein.<br />

„Ich habe in Grandpas Unterlagen irgendwas über eine Ellie gelesen, die könnte mit<br />

Eloise identisch sein, gib mir doch bitte mal den Hefter.“, bat ich Jack.<br />

Dieser reichte mir den Schnellhefter und ich begann hektisch, darin herum zu blättern.<br />

Nach kurzer Zeit hatte ich gefunden was ich suchte.<br />

„... stellte sich heraus, dass Ellie von Charly schwanger war.<br />

Sie brachte einen gesunden Jungen zur Welt, den sie Daniel taufte<br />

...“<br />

Verblüfft starrten alle zu mir hinüber.<br />

„Demnach könnte Charles Widmore Daniels Vater sein. Ich glaub nicht, dass es so<br />

viele Charlys bei den ‟Anderen‟ gab. Das ist ja der Hammer.“<br />

Jim sprach aus, was scheinbar alle dachten.<br />

„Und nun ergibt auch alles einen Sinn. Dann wird es der liebe Ben sein, der uns ver-<br />

folgt. Widmore war derjenige, der die Söldner auf die Insel schickte, die Alex gekillt haben.<br />

Und Ben wird sich rächen wollen, in dem er Widmores Kinder tötet. Er hat versucht, Penny<br />

umzubringen ...“<br />

fluss.<br />

„Wer sind Alex und Penny?“, fragte ich dazwischen und unterbrach damit Jacks Rede-<br />

„Alex ist die Tochter einer Französin, die irgendwann 1988 nach einem Schiffbruch<br />

mit einigen Wissenschaftlern auf der Insel landete. Danielle Rousseau war damals hoch-<br />

schwanger und brachte ihr Baby, Alexandra, Alex, alleine zur Welt. Ben stahl dieses Baby<br />

kurz nach seiner Geburt und zog es als seine eigene Tochter auf. Penny ist die Tochter von<br />

Charles Widmore und die Frau von Desmond.“<br />

Ich seufzte.<br />

„Und wer, um alles in der Welt, ist Desmond?“<br />

Jack schmunzelte.<br />

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Frauke Feind<br />

„Sind eine Menge Leute involviert, ich weiß. Desmond hat eine Weile auf der Insel<br />

gelebt, auch nach einem Schiffbruch, er war mit einem Segelboot zu einer Weltumsegelung<br />

aufgebrochen, und hat auf der Insel für die DHARMA Initiative gearbeitet. Er ist heute unter-<br />

getaucht, mit Penny und seinem Sohn Charly.“<br />

Ich nickte.<br />

„Okay, dann will dieser Ben verhindern, dass wir Daniel das Leben retten, um sich an<br />

Widmore dafür zu Rächen, dass der indirekt dafür gesorgt hat, dass Bens Ziehtochter um-<br />

gebracht wurde ...“<br />

Ich überlegte. Nachdenklich fragte ich:<br />

„Was aber hat es damit auf sich, dass wir Daniel unbedingt retten sollen? Unter<br />

welchen Umständen wurde er denn erschossen?“<br />

Kate erklärte:<br />

„Er war 1977 ebenfalls wieder auf der Insel und hatte die Idee, eine dort von US<br />

Truppen zurückgelassene Wasserstoffbombe hochgehen zu lassen. Er hatte die irre Vor-<br />

stellung, dass das all die späteren Ereignisse würde verhindern können, in dem nämlich durch<br />

die Explosion der Bombe diese seltsame Energiequelle, die die Zeitreisen scheinbar möglich<br />

macht, für immer zerstört. Er wollte Richard zwingen, ihn zu dem Versteck der Bombe zu<br />

bringen, drohte damit, Richard zu töten. Eloise kam darüber zu. Und sie drückte ab, um<br />

Richard zu retten.“<br />

Noch ein neuer Name. Fast verzweifelt fragte ich:<br />

„Und wer ist jetzt bitte dieser Richard?“<br />

Jin antwortete:<br />

„Richard Alpert ist ein sehr geheimnisvoller Mann. Er scheint so was wie das ewige<br />

Leben zu besitzen, denn er altert nicht. Ist wahr.“<br />

Er grinste über mein ungläubiges Gesicht.<br />

„Na, großartig. Zeitreisen, Unsterbliche, Killer, Wasserstoffbomben, ich bin nicht<br />

sicher, ob ich wirklich auf diese Insel möchte.“<br />

Jim lachte.<br />

„Kann dir keiner verübeln, wir wollen eigentlich alle nicht wieder da hin. Aber danach<br />

scheint es nicht zu gehen.“<br />

Unbewusst griff er nach meiner Hand und Kate bemerkte diese kleine Geste sehr<br />

wohl. Ihre Stirn zog sich in Falten und sie sagte:<br />

„Die Frage ist, wie wir da hin kommen und ob es uns gelingt, zu einem geeigneten<br />

Zeitpunkt anzukommen. Letztes Mal sind wir in 1977 gelandet, diesmal könnten wir im Jahre<br />

2598 oder auch in der Eisenzeit dort landen.“<br />

Jack nickte.<br />

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Frauke Feind<br />

„Unser Weg wird uns erneut zu Eloise führen. Sie wird uns vielleicht sagen können,<br />

was wir zu tun haben. Aber was machen wir mit Ben und seinen Leuten? Die werden weiter-<br />

hin alles versuchen, uns aufzuhalten.“<br />

Allgemeines Nicken antwortete Jack.<br />

„Wir werden aufpassen müssen und uns bedeckt halten. Keiner von uns sollte alleine<br />

unterwegs sein. Und wir müssen Eloise so bald wie möglich aufsuchen.“, erklärte Sayid mit<br />

ruhiger Stimme.<br />

„Wird das Beste sein, ja. Ihr beide bleibt bei uns, das ist klar. Und Hurley sollte bei dir<br />

bleiben, Sayid.“<br />

Jack hatte erst Jim und <strong>mich</strong> angeschaut, dann Hurley, der eifrig nickte.<br />

„Darauf kannst du Gift nehmen, Alter.“, erklärte er. „Ich werde ganz bestimmt nicht<br />

alleine rum latschen, wenn dieser Irre hinter uns her ist!“<br />

Jin sah seine Frau an.<br />

„Und wir werden versuchen, möglichst im Hotel zu bleiben.“<br />

Jack nickte.<br />

„Lasst keinen rein, bestellt nichts über den Zimmerservice und seid in diesem Fall<br />

wirklich misstrauisch gegen jeden. Wir alle kennen Ben und wissen, was er zu tun im Stande<br />

ist! Ich werde versuchen, mit Eloise Kontakt aufzunehmen. Sobald ich etwas weiß, gebe ich<br />

euch Bescheid.“<br />

Die Koreaner, Hurley und Jarrah erhoben sich und verabschiedeten sich von uns. Kate<br />

begleitete sie zur Tür und kam Minuten später wieder zu uns auf die Terrasse.<br />

„Wenn du zu Eloise willst, solltest du auch nicht alleine gehen, Jack.“, meinte sie be-<br />

sorgt. „Ben weiß von ihr und wird dort vielleicht auf uns warten.“<br />

Jack nickte.<br />

„Das ist richtig.“<br />

Er sah Jim an und fragte:<br />

„Fühlst du dich fit genug, uns auf die Insel zu begleiten?“<br />

Jim nickte.<br />

„Auf jedem Fall, Chef. Wir mussten unsere Waffen am Flughafen in Oklahoma City<br />

zurücklassen, wir werden uns also Neue besorgen müssen. Unbewaffnet werd ich bei dieser<br />

Sache sicher nicht mitmachen.“<br />

Kate nickte.<br />

„Sawyer hat Recht. Wir sollten uns dringend bewaffnen.“<br />

Jack überlegte. Ruhig erklärte er:<br />

„Gut, mein Vorschlag: Kate und ich machen uns auf die Socken, Waffen zu besorgen,<br />

ihr beide bleibt erst einmal hier, dann kannst du dich noch ausruhen. Wir sind in spätestens<br />

zwei Stunden wieder zurück.“<br />

Jim sah <strong>mich</strong> an und ich nickte.<br />

- 73 -


„Hört sich vernünftig an.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Haltet euch im Haus auf.“, meinte Jack und wir erhoben uns alle. „Gut, wir machen<br />

uns auf den Weg. Bleibt im Haus und ruht euch aus, es wird noch alles hart genug werden,<br />

denke ich.“<br />

Jim nickte.<br />

„Haltet die Augen offen.“, sagte er eindringlich.<br />

Kate und Jack machten sich auf den Weg und Jim und ich standen ein wenig un-<br />

schlüssig im Flur herum.<br />

„Womit vertreiben wir uns die Zeit?“, fragte ich grinsend.<br />

„Oh, ich wüsste da ne Beschäftigung, aber etwas sagt mir, dass du dagegen Einwände<br />

erheben würdest.“, meinte Jim mit einem anzüglichen Schmunzeln.<br />

Ich hätte gegen diese Art Beschäftigung keinerlei Einwände erhoben, aber das ver-<br />

schwieg ich selbstverständlich. Stattdessen sagte ich:<br />

„Wir könnten uns mit dem Haus vertraut machen, was meinst du? Oder warst du vor-<br />

her schon mal hier?“<br />

Er nickte, meinte aber:<br />

„Schon, aber nur für kurze Besuche. Du hast Recht, lass uns das Haus inspizieren,<br />

wohlmöglich gibt es Schwachstellen. Die sollten wir dann besser kennen. Ben ist mit allen<br />

Wassern gewaschen.“<br />

So machten wir uns zusammen daran, das Haus einer gründlichen Inspektion zu unter-<br />

ziehen. Im oberen Geschoss befand sich neben dem großzügigen Gästezimmer und dem Bad<br />

noch Jack und Kates Schlafzimmer, ebenfalls mit angeschlossenem Badezimmer. Ein<br />

Arbeitszimmer, in dem viele medizinische Bücher und Zeitschriften herum lagen und ein<br />

großzügiger Raum, der wohl als Kinderzimmer dienen sollte. Wir machten uns mit den<br />

Räumlichkeiten vertraut und marschierten zur Treppe zurück, um uns unten gründlich umzu-<br />

sehen. Als wir die Treppe zur Hälfte hinter uns hatten, gab Jim plötzlich ein überraschtes<br />

Keuchen von sich und taumelte kurz ein wenig. Blitzschnell legte ich ihm den Arm um die<br />

Taille und stützte ihn.<br />

„Was ist?“, fragte ich besorgt.<br />

Er hielt sich am Geländer fest und schnaufte genervt. Er atmete einige Male tief ein<br />

und aus und nickte schließlich.<br />

vorbei sein.“<br />

„Geht wieder. Mir war kurz ein bisschen komisch.“<br />

Ich sah ihn scharf an, aber er wirkte wieder normal und so ließ ich ihn los.<br />

„Das ist kein Grund zur Sorge, das war alles ein bisschen viel. Das wird schnell ganz<br />

Ich eilte die Treppe hinunter, gefolgt von Jim, der mir einen resignierten Blick hinter-<br />

her schickte. Unten sahen wir uns genauso gründlich um wie in der ersten Etage. Küche, Ess-<br />

- 74 -


By<br />

Frauke Feind<br />

zimmer, Wohnzimmer mit Zugang zur Terrasse, ein kleines Bad, Speisekammer, Flur und<br />

Zugang zum Keller.<br />

„Nach unten?“, fragte ich und Jim nickte.<br />

„Wenn schon, denn schon.“, grinste er.<br />

So stiegen wir auch noch in den Keller. Neben einem gut sortierten Weinregal war der<br />

Keller verhältnismäßig leer und sehr aufgeräumt. Man konnte ihn nicht von außen betreten<br />

und die Fenster waren vergittert, also waren wir relativ beruhigt, als wir wieder nach oben<br />

stiegen. Im Wohnzimmer ließen wir uns auf das Sofa sinken und sahen gedankenverloren auf<br />

die Terrasse und den kleinen, gepflegten Garten hinaus. Mir erschien hier alles eng und klein.<br />

Ich hatte mir vor drei Jahren in Wright ein Haus gekauft, dort war der Garten groß und frei,<br />

ich hatte keine direkten Nachbarn. Hier waren die Nachbarhäuser schon mit einem Ballwurf<br />

zu erreichen und der Garten wirkte im Vergleich zu meinem nicht größer als ein Handtuch.<br />

„Ich bin froh, dass ich hier nicht leben muss. Ich würde verrückt werden, <strong>mich</strong> würde das hier<br />

erdrücken.“<br />

Jim nickte.<br />

„Geht mir ähnlich. Ich komm aus Jasper, Alabama, <strong>mich</strong> würd das hier auch auf Dauer<br />

erdrücken. Jasper ist ein Kaff, zwar etwas größer als Wright, aber trotzdem ein Kaff.“<br />

Ich sah ihn an.<br />

„Da hast du aber nicht die ganze Zeit gelebt, oder? Dein Akzent deutet zwar auf die<br />

Appalachen hin, aber du wirkst nicht so, als hättest du dein Leben in einem Kaff verbracht.“<br />

„Nein, ich bin mit siebzehn weg von meinen Großeltern mütterlicherseits in<br />

Tennessee, bei denen ich gelebt hab nach dem Tod des Bruders meines Vaters. Er hatte <strong>mich</strong><br />

nach der Sache mit meiner Eltern bei sich aufgenommen, starb aber, als ich fünfzehn war, an<br />

nem Hirntumor. Bei Grandpa und Grandma hab ich es nicht mehr ausgehalten. Jeder zweite<br />

Satz bei ihnen war: Du hast Warrens Augen, du siehst dem Mörder unserer Mary so ähnlich ...<br />

Ich hab„s nicht mehr ausgehalten und bin mit 17 weg. Ich bin durch die Staaten getingelt.<br />

Richtig gelebt hab ich eigentlich nirgends. Hier mal ein paar Monate, da mal ein paar Monate,<br />

ich bin viel rum gekommen. Auf der Insel hab ich <strong>mich</strong> wirklich insgesamt fast am längsten<br />

aufgehalten.“<br />

Ich war ein wenig neugierig und fragte:<br />

„Erzähl doch mal, wo warst du so?“<br />

Er prustete leise. <strong>Über</strong>legend zählte er auf:<br />

„Hm, eine Reise quer durch die Staaten. Von Jasper aus bin ich nach Green Bay,<br />

Wisconsin, gezogen. Dann war ich ne ganze Weile in Macon, Georgia.“<br />

Er überlegte konzentriert, fuhr fort:<br />

„Kurze Zeit hab ich in Billings, Montana, gewohnt, dann wieder zurück in die Süd-<br />

staaten, nach Winston, North Carolina. Am längsten hab ich noch in Tuscaloosa, Alabama,<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

gewohnt. Fast vierundzwanzig Monate. Ach, und ne Weile hab ich es sogar in Florida ver-<br />

sucht, in Tampa.“<br />

Ich hatte interessiert zugehört und grinste.<br />

„Dass du die meiste Zeit in den Südstaaten verbracht hast, kann man nicht überhören.<br />

Du klingst wie ein richtiger Hillbilly.“<br />

Jim lachte.<br />

„Hillbilly? Ich helf dir gleich. Hillbilly!“<br />

Er tat empört und verzog beleidigt das Gesicht. Dann aber fragte er:<br />

„Und wie sieht es bei dir aus?“<br />

„Tja, ich wurde offensichtlich nicht in Lynchburg, sondern auf eurer Lieblingsinsel<br />

geboren, aber meine Stiefmutter lebte dort viele Jahre mit mir. Dann bin ich nach New York<br />

gegangen und habe an der Columbia acht Semester Medizin studiert, aber abgebrochen, weil<br />

meine Stiefmutter schwer erkrankte. Sie war umgezogen nach Washington und ich zog zu ihr<br />

zurück. Ein halbes Jahr später starb sie an Krebs und ich ging ans Bethesda, machte dort in<br />

der Notaufnahme mein Examen. Und von dort bin ich direkt zu Grandpa nach Wright<br />

zurück.“<br />

„Deine Stiefmutter ist tot? Das tut mir leid. Aber vielleicht lebt dein Vater ja tatsäch-<br />

lich noch? Dein Grandpa deutete so was ja in seinen Brief an.“<br />

Ich seufzte.<br />

„Naja, andeuten ist wohl ein wenig übertrieben, er meinte lediglich, es könnte sein.<br />

Das würde doch aber wohl bedeuten, dass er bei den ‟Anderen‟ sein müsste, denn die<br />

Dharmaisten leben ja nicht mehr.“<br />

Jim nickte.<br />

„Wie heißt dein Vater denn?“ fragte er.<br />

„Ken, Ken Hanso. Meine Stiefmutter hat nach der Trennung wieder ihren Mädchen-<br />

namen angenommen.“<br />

Jim schüttelte den Kopf.<br />

„Nie gehört, aber ich kenn auch die wenigsten der ‟Anderen‟. Es wäre durchaus mög-<br />

lich, dass er noch am Leben ist.“<br />

Ich nickte.<br />

„Na, mit ein wenig Glück werde ich es erfahren.“<br />

Jim sah <strong>mich</strong> an und sagte ernst:<br />

„Kelly, es gibt da noch was, dass du wissen musst. Als es damals mit der Zapperei<br />

durch die Zeit los ging, wurden wir alle krank. Es fing mit Nasenbluten und heftigen Kopf-<br />

schmerzen an und schließlich starb eine von uns, Daniel meinte, an einem Hirnaneurysma,<br />

ausgelöst durch das hin und her gespringe durch die Zeit. Wir anderen erholten uns, als das<br />

aufhörte. Und ...“ Er machte eine Pause, suchte ganz offensichtlich nach Worten.<br />

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Frauke Feind<br />

„... es gibt auf der Insel ... etwas, die Dharmaleute nannten es Sicherheitssystem, wir<br />

haben es Monster genannt. Ich kann dir nicht erklären, was es ist. Wir haben es am ersten<br />

Abend nach dem Absturz das erste Mal ... gehört und haben damals gesehen, zu was es fähig<br />

ist. Es war ein Höllenkrach und etwas raste durch den Dschungel und riss Bäume aus wie<br />

Spielzeug und ...“ Wieder machte er eine Pause und fuhr endlich fort:<br />

„Dieses Ding, es erscheint wie ne riesige, schwarze Rauchsäule, die ihre Form be-<br />

liebig verändern kann, kann Menschen töten. Ben hat es ne Weile scheinbar kontrolliert, er<br />

hat es auf die Söldner losgelassen, nachdem sie Alex getötet hatten. Kelly, ich hab erlebt, was<br />

dieses Etwas anrichten kann! Es hat die Söldner regelrecht in Stücke gerissen. Und nicht nur<br />

die, es hat ne ganze Menge Leute getötet.“<br />

Mir rieselte eine Gänsehaut über den Rücken.<br />

„Großer Gott. Das macht es mir doch gleich leichter, darüber nachzudenken, auf diese<br />

Insel zu gehen.“, keuchte ich erschrocken.<br />

genommen.“<br />

Jim seufzte.<br />

„Keiner von uns will da wieder hin. Aber ich fürchte, da wird keine Rücksicht drauf<br />

Ich schüttelte den Kopf. Leise fragte ich:<br />

„Magst du ein wenig von euren Anfängen nach dem Crash erzählen?“<br />

Einen Moment starrte Jim gedankenverloren aus dem Fenster, dann nickte er.<br />

„Klar.“<br />

Er berichtete von den ersten Tagen, der Suche nach Nahrung und Wasser, Sayids Ver-<br />

suchen, mittels des Flugzeugtranseivers Funkkontakt zur Außenwelt herzustellen und erzählte<br />

von einem in einer Dauerschleife ausgesendeten Notruf der Französin, der dabei entdeckt<br />

wurde. Er grinste frustriert.<br />

„Als Captain Falafel ausrechnete, dass dieser Notruf schon seit mehr als sechzehn<br />

Jahren ausgesendet wurde, sank die Stimmung unter null.“<br />

„Kann ich mir vorstellen.“, seufzte ich.<br />

Er erzählte auch von einer Episode, die mir heftige Wut verursachte. Es ging um eine<br />

junge Frau und ihren Bruder, die inzwischen beide tot waren. Die junge Frau, Shannon, litt an<br />

Asthma. Jim hatte aus dem Gepäck der Beiden ein Buch angespült am Strand gefunden,<br />

‟Watership down‟, es getrocknet und darin gelesen. Shannon bekam irgendwann einen<br />

Asthmaanfall und ihr jüngerer Bruder Boone beschuldigte Jim, ihr Gepäck, folglich auch das<br />

Asthmaspray gefunden zu haben.<br />

Keiner hielt es damals offensichtlich für nötig, Jim einfach mal zu fragen, alle be-<br />

schuldigten ihn sofort, das Spray versteckt zu halten und es nicht rausrücken zu wollen. Stur<br />

wie er war, und nachdem Mord in Sydney in dem festen Glauben, es nicht besser zu ver-<br />

dienen, klärte er den Irrtum auch nicht auf und am Ende wurde er von Jack und Sayid über-<br />

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Frauke Feind<br />

wältigt, in den Wald geschleppt und dort folterte Sayid ihn. Als er schließlich wutentbrannt<br />

drohte, Jim ein Auge auszustechen, musste dieser endlich nachgeben. Er erklärte, nur Kate<br />

verraten zu wollen, wo das Spray war. So waren Jack und Sayid gezwungen, Kate zu holen.<br />

Jim grinste.<br />

„Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, einen Kuss von ihr zu bekommen und erklärte ihr,<br />

dass ich ihr sagen würde, wo das Spray ist, wenn ich dafür den geforderten Kuss bekomme.<br />

Sie gab schließlich nach und so kam ich zu meinem ersten Kuss von ihr. Dann sagte ich ihr<br />

endlich, dass ich das dämliche Spray nie gehabt hatte, ich hatte wirklich nur das verdammte<br />

Buch gefunden, nichts weiter. Man, war die wütend.“<br />

Ich schüttelte verständnislos den Kopf.<br />

„Du hast ja einen Knall! Hat es sich wenigstens gelohnt?“<br />

Jim grinste.<br />

„Und wie. Kate stapfte wütend zu Saint Jack und Abdul zurück, die mir natürlich kein<br />

verdammtes Wort glaubten. Sie kamen zu mir zurück, aber ich hatte es inzwischen geschafft,<br />

<strong>mich</strong> von dem Baum, an den sie <strong>mich</strong> gefesselt hatten, zu befreien. Sayid ging auf <strong>mich</strong> los<br />

und es gab ne fröhliche Prügelei, in deren Verlauf er mir sein Messer, mit dem er herum-<br />

gespielt hatte, versehentlich in den rechten Oberarm rammte. Dass er dabei auch noch ne<br />

Arterie traf, war Pech. Jacko und Freckles blieben bei mir, Sayid rannte zum Lager, um Jacks<br />

Koffer zu holen. Ich war damals wirklich heftig drauf, weißt du, der Mord in Sydney hatte<br />

<strong>mich</strong> ziemlich fertig gemacht. Während Jack sich verzweifelt bemühte, die Blutung zu<br />

stoppen, in dem er die Arterie abdrücke, hab ich ihn angepflaumt, endlich loszulassen, dann<br />

hätten wir es alle hinter uns. Heute bin ich froh, dass er es nicht getan hat, sonst hätte ich<br />

keine Gelegenheit mehr gehabt, die beste Krankenschwester in ganz Amerika kennen zu<br />

lernen.“<br />

den Kopf.<br />

Ich hatte ziemlich fassungslos seinen Worten gelauscht und schüttelte immer wieder<br />

„Das ist ja alles nicht zu glauben! Es ist ein Wunder, dass ihr noch lebt, so, wie es da<br />

zugegangen zu sein scheint.“<br />

Jim nickte.<br />

„Kann man sagen. War mehr als einmal wirklich hart an der Grenze. Einige von uns<br />

können sich freuen, dass Jack dabei war.“<br />

Er stand auf, strecke sich erst einmal ächzend und fragte:<br />

„Willst du auch was zu Trinken?“<br />

Ich nickte.<br />

„Gerne, ob die Bier im Kühlschrank haben?“<br />

Jim lachte.<br />

„Wird sofort kontrolliert.“<br />

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Frauke Feind<br />

Er verschwand in die Küche und ich hing meinen Gedanken nach. Sayid. Ich glaubte<br />

nicht, dass ich ihn je mögen würde. Und Jack? Was für ein Arzt war er denn, dass er Folter<br />

unterstützt hatte? Das musste dort teilweise zugegangen sein wie bei ‟Herr der Fliegen‟! Ich<br />

schüttelte <strong>mich</strong> und vor meinem geistigen Auge formte sich ein Bild, Jim, am Boden liegend,<br />

in einer beständig größer werdenden Blutlache ... Ärgerlich verdrängte ich das Bild und sah<br />

stattdessen den realen Jim zur Tür hereinkommen, zwei Flaschen Bier in der Hand. Er hielt<br />

mir eine Flasche entgegen und ich nahm sie ihm dankbar ab. Wir öffneten die Flaschen und<br />

stießen an.<br />

„Auf nen netten Urlaub auf ner netten Insel ...“, meinte Jim grinsend.<br />

Kurze Zeit später kamen Kate und Jack zurück. Erleichtert setzten sie sich zu uns.<br />

„Alles erledigt. Hier sind die Waffen.“<br />

Kate drückte Jim eine Tüte mit einem schweren Karton in die Hand. Sie selbst packte<br />

einen weiteren Karton aus. Zwei halb automatische Glock 19 kamen zum Vorschein, genau<br />

wie in dem Karton, den Jim gerade öffnete. In einer weiteren Tüte hatte Jack zehn Päckchen<br />

mit je 10 33/9 mm Patronenmagazinen.<br />

„Damit sollten wir wohl ne Weile auskommen.“, meinte Jim trocken.<br />

„Allerdings. Wir wollen ja nicht in den Krieg ziehen.“<br />

„Und, habt ihr unterwegs was von Verfolgern gemerkt?“<br />

Jack schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, aber das heißt nicht, dass sie nicht da sind.“<br />

Er erhob sich. „Ich werde versuchen, Eloise zu erreichen.“<br />

Er verschwand nach oben und wir saßen mit Kate alleine da. Schon nach wenigen<br />

Minuten kam Jack zurück und erklärte:<br />

„Wir sollen um 22 Uhr bei ihr sein.“<br />

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr und stellte fest, dass es kurz nach 16.30<br />

Uhr war. Jim fragte:<br />

„Wann müssen wir los?“<br />

Kate erwiderte:<br />

„Spätestens um 21.30 Uhr, ist eine Ecke zu Fahren.“<br />

Jim überlegte kurz und meinte nachdenklich:<br />

„Wisst ihr, ich denk, ich hau <strong>mich</strong> dann mal ne Stunde aufs Ohr. Wird mir bestimmt<br />

nicht schaden.“<br />

Er stand auf und ich erklärte:<br />

„Das ist eine gute Idee. Nutz es aus, das wir noch ein wenig Ruhe haben, bevor der<br />

Sturm losgeht.“<br />

Er nickte und verließ das Wohnzimmer.<br />

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Frauke Feind<br />

************<br />

Um kurz vor 21 Uhr ging ich nach oben, um Jim zu wecken. Ich hatte <strong>mich</strong> mit Jack<br />

und Kate unterhalten, noch eine ganze Menge über die Insel erfahren und sie hatten mir<br />

erzählt, dass sie alle von Oceanic Airways eine ziemlich große Entschädigung bekommen<br />

hatten. Kate hatte mir bedrückt von Aaron erzählt, dem Sohn Claires, die eines Tages einfach<br />

verschwunden war, ohne eine Spur, ohne ein Wort. Kate hatte sich des Babys angenommen<br />

und es erst kurz vor der ersten Rückreise auf die Insel an Claires Mutter übergeben. Sie hatte<br />

Tränen in den Augen, als sie von dem kleinen Jungen erzählte. Inzwischen hatten Jack und<br />

Kate auch noch erfahren, dass diese Claire Jacks Halbschwester war, entstanden bei einem<br />

Seitensprung Christian Shepards, Jacks Vaters. Daran dachte ich, als ich in unser Zimmer trat.<br />

Jim lag zusammen gerollt auf dem Bett und schlief noch tief. Einen Moment nahm ich mir<br />

Zeit, ihn einfach zu beobachten. Ein wenig bedrückt seufzte ich leise und setzte <strong>mich</strong> vor-<br />

sichtig auf das Bett. Einige Haarsträhnen waren ihm ins Gesicht gefallen und ich hob zögernd<br />

die Hand, um sie ihm sanft zur Seite zu streichen. Er seufzte leise und öffnete die Augen. Als<br />

er sah, dass ich bei ihm saß, huschte ein Lächeln über sein Gesicht.<br />

liebevoll.<br />

„Hey, du Schlafmütze, es wird mal langsam Zeit, wir wollen bald los.“, sagte ich<br />

„Schon?“, murmelte er verschlafen und rollte sich auf den Rücken.<br />

Ich schmunzelte.<br />

„Was heißt schon? Du hast vier Stunden geschlafen.“<br />

Er grinste frech.<br />

„Na und? Ich bin schließlich krank, schwach und blutarm.“<br />

„So siehst du aus, meine Lieber.“, konterte ich und stand auf, was von Jim mit einem<br />

enttäuschten Blick quittiert wurde.<br />

Er stemmte sich ächzend hoch, hielt sich kurz den Rücken und streckte sich. Etwas<br />

steif stiefelte er ins Bad. Minuten später kam er deutlich frischer zurück und erklärte taten-<br />

durstig: <br />

kommen.“<br />

„So, dann wolln wir mal sehen, dass wir Tickets für die Reise in die Hölle be-<br />

Zusammen gingen wir nach unten und Kate reichte Jim eine Tasse Kaffee und zwei<br />

Sandwichs, die sie ihm inzwischen zubereitet hatte. Hastig aß er sie auf. Anschließend griffen<br />

wir uns die Glocks und stopften jeder zwei Magazine in die Jeanstaschen. Die Waffen ver-<br />

stauten wir auf dem Rücken im Hosenbund. Mich erschreckte dabei die Selbstverständlich-<br />

keit, mit der Kate, Jack und Jim die Waffen mit sich nahmen. Mir erschien meine eigene<br />

Glock wie ein unangenehmer Fremdkörper. Schließlich verließen wir das Haus und stiegen in<br />

Jacks alten Geländewagen.<br />

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Frauke Feind<br />

„Was ist mit den Anderen?“, wollte Jim wissen.<br />

„Die werden auch zur Kirche kommen.“, antwortete Jack.<br />

Schweigend und die Straße hinter uns im Auge behaltend fuhren wir durch die nächt-<br />

lichen Straßen LA‟s und gegen viertel vor 10 Uhr erreichten wir eine Kirche, die etwas<br />

abseits der Häuser in einem kleinen Park stand. Jack stoppte den Wagen in einiger Entfernung<br />

und wir stiegen aus. Uns sichernd umschauend machten wir uns auf den Weg zum Kirchen-<br />

gelände. Jeder von uns hatte unwillkürlich die Hand auf dem Rücken am Griff der Waffe.<br />

Langsam und vorsichtig näherten wir uns der Kirche und sahen jetzt Jin, Sun, Sayid und<br />

Hurley im Schatten vor uns auftauchen. Sayid begrüßte uns ruhig.<br />

„Da seid ihr ja. Dann sollten wir ...“<br />

Weiter kam er nicht, denn plötzlich kamen aus dem Gebüsch links von uns dumpfe<br />

Schüsse, ganz offensichtlich aus Waffen mit Schalldämpfern!<br />

„Deckung!“, brüllte Sayid überflüssigerweise und wir spritzten auseinander.<br />

Hurley und Sun erreichten die Kirchentür und verschwanden nach drinnen, Jack warf<br />

sich hinter einen Pfeiler, Kate und Jin hechteten hinter eine kleine Mauer, die die Kirche um-<br />

gab. Sayid riss <strong>mich</strong> hinter ein geparktes Auto in Deckung und Jim rannte los, um sich etwas<br />

weiter rechts hinter einem Müllcontainer in Sicherheit zu bringen.<br />

Wir hatten alle unsere Waffen heraus gerissen, konnten aber in der Dunkelheit kein<br />

Ziel ausmachen. Sayid sah zu Jim hinüber und deutete ihm an, sich weiter nach rechts zu<br />

schleichen, in der Hoffnung, die Schützen, die uns unter Feuer nahmen, ein wenig zu um-<br />

gehen. Sayid selbst sah sich weiter links nach Deckungsmöglichkeiten um und entdeckte<br />

einen großen Gedenkstein, vielleicht zwanzig Meter entfernt. Zugleich mit Jim rannte er los<br />

und wieder war das dumpfe Ploppen von schallgedämpften Schüssen zu hören. Aus schreck-<br />

geweiteten Augen beobachtete ich Jim, der so schnell er konnte in Richtung einer riesigen<br />

Eiche ein Stück weiter rechts rannte. Kurz bevor er den Baum erreichte passierte es. Jack,<br />

Kate und ich hatten wahllos ein paar Schüsse in Richtung des Gebüsches, aus dem wir unter<br />

Feuer genommen wurden, abgegeben, um Jim und Sayid Deckung zu geben. Geholfen hatte<br />

es nicht. Sayid erreichte sein Ziel, Jim jedoch wurde wenige Schritte vom Baum entfernt<br />

plötzlich wie von einer Faust getroffen herum gerissen und stürzte zu Boden. Entsetzt schrie<br />

ich auf.<br />

„JIM! NEIN!“ und schoss aus meiner Deckung hoch.<br />

Ohne auf die Kugeln zu achten, die mir folgten, rannte ich panisch los und erreichte<br />

Jim in Rekordzeit. Vollkommen aufgelöst drehte ich ihn herum und hätte vor Erleichterung<br />

fast erneut aufgeschrien, diesmal triumphierend. Er hatte lediglich einen Streifschuss an der<br />

Schläfe abbekommen, der ihn zwar sofort ausgeknockt hatte, jedoch nicht weiter gefährlich<br />

war. Ich packte ihn unter den Achseln und schleppte ihn die letzten Schritte bis zum Baum.<br />

Dort sackte ich zitternd zu Boden und gab den Anderen mit erhobenem Daumen das Zeichen,<br />

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Frauke Feind<br />

dass alles in Ordnung war. Ich lehnte <strong>mich</strong> mit dem Rücken an den Baum und zog Jims Ober-<br />

körper an <strong>mich</strong>. Schützend hielt ich ihn in meinen Armen und mir kullerten Tränen der Er-<br />

leichterung über die Wangen. Mit einer Hand wühlte ich in meiner Jeans herum und bekam<br />

ein Taschentuch zu fassen, dass ich vorsichtig auf die blutende Schramme an Jims Stirn<br />

pressen. Er kam bereits wieder zu sich und fluchte ungehalten.<br />

fragte er:<br />

„Verdammter Scheiß!“<br />

Plötzlich aber merkte er, dass er in meinen Armen lag und sah zu mir auf. Ungehalten<br />

„Was machst du hier? Bist du verrückt geworden? Warum bist du nicht in Deckung<br />

geblieben, verdammt noch mal!“<br />

Ich schniefte und erklärte:<br />

„Was glaubst du denn, warum? Du bist getroffen worden.“<br />

„Na und? Das ist doch noch lange kein Grund, in einem Kugelhagel loszurennen!“<br />

Ich lachte leise und etwas hysterisch.<br />

„Na, wenn das kein Grund ist, was dann?“, fragte ich.<br />

Jim richtete sich vorsichtig auf und kniete sich hin. Er spähte ins Gebüsch, konnte aber<br />

nichts erkennen. In diesem Moment hörten wir plötzlich zwei Autos starten und eilig davon<br />

Fahren. Vorsichtig und fluchtbereit standen wir auf und traten aus unseren Deckungen hervor.<br />

Nichts passierte.<br />

Sayid rief: „Sie sind weg, abgehauen.“<br />

Mir zitterten plötzlich die Knie und Jim merkte das sofort. Er legte mir einen Arm um<br />

die Taille und führte <strong>mich</strong> zu den Anderen zurück. Besorgt wurde Jim gefragt:<br />

darauf.<br />

„Alles in Ordnung, Sawyer?“<br />

Er nickte.<br />

„Kein Problem, nur n Streifschuss, blutet nicht mal mehr.“<br />

Er deutete auf die Schramme an seiner Stirn und Jack warf einen prüfenden Blick<br />

„Ja, ist nicht schlimm, du hast mehr Glück als Verstand gehabt!“<br />

Aus der Kirche kamen Hurley und Sun, gefolgt von einer sehr eleganten, älteren,<br />

weißhaarigen Frau um die sechzig. Sun fiel ihrem Mann um den Hals und fragte aufgeregt:<br />

„Ist alles in Ordnung?“<br />

Jin nickte.<br />

„Ja, mach dir keine Sorgen.“<br />

Sayid meinte ruhig:<br />

„Lasst uns rein gehen. Demnächst wird die Polizei aufkreuzen, dann sollten wir nicht<br />

hier herumstehen.“<br />

Zustimmend nickten wir und betraten zusammen die Kirche.<br />

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Frauke Feind<br />

8) Eloise<br />

Als die schwere Tür hinter uns zufiel und von der Frau verriegelt wurde, atmeten wir<br />

alle auf. Sie sah uns an und fragte gelassen:<br />

„Sind alle in Ordnung?“<br />

Jack antwortete für uns alle.<br />

„Bis auf eine kleine Schramme ja.“<br />

Sie warf Jim einen fragenden Blick zu und dieser schnaufte.<br />

„Es ist wirklich nur ne Schramme.“<br />

Dass er immer noch den Arm um <strong>mich</strong> gelegt hatte, schien er gar nicht zu merken.<br />

Erst, als Kate ihm einen fragenden Blick zuwarf, schien er dessen bewusst zu werden und ließ<br />

<strong>mich</strong> los. Ich hätte Kate in diesem Moment treten mögen. Eloise unterbrach uns und erklärte:<br />

„Wir sollten ins Labor gehen, in Kürze wird es hier von Polizei wimmeln.“<br />

Sie musterte uns noch einmal prüfend, ihr Blick blieb kurz an mir hängen, dann drehte<br />

sie sich herum und wir marschierten hinter ihr her zu einer versteckten Tür in einer Wand-<br />

nische. Mittels eines kleinen Hebels, der durch ein schweres Brokattuch verborgen war,<br />

öffnete Eloise Hawking diese Tür und ging uns voran eine steile, alte Wendeltreppe hinunter.<br />

Es ging ziemlich tief hinab und ich frage <strong>mich</strong> schon, wie tief es noch gehen würde, als wir<br />

das Ende der Treppe erreichten. Durch einen langen Gang führte Eloise uns zu einer weiteren<br />

Tür, auf der ein seltsames Emblem zu erkennen war. Sie drehte ein Stahlrad und stieß die Tür<br />

energisch auf. Was hinter der Tür lag, war unbeschreiblich!<br />

In der Mitte des runden, großen Raumes schwang ein riesiges Pendel an einem sehr<br />

stabilen Faden aus einem Loch in der Decke hin und her. Es bewegte sich über eine Weltkarte<br />

und hinterließ bei jedem Schwung hauchfeine Linien auf dieser<br />

Karte. An den Wänden des Raumes erkannten wir ver-<br />

schiedene Computer, die vor sich hin tickten und irgendwelche<br />

Berechnungen anstellten. Eine Tafel an der Wand war mit<br />

Symbolen und Zahlen vollgeschrieben. <strong>Über</strong>all blinkten<br />

irgendwelche kleine Lämpchen an den veralteten Computern. Verwirrt sahen wir uns um.<br />

Jack und Sun waren schon einmal hier gewesen, sie konnten sich aber der Faszination dieses<br />

seltsamen Raumes auch nicht entziehen. Wir sahen uns um und Jim fragte fassungslos:<br />

„Was ist das hier?“<br />

Eloise lächelte milde.<br />

„Die DHARMA Initiative nannte es den Laternenmast. Von diesem Raum aus haben<br />

sie 1971 die Insel entdeckt. Er wurde vor vielen Jahren über einem einzigartigen Kessel<br />

elektromagnetischer Energie errichtet. Es gibt auf der ganzen Welt verteilt viele solcher<br />

Kessel, die durch die pure Energie miteinander verbunden sind. Die DHARMA Initiative<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

jedoch war bei der Errichtung dieses Raumes nur an einem dieser Energiefelder interessiert:<br />

<strong>Der</strong> Insel. Sie sammelten lange Beweise für ihre Existenz und erfuhren so, dass sie irgendwo<br />

da draußen ist, fanden aber nicht heraus, wo.“<br />

klärung fort.<br />

Eloise deutete auf die große Weltkarte zu unseren Füßen. Nun fuhr sie mit ihrer Er-<br />

„Schließlich erbaute ein sehr kluger Kopf dieses Pendel. Seine zugegeben sehr<br />

spekulative Idee war, dass die DHARMA Initiative aufhören sollte, danach zu suchen, wo die<br />

Insel war, vielmehr suchen sollte, wo sie als nächstes sein würde.“<br />

Ich sah die Frau an und fragte skeptisch:<br />

„Was meinen Sie damit, wo sie sein würde?“<br />

Eloise lächelte sanft.<br />

„Nun, dieser Bursche vermutete, zu Recht, wie sich herausstellte, dass die Insel<br />

ständig in Bewegung ist. Ihr wisst inzwischen, dass das der Grund ist, warum ihr nie gerettet<br />

wurdet. Es schien, als wären die Bewegungen der Insel zufällig. Aber dieser Mann und sein<br />

Team stellten eine Reihe von Gleichungen auf, die uns mit einem hohen Grad an Wahrschein-<br />

lichkeit sagen, wo die Insel sich zu einem bestimmten Punkt der Zeit befinden wird.“<br />

Jack und Sun, die das alles schon einmal erklärt bekommen hatten, lauschten dennoch<br />

ebenso fasziniert wie wir Anderen, die die Erklärung zum ersten Mal hörten. Eloise redete<br />

weiter.<br />

„Man kann es mit Fenstern vergleichen, die während sie offen sind, die Route ver-<br />

raten. Leider sind diese Fenster immer nur für kurze Zeit offen. Euer Fenster schließt sich<br />

bereits in 28 Stunden.“<br />

Sie drückte Jack einen Ordner in die Hand und er sagte leise:<br />

„Déjà-vu.“<br />

Eloise nickte.<br />

„Ja, ich habe dir einen ähnlichen Ordner schon einmal überreicht. Auch dieses Mal<br />

enthält er alle Flugstrecken, die über die Koordinaten gehen, von denen ich glaube, dass die<br />

Insel sich auf ihnen aufhalten wird, in etwas mehr als einem Tag von jetzt an. Es gibt einen<br />

Flug, wieder von hier aus, von LA, der direkt über euer Fenster geht. Ihr müsst an Bord sein,<br />

wenn die Maschine startet. Alle!“<br />

Sie sah uns der Reihe nach an. Dann erklärte sie ruhig:<br />

„Ich bin nicht sicher, ob ihr alle auf der Insel ankommen werdet. Die Insel wird<br />

gleichsam selbst entscheiden, wer benötigt wird und wer nicht.“<br />

Allgemeines Erschrecken antwortete ihr auf diese Worte.<br />

„Was soll das heißen?“, fragte Jim hitzig.<br />

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Frauke Feind<br />

„Das, was ich sagte. Nicht alle werden für die Aufgabe benötigt. Diejenigen von euch,<br />

die die Insel aussucht, werden erneut einen Absturz erleben. Alle anderen werden ganz<br />

normal an ihrem Ziel landen.“<br />

Kate klammerte sich unwillkürlich an Jack und ich hatte ebenfalls das wilde Ver-<br />

langen, <strong>mich</strong> an Jim zu klammern. Sun und Jin schlossen sich ebenfalls in die Arme. Sayid<br />

fragte jetzt angespannt:<br />

weg?“<br />

„Was passiert mir denen, die auf die Insel gelangen? Wie kommen sie dort wieder<br />

Eloise sah Sayid eindringlich an. Sie erklärte:<br />

„Um dort wieder weg zu kommen, müsst ihr meinen Sohn um jeden Preis retten! Er<br />

weiß, wie ihr zurückkehren könnt. Falls ihr es wollt.“<br />

Wir sahen uns an und nickten. Jack seufzte.<br />

„Gut. Es ist also ein ziemliches Himmelfahrtskommando. Gesetzt den Fall, wir<br />

schaffen das unmöglich und retten Daniel das Leben, was genau soll er dort machen?“<br />

hindern.“<br />

Eloise sah ernst aus.<br />

„Er wird verhindern müssen, dass Jacob getötet wird. Nur er allein kann das ver-<br />

Verständnislos starrten wir Eloise an.<br />

„Wer ist Jacob?“<br />

Kühl erwiderte Eloise:<br />

„Das braucht euch nicht zu interessieren. Wenn ihr Daniel gerettet habt, müsst ihr ihm<br />

klar machen, dass die Zündung der Bombe außer sehr vieler Toter nichts bringen wird. Die<br />

Energiequelle kann man weder zerstören noch für immer verbergen. Ihr müsst ihn mitnehmen<br />

in die Gegenwart. Dort hält sich zu dem Zeitpunkt John Locke auf. Dieser will Jacob töten.<br />

Das muss unbedingt verhindert werden! Eigentlich gibt es keine Möglichkeit, Jacob zu töten,<br />

aber Locke ist etwas besonderes, er mag einen Weg finden.“<br />

Die vornehme Frau wandte sich jetzt direkt an <strong>mich</strong>.<br />

„Du bist die Enkelin von Tim?“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, obwohl ich ihn nicht unter diesem Namen kannte.“<br />

Eloise lächelte wehmütig.<br />

„Tim ist der Vater Daniels. Charles war überzeugt, dass er Daniels Vater ist, aber das<br />

stimmt nicht. Ich habe ihn ein einziges Mal betrogen und wurde schwanger. Daniel ist das<br />

Resultat dieser Verfehlung. Er weiß es nicht und wird es auch nie erfahren. Kurz nach dem<br />

Fehltritt verließ Tim die Insel für immer, zusammen mit seinem Schwiegersohn, deinem<br />

Vater, und mit seiner Enkelin. Dir. Ich habe sehr viel später erfahren, dass dein Vater später<br />

erneut zur Insel gebracht wurde. Von Tim habe ich nie wieder etwas gehört. Er wusste nicht,<br />

dass ich schwanger war, daher ist es kein Wunder, dass er sich nie wieder meldete.“<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Dass Daniel doch nicht Widmores Sohn war, war für uns alle eine <strong>Über</strong>raschung.<br />

Eloise schwieg einen Moment. Schließlich erklärte sie besorgt:<br />

„Es gib ein Problem bei allem. Ich habe nicht wirklich die Kontrolle darüber, wann ihr<br />

auf der Insel landen werdet. Wenn ihr in der Gegenwart oder zu einem Zeitpunkt nach<br />

Daniels Tod dort ankommt, wird es schwierig. Aber nicht unmöglich. Du, Kelly, bist im<br />

Stande, einen gezielten Zeitsprung in die Wege zu leiten. Ihr müsst zur Orchidee gehen. Dort<br />

ist das Rad, welches die Zeitsprünge ermöglicht. Ihr wisst bereits aus Erfahrung, dass ihr nicht<br />

unbegrenzt in der Zeit herum reisen könnt. Das menschliche Gehirn ist dafür zu empfindlich.<br />

Ihr habt gemerkt, was geschieht, wenn man den Zeitsprüngen zu lange ausgesetzt ist. Gut. Ihr<br />

müsst wie gesagt zur Orchidee Station gehen. Dort werdet ihr mit ein wenig Glück deinen<br />

Vater, Jack, treffen.“<br />

Jack riss den Mund auf und ächzte.<br />

„Meinen Vater? <strong>Der</strong> ist tot! Wie sollen wir ihn treffen können?“<br />

Wieder umspielte das sanfte Lächeln Eloises Lippen.<br />

„Nun, er ist nicht tot in dem Sinne, in dem wir es verstehen. Du wirst auf ihn treffen,<br />

vertraue mir einfach. Er wird euch sagen können, wie ihr den Sprung zum richtigen Zeitpunkt<br />

schaffen werdet. Und nur du, Kelly, kannst diesen Sprung einleiten. Oder Tim hätte es ge-<br />

konnt, wäre er noch am Leben.“<br />

Jack beschloss, die Frage nach seinem Vater zur Seite zu schieben, vorerst.<br />

„Wie sollen wir verhindern, dass Sie ihren Sohn erschießen?“, fragte er stattdessen.<br />

Eloise schüttelte den Kopf.<br />

„Ihr werdet improvisieren müssen, alles weiß ich auch nicht. Ich bin keine Hell-<br />

seherin. Und jetzt müsst ihr los. Ihr müsst Plätze für den Flug buchen. Es ist Flug 2712 von<br />

Los Angeles nach Kiribati, mit Aluana Airways.“<br />

Sie drehte sich herum und strebte dem Ausgang des Raumes zu. Sayid hielt sie zurück.<br />

„Warten Sie, bitte. Was ist mit Ben? Er hat schon mehrfach versucht, uns aufzuhalten.“<br />

Eloise drehte sich noch einmal zu uns herum. Kühl sagte sie:<br />

„Benjamin ist euer Problem. Ich kann ihn nicht aufhalten, keiner kann das. Wehrt euch<br />

gegen ihn. Lasst ihn nicht gewinnen. Ihr seid zu acht, ihr könnt es schaffen.“<br />

Sie verließ jetzt endgültig den Raum und wir mussten ihr folgen. Schließlich standen<br />

wir wieder oben in der Kirche. Eloise sah uns an.<br />

„Ich bitte euch inständig, meinem Sohn das Leben zu retten. Ich weiß, es ist viel ver-<br />

langt, aber auch ihr werdet davon Gewinn haben. Alle, die sich entscheiden, wieder von der<br />

Insel zu verschwinden, werden ein für alle Mal von ihr und den schlimmen Dingen, die dort<br />

geschehen sind, befreit werden. Und alle, die sich entscheiden, dort zu bleiben, werden ein<br />

wunderschönes Leben dort führen, wenn alles gerichtet ist. Es liegt in eurer Hand.“<br />

- 86 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Diese geheimnisvollen Worte waren das Letzte, was wir von der ebenso geheimnis-<br />

vollen Frau hörten. Sie öffnete uns die Kirchentür und wir traten hinaus in die kühle Nacht-<br />

luft. Bevor wir noch etwas sagen konnten, war die Tür hinter uns bereits wieder ins Schloss<br />

gefallen. Misstrauisch sahen wir uns um, aber wir konnten nichts entdecken und wurden auch<br />

nicht erneut beschossen. Hastig begaben wir uns zu den Autos und Jack erklärte:<br />

„Ich werde versuchen, Flüge zu buchen. Haltet euch bereit, ich sage Bescheid, sobald<br />

alles geklärt ist.“<br />

Nach diesen Worten stiegen wir in die Wagen und eine Stunde später saßen Jim und<br />

ich in unserem Zimmer und versuchten zu verarbeiten, was wir gehört hatten. Lange herrschte<br />

Schweigen zwischen uns, dann wachte ich wie aus einem Traum auf und zog den Erste Hilfe<br />

Kasten, den ich in Oklahoma City in den Koffer gestopft hatte, unter dem Bett hervor. Ich<br />

kniete <strong>mich</strong> vor Jim hin und sagte leise:<br />

„Lass <strong>mich</strong> mal nach der Schramme sehen, bitte.“<br />

Ungnädig grummelte er:<br />

„Das ist nichts.“<br />

„Ich möchte es mir trotzdem kurz ansehen, okay?“, bat ich leise und genervt ließ Jim<br />

es zu, dass ich mir die Schramme anschaute.<br />

Ich tränkte einen Wattebausch mit Octenisept und reinigte die Schramme gründlich,<br />

was Jim Tränen in die Augen trieb.<br />

„Na prima.“, knurrte er ärgerlich. „Bis eben hat es nicht weh getan.“<br />

Mir kamen ebenfalls Tränen, aber nicht vor Schmerzen. Hastig arbeitete ich weiter<br />

und klebte schließlich ein Pflaster über die kleine Wunde. Dass die Kugel nicht mehr Schaden<br />

angerichtet hatte grenzte an ein Wunder. Sie hatte Jim wirklich gerade so eben gestreift.<br />

Schnell räumte ich den Kasten wieder unter das Bett und wollte aufstehen. Jim hielt <strong>mich</strong><br />

jedoch fest.<br />

„Was hast du dir dabei gedacht?“, fuhr er <strong>mich</strong> giftig an.<br />

Verwirrt antwortete ich:<br />

„Das musste gereinigt ...“<br />

Er verdrehte die Augen und knurrte wütend:<br />

„Das doch nicht. Dass du da einfach im Kugelhagel losgerannt bist, verdammt! Bist du<br />

denn vollkommen verrückt geworden? Meinst du, jemand wie ich ist es wert, dafür abgeknallt<br />

zu werden?“<br />

Ich starrte ihn an und jetzt liefen mir endgültig Tränen über die Wangen. Verzweifelt<br />

sah ich ihm ins Gesicht.<br />

„Ja. Das meine ich allerdings! Ich habe bereits für dich getötet, schon vergessen?<br />

Auch das war es wert.“<br />

Jim schüttelte den Kopf.<br />

- 87 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Nein, dass alles bin ich eben nicht wert! Also lass solchen Schwachsinn in Zukunft.“<br />

Ich riss <strong>mich</strong> wütend los und stieß unter Tränen hervor:<br />

„Was ich tue oder lasse wirst ganz bestimmt nicht du entscheiden. Zum Glück bist du<br />

hier im Raum der einzige, den deine schlechte Meinung über dich interessiert!“<br />

Ich wollte herum fahren doch Jim war schneller. Wieder erwischte er <strong>mich</strong> an der<br />

Hand und riss <strong>mich</strong> ziemlich unsanft zu sich herum.<br />

„Ist dir eigentlich klar, dass die mit echten Kugeln auf uns geschossen haben?“<br />

Ich nickte.<br />

„Oh, ja, das ist mir klar.“<br />

Ich deutete auf das Pflaster an seiner Stirn.<br />

„Das ist gut. Sehr gut. Dann sollte dir ja wohl auch klar sein, dass du hättest Sterben<br />

können. Und wozu?“<br />

Ich schnaufte und wischte mir ärgerlich mit der freien Hand Tränen fort.<br />

„Um dir erneut den Arsch zu Retten, du Idiot.“ Ich sah ihn an und sagte leise: „Ich<br />

würde es immer wieder tun, verstehst du?“<br />

Ruhiger fragte er jetzt:<br />

„Warum?“<br />

„Weil ich ...“ - dich liebe! - vervollständigte ich den Satz gedanklich. „... es für jeden<br />

machen würde.“ erklärte ich laut und hoffte, dass es überzeugend klang. Und ging zum<br />

Gegenangriff über.<br />

„Und warum regst du dich so sehr darüber auf?“<br />

„Weil ich ...“ - dich liebe! - Dass Jim in Gedanken die gleichen Worte folgen ließ wie<br />

ich, konnte ich natürlich nicht ahnen. „... es für Irrsinn halte, sich für jemanden wie <strong>mich</strong> in<br />

eine solche Gefahr zu begeben.“<br />

Noch immer hielt er <strong>mich</strong> fest und wir standen uns nahe gegenüber. Ich sah in seinen<br />

Augen Wut, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und ... Angst. Angst um <strong>mich</strong>! Und plötzlich<br />

war mir überdeutlich klar, warum er so wütend war. Er hatte Angst um <strong>mich</strong>. So, wie ich um<br />

ihn. Mir wurden die Knie weich und ich griff nach seiner anderen Hand. Noch einmal fragte<br />

ich: „Warum?“ Plötzlich wurde sein Griff sanft. Leise sagte er:<br />

„Weißt du das denn nicht?“<br />

Ich nickte.<br />

„Doch. Das weiß ich sehr wohl. Aus dem gleichen Grund, warum ich einfach los-<br />

gerannt bin. Weil ich schreckliche Angst um dich hatte. Weil ich dachte, ich hätte dich ... ver-<br />

loren.“<br />

Ich ließ den Kopf sinken und schloss die Augen. Und plötzlich spürte ich seine Hand<br />

sanft an meinem Kinn. Er hob mein Gesicht zu sich hoch und sah mir in die Augen. „Wie<br />

ich.“, flüsterte er und beugte sich zu mir herunter. Und dann klopfte es an der Tür. Wir<br />

drifteten auseinander, als wäre eine Bombe zwischen uns hoch gegangen und Jim sagte:<br />

- 88 -


„Ja?“<br />

Die Tür ging auf und Jack kam herein.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Alles klar, ich habe die Plätze gebucht. Es geht um 11.25 Uhr morgen los. Schlaft<br />

euch aus, ist vielleicht das letzte Mal, dass wir halbwegs ruhig schlafen können.“<br />

Hätten Blicke Töten können, wäre Jack unter meinem garantiert tot umgefallen.<br />

„Na, großartig.“, meinte Jim und Jack nickte.<br />

„Gute Nacht.“<br />

Er verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Jim seufzte.<br />

„Dann sollten wir versuchen, noch etwas Schlaf zu bekommen.“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, sollten wir.“<br />

Minuten später lagen wir nebeneinander im Bett. Jim hatte mir leise:<br />

„Gute Nacht.“, gewünscht und ich hatte ebenso leise geantwortet.<br />

„Schlaf gut.“<br />

Wir lagen nebeneinander und taten, als schliefen wir, doch das tat keiner von uns<br />

Beiden. Und es dauerte eine ganze Weile, bis ich einschlief. Zu vieles ging mir durch den<br />

Kopf. Die Erklärungen, die uns Eloise Hawking geliefert hatte, die Schießerei, und der unter-<br />

brochene Kuss. Ich hätte Jack erwürgen mögen. <strong>Der</strong> Moment war dahin, unwiederbringlich.<br />

Ob es noch einmal einen solchen Moment geben würde, wusste ich nicht. Jim war nicht<br />

gerade das, was man einen unkomplizierten Mann nennen konnte. Es war gut möglich, dass er<br />

es nicht wieder versuchen würde, weil er nicht eben viel von sich selbst hielt. All das ging mir<br />

durch den Kopf, bis mir endlich die Augen zufielen. Jim neben mir lag noch länger wach. Er<br />

war fast froh, dass Jack gekommen war. Okay, er konnte es nicht mehr abstreiten, er hatte<br />

sich in Kelly verliebt. Aber er wollte ihr nicht die Zukunft versauen, indem sie sich an einen<br />

Typen wie ihn verschwendete. Er war ein Mörder und Betrüger, nicht gerade der richtige<br />

Umgang für eine anständige Frau. Gott, da hatte er endlich eine Frau getroffen, die ihm Kate<br />

nachhaltig aus dem Kopf vertrieben hatte, nur, um Kates Platz dort einzunehmen. Eine Frau,<br />

die noch unerreichbarer war als Kate. Verzweifelt starrte Jim zur Decke hoch.<br />

************<br />

Als ich aufwachte, war es warm und hell im Zimmer. Sofort bemerkte ich, dass Jim<br />

nicht mehr neben mir lag. Unglücklich seufzte ich. Genervt stand ich schließlich auf und<br />

duschte in aller Eile. Als ich <strong>mich</strong> angezogen hatte, räumte ich die wenigen Kleidungsstücke,<br />

die wir dabei hatten, in den Koffer. Ich würde am Airport versuchen, noch mehr Kleidung zu<br />

besorgen. Andererseits ... Wer wusste schon, ob wir sie auf der Insel überhaupt bei uns<br />

hätten? Als ich all unsere Sachen zusammen gepackt hatte, verließ ich das Zimmer und ging<br />

- 89 -


By<br />

Frauke Feind<br />

nach unten. Ich hörte Kate und Jim in der Küche, wo sie sich unterhielten. Gerade sagte Jim<br />

ruhig zu Kate:<br />

„Vergiss es, okay? Das ist ein für allemal vorbei. Ich bin dir lange genug hinterher ge-<br />

rannt. Die Zeiten sind vorbei.“<br />

Kate erwiderte:<br />

„Aber ich ... ich liebe dich doch!“<br />

Jim lachte, leise und fast freundlich.<br />

„Nein, Freckles, das tust du nicht und hast es auch nie getan. Du hast <strong>mich</strong> immer nur<br />

an der langen Leine gehalten und nur dann näher geholt, wenn es deinen Plänen nützlich war.<br />

Ich hab lange, viel zu lange mitgespielt, weil ich die Hoffnung nicht aufgeben wollte. Aber<br />

jetzt hab ich endlich erkannt, dass es keine Hoffnung für uns gibt. Du wirst in deinem Herzen<br />

immer Jack lieben, hast es immer getan. Ich weiß, dass ich Kelly auch nicht bekommen<br />

werde, aber das hat wenigstens andere Gründe.“<br />

Ich spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen und drehte <strong>mich</strong> zitternd herum,<br />

schlich die Treppe wieder hoch. Ich schlug die Zimmertür zum Gästezimmer etwas lauter zu<br />

und polterte möglichst laut die Treppe erneut hinunter. Kate und Jim hörten <strong>mich</strong> diesmal<br />

kommen und sahen mir entgegen.<br />

„Morgen. Na, gut geschlafen, Dr. Quinn?“, fragte Jim und grinste <strong>mich</strong> an.<br />

Ich begrüßte Kate, dann sah ich Jim an.<br />

„Morgen. Nein, hab ich nicht. Und du?“<br />

Er erwiderte meinen Blick und meinte dann:<br />

„Geht so. Aber ich hatte ja auch schon vier Stunden Schlaf hinter mir.“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, war vielleicht ein wenig viel. Ich habe unsere Klamotten in den Koffer verpackt.<br />

Wo ist Jack? Wann wollen wir los?“<br />

Kate sah zur Uhr.<br />

„Er müsste jeden Moment zurückkommen. Er hat noch einige Medikamente besorgt,<br />

nur für den Notfall.“<br />

Gerade da kam ein Wagen die Einfahrt hoch und Jack stieg aus. Minuten später stand<br />

er bei uns in der Küche. Kate begrüßte ihn mit einem Kuss und fragte:<br />

„Alles bekommen?“<br />

Jack nickte.<br />

„Ja. Und keine Spur von Verfolgern. Vielleicht haben sie aufgegeben und werden auf<br />

der Insel etwas versuchen. Seid ihr fertig?“<br />

Wir nickten.<br />

„Ja, ich hole den Koffer.“<br />

Jim stiefelte nach oben und Jack folgte ihm. Kate und ich standen uns ein wenig un-<br />

schlüssig gegenüber. Schließlich sagte die junge Frau:<br />

- 90 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Wir werden versuchen, die Waffen einzuchecken. Jack hat einen Waffenschein, der<br />

ihm erlaubt, Waffen bei sich zu haben. Vielleicht haben wir Glück und bekommen sie im<br />

Koffer mit.“<br />

Ich sah Kate an und sagte:<br />

„Es ist doch nicht einmal sicher, ob unser Gepäck mit uns landet.“<br />

Sie schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, ist es natürlich nicht. Letztes Mal hat es nicht geklappt. Ich gebe die Hoffnung<br />

aber nicht auf.“<br />

Ich lachte.<br />

„Na, ich lasse <strong>mich</strong> überraschen.“<br />

Innerlich war mir jedoch nach allem mehr zu Mute als nach Lachen. Wir starteten eine<br />

Reise in eine unbekannte Zukunft. Und es war nicht einmal sicher, ob wir gemeinsam dort<br />

ankommen würden, wo wir hin wollten. Und wenn ja, ob wir alle den Absturz überleben<br />

würden. Plötzlich wusste ich sicher, dass ich auf keinem Fall den Flug antreten würde, ohne<br />

Jim gesagt zu haben, was ich für ihn empfand. Immerhin war es gut möglich, dass die<br />

kommenden Stunden die letzten waren, die wir zusammen verbrachten.<br />

„Entschuldige <strong>mich</strong> bitte ...“, stieß ich hervor und hetzte die Treppe hoch.<br />

Jim stand am Fenster und starrte in den Garten hinaus, als ich ins Zimmer platze. Er<br />

fuhr erschrocken herum und fragte:<br />

„Was ist passiert? Ist ...“<br />

Weiter kam er nicht. Ich war zu ihm getreten und schlang ihm ohne etwas zu sagen<br />

meine Arme um den Hals und zog seinen Kopf zu mir herunter. Er war viel zu verblüfft, um<br />

sich zu wehren. Und ehe ich wusste, was geschah spürte ich seine Lippen auf meinen und es<br />

war wie eine elektrische Entladung! Plötzlich und überwältigend riss er <strong>mich</strong> an sich und wir<br />

küssten uns wie Ertrinkende. Als wir uns von einander lösten sagte ich ruhig und bestimmt:<br />

„Ich liebe dich! Nur, damit das klar ist. Und komme mir nicht mit dem Spruch, ich<br />

hätte etwas Besseres verdient. Du bist das Beste, das ich je getroffen habe. Also versuche es<br />

erst gar nicht.“<br />

hervor:<br />

Er starrte <strong>mich</strong> so verwirrt an, dass ich lachen musste. Leicht verzweifelt stieß er<br />

„Kelly, ich liebe dich doch auch. Nicht, dass ich denke, es wäre richtig, aber ich kann<br />

es nicht ändern.“<br />

Jim leise:<br />

Wieder trafen sich unsere Lippen und als wir uns diesmal voneinander lösten sagte<br />

„Das ist nicht gut.“<br />

Energisch erwiderte ich:<br />

- 91 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Doch, das ist es. Mir ist gerade klar geworden, dass es vielleicht die letzten Stunden<br />

sind, die wir haben. Wir haben schon viel zu viele Chancen ungenutzt vorbei ziehen lassen.“<br />

Jim zog <strong>mich</strong> erneut an sich, sanft diesmal, und sagte leise:<br />

„Wenn wir wirklich getrennt werden sollten, werde ich nicht eher Ruhe geben, bis ich<br />

dich wieder habe.“<br />

Ich nickte.<br />

„Und ich auch nicht.“<br />

Es klang wie ein Schwur.<br />

Es fiel uns schwer, uns von einander zu lösen, aber wir hatten keine Wahl. Jim<br />

schnappte sich unseren Koffer und wir eilten nach unten, wo Jack und Kate bereits warteten.<br />

„Na endlich.“, meinte der Arzt und trieb uns zur Tür hinaus.<br />

Im Auto rutschten Jim und ich ganz dicht aneinander und auf dem Weg zum Airport<br />

schwiegen wir alle. In der Departure Hall stießen wir auf Jin und Sun sowie Sayid und<br />

Hurley.<br />

„Alles in Ordnung bei euch?“, fragte Hurley aufgeregt.<br />

„Ja, wieso?“<br />

Jack sah den jungen Mann erstaunt an.<br />

„Weil uns ein Auto gefolgt ist, und das ist keine paranoide Wahnvorstellung ge-<br />

wesen.“, erklärte Sayid.<br />

Er sah sich um und schüttelte langsam den Kopf.<br />

„Sie scheinen uns nicht hier hinein gefolgt zu sein. Vielleicht wollten sie nur sicher<br />

gehen, dass wir auch wirklich zum Flughafen fahren. Ich gehe jede Wette ein, dass Ben uns<br />

auf der Insel schon sehnsüchtig erwartet.“<br />

Jack zuckte die Schultern.<br />

„Noch hat er uns nicht und wir haben ohnehin keine Wahl. Lasst uns einchecken.“<br />

Wir verteilten uns auf zwei Check-in Schalter und nach einer halben Stunde hatten wir<br />

es alle geschafft. Jack hatte sogar durchgesetzt, die Waffen im Koffer sicher verschlossen mit<br />

an Bord zu bekommen. Die Zeit bis zum boarden saßen wir in einem Cafè und unterhielten<br />

uns über Eloise Hawking und ihre Erklärungen. Und endlich kam der Aufruf an die<br />

Passagiere des Fluges 2712 mit Aluana Airways, sich an Gate 26 einzufinden. Jim griff nach<br />

meiner Hand und hielt sie fest, als habe er Angst, <strong>mich</strong> jetzt schon zu verlieren. Aber auch<br />

Kate und Jack sowie Jin und Sun klammerten sich aneinander. Wir waren hochgradig nervös<br />

und hatten alle Angst.<br />

9) Absturz auf die Insel<br />

- 92 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Das Boarden ging schnell, da die Maschine nur halb besetzt war. Wir erreichten<br />

unsere Sitze und machten es uns so bequem wie möglich. Zehn Minuten später bekamen wir<br />

bereits Startfreigabe und die Maschine setzte sich Richtung Flugfeld in Bewegung. Als wir in<br />

der Luft waren, kam die Flugzeugbesatzung herum und brachte uns etwas zu Essen und zu<br />

Trinken. Ich hätte hinterher nicht sagen können, was es gewesen war, dass man uns servierte.<br />

Die Zeit schien deutlich langsamer zu vergehen als üblich. In meinem Magen bildete sich<br />

langsam aber sicher eine eisige Faust, die immer größer zu werden schien. Es war ein sehr<br />

unangenehmes Gefühl, in einem Flugzeug zu sitzen und auf den Absturz desselben zu warten.<br />

Jim schwankte zwischen panischer Nervosität und kompletter Erstarrung. Er tat mir unendlich<br />

leid und ich kuschelte <strong>mich</strong> dicht an ihn, flüsterte ihm zu:<br />

„Es wird schon alles gut gehen, davon bin ich überzeugt. Wir sind zusammen, das ist<br />

doch das Wichtigste.“<br />

Er sah <strong>mich</strong> an und ein befreiendes Lächeln huschte über sein Gesicht.<br />

„Da hast du Recht.“<br />

Plötzlich aber wurden seine Augen dunkel.<br />

„Die Frage ist nur, wie lange wir noch zusammen sind.“<br />

Ich schüttelte entschieden den Kopf.<br />

„Da dürfen wir nicht dran denken, wir werden zusammen bleiben.“<br />

Ich wollte nicht an irgendetwas anders denken.<br />

Die Minuten zogen sich weiter zäh wie Kaugummi dahin. Bei jedem noch so kleinen<br />

Ruck des Flugzeuges zuckten wir kollektiv zusammen und atmeten auf, wenn nichts geschah.<br />

Dabei war uns allen klar, dass irgendwann etwas geschehen musste. Wieder gab es einen<br />

Ruck, diesmal einen ziemlich starken. Ich klammerte <strong>mich</strong> an Jim und schloss die Augen.<br />

Doch erneut war es falscher Alarm und der Flieger setzte seinen Weg unverdrossen fort. Ich<br />

hatte inzwischen das Gefühl, jeden Augenblick los schreien zu müssen. Wir waren gute zwei<br />

Stunden unterwegs, was, wenn Eloise sich geirrte hatte?<br />

„Hey, alles in Ordnung?“<br />

Jims Stimme dran wie durch Watte an meine Ohren und ich schreckte hoch.<br />

„Nein, es ist absolut nicht alles in Ordnung.“, antwortete ich müde. „Wir sitzen in<br />

einem Flugzeug und warten darauf, abzustürzen, das kann man wohl kaum in Ordnung<br />

nennen, oder?“<br />

Es grinste <strong>mich</strong> frech an und erwiderte:<br />

„Frag Jack, Sayid, Hurley, Kate und Sun, die haben das schon einmal hinter sich.“<br />

Ich stieß einen kleinen, verzweifelten Lacher aus.<br />

„Wie haltet ihr alle das bloß schon solange alles aus?“, fragte ich.<br />

„Wir saufen heimlich ...“<br />

Jetzt konnte ich wirklich nur noch Lachen. Und war dankbar, dass Jims freche Klappe<br />

<strong>mich</strong> ein wenig ablenkte.<br />

- 93 -


Ich gab ihm einen Kuss und fragte:<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Sag mal, wie seid ihr eigentlich jeweils von der Insel weg gekommen?“<br />

Wir saßen alleine in einer vierer Sitzreihe und hatten daher viel Platz. Jim klappte die<br />

Armlehnen zwischen den Sitzen hoch, machte sich lang und legte seinen Kopf auf meine<br />

Oberschenkel. Erst jetzt antwortete er.<br />

„Naja, Kate, Jack, Hurley, Sun und Sayid sind zusammen mit Aaron und mir beim<br />

ersten Mal mit nem Hubschrauber weg gekommen.“<br />

Ich stutze.<br />

„Du auch?“<br />

Er verzog das Gesicht.<br />

„Nicht wirklich. Es gab einen Kampf um den Hubschrauber, mit den Söldnern, die<br />

auch Bens Tochter erschossen hatten. <strong>Der</strong> Hubschrauber hatte ein paar Schüsse abgekriegt<br />

und verlor Treibstoff, so schlimm, dass wir Ballast abwarfen.“ Er seufzte. „Schließlich ging<br />

nichts mehr und <strong>mich</strong> packte das Heldentum. Ich bat Kate, eine ... sagen wir mal, alte<br />

Freundin, von mir aufzusuchen, die ...“ Er stockte kurz, fuhr aber entschlossen fort: „... die ein<br />

Kind von mir hat. Ich bat Kate, zu ihr zu gehen und ihr auszurichten, wie leid mir alles tat.<br />

Und ihr ne Menge Geld zu bringen. Dann sprang ich aus dem verdammten Hubschrauber und<br />

schwamm zurück auf die Insel.“<br />

Ich wusste nicht, worüber ich erschrockener war: <strong>Über</strong> die Tatsache, dass Jim ein<br />

Kind hatte oder über die Vorstellung, dass er aus einem fliegenden Hubschrauber gesprungen<br />

war. Er sah aus seiner liegenden Position zu mir auf und ich fragte:<br />

„Du hast ein Kind?“<br />

„Ja.“ Er biss sich auf die Lippe und schaute gedankenverloren ins Leere. „Eine<br />

Tochter, um genau zu sein, Clementine. Jedenfalls behauptet meine Ehemalige das. Cassidy<br />

und ich waren ne Zeit lang zusammen. Allerdings muss ich zu meiner Schande gestehen, dass<br />

ich sie nur benutzt hab, ich hab sie nicht geliebt. Sie ist einfach ein weiteres Opfer auf meiner<br />

Liste.“<br />

und sagte:<br />

Unglücklich sah er zu mir hoch und wollte sich aufsetzen, aber ich hielt ihn sanft fest<br />

„Ich habe dir schon gesagt, dass es <strong>mich</strong> nicht stört, was du früher gemacht hast, okay?<br />

Du bist heute nicht mehr der Mann, der all diese Sachen tat. Also, höre bitte auf, deswegen zu<br />

denken, ich würde es dir nachtragen.“<br />

Zärtlich strich ich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn und er lächelte dankbar.<br />

„Du bist unglaublich. Kate hat nie weggeschaltet, was ich war und bin.“<br />

Er atmete tief durch und fuhr fort:<br />

„Wie gesagt, ob sie wirklich von mir ist, weiß ich nicht. <strong>Der</strong> Zeitraum stimmt aber. Ich<br />

hab ihr ne große Geldsumme zukommen lassen, damit wird sie ein gutes Leben haben. So<br />

- 94 -


By<br />

Frauke Feind<br />

hartherzig es klingen mag, ich hab kein Interesse für sie, verstehst du das? Ich hab Cass nie<br />

geliebt und zu dem Kind absolut keinen Bezug. Ich denke, sie ist ohne <strong>mich</strong> erheblich besser<br />

dran.“<br />

Er sah <strong>mich</strong> fast angstvoll an, scheinbar erwartete er eine empörte Reaktion von mir.<br />

Doch die kam nicht.<br />

„Hör zu, Jim, ich kann das verstehen. Du hast weder etwas von ihrer Schwangerschaft<br />

gewusst noch hat sie dich am Leben des Babys teilhaben lassen, wenn ich das richtig verstehe.<br />

Das Kind ist wie ein Fremdes für dich. Diese Cassidy wollte es ganz offensichtlich so.<br />

Vielleicht hat sie jemanden gefunden, der dem Kind ein guter Vater geworden ist, wer weiß.<br />

Womit ich nicht sagen will, dass du kein guter Vater sein würdest, nur, um das klar zu stellen.<br />

Aber es scheint nicht vorgesehen zu sein, dass du das bei Clementine sein sollst. Allerdings<br />

...“<br />

Ich ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen und lächelte auf Jim hinab.<br />

„Allerdings was?“, fragte er leise und grinste frech zu mir hoch.<br />

„Allerdings möchte ich auch mal irgendwann Kinder.“<br />

„Oh, da würde ich doch wirklich gerne bei helfen.“, erklärte er schmunzelnd.<br />

Ich beugte <strong>mich</strong> zu ihm herunter und gab ihm einen Kuss. „Da können wir ja bei Ge-<br />

legenheit mal ernsthaft drüber diskutieren.“<br />

Und dann gab es einen so plötzlichen, so heftigen Ruck, dass mir unwillkürlich ein er-<br />

schrockener Aufschrei entwich. Es knisterte und knackte überall im Flugzeug und von einer<br />

Sekunde zur anderen brach sprichwörtlich die Hölle über uns herein! Jim, der ja nicht an-<br />

geschnallt war, wurde an die Flugzeugdecke katapultiert und <strong>mich</strong> hätte es auch aus dem Sitz<br />

gerissen, wäre ich nicht angeschnallt geblieben. Gegenstände flogen umher und ich spürte,<br />

wie <strong>mich</strong> etwas am Kopf streifte. Was mit den anderen geschah, bekam ich nicht mehr mit,<br />

ich schrie nur außer mir:<br />

„Jim!“, und bekam ihn an der Hand zu fassen.<br />

Wir hielten uns so fest es nur ging und ich fummelte mit einer Hand meinen Sicher-<br />

heitsgut auf. Als der Verschluss aufklappte, riss es <strong>mich</strong> endgültig aus dem Sitz und ich<br />

prallte gegen Jim, der immer noch wie von Bändern gehalten über mir an der Decke klebte.<br />

Ich spürte Blut über mein rechtes Auge laufen, krallte <strong>mich</strong> an Jim fest und schloss ver-<br />

zweifelt die Augen. Ich spürte seine Arme fest um meinen Körper geschlungen und dachte<br />

noch<br />

- Wir haben viel zu wenig Zeit gehabt. -<br />

Es gab ein derart grelles Licht, dass ich es durch die geschlossenen Augen wahrnahm.<br />

Eine Art Pfeifen erfüllte plötzlich die Luft, so laut, dass ich vor Schmerzen schrie. Und dann<br />

war es von einer Sekunde zur Anderen vollkommen still um <strong>mich</strong> und ich merkte nichts<br />

mehr...<br />

- 95 -


By<br />

Frauke Feind<br />

************<br />

************<br />

Ich spürte Feuchtigkeit auf mein Gesicht tropfen und stöhnte unwillig auf. Was sollte<br />

das? Wer spritzte <strong>mich</strong> denn nass? Genervt ächzte ich:<br />

„Hört auf, <strong>mich</strong> nass zu spritzen ...“<br />

Aber es hörte nicht auf. Ich vernahm ein Rauschen um <strong>mich</strong> herum und aus den<br />

Spritzern wurde ein Gießen. Mühsam öffnete ich die Augen, bereit, dem Schuldigen ins Ge-<br />

sicht zu springen. Was ich sah, ließ <strong>mich</strong> die Augen gleich wieder schließen. Ich schien zu<br />

Träumen. Vorsichtig öffnete ich die Augen erneut, der Anblick war der Gleiche. <strong>Über</strong> mir sah<br />

ich ein dichtes Blätterdach, aus dem es wie aus Kübeln auf <strong>mich</strong> herunter regnete. Ungläubig<br />

starrte ich nach oben. Minutenlang lag ich so still da. Schließlich versuchte ich vorsichtig,<br />

<strong>mich</strong> zu bewegen. Was war passiert? Mir tat jeder einzelne Knochen im Körper weh und jetzt<br />

spürte ich auch überall mehr oder weniger starkes Brennen. Mühsam hob ich den rechten Arm<br />

und stellte fest, dass er über und über mit kleineren und größeren Schrammen und Kratzern<br />

bedeckt war. Vermutlich sah ich am ganzen Körper so aus, dass würde zumindest das<br />

Brennen erklären. Und nun fiel die Erinnerung so plötzlich über <strong>mich</strong> her, dass ich keuchend<br />

in die Höhe schoss. Ich bereute es sofort, denn mein Schädel schien zu Explodieren. Ich<br />

schaffte es gerade noch <strong>mich</strong> herum zu drehen auf die Knie und musste <strong>mich</strong> heftig über-<br />

geben. Einen Moment blieb ich noch so hocken, dann krabbelte ich durch den Matsch zu<br />

einem kleinen Baum und zog <strong>mich</strong> stöhnend an ihm in die Höhe. Als ich schwankend und<br />

zitternd stand, sah ich <strong>mich</strong> um. Ich war definitiv mitten in einem tropischen Dschungel zu<br />

mir gekommen. Außer Bäumen, Büschen, Lianen sah ich nichts und niemanden. Ich stand da,<br />

starrte in das Grün um <strong>mich</strong> herum und ein verzweifelter Schrei stieg mir in die Kehle.<br />

„JIM!“<br />

************<br />

Jim musste sich mächtig zusammen reißen, um nicht vor Angst zu Schreien. Er klebte<br />

hilflos an der Decke und sah, wie Kelly den Sicherheitsgurt öffnete, der sie im Sitz gehalten<br />

hatte. Er wollte ihr verzweifelt ein - NEIN - zubrüllen, aber er brachte keinen Ton hervor. In<br />

der nächsten Sekunde riss es Kelly auch aus dem Sitz und sie prallte hart gegen ihn. Er spürte,<br />

wie sie sich an ihn klammerte, schlang seine Arme so fest er konnte um ihren schlanken<br />

Körper und schon gab es einen pfeifenden Ton, wie er es von den Zeitsprüngen auf der ver-<br />

fluchten Insel kannte, nur um ein vielfaches lauter. Ein greller Lichtblitz und schon spürte er,<br />

wie er das Bewusstsein verlor. Das Nächste, was er spürte, waren Schmerzen. Nicht unerträg-<br />

lich, aber unangenehm genug. Langsam öffnete Jim die Augen und sah über sich grauen,<br />

Wolken verhangenen Himmel. Himmel, aus dem es kräftig auf ihn herunter regnete. Neben<br />

- 96 -


By<br />

Frauke Feind<br />

sich hörte er ein Rauschen wie von Wellen und er drehte den Kopf in die Richtung. Keine<br />

zehn Schritte entfernt krachten vom Sturm aufgewühlte Wellen an den Strand. Langsam und<br />

vorsichtig richtete Jim sich auf und stellte dabei fest, dass er sich offensichtlich nichts<br />

gebrochen hatte. Schwankend kam er in die Höhe und sah sich um. Und er brauchte nur einen<br />

Blick, um zu wissen, wo er sich befand. Frustriert lachte er kurz auf.<br />

„Home, sweet home.“<br />

Sein Blick wanderte den Strand entlang nach rechts und auch in die andere Richtung.<br />

Und jetzt wurde ihm schlagartig bewusst, dass er alleine<br />

war. Panisch sah er sich gründlicher um. Keine Spur von<br />

einem anderen Menschen. Wie erstarrt stand Jim am<br />

Strand und brüllte er verzweifelt los.<br />

„KELLY!“<br />

Abgesehen vom lauten Rauschen der Wellen und<br />

dem beinahe ebenso lauten Rauschen des Regens erhielt er keine Antwort. Noch einmal<br />

brüllte er aus voller Kraft: „KELLY!“, aber erneut antwortete ihm nur Schweigen.<br />

Hilflos stand der junge Mann im Regen und versuchte, einen klaren Gedanken zu<br />

fassen. Er wusste nicht, ob Kelly mit auf der Insel gelandet war. Er wusste nicht, ob sie, wenn<br />

ja, in der gleichen Zeit wie er gelandet war. Er wusste nicht, wo sie wenn gelandet war. Und<br />

er wusste nicht, wo er sie suchen sollte. Vollkommen verzweifelt sank er auf die Knie und<br />

stöhnte fassungslos:<br />

lappen!“<br />

„Kelly ...“<br />

Schließlich raffte er sich wieder auf und schnauzte sich selbst an:<br />

„Hör auf, hier rumzuheulen, überleg lieber, wie du sie finden kannst, du Jammer-<br />

Das half. Entschlossen stapfte er los. Er ging nach Norden, ohne dies zu wissen, jede<br />

Richtung war so gut wie die andere. Immer wieder blieb Jim stehen und brüllte nach Kelly,<br />

aber eine Antwort erhielt er nicht. Aber aufzugeben kam für ihn nicht in Frage. Im Moment<br />

waren ihm die Freunde vollkommen egal. Er wollte nur eines: Kelly finden.<br />

Weiter und weiter stapfte er am Strand entlang und hielt verzweifelt Ausschau nach<br />

der jungen Frau. <strong>Der</strong> Regen hörte irgendwann auf und schon kurze Zeit später brach die<br />

Sonne durch die Wolken. Seine Kleidung klebte ihm nass am Körper, aber das beachtete er<br />

gar nicht. Als es zu Dämmern begann, überlegte er hektisch, was er tun sollte. Wenn er weiter<br />

ging, würden ihm eventuelle Spuren entgehen. Wenn er für die Nacht rastete, konnte anderer-<br />

seits mit Kelly sonst was passieren. Er fluchte ungehalten und brüllte erneut nach der jungen<br />

Frau. Und zuckte heftig zusammen. Von irgendwo aus dem Dschungel hörte er eine leise<br />

Antwort. Er rannte los, in das Grün hinein und schrie wieder.<br />

„KELLY?“<br />

- 97 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Irgendwo vor ihm antwortete eine leise Stimme.<br />

„Sawyer?“<br />

So schnell er konnte, rannte er weiter und hörte die Stimme deutlicher.<br />

„Sawyer!”<br />

„Hier!”, schrie er zurück.<br />

Er rannte weiter und sah vor sich Jack aus dem Gebüsch auf sich zu taumeln. <strong>Der</strong> Arzt<br />

sah aus, als wäre er durch Dornen gelaufen. Seine Kleidung war an vielen Stellen zerrissen, er<br />

hatte Schrammen und Kratzer am ganzen Körper, war aber, ähnlich wie Jim, offensichtlich<br />

nicht wirklich verletzt. Keuchend blieben die beiden Männer stehen und Jack fragte:<br />

„Sawyer. Geht es dir gut? Was ist mit den anderen?“<br />

Jim sah Jack an und erklärte:<br />

„Ich bin okay. Du bist der Erste, den ich seh. Keiner von den anderen da?“<br />

Jack schüttelte hoffnungslos den Kopf.<br />

„Ich suche schon seit Stunden.“<br />

Jim nickte.<br />

„Ich auch.“<br />

Verzweifelt fuhr er sich mit den Händen durch die Haare.<br />

„Doc, ich muss sie finden, verstehst du? Ich muss.“<br />

Jack nickte.<br />

„Wir bleiben zusammen und suchen alle gemeinsam, bis wir sie gefunden haben.“<br />

„Wir wissen ja nicht einmal, ob alle hier sind und noch weniger, ob alle leben ...“, stieß Jim<br />

kläglich hervor.<br />

Jack sah ihn an und senkte mutlos den Blick.<br />

************<br />

Kate hatte das Gefühl, der Boden schwanke unter ihr. Sie versuchte, sich zu bewegen<br />

und plötzlich hörte sie eine panische Stimme von weit unter sich: „Kate. Um Gottes Willen,<br />

bewege dich nicht! Bleibe ganz still liegen. Ich hole dich da runter. Rühre dich nicht.“<br />

Eindringlich klang die Stimme und Kate erstarrte in der Bewegung. Vorsichtig öffnete sie die<br />

Augen. Und erschrak heftig. Sie lag in einem Baum. Ziemlich weit oben, wenn sie das richtig<br />

deutete. Entsetzt wimmerte die junge Frau auf. Sofort war wieder die Stimme da, diesmal<br />

deutlich näher, aber immer noch unter ihr.<br />

„Bleibe ganz ruhig. Ich bin gleich bei dir.“<br />

„Sayid?“<br />

„Ja, Kate, keine Panik, wir schaffen das, halte nur noch einen Moment aus.“<br />

Reglos blieb Kate liegen und hörte es schließlich knapp unter sich rascheln.<br />

„Ich bin gleich da, Sekunde.“<br />

- 98 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Hektisch versuchte Kate, mit den Augen Sayid auszumachen und endlich sah sie ihn.<br />

Dicht am Baumstamm setzte er sich gerade rittlings auf den Ast, auf dessen verzweigten Ende<br />

sie offensichtlich lag. <strong>Der</strong> Iraker hielt sich mit der Linken an einem weiteren Ast fest. Er<br />

rutschte so weit nach vorne, wie es seine Armlänge erlaubte. Er streckte sich und sagte ruhig:<br />

„Greif nach meiner Hand, Kate. Mach schon, wir schaffen das!“<br />

Zitternd und sehr langsam und vorsichtig streckte Kate ihre Linke aus und wimmerte<br />

leise vor Angst. Sie wusste nicht, wie tief es unter ihr herum ging, aber wenn sie die Sorge in<br />

Sayids Stimme richtig deutete, ziemlich tief. Jetzt konnten ihre Fingerspitzen Sayids Hand<br />

berühren. Noch ein wenig streckte Kate sich und endlich schlossen sich die kräftigen Finger<br />

des Irakers fest um ihre Hand und er sagte angespannt:<br />

„Halte dich einfach fest, es wird einen ziemlichen Ruck geben.“<br />

Kate nickte verängstigt. Sie spürte, wie Sayid sie mit einer heftigen Zugbewegung auf<br />

sich zu riss. Sie fühlte die Zweige unter sich nachgeben, spürte, dass sie durch die Blätter<br />

rutschte und schrie entsetzt auf. Doch Sayid hatte sie sicher gepackt. Langsam, Millimeter für<br />

Millimeter, zog er sie zu sich und schließlich konnte Kate selbst nach einen festen Ast greifen<br />

und war in Sicherheit.<br />

Fünf Minuten später standen die Beiden keuchend<br />

vor Anstrengung, aber erleichtert, am Boden.<br />

...“<br />

„Ich danke dir!“, stieß Kate inständig hervor. „Ich<br />

Sayid kam langsam wieder zu Atem und nickte.<br />

„Ist schon gut, alles in Ordnung bei dir?“<br />

Kate sortierte schnell ihre Knochen durch, aber abgesehen von Prellungen und<br />

Kratzern war sie unverletzt.<br />

„Ja, soweit alles in Ordnung. Und du?“<br />

„Bei mir auch.“<br />

Kate sah sich suchend um.<br />

„Wo sind die anderen?“<br />

Sayid zuckte die Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Ich bin zu mir gekommen, dort<br />

drüben und habe dich in dem Baum gesehen, das war alles, was ich bisher entdeckt habe.“<br />

Kate stöhnte entsetzt auf.<br />

„Jack ... Sawyer ... Wir müssen sie finden, Sayid.“<br />

<strong>Der</strong> Iraker nickte.<br />

„Wenn sie hier bei uns sind, werden wir das auch.“, erklärte er fest.<br />

Er sah sich um und schüttelte den Kopf.<br />

„Diesen Teil der Insel erinnere ich nicht, hier sind wir nie gewesen. Ich denke, es ist<br />

das Beste, wenn wir zum Strand gehen.“<br />

Kate nickte.<br />

- 99 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Dort würden wir uns am leichtesten finden. Gut, welche Richtung?“<br />

Sie sah sich um und versuchte, sich zu Orientieren.<br />

„Die Berge dort im Osten ... Sie sehen aus wie die Berge, die wir damals beim Golfen<br />

gesehen haben.“, meinte Kate plötzlich.<br />

Sayid sah sie fragend an.<br />

„Was? Beim Golfen?“<br />

Kate nickte.<br />

„Ja, als du unterwegs warst, die Insel zu erkunden ... Alle waren total fertig und<br />

Hurley hatte die Idee, einen Golfplatz zu bauen. Leider ist es nur bei einem Loch geblieben,<br />

aber für ein paar herrliche Stunden hatten wir alle Ablenkung ... Ich bin sicher, dass es die<br />

Berge sind. Dann müssen wir nur nach Westen gehen und stoßen früher oder später auf das<br />

Camp am Strand.“<br />

„Oder auch nicht, Kate. Wir wissen nicht, wann wir sind.“<br />

Kate nickte.<br />

„Das ist richtig, aber wir werden auf den Strand stoßen und dann können wir von dort<br />

nach Jack und den anderen suchen.“<br />

Sayid nickte.<br />

„Du hast Recht. Also, lass uns aufbrechen.“<br />

************<br />

Ich stand im Regen und schrie ein ums andere Mal verzweifelt nach Jim, erhielt aber<br />

keine Antwort. Panik drohte <strong>mich</strong> zu überschwemmen. Ich kannte die verdammte Insel nicht,<br />

wusste nicht, nach welchen Landmarken ich <strong>mich</strong> wohin orientieren sollte, wusste nicht, wo<br />

Gefahren lauerten, wusste nicht, wie groß diese verdammte Insel überhaupt war, wusste nicht<br />

einmal, wohin ich <strong>mich</strong> wenden sollte, um vielleicht an den Strand zu gelangen. <strong>Der</strong> Strand.<br />

Irgendwo in meinem Gedächtnis klingelte etwas. Das Camp, dass sie damals nach dem Ab-<br />

sturz errichtet hatten, Jim hatte erzählt, es hätte an der Westküste ziemlich weit unten im<br />

Süden der Insel gelegen. Ich zwang <strong>mich</strong>, rational nachzudenken. Hier im Inselinneren war es<br />

erheblich schwerer, jemanden zu finden als am Strand. Hier konnten wir quasi in zwanzig<br />

Metern Abstand aneinander vorbei gehen und wir würden den Anderen nicht sehen können.<br />

Die sinnvollste Lösung war es wirklich, den Strand aufzusuchen. Ich betete zu Gott, dass,<br />

wenn Jim auch hier war, er auf denselben Gedanken kommen würde und sah <strong>mich</strong> suchend<br />

um. Ich hatte keine Ahnung, wo Westen war. Verdammter Regen! Ich hatte von meinem<br />

Großvater gelernt, <strong>mich</strong> an der Sonne zu orientieren. Aber wenn diese nicht schien, war es<br />

schwierig. Ich sah auf meine Armbanduhr und stellte fest, dass es nach LA Zeit 15.40 Uhr<br />

war. Aber das musste nicht für die Insel gelten. Hektisch überlegte ich und marschierte los.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Ich hatte beschlossen, eine Lichtung zu suchen und dort bis zum Morgen zu warten. Wenn die<br />

Sonne aufging, würde ich wissen, wo Osten war.<br />

Etwa eine Stunde kämpfte ich <strong>mich</strong> durch den dichten Dschungel, dann hörte endlich<br />

der Regen auf und die Sonne schimmerte durchs Blätterdach über mir. Ich stapfte weiter und<br />

schließlich lichtete sich der Wald vor mir. Ich trat auf eine weite Hochebene hinaus. Hier sah<br />

ich <strong>mich</strong> gründlich um. Links von mir türmte sich eine Bergkette ziemlich hoch auf. Hinter<br />

mir war der Dschungel und auch rechts sah ich Berge aufragen. Nur vor mir war der Weg frei.<br />

Ich lief los und als es dämmerte, hatte ich rechts die Berge hinter mir gelassen. Eine schmale<br />

Schneise führte leicht bergab und wenn die Sonne hier nicht anders verlief als im Rest der<br />

Welt, musste dort Westen sein, denn die Sonne ging genau dort in einem glutroten Ball lang-<br />

sam unter. Ich dankte Gott dafür, dass der Regen aufgehört hatte, so brauchte ich nicht bis<br />

zum Morgen warten, um die Himmelrichtung zu Orten. Ich lief weiter, bis es so dunkel war,<br />

dass ich nichts mehr sehen konnte. Im Schutz einiger Bäume sank ich auf den Boden und<br />

rollte <strong>mich</strong> im Gras zusammen. Ich dachte an Jim und konnte die Tränen nicht mehr zurück<br />

halten. Gedanken wie<br />

- Er kann genauso gut tot sein. -<br />

- Du weißt ja nicht mal, ob er hier in dieser Zeit ist. -<br />

- Vielleicht liegt er irgendwo schwer verletzt herum und wartet auf dich. -<br />

schossen mir durch den Kopf und trieben <strong>mich</strong> fast in den Wahnsinn. Ich schluchzte<br />

heftig vor <strong>mich</strong> hin und schließlich weinte ich <strong>mich</strong> in einen Schlaf der völligen Erschöpfung.<br />

************<br />

„Ich glaube es ja nicht. Da ist der Strand.“<br />

Sayid rannte die letzten Schritte, dicht gefolgt von Kate. Die Sonne war vor etwa einer<br />

Stunde unter gegangen, aber sie waren weiter gelaufen. Jetzt erkannte auch Sayid die Um-<br />

gebung und musste zugeben, dass Kate Recht gehabt hatte. Hier hatten sie nach dem Absturz<br />

gelebt. Sie erkannten immer mehr Punkte wieder und schließlich erreichten sie den Strand,<br />

ziemlich genau an der Stelle, wo das Wrack des Flugzeuges gelegen hatte.<br />

Kate mutlos.<br />

„Es ist nicht da.“, stellte Kate sachlich fest.<br />

„Dann sind wir auf jedem Fall irgendwann davor.“<br />

Sayid nickte.<br />

„Sollte man meinen.“<br />

Müde sank er in den noch leicht warmen Sand.<br />

„Hoffentlich kommen alle auf die Idee, an den Strand hinunter zu gehen.“, seufzte<br />

„Das denke ich doch. Wenn sie in der Lage sind ...“<br />

- 101 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Sayid starrte auf das dunkle Wasser hinaus. Falls sie die Freunde wiederfinden<br />

würden, mussten sie als nächstes überlegen, wie sie heraus finden konnten, wann sie waren.<br />

Das war auch keine leichte Aufgabe. Es war ja nicht gerade so, dass die psychopathischen<br />

Bewohner dieser verdammten Insel Fremde mit offenen Armen empfingen. Kate setzte sich<br />

neben den Iraker und seufzte.<br />

„Er liebt sie.“, sagte sie leise.<br />

Sayid verstand nicht, wovon Kate redete und sah sie fragend an.<br />

„Wer liebt wen?“<br />

„Sawyer. Er liebt Kelly. Er hat es mir gesagt.“<br />

Sayid nickte verstehend.<br />

„Und das gefällt dir nicht?“<br />

Kate seufzte erneut.<br />

„Ich weiß es nicht. Ich liebe Jack. Aber ...“<br />

„Kate, höre mir bitte mal zu. Du hast dir Sawyer all die Zeit hier auf der Insel an der<br />

langen Leine gehalten. Immer, wenn du dich über Jack geärgert hast, hast du Sawyer benutzt.<br />

Er hat dich geliebt, Kate. So sehr geliebt, dass er es mit sich hat machen lassen, in der<br />

Hoffnung, dass du ihn eines Tages auch wirklich lieben würdest.“<br />

Sayid sah Kate im Dunkeln an.<br />

„Weißt du, ich habe dich damals im Hatch, an Sawyers Bett, ungewollt belauscht. Du<br />

hast ... zu jemandem namens Wayne gesprochen. Du sagtest, dass du es hasst, dass er ein Teil<br />

von dir ist und immer sein wird. Dass du seinetwegen nie etwas Gutes tun oder haben wirst.<br />

Und dann sagtest du, dass du jedes Mal, wenn du Sawyer anschaust und etwas für ihn<br />

empfindest, diesen Wayne vor dir siehst und dass dich das krank machen würde. Erinnerst du<br />

dich?“<br />

Kate nickte.<br />

„Kate, du wärest nie im Stande gewesen, Sawyer vollkommen unvoreingenommen zu<br />

lieben. Ich kann dir nicht beantworten, ob du Jack wirklich aus tiefstem Herzen liebst, aber du<br />

hast immer nach Höherem als Sawyer gestrebt. Ich weiß nicht, ob Kelly Sawyers Vergangen-<br />

heit kennt, glaube aber, ja. Sie liebt ihn scheinbar aufrichtig, ohne ständig daran zu denken,<br />

was er war, was er getan hat. So, wie Nadja <strong>mich</strong> unvoreingenommen geliebt hat, obwohl<br />

auch sie genau wusste, was ich bin. Und Kate, ich bin ganz ehrlich, auch, wenn Sawyer und<br />

ich nie Freunde sein werden, das ist die Frau, die er mehr als verdient. Eine Frau, die in ihm<br />

immer nur das sieht, was er einmal war, ist nicht gut für ihn. Lasse ihn gehen und finde dein<br />

Glück bei Jack, sonst bist du es am Ende, die alleine zurück bleibt.“<br />

10) Vereint<br />

- 102 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Am Morgen nach diesem Gespräch wachte Kate auf und wusste einen Augenblick<br />

nicht, wo sie war. Verwirrt sah sie sich um, dann kamen die Erinnerungen an den Vortag mit<br />

Macht zurück. Sayid kam gerade hinter ihr aus dem Dschungel, zwei große Mangos in der<br />

Hand. Er warf Kate eine zu und sagte:<br />

„Frühstück.“<br />

Kate fing das Obst geschickt auf und fragte:<br />

„Hast du ein Messer?“<br />

Sayid schüttelte den Kopf.<br />

„Natürlich nicht, bei den Kontrollen heutzutage ...“<br />

Also mussten sie die Mangos mit den Fingern und Zähnen schälen. Während sie ihre<br />

Früchte aßen, suchten ihre Blicke immer wieder den Waldsaum ab.<br />

„Wollen wir hier warten oder am Strand entlang gehen?“, fragte Kate schließlich.<br />

Sayid überlegte. Dann meinte er langsam:<br />

„Ich denke, wir sollten eine Weile warten, wir wissen nicht, wo die anderen wenn<br />

überhaupt gelandet sind. Lassen wir ihnen ein wenig Zeit, uns zu erreichen, ja?“<br />

Gestresst nickte Kate.<br />

„Aber vielleicht könnte einer von uns ein Stück den Strand hinauf oder hinunter<br />

gehen? Möglich, dass wir so auf jemanden stoßen.“<br />

Sayid nickte.<br />

„Das ist eine gute Idee. Geh du zuerst, aber nicht weiter, als so, dass du mittags wieder<br />

hier bist. Ich werde dann am Nachmittag die andere Richtung nehmen.“<br />

Kate sprang auf.<br />

„Okay, dann mache ich <strong>mich</strong> auf die Socken. Bis später.“<br />

Sie eilte los, den Strand entlang, Richtung Norden und Sayid sah ihr besorgt nach. Sie<br />

wussten nicht, welche Gefahren jetzt hier lauerten. Aber dem Iraker war klar, dass Kate<br />

durchaus auf sich aufpassen konnte, das hatte sie mehr als einmal bewiesen. Er setzte sich in<br />

den Sand und richtete sich auf eine lange Wartezeit ein.<br />

************<br />

Ich wachte von lautem Vogelgezwitscher auf und hatte für eine Sekunde den Ge-<br />

danken, wieder in der Hütte zu sein. Als ich verwirrt die Augen aufschlug, wurde ich schnell<br />

eines Besseren belehrt. Ich war auf der Insel. Und ich hatte Jim verloren. Hastig rappelte ich<br />

<strong>mich</strong> auf die Füße und marschierte wieder los, weiter Richtung Westen. Ich rief immer wieder<br />

nach Jim, aber das Resultat war das Gleiche wie am Tage zuvor. Geradezu höhnisch schwieg<br />

<strong>mich</strong> die einzigartige Natur um <strong>mich</strong> herum an. Ich hatte Hunger und Durst, aber darauf<br />

achtete ich nicht. Ich hatte nur noch den einen Wunsch,<br />

Jim zu finden, lebend und halbwegs gesund. Plötzlich<br />

- 103 -


By<br />

Frauke Feind<br />

hatte ich das Gefühl, vor mir ein Rauschen zu hören und hastete eilig weiter. Vielleicht hatte<br />

ich endlich den Strand erreicht. Und dann endete der kleine Pfad, auf dem ich <strong>mich</strong> vorwärts<br />

bewegte, tatsächlich an einem herrlichen, weißen Strand. Wäre die Lage nicht so schlimm<br />

gewesen, man hätte denken können, im Paradies gelandet zu sein. Ich trat auf den weißen<br />

Sand hinaus und ging bis zum Wasser hinunter. Hoffnungsvoll sah ich <strong>mich</strong> um. Und hätte<br />

vor Erleichterung fast aufgeschluchzt.<br />

„Sayid!“<br />

Ich rief den Namen des Irakers und dieser fuhr herum.<br />

„Kelly. Bist du in Ordnung?“<br />

Wir eilten aufeinander zu und standen gleich darauf vor einander.<br />

„Hast du Jim gesehen?“, stieß ich aufgeregt hervor und packte Sayid an den Armen.<br />

Bedauernd schüttelte er den Kopf.<br />

„Es tut mir so leid, nein, ich habe bisher nur Kate getroffen. Sie ist am Strand entlang<br />

nach Norden unterwegs, müsste aber bald zurückkommen, wir hatten vereinbart, dass sie bis<br />

Mittag wieder hier sein soll.“<br />

Meine anfängliche Erleichterung machte sofort wieder einer tiefen Verzweiflung<br />

Platz. So grausam konnte das Schicksal einfach nicht sein! Es konnte nicht zulassen, dass Jim<br />

und ich uns für wenige, glückliche Stunden fanden, um uns gleich wieder zu verlieren. Es<br />

hätte nicht viel gefehlt und ich hätte mit dem Fuß aufgestampft.<br />

„Ich muss ihn finden. Ich muss einfach. Ich werde nicht aufgeben, und wenn ich diese<br />

ganze beschissene Insel Stein für Stein absuchen muss!“, stieß ich wütend hervor.<br />

zweifeln.“<br />

Sayid sah <strong>mich</strong> an und sagte beruhigend:<br />

„Kelly, wir werden sie finden, wenn sie hier sind, daran darfst du keine Sekunde<br />

Ich atmete tief ein und nickte. Sayid fragte <strong>mich</strong>:<br />

„Hast du Hunger?“<br />

Ich nickte erneut.<br />

„Ja, und wie. Und Durst. Wo ist die Bar?“<br />

Er zeigte auf einen kleinen Stapel Mangos und erklärte:<br />

„Eine etwas einseitige Diät, aber besser als gar nichts.“<br />

Zusammen gingen wir zu dem kleinen Haufen hinüber und ich griff mir eine der<br />

Früchte. In Ermangelung eines Taschenmessers musste auch ich mit Fingern und Zähnen vor-<br />

lieb nehmen. So schälte ich die Frucht. Dann biss ich hinein und aß sie ganz auf. Durch den<br />

Saft war auch mein Durst ein wenig gestillt. Als ich gerade fertig war, kam Kate eilig auf uns<br />

zu. Sie sah <strong>mich</strong> und in ihrem Gesicht spiegelten sich sowohl echte Erleichterung als auch ein<br />

wenig Widerwillen.<br />

sehen?“<br />

„Kelly, Gott sei Dank. Wo kommst du her? Hast du etwas von Sawyer oder Jack ge-<br />

- 104 -


Ich schüttelte den Kopf.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Dann wäre ich kaum alleine hier.“, sagte ich bedrückt.<br />

„Natürlich nicht, du hast Recht.“<br />

Kate sank müde in den Sand und erklärte:<br />

„Ich habe keine Spur von ihnen gesehen.“<br />

Sayid seufzte.<br />

„Dann werde ich <strong>mich</strong> auf den Weg machen, nach Süden den Strand entlang.<br />

Vielleicht habe ich ja mehr Glück.“<br />

Er wandte sich um und sah den Strand hinunter.<br />

„Ich bin bei Dämmerung zurück. Passt auf euch auf.“<br />

„Du auch.“<br />

Sayid nickte, dann marschierte er los. Schnell verloren wir ihn aus den Augen. Ich<br />

schüttelte den Kopf und erklärte:<br />

„Ich kann hier nicht untätig herumsitzen. Ich werde <strong>mich</strong> ein wenig umschauen.“<br />

Kate schien meiner Stimme anzuhören, dass es keinerlei Sinn hatte, <strong>mich</strong> aufzuhalten.<br />

So nickte sie und sagte dann:<br />

„Pass auf dich auf, okay. Es gibt hier Gefahren, die du nicht kennst. Wenn du ein<br />

lautes Brüllen hörst, versuche, dich in irgendetwas zu verstecken. Es gibt bei größeren<br />

Bäumen Zwischenräume zwischen den Wurzeln, da kann man sich gut verstecken.“<br />

„Okay, werde ich mir merken. Drück mir die Daumen.“<br />

Ich sah <strong>mich</strong> um und konnte über den Baumwipfeln die Kuppe des Berges erkennen,<br />

den ich umgangen hatte und prägte mir diese Landmarke genau ein. Dann marschierte ich los,<br />

in den Dschungel.<br />

Als es dunkel wurde, meinte Jack:<br />

************<br />

„Wir sollten Rasten, es hat keinen Sinn, wenn wir im Stockfinsteren hier herum<br />

stolpern und uns den Hals brechen.“<br />

Widerwillig stimmte Jim zu. Jack gab zu bedenken:<br />

„Wir könnten auch etwas übersehen, vergiss das nicht.“<br />

„Ja, ja, ist ja schon gut, Jacko. Ich hab‟s kapiert.“, schnaufte Jim und ließ sich ächzend<br />

ins Gras sinken.<br />

Sie hatte gerade eine kleine Ebene überquert und das Gefühl gehabt, die Gegend<br />

wieder zu erkennen.<br />

„Ich denk, wir sind in der Nähe der Höhle.“, meinte Jim und sah im immer schneller<br />

schwindenden Licht des Tages zu Jack hinüber, der sich ebenfalls ins warme Gras gesetzt<br />

hatte.<br />

- 105 -


Dieser nickte verhalten.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Kann sein, mir kommt es hier auch irgendwie vertraut vor.“<br />

Sie hatten sich vor Stunden darauf geeinigt, zum Strand zu marschieren. Jim hatte<br />

argumentiert, dass es sehr viel einfacher wäre, sich dort zu finden, als im Dschungel herumzu-<br />

irren. Jack hatte dem nichts entgegen zu setzen und so waren die Männer los marschiert. Erst,<br />

als die Sonne langsam begann, unter zu gehen, hatten sie eine feste Richtung erkannt, in der<br />

sie sich eilig auf den Weg gemacht hatten.<br />

Jim machte es sich so bequem wie möglich und fragte Jack:<br />

„Hey, Doc. Meinst du, wir finden sie?“<br />

„Ehrlich, ich habe keine Ahnung. Wenn sie hier und jetzt auch auf der Insel sind und<br />

zwar lebend, werden wir sie früher oder später wohl finden, so groß ist die Insel nicht. Aber<br />

das kann dauern.“<br />

Jim stimmte dem Arzt gedanklich zu. Ein leises Stöhnen entrang sich seinen Lippen,<br />

ein Stöhnen der Verzweiflung.<br />

„Hat dich ganz schön erwischt, was?“, fragte Jack mitleidig.<br />

Jim zuckte ertappt zusammen.<br />

„Ja, und?“<br />

Jack lachte leise.<br />

„Nichts, und. Oder doch. Ich ... Ach, verdammt. Ich war all die Jahre eifersüchtig auf<br />

dich, weil ich nie sicher war, was Kate ... Vergiss es.“<br />

Er unterbrach sich ärgerlich und machte sich lang.<br />

„Sie hat dich immer wesentlich mehr geliebt als <strong>mich</strong>.“, sagte Jim ruhig und war er-<br />

staunt, dass ihm die Worte leicht und problemlos über die Lippen kamen. „Jetzt hast du<br />

keinen Grund mehr, eifersüchtig zu sein. Ich bin wirklich fertig mit Kate, für immer. Sie ge-<br />

hört dir, wie du sie hältst ist dein Problem.“<br />

Er lachte leise.<br />

„Weißt du, Doc, es ist schon komisch. Da hab ich sie jahrelang an gesabbert und plötz-<br />

lich ist es weg, das Gefühl, als wäre es nie da gewesen. Und zwar richtig weg, nicht wie bei<br />

Juliet, wo ich mir drei Jahre lang was vorgemacht hab. Kelly weiß alles über <strong>mich</strong>, über<br />

meine Vergangenheit. Ich hab ihr alles erzählt, wir hatten ja in der verdammten Hütte Zeit<br />

genug, als ich da nutzlos herumlag. Ich weiß nicht mal, warum ich ihr alles gesagt hab. Und<br />

sie ... naja, sie wirft es mir nicht vor, was ich mal war. Verstehst du?“<br />

Preis!<br />

Er schwieg und seine Gedanken kreisten um Kelly. Er musste sie finden, um jeden<br />

Noch vor Sonnenaufgang waren die Männer wieder unterwegs. In der Dämmerung<br />

waren sie aufgebrochen und kamen wegen der dichten Vegetation nur langsam und mühselig<br />

voran. Sie waren scheinbar doch noch weiter von der Höhle entfernt gewesen als sie ver-<br />

- 106 -


By<br />

Frauke Feind<br />

mutete hatten. Am frühen Nachmittag stolperten sie endlich über den kleinen Teich mit dem<br />

Wasserfall, den Jim und Kate damals entdeckt hatten. Sie machten kurz Rast, dann stiefelten<br />

sie erschöpft und hungrig weiter. Als sie durch ein besonders dickes Gestrüpp turnten, wurde<br />

der Boden plötzlich stark abschüssig. Und ehe Jim noch richtig wusste was geschah rutschte<br />

er aus und rollte sich überschlagend, immer schneller werdend Hang abwärts. Jack brüllte<br />

erschrocken:<br />

„Sawyer!“, und hastete so schnell er konnte hinterher.<br />

Er wusste plötzlich genau, wo sie waren. Hier war er damals auf der Suche nach<br />

seinem toten Vater fast in eine Schlucht gestürzt und genau auf diese Schlucht rollte Jim zu!<br />

Jim versuchte verzweifelt, irgendwo Halt zu finden, aber er schaffte es nicht. Und<br />

dann war der Boden unter ihm urplötzlich zu Ende. Er fiel! Panisch griff er nach einer<br />

Wurzel, die aus der Felswand vor ihm ragte und seine Hände bekamen diese im letzten<br />

Moment zu fassen. Schwer klatschte er gegen den Fels und keuchte vor Schmerzen auf. Er<br />

hörte Jack einen Meter über sich rufen.<br />

herunter.<br />

„Sawyer!“<br />

„Ich bin hier ... Verdammt, hol <strong>mich</strong> hier raus.“<br />

<strong>Über</strong> ihm erschien Jacks Kopf und starrte aus schreckgeweiteten Augen zu ihm<br />

„Halt dich fest. Ich hole dich hoch!“<br />

„Geht das vielleicht n bisschen schneller, verflucht, ich kann <strong>mich</strong> nicht mehr halten.“<br />

Jack legte sich auf den Bauch und glitt langsam weiter nach vorne. Und keuchte im nächsten<br />

Moment erschrocken auf, als auch er ins Rutschen kam. Heftig zuckte er zusammen, als er<br />

spürte, dass ihn jemand an den Beinen fest hielt. Er hörte eine Stimme hinter sich, zitternd vor<br />

Anstrengung.<br />

„Mach schon ...“<br />

Er streckte sich noch ein wenig und endlich<br />

konnte er Jim erreichen. Die Männer krallten ihre<br />

rechten Hände ineinander und dann begann Jack lang-<br />

sam und unter unglaublicher Kraftanstrengung, Jim<br />

hoch zu ziehen. Mehr als einmal dachte er, er würde<br />

es nicht schaffen, aber schließlich merkte er, dass er nicht mehr rutschte und dann lag plötz-<br />

lich Kelly neben ihm und schrie nach unten:<br />

„Nimm meine Hand. Nun mach schon!“<br />

Jim glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Da lag Kelly plötzlich neben Jack<br />

und hielt ihm die Rechte hin. Er zögerte, aber Kelly brüllte ihn an:<br />

„Nun mach schon, verdammt!“<br />

Und endlich griff er zu. Keiner der Drei hätte später sagen können, wie sie es<br />

schafften, aber schließlich lag Jim keuchend und vor Anstrengung am ganzen Leib zitternd<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

auf dem sicheren Boden und im nächsten Moment bereits in Kellys Armen. Jack rollte sich<br />

auf den Rücken und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er war fertig. Und neben ihm<br />

hockten Jim und Kelly auf den Knien und umklammerten sich, als wollten sie sich nie wieder<br />

los lassen.<br />

************<br />

Ich kämpfte <strong>mich</strong> durch den dichten Dschungel und suchte hoffnungslos nach Jim. Ob<br />

es überhaupt Zweck hatte, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich ihn niemals aufgeben<br />

würde. Und so arbeitete ich <strong>mich</strong> weiter vor, immer wieder die Richtung wechselnd. Ab und<br />

zu rief ich laut nach Jim, erhielt aber keine Antwort. Als ich schon überlegte, umzudrehen,<br />

hatte ich urplötzlich das eigenartige Gefühl, noch ein Stück weiter gehen zu müssen. Es war<br />

wie ein Zwang und ich beschloss, diesem nachzugeben. Ich hatte <strong>mich</strong> immer auf mein<br />

Bauchgefühl verlassen können, warum sollte es <strong>mich</strong> jetzt trügen? Etwas schneller ging ich<br />

weiter und dann hörte ich plötzlich vor mir Stimmen. Jemand rief laut:<br />

„Sawyer!“<br />

Ich hetzte los.<br />

- Bitte, lieber Gott, lass es Jim sein! -<br />

Ich eilte vorsichtig weiter, weil es hier sehr steil bergab ging und sah plötzlich Jack,<br />

der am Boden lag und sich auf einen klaffenden Spalt im Boden zu schob. Er kam ins<br />

Rutschen und ich warf <strong>mich</strong> hinter ihm auf den Boden, bekam seine Beine zu fassen und legte<br />

<strong>mich</strong> hin, stemmte <strong>mich</strong> verzweifelt gegen den Zug. Millimeterweise schob er sich zurück<br />

und als ich das Gefühl hatte, er rutsche nicht mehr, ließ ich ihn los und legte <strong>mich</strong> bäuchlings<br />

neben ihn. Mein Herz übersprang ein paar Schläge, als ich vielleicht fünfzig Zentimeter unter<br />

mir Jim an Jacks Hand hängen sah. Ich streckte <strong>mich</strong> und keuchte<br />

„Nimm meine Hand. Nun mach schon!“<br />

Jim sah zu mir auf und seine Augen weiteten sich. Er zögerte und ich brüllte ver-<br />

zweifelt erneut:<br />

„Nun mach schon, verdammt!“<br />

Und endlich griff er ächzend zu und ich spürte seine Hand in meiner. Langsam<br />

schoben Jack und ich uns fast millimeterweise zurück und schließlich lag Jim mit dem Ober-<br />

körper wieder auf festem Boden. Und dann streckte er sein Bein aus und schwang es ebenfalls<br />

auf den Boden und gleich darauf lag er keuchend und zitternd zwischen uns.<br />

Ich schluchzte hysterisch auf und schon lag ich in seinen Armen. Ich hatte ihn wieder.<br />

Lebend. Ich konnte es kaum fassen. Ich küsste sein schweißnasses Gesicht, alles, was ich er-<br />

reichen konnte. Und schmeckte Tränen, die ihm genauso über die Wangen kullerten wie mir.<br />

Es dauerte einige Minuten, bis wir uns wenigstens soweit erholt hatten, dass wir alle drei auf<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Händen und Knien vom Schluchtrand weg krabbeln konnte. Als wir in Sicherheit waren,<br />

lagen Jim und ich uns bereits wieder in den Armen und er stotterte überwältigt:<br />

„Ich hab dich wieder. Du lebst. Gott, ich dachte, ich hätte dich verloren.“<br />

Ich lachte und weinte gleichzeitig und stieß hervor:<br />

„Ich bin fast durchgedreht. Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.“<br />

Ganz allmählich beruhigten wir uns etwas und Jim erwiderte:<br />

„Das dachte ich auch. Ich ...“<br />

Er fand keine passenden Worte, aber das brauchte er auch nicht, seine Augen<br />

spiegelten überdeutlich wieder, was er fühlte. Schließlich räusperte Jack sich leise und fragte:<br />

„Hast du Kate oder einen von den Anderen gefunden?“<br />

Noch in Jims Armen hängend erwiderte ich:<br />

„Ja, Kate und Sayid sind am Strand. Ich habe sie dort heute Vormittag gefunden. Von<br />

Jin, Sun und Hurley haben wir aber keine Spur gefunden.“<br />

Ich stand vorsichtig auf und zog Jim ebenfalls auf die Beine. Auch Jack stemmte sich<br />

hoch und sagte:<br />

„Okay, lasst uns an den Strand gehen.“<br />

Nur zu gerne stimmten wir zu.<br />

So machten wir uns nun zu dritt auf den Rückweg zum Strand, den wir vielleicht eine<br />

Stunde später erreichten, etwas nördlich des Abschnitts, an dem Kate und Sayid warteten.<br />

Hier endlich konnten Jim und ich eng umschlungen gehen und Jack hielt sich ein wenig<br />

abseits, er wollte uns die stille Zweisamkeit scheinbar gönnen. Durch den Sand zu stapfen war<br />

fast anstrengender, als sich durch den Dschungel zu kämpfen und als wir endlich vor uns Kate<br />

und Sayid auftauchen sahen, war ich mehr als dankbar, denn Jim sah inzwischen ziemlich<br />

erledigt aus. Er hatte sich wunderbar erholt, aber ganz waren die Nachwirkungen der Ver-<br />

letzungen nicht aus ihm verschwunden. Es war auch einfach viel zu viel geschehen, seit er bei<br />

mir in der Hütte aufgewacht war. Er hatte nicht wirklich Gelegenheit gehabt, sich in aller<br />

Ruhe zu erholen. Die ständige Bedrohung, bis wir in LA angekommen waren, und all das,<br />

was seither passiert war, zerrte an unserer aller Kräfte und an Jims besonders. Kate und Sayid<br />

sahen uns ziemlich im selben Moment wie wir sie und die Beiden sprangen auf. Kate rannte<br />

uns entgegen und es schien, als würde sie sich erst im letzten Moment entscheiden können,<br />

doch Jack in die Arme zu fallen und nicht Jim.<br />

„Endlich. Ich hatte solche Angst, dass dir was passiert ist oder du gar nicht erst mit<br />

hier gelandet bist.“, keuchte sie atemlos. „Geht es euch gut?“<br />

haben.<br />

Die Männer nickten.<br />

„Ja, Kate es ist alles in Ordnung.“<br />

Jack hielt Kate fest im Arm und es war zu spüren, wie erleichtert er war, sie wieder zu<br />

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Frauke Feind<br />

„Gut dass ihr noch in einem Stück seid.“, schmunzelte Sayid und erklärte: „Ich bin<br />

eine ganze Ecke nach Süden, habe aber keine Spur von Jin, Sun oder Hurley gefunden. Ihr<br />

habt auch nichts von ihnen gesehen, darf ich annehmen?“<br />

Wir schüttelten die Köpfe und gingen gemeinsam die letzten paar Schritte bis zu dem<br />

kleinen Lager, das Kate und Sayid inzwischen errichtet hatten. Ein Lagerfeuer brannte und<br />

der Haufen mit Mangos war größer geworden.<br />

Unendlich erleichtert sanken Jack und Jim in den warmen Sand. <strong>Über</strong> dem Meer ging<br />

gerade die Sonne unter und wären wir nicht in Lebensgefahr gewesen, es wäre der<br />

romantischste Ort der Welt gewesen. Die beiden Männer griffen sich jeder eine Mango. Eilig<br />

zogen sie der Frucht die Haut ab und bissen herzhaft hinein.<br />

„Man, da kommen doch gleich heimatliche Gefühle hoch, was?“, grinste Jim und sah<br />

sich um. „Wir sind anscheinend noch nicht hier. Ist das nun ein gutes oder ein schlechtes<br />

Zeichen?“<br />

Jack zuckte die Schultern.<br />

„Frag <strong>mich</strong> was leichteres.“, sagte er frustriert.<br />

Dann gähnte er herzhaft.<br />

„Ich denke, wir sollten uns ausruhen, morgen müssen wir darüber Nachdenken, wie es<br />

weiter gehen soll.“<br />

den Mund.<br />

„Ausruhen hört sich gut an.“, meinte Jim und stopfte sich den letzten Bissen Mango in<br />

Er sah <strong>mich</strong> an und ich nickte. Ich stand auf und reichte ihm die Hände, zog ihn eben-<br />

falls in die Höhe.<br />

„Wir suchen uns mal ein Motel.“, erklärte ich und Hand in Hand zogen Jim und ich<br />

ein Stück den Strand entlang, gingen zum Waldrand hoch und ließen uns im Schutz einer<br />

Palme auf ein wenig Gras, das hier wuchs, zu Boden sinken.<br />

„Ruhe ist wirklich gut, ich bin fix und fertig.“, seufzte Jim und machte sich lang, <strong>mich</strong><br />

mit sich ziehend.<br />

Ich beugte <strong>mich</strong> über ihn und sagte leise:<br />

„Ich bin fast wahnsinnig geworden als mir klar war, dass du nicht bei mir warst.“<br />

Er zog <strong>mich</strong> an sich und unsere Lippen trafen sich zu einem zärtlichen Kuss, der<br />

schnell leidenschaftlicher wurde. Eng zog Jim <strong>mich</strong> an sich heran und flüsterte:<br />

Stimme:<br />

„Na, frag <strong>mich</strong> mal.“<br />

Ich kuschelte <strong>mich</strong> in seine Arme, so eng es nur ging und sagte mit tränenerstickter<br />

„Als ich euch hörte und mir klar wurde, dass du abzustürzen drohtest ...“<br />

Ich konnte nicht weiter sprechen, meine Kehle war wie zugeschnürt. Er strich mir<br />

sanft über den zuckenden Rücken und erklärte:<br />

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Frauke Feind<br />

„Bin ich aber nicht. Unter anderem dank dir. Als du plötzlich neben Jack auftauchtest,<br />

hab ich erst gedacht, ich seh Gespenster.“<br />

Ich lachte unter Tränen.<br />

„Nein, ich bin kein Gespenst.“<br />

„Zum Glück.“, erwiderte Jim leise und zärtlich.<br />

************<br />

Ich wachte davon auf, dass Jim neben mir sich rührte. Wir waren am Abend zuvor eng<br />

aneinander geschmiegt eingeschlafen und wachten genauso auch wieder auf. Jim sah erheb-<br />

lich besser aus als am Abend und ich atmete erleichtert auf. Nach einem ausgiebigen Guten<br />

Morgen Kuss zog er <strong>mich</strong> auf die Füße und fragte grinsend:<br />

„Lust auf einen kleinen Ausflug?“<br />

Erstaunt sah ich ihn an und nickte.<br />

„Ja, gerne, wohin denn?“<br />

Er lächelte und erklärte:<br />

„Ich möcht dir was zeigen. Ist n kleiner Fußmarsch, aber es ist ja noch früh.“<br />

Ein Blick zu Sayid, Kate und Jack hinüber, die sich ebenfalls an den Waldrand gelegt<br />

hatten, machte deutlich, dass sie noch schliefen. Ich nickte.<br />

„Dann los.“<br />

Wir stapften eine Weile durch den Dschungel.<br />

„Hier sind keine Pfade mehr zu sehen, das heißt, wir sind wirklich noch nicht ab-<br />

gestürzt. Wir haben hier einige Wege in den Dschungel getrampelt.“, meinte Jim unterwegs.<br />

„Klar, ihr wart ja auch lange hier. Da bilden sich schnell Trampelpfade. Und gerade um euer<br />

Camp herum wird sich da einiges getan haben, nehme ich an.“<br />

„Ja, zu den Höhlen hoch, zum Wasser, zu den besten Obstplantagen, zum Klo, zur<br />

Bar, zum Puff ...“<br />

Ich lachte.<br />

„Du spinnst. Wovon habt ihr eigentlich damals gelebt?“<br />

Jim schmunzelte.<br />

„Na, zum einen hat uns unser großer, weißer Jäger mit Wildschweinbraten versorgt,<br />

zum anderen hatten wir anfangs genug Obst. Und irgendwann fanden wir eine Ladung<br />

Lebensmittel, die für die DHARMA Initiative gedacht war. Das war damals wie im<br />

Schlaraffenland. Stell dir mal vor, da war sogar Bier bei.“<br />

Er stöhnte wohlig.<br />

„Dafür würd ich jetzt gerade schon wieder so einiges geben.“<br />

Ich seufzte.<br />

„Dafür, und noch für so einiges mehr.“<br />

- 111 -


Frischwasser versorgt wurde.<br />

„Na, was sagst du?“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Während wir uns unterhielten, waren wir weiter gegangen<br />

und achteten dabei aufmerksam auch auf unsere Umgebung. Doch<br />

wir sahen und hörten nichts, dass auf die Anwesenheit anderer<br />

Menschen hindeutete. Schließlich lauschte Jim und nickte zu-<br />

frieden.<br />

„Wir sind gleich da, du wirst staunen.“<br />

Er nahm <strong>mich</strong> an der Hand und zog <strong>mich</strong> vorwärts, bis sich<br />

der Wald vor uns lichtete und wir urplötzlich an einem kleinen<br />

Teich standen, der von einem wunderschönen Wasserfall mit<br />

Ich sah <strong>mich</strong> um und drehte <strong>mich</strong> dann zu Jim herum.<br />

„Das ist zauberhaft!“<br />

Er nickte.<br />

„Ja, und noch mehr, ist nämlich Süßwasser.“<br />

Ich seufzte auf und in der nächsten Sekunde begann ich bereits, <strong>mich</strong> aus meinen<br />

Sachen zu schälen. Jim machte es mir nach und schon standen wir uns, ein klein wenig ver-<br />

legen, nackt gegenüber. Aber die Verlegenheit dauerte nicht lange. Zu verlockend war das<br />

Wasser und Jim griff nach meiner Hand.<br />

„Komm, hier vorne kann man bequem hinein kommen.“<br />

Er zog <strong>mich</strong> zu einem breiten, fachen Stein und deutete auf den Boden.<br />

„Hier, von dem Stein aus kann man rein springen. Komm schon.“<br />

Er stellte sich auf den Fels, den er mir gerade gezeigt hatte und hechtete kopfüber in<br />

das klare Wasser. Und ich folgte ihm sofort. Es war wundervoll kühl und ich spürte, wie<br />

einiges von mir abgewaschen wurde, als ich ein paar Züge tauchte und lachend wieder aus<br />

dem Wasser schoss. Meine Haare hingen mir wirr vor dem Gesicht und ich strich sie zur<br />

Seite. Jim tauchte eben vor mir auf und schüttelte sich ebenfalls die Haare aus dem Gesicht.<br />

Dann tauchte er erneut unter und ich tat es ihm gleich. Unter Wasser schwammen wir auf-<br />

einander zu und hier legten sich seine Arme zärtlich um meinen Körper. Seine Hände<br />

wanderten meinen Rücken hinunter und ich spürte eine wohlige Wärme, die von meiner<br />

Kopfhaut bis in die Füße schoss.<br />

Ich hatte ihn, seit er bei mir war, ja wirklich schon oft genug berührt, aber dies jetzt<br />

hier unter diesen vollkommen veränderten Bedingungen zu tun, war etwas ganz anderes. Ich<br />

ließ meine eigenen Hände erforschend und sinnlich über seinen im Wasser langsam ab-<br />

kühlenden Körper gleiten, spürte seine Muskeln, seine herrlich weiche, ebenmäßige Haut und<br />

war trotz der äußeren Umstände einfach nur glücklich. Langsam ließen wir uns zum Ufer<br />

treiben und verließen das Wasser gemeinsam. Im Gras, welches um den Teich herum wuchs,<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

sanken wir zu Boden. Jims Hände glitten sanft über meinen Körper und er erkundete ihn<br />

ebenso aufmerksam, wie ich es eben noch mit seinem getan hatte. Er achtete aufmerksam auf<br />

meine Reaktionen und prägte sich diese genau ein. So hatte er schnell heraus, wo meine<br />

erogenen Punkte zu finden waren. Wir ließen uns Zeit, das einzige, was wir im Moment<br />

hatten. Wir hatten beide nicht das Verlangen, wild übereinander her zu fallen, sondern wollten<br />

den Moment auskosten. Zu viele waren uns schon verloren gegangen. Hier und jetzt sollte uns<br />

nichts und niemand stören.<br />

Jim beugte sich über <strong>mich</strong> und küsste <strong>mich</strong>, erst sanft, dann immer fordernder. Seine<br />

Lippen glitten über meinen nassen Körper, liebkosten ihn und schließlich schlossen sie sich<br />

um meine linke Brustwarze, die sich augenblicklich verhärtete. Erfreut über seinen Erfolg<br />

machte Jim sofort auf der rechten Seite weiter und ich konnte ein Keuchen nicht mehr unter-<br />

drücken. Hitzewellen schossen durch meinen Körper und ließen meinen Unterleib pulsieren.<br />

Ich lag still da und wartete auf mehr. Und Jim gab mir mehr. Während er seine Lippen und<br />

Zunge um meine Brüste kreisen ließ, rutschte seine Hand langsam an meinem Körper<br />

hinunter und ich erzitterte vor Verlangen. Kurz vor meinem Schoss legte er eine künstlerische<br />

Pause ein und ich stöhnte enttäuscht auf. Mein ganzer Körper schrie nach ihm und ich drückte<br />

meinen Unterleib in die Höhe. Doch er ließ <strong>mich</strong> noch einen Moment zappeln. Endlich spürte<br />

ich, dass seine Hand tiefer rutschte und keuchte lustvoll auf, als er endlich das Ziel meiner<br />

Wünsche erreichte. Seine zärtlichen Finger liebkosten <strong>mich</strong> und ich wand <strong>mich</strong> unter ihnen<br />

lasziv auf dem Gras. Als ich schon dachte, es keinen Moment länger aushalten zu können,<br />

rollte Jim sich endlich auf <strong>mich</strong>. Ganz langsam und vorsichtig drang er in <strong>mich</strong> ein, dabei<br />

hätte es mir gar nicht schnell genug gehen können. Als ich ihn endlich tief in mir spürte,<br />

schloss ich die Augen und ließ <strong>mich</strong> ganz und gar treiben. Er lag einen Moment ganz still,<br />

während ich meine Beine um ihn schlang, um ihn fest an <strong>mich</strong> zu pressen. Dann begann er<br />

sanft, sich zu bewegen und trieb <strong>mich</strong> damit fast in den Wahnsinn. Ich hatte das Gefühl, jeden<br />

Moment explodieren zu müssen. Doch er hielt sich zurück, solange er konnte. Schließlich<br />

aber wurden seine Bewegungen schneller und fester und irgendwann vergrub er aufstöhnend<br />

sein Gesicht in meinen Haaren und wir kamen fast gleichzeitig zum Höhepunkt.<br />

Als wir anschließend noch aufeinander liegen blieben, hatte ich das wilde Verlangen,<br />

ihn nie wieder los zu lassen. Für immer so liegen bleiben, Jim tief in mir spürend, von dieser<br />

wundervollen, tiefen Entspannung erfasst, erschien mir das erstrebenswerteste Ziel überhaupt<br />

zu sein. Und ihm schien es ähnlich zu gehen, denn er rührte sich ebenfalls nicht. Irgendwann<br />

hob er das Gesicht aus meinen nassen Haaren und küsste <strong>mich</strong>. Immer wieder trafen sich<br />

unsere Lippen und unsere Zungen spielten miteinander. Seine Linke glitt streichelnd an<br />

meinem Körper entlang und erreichte meinen Po. Dort ließ er sie liegen und seine Finger<br />

strichen zärtlich über meine Haut. Ich spürte erneut Wärme in mir hochsteigen und ließ meine<br />

Hände ebenfalls an seinen Körper hinab rutschen, soweit ich reichen konnte. An seiner<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Wirbelsäule ließ ich sie massierende Bewegungen ausführen und nach ein paar Minuten<br />

merkte ich, dass er wieder reagierte. Er seufzte leise und seine Hand glitt an meinem Körper<br />

wieder hinauf. Unsere Hände verkrallten sich ineinander und Jim begann sich wieder in mir<br />

zu bewegen. Er konnte sich diesmal länger beherrschen und zögerte den erneuten Orgasmus<br />

qualvoll hinaus. Dann aber überwältigte uns die Erregung und wir sahen Sterne, als wir erneut<br />

zum Höhepunkt kamen.<br />

11) Wann sind wir?<br />

Erst jetzt glitt er langsam und sichtlich zufrieden aus mir heraus. Eng aneinander ge-<br />

drückt lagen wir da und genossen einfach die Nähe des anderen. Irgendwann setzte Jim sich<br />

auf und stemmte sich auf die Beine. Er zog <strong>mich</strong> mit sich und wir stiegen noch einmal ins<br />

Wasser, wo wir uns gründlich abspülten. Anschließend stellten wir uns nebeneinander in die<br />

Sonne und ließen uns trocknen. Schließlich zogen wir uns schweren Herzens an und machten<br />

uns auf den Rückweg. Man würde uns am Strand vermutlich ohnehin schon vermissen, aber<br />

das war uns vollkommen egal. Wir ließen uns viel Zeit und kurz bevor wir den Strand wieder<br />

erreichten, hielt Jim <strong>mich</strong> fest.<br />

„Warte.“<br />

Er zog <strong>mich</strong> an sich und gab mir einen leidenschaftlichen Kuss. Als er <strong>mich</strong> endlich<br />

los ließ, war ich ein wenig außer Atem.<br />

„Wer weiß, wie lange das reichen muss.“, erklärte er mit einem frechen Grinsen.<br />

Ich seufzte.<br />

„Ja, wir haben ja keine Ahnung, was auf uns zukommt in nächster Zeit. Ich habe<br />

schreckliche Angst. Um dich! Es wäre sehr viel einfacher, wenn ich dich nicht lieben würde.“<br />

Er lächelte sanft und sagte beruhigend:<br />

„Mir wird schon nichts passieren. Und außerdem, mein Schatz, hab ich um dich<br />

genauso viel Angst, wir sind also Quitt.“<br />

willst.“<br />

Noch einmal küsste er <strong>mich</strong> und sagte ernst:<br />

„Was immer auch passieren wird, <strong>mich</strong> wirst du nicht mehr los, wenn du es nicht<br />

„Nein, das will ich nicht, nie wieder.“<br />

Minuten später traten wir Hand in Hand auf den Strand hinaus. Kate, Sayid und Jack<br />

fuhren herum, als sie uns kommen hörten, und sofort ging Jack wutentbrannt auf uns los.<br />

„Seid ihr komplett übergeschnappt? Was habt ihr euch dabei gedacht, euch einfach zu ver-<br />

drücken? Habt ihr mal eine Sekunde daran gedacht, dass wir uns vielleicht Sorgen um euch<br />

machen? Wo wart ihr, verdammt noch mal?“<br />

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Frauke Feind<br />

In Jim spannte sich alles, das konnte ich durch seine Hand spüren. Er versuchte, ruhig<br />

zu antworten, aber er war in Sekundenschnelle ebenfalls kurz vor dem Explodieren.<br />

„Halt mal die Luft an, Jacko, wir sind hier nicht im Kindergarten. Kelly und ich sind<br />

nicht deine Untergebenen. Wir sind ganz sicher nicht verpflichtet, Big Daddy erst um Erlaub-<br />

nis zu fragen, wenn wir uns ein wenig umsehen wollen. Also, reg dich ab.“<br />

Jack schnauzte ihn ungehalten an:<br />

„Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein. Wir sind hier zusammen, um etwas zu<br />

erledigen und ihr denkt überhaupt nicht nach. Ich will wissen, wo ihr euch herumgetrieben<br />

habt.“ Jetzt wurde ich auch langsam wütend.<br />

„Ersten haben wir uns nicht herum getrieben, zweitens sind wir dir keine Rechenschaft<br />

schuldig. Wir waren nicht tagelang verschwunden, haben das Recht auf ein wenig Privat-<br />

sphäre und wo wir waren geht dich absolut nichts an, also, reg dich ab.“<br />

kennst und ...“<br />

Jack sah <strong>mich</strong> wütend an.<br />

„Du verstehst nicht, um was es hier geht. Diese Insel birgt Gefahren, die du nicht<br />

Ich unterbrach ihn.<br />

„Nein, die kenne ich nicht, noch nicht, deswegen bin ich aber noch lange nicht auf<br />

einen Aufpasser angewiesen, der <strong>mich</strong> bemuttert. Und Jim kennt die Insel. Deutlich besser als<br />

du, nebenbei bemerkt, denn er hat im Gegensatz zu dir drei Jahre hier gelebt. Und er ist<br />

durchaus im Stande, alleine für sich zu denken, dafür braucht er dich nicht. Und wir können<br />

uns alleine genauso gut oder schlecht wehren wie mit euch zusammen. Wir sind wieder da,<br />

uns ist nichts passiert, also mach hier keinen Aufstand. Jim hat mir erzählt, dass du der<br />

Meinung bist, den großen Anführer spielen zu müssen, aber, Jack, ich lasse <strong>mich</strong> nicht gerne<br />

anführen. Wenn andere nach deiner Pfeife tanzen, mag das für sie in Ordnung sein, aber Jim<br />

und ich sind selbstständig denkende Menschen, wir brauchen kein Kindermädchen.<br />

Verschwende also deine Energie nicht unnütz, du wirst sie noch anderweitig brauchen<br />

können.“<br />

Jetzt mischte Kate sich ärgerlich ein.<br />

„Sag mal, wie sprichst du eigentlich mit Jack? Reiß dich mal zusammen, er ist hier ...“<br />

„Was? <strong>Der</strong> Boss? Das hat er schon öfter versucht, Freckles, schon vergessen? Ist nie was<br />

Gutes bei raus gekommen?“, grinste Jim.<br />

„Sawyer! Was soll das? Du warst doch bereit, zu helfen.“, giftete Kate.<br />

„Wer sagt denn, dass ich das nicht mehr bin? Aber, Sheena, du solltest es langsam be-<br />

griffen haben, ich lass mir nichts Befehlen, weder von Captain Jack noch von jemand<br />

anderem. Und wie ich das sehe, Kelly auch nicht. Und ganz bestimmt geht es euch nichts an,<br />

wenn Kelly und ich mal ne Weile alleine sein wollen. Nicht, dass wir dazu oft und viel Ge-<br />

legenheit haben werden.“<br />

Nun mischte sich auch Sayid ein.<br />

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Frauke Feind<br />

„Hört zu, wir sind alle angespannt und nervös, aber wenn wir uns gegenseitig an-<br />

schnauzen, hilft das auch niemandem. Jim hat Recht, es geht uns nichts an. Sie sind unverletzt<br />

wieder hier, wir haben nicht das Recht, ihnen Vorwürfe zu machen. Also sollten wir uns alle<br />

beruhigen und überlegen, wie es weiter gehen soll. Wir sollten das gemeinsam überlegen,<br />

nicht jeder für sich. Und wir sollten versuchen, gemeinsam zu handeln.“<br />

Ich nickte.<br />

„Du hast Recht. Aber ich möchte euch Bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir er-<br />

wachsen genug sind, nicht um Erlaubnis zu fragen, wenn wir mal alleine los marschieren<br />

wollen. Weder Jim noch ich sind Willens, nach irgendjemandes Pfeife zu tanzen, wir sind<br />

absolut fähig, für uns selbst zu entscheiden. Das ist nicht böse gemeint und wir werden euch<br />

nächstes Mal Bescheid sagen, aber das ist auch alles, was ihr erwarten könnt. Wegen der Ge-<br />

fahren, die ihr so betont … Keiner von euch hat solange auf der Insel verbracht wie Jim, wenn<br />

einer von uns um ihre Gefahren weiß, dann wohl er. Und jetzt sollten wir überlegen, wie es<br />

weiter gehen soll.“<br />

Jack und Kate schluckten schwer, Jim nickte verbissen und Sayid setzte sich in den<br />

Sand und sah uns auffordernd an. Wir setzten uns also alle und schwiegen einige Minuten.<br />

Dann hatten wir uns alle beruhigt und Jack meinte:<br />

„Okay, ich denke, das vorrangigste Ziel ist es, heraus zu finden, wann wir sind, oder<br />

sieht das jemand anders?“<br />

„Wäre es nicht auch wichtig, heraus zu finden, wer zur Zeit außer uns noch hier ist?“,<br />

fragte Kate besorgt. „Ihr wisst, die ‟Anderen‟ sind ziemlich hinterhältig und verschlagen, sie<br />

haben uns mehr als einmal überrascht und überwältigt. Und wenn Ben etwas angezettelt hat,<br />

um uns hier zu Schaden, sollten wir auch darauf vorbereitet sein.“<br />

Sayid nickte zustimmend.<br />

„Ja, aber wenn wir erst wissen, wann wir sind, kommt eins zum anderen und wir<br />

werden auch erfahren, wer jetzt unsere Gegner sein könnten. Unser Vorteil ist, dass wir von<br />

hier aus die Wege zu allen wichtigen Orten finden. Das Beste wird sein, uns auf den Weg zu<br />

machen und zu schauen, ob es die DHARMA Stationen schon gibt.“<br />

Jack nickte.<br />

„Das ist die logische Schlussfolgerung. Wir haben keine Waffen, das hat natürlich<br />

nicht geklappt. Keine Waffen, keine Kleidung, Essen wieder einmal nur das, was wir finden,<br />

das war es. Sollten wir also Gelegenheit bekommen, uns irgendwie zu bewaffnen, sollten wir<br />

das ausnutzen.“<br />

„Theoretisch könnten wir vor der Zeit der DHARMA Initiative gelandet sein. Dann<br />

würden wir es nur mit den ‟Anderen‟ zu tun bekommen, richtig? Wir haben gelernt, dass die<br />

sehr brutal und rücksichtslos sind. Und wenn Ben es irgendwie geschafft hat, auch durch die<br />

Zeit zu Reisen, wird er uns seine Leute auf den Hals hetzen.“, warf Jim ein. „Und wenn wir<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

vor der DHARMA Initiative sind, wie sollen wir dann in die Orchidee kommen? Ist<br />

schwierig, wenn es sie noch nicht gibt.“<br />

Sayid grunzte unwillig. Dann sagte er:<br />

„Wenn es so ist, haben wir allerdings ein großes Problem. Aber wir wollen nicht<br />

gleich das Schlimmste annehmen, denke ich. Lasst uns erst einmal aufbrechen, sollte das<br />

Hatch nicht existieren, wissen wir, dass wir erheblich zu früh dran sind.“<br />

„Wo liegt dieses Hatch?“, fragte ich interessiert.<br />

„Das Hatch ist eigentlich die Swan Station. Sie liegt einige Meilen nordöstlich von<br />

hier, im Tal zwischen den Berghängen. Wir müssen zu den Höhlen und von dort aus weiter.“<br />

Ich nickte verstehend.<br />

nicht fit?“<br />

„Okay, wie viele Meilen?“<br />

„Drei, vier, wir haben es nie vermessen.“, erklärte Kate ungnädig. „Wieso? Bist du<br />

Ich grinste sie an.<br />

„Mit dir nehme ich es jederzeit auf. Es geht mir darum, dass Jim noch nicht wieder<br />

hundert Prozent fit ist. Es nützt wenig, wenn wir jetzt losstürmen, und wenn etwas passiert, ist<br />

er nicht voll einsatzfähig, falls du verstehst, was ich meine.“<br />

„Kelly hat Recht. Wir sollten es ruhig angehen lassen. Wir haben Zeit, so, wie ich das<br />

sehe, das Einzige, was wir haben. Wenn wir den Swan, so er denn existiert, erst morgen er-<br />

reichen, ist das auch in Ordnung. Lasst uns nichts überstürzen. Und behaltet auf dem Weg<br />

bitte alle sehr genau eure Umgebung im Auge.“<br />

Jack sah uns der Reihe nach an und diesmal konnte ich ihm zustimmen.<br />

„Gut, dann lasst uns los marschieren.“<br />

Wir setzten uns in Bewegung und stiefelten erneut in den dichten Dschungel hinein.<br />

Da es noch keine Wege gab, stellten die vier schon hier gewesenen schnell fest, dass das<br />

Vorankommen langsam ging und anstrengend und schwierig war. Wir kämpften uns quasi<br />

Schritt für Schritt vorwärts und waren schnell schweißnass.<br />

Unsere Kleidung klebte uns am Körper. Unter dem dichten<br />

Blätterdach stand die Luft. Warm, feucht, drückend. Jim und<br />

ich ließen uns ein wenig zurückfallen und unterhielten uns<br />

leise über das, was er von der Insel wusste. Am gefühlten<br />

frühen Nachmittag, der vom Sonnenstand her allerdings eher schon der frühe Abend war, er-<br />

reichten wir endlich ziemlich erledigt die Höhlen, von denen Jim mir berichtet hatte. Er war<br />

damals, kurz nach dem Absturz, nicht mit dort eingezogen. Er war, wie Sayid, Kate und gut<br />

die Hälfte der anderen <strong>Über</strong>lebenden damals der Meinung gewesen, am Strand wäre die<br />

Chance, von einem Rettungsteam gesehen zu werden, erheblich größer. So hatten sich die<br />

<strong>Über</strong>lebenden in zwei Gruppen geteilt. Als wir die Höhlen erreichten, waren wir alle er-<br />

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Frauke Feind<br />

leichtert und stürzten uns auf das kühle, klare Süßwasser, dass es hier gab. Das wir heute nicht<br />

mehr weiter gehen würden, war uns allen klar.<br />

ihr.<br />

„Ich werde mal sehen, ob ich etwas zu Beißen finde.“, erklärte Kate und Jack ging mit<br />

Jim, Sayid und ich untersuchten inzwischen die Höhle auf etwaige Gefahren, aber wir<br />

fanden nichts. Nicht einmal die beiden Toten, die Jack damals entdeckt hatte. Sayid schüttelte<br />

besorgt den Kopf.<br />

„Jack meinte, die Leichen lägen vierzig bis fünfzig Jahre hier, dem Verwesungsgrad<br />

ihrer Kleidung nach zu urteilen. Wenn es sie noch nicht gibt ...“<br />

gleich.<br />

„... sind wir vor 1954 ...“, beendete Jim den Satz und mir wurde heiß und kalt zu-<br />

„Dann hätten wir aber eine Chance, Daniel zu finden, wenn er bei den ‟Anderen‟ ein-<br />

trifft, zusammen mit Charlotte und Miles.“, stieß er aufgeregt hervor.<br />

„Dafür müssten wir nur genau wissen, wann wir sind. Es könnte noch Jahre dauern,<br />

bis die auftauchen.“, gab Sayid zu Bedenken. „Und die ‟Anderen‟ waren zu der Zeit auch<br />

nicht weniger feindselig als später.“<br />

Jim nickte.<br />

„Das ist richtig, Mohammed, aber vielleicht unsere einzige Chance.“<br />

„Was ist unsere einzige Chance?“<br />

Jack und Kate tauchten hinter uns auf, die Arme voller Obst.<br />

„Wir haben Adam und Eva nicht gefunden, was darauf hindeutet, dass wir in irgend-<br />

einer Zeit vor 1950 stecken. Du meintest damals, die Leichen würden hier vierzig bis fünfzig<br />

Jahre liegen. Wenn wir also vor dieser Zeit sind, könnte es möglich sein, Daniel zu erwischen,<br />

als er 1954 auf die ‟Anderen‟ trifft und die Wasserstoffbombe entschärfen soll.“, erklärte<br />

Sayid, während er Jack Obst abnahm, um es vorsichtig auf einen großen Stein am Höhlenein-<br />

gang zu legen.<br />

„Das ist sehr vage. Es könnte alles zwischen der Zeit der Dinosaurier und 1950 sein.“,<br />

meinte Kate frustriert.<br />

„Natürlich müssen wir genauer wissen, wann wir sind. Aber es scheint ja keine Zeit-<br />

sprünge zu geben, was gut ist. Wir werden schon noch erfahren, in welchem Jahr wir sind.“,<br />

meinte Jack beruhigend und griff sich eine Papaya von dem Haufen aus Obst.<br />

Schweigend kauten wir auf den Früchten herum und als wir halbwegs satt waren sah<br />

ich Jim an. Er sah müde aus, aber lange nicht mehr so fertig wie am Abend zuvor.<br />

„Wie fühlst du dich?“, fragte ich ihn erstaunt.<br />

„Bestens, nur müde, das sind wir alle.“, erklärte er lächelnd. „Irgendwie meint es die<br />

Insel immer wieder gut mit mir. Ist ja nicht das erste Mal, dass es mit der Heilung hier sehr<br />

schnell geht. Damals, nach der Schusswunde ...“<br />

Jack unterbrach ihn.<br />

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Frauke Feind<br />

„Ja, das war unglaublich. In jedem Krankenhaus hätte es Wochen gedauert, bis<br />

Sawyer sich von der heftigen Sepsis erholt hätte, wenn er es überhaupt geschafft hätte. Hier<br />

brauchte er damals nur wenige Tage, um wieder fit zu sein.“<br />

Ferne.<br />

Ich konnte es zwar kaum glauben, war aber irgendwie beruhigt.<br />

„Denkt doch mal an Locke und Rose.“, warf Kate ein und sah gedankenverloren in die<br />

„Was war denn mit denen?“, fragte ich interessiert.<br />

„Naja, Locke war querschnittgelähmt und Rose unheilbar an Krebs erkrankt und John<br />

konnte sofort nach dem Absturz wieder laufen und Rose war geheilt.“, erklärte Kate. Sie<br />

grinste Jim an. „Wollen wir mal hoffen, dass dich die Gunst der Insel nicht verlässt. Du hast<br />

sie nötiger als jeder andere von uns.“<br />

Ganz kurz wirkte Jim bedrückt, dann aber warf er Kate einen gespielt strengen Blick<br />

zu und meinte:<br />

„Nun mach Kelly doch keine Angst. Das ist Wasser auf ihre Mühlen. Sie denkt<br />

sowieso schon, dass es besser für <strong>mich</strong> wäre, wenn ich immer nen Doc im Rucksack hab.“<br />

Ich wurde rot.<br />

„Na, meine Erfahrungen mit dir legen diese Vermutung ja auch nahe.“<br />

Jack grinste.<br />

„Meine auch.“<br />

Jim sah ihn an und verdrehte die Augen.<br />

„Na, was war denn sonst noch?“, fragte er aufmüpfig.<br />

„Oh, soll ich aufzählen?“ Kate lachte. „Das Loch im Arm, deine Augen, die Schuss-<br />

wunde, etwas später der Streifschuss am Hals, Dannys Behandlung bei den ‟Anderen‟, die<br />

angebliche Operation ...“<br />

Jim sah Kate herausfordernd an und fragte frech:<br />

„Und, was ist denn jetzt mit der Aufzählung?“<br />

Wir konnten alle befreit Lachen und vergaßen für den Moment, in welch unan-<br />

genehmer Lage wir steckten.<br />

ergeben ein.<br />

„Okay, ich neige vielleicht ein ganz klein wenig zu Verletzungen.“, räumte Jim jetzt<br />

„Was war denn das mit deinen Augen?“, fragte ich neugierig und ein wenig besorgt.<br />

Jack lachte gehässig.<br />

konnte.“<br />

„Das war mal eine der seltenen Gelegenheiten, wo ich Sawyer eins auswischen<br />

Jim schnaufte.<br />

„Du Arsch hast meine Angst schamlos ausgenutzt.“<br />

Kate kicherte.<br />

„Oh, das war nicht nett von dir, Jack.“<br />

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Und Sayid grinste ebenfalls breit.<br />

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Frauke Feind<br />

„Aber die Brille, die ich dir gebaut habe, war schon klasse.“<br />

„Kann <strong>mich</strong> vielleicht mal jemand aufklären?“, fragte ich ungeduldig.<br />

„Klar. Sawyer lief schon seit Tagen mit heftigen Kopfschmerzen herum. Er futterte<br />

unsere wenigen Aspirin wie Bonbons, aber es half nicht. Zu Jack wollte er aber auch nicht.<br />

Irgendwann konnte ich es nicht mehr mit ansehen und hab ihn doch zu Jack geschafft.“<br />

Jack fuhr mit der Erzählung fort.<br />

„All die Wochen vorher hatte Sawyer keine Gelegenheit ausgelassen, mir einen<br />

Seitenhieb zu verpassen. Als er jetzt zu mir kam, war ich trotzdem besorgt, wenn es etwas<br />

Schlimmes gewesen wäre, hätte ich ihm hier auf der Insel ja nicht helfen können. Er war<br />

überzeugt, einen Tumor zu haben, weil sein Onkel an einem solchen gestorben war.“<br />

Jim schnaufte unwillig.<br />

„Hatte ich nicht ...“<br />

Jack grinste und fuhr fort:<br />

„Dann habe ich ihn untersucht und schon nach wenigen Minuten war mir klar, was<br />

ihm fehlte. Ich habe die Gelegenheit genutzt, ihm vor Kate ein paar sehr interessante Fragen<br />

zu seinem Liebesleben zu stellen, wie zum Beispiel, ob er mal Sex mit einer Prostituierten<br />

hatte, an Geschlechtskrankheiten gelitten hatte, wann der letzte Ausbruch war ...“<br />

Ich konnte ein leises Kichern nicht ganz unterdrücken und fing mir von Jim einen<br />

strafenden Blick ein. Jack erzählte weiter:<br />

„Sawyer hatte nach dem Absturz ein neues Hobby, denn den Anderen beim Be-<br />

schaffen von Lebensmitteln oder dem Bau von Unterkünften zu helfen war nicht so sein Ding.<br />

Also las er alles, was ihm in die Finger kam.“<br />

Hier unterbrach ich Jack und sah erst ihn, dann Sayid ziemlich finster an.<br />

„Wie ‟Watership down‟?“, fragte ich kalt und Jack wurde tatsächlich rot.<br />

„Ja, genau. Und das viele Lesen bekam seinen Augen nicht, er litt an Hyperopie. Ich<br />

suchte alles Gepäck durch, sammelte sämtliche Brillen ein, die ich finden konnte und be-<br />

suchte Sawyer zwei Tage nach der Untersuchung am Strand. Hier klärte ich ihn dann auf. Wir<br />

fanden schließlich zwei Brillen, bei denen jeweils ein Glas auf Sawyers Augenschwäche<br />

passte und Sayid baute ihm daraus eine wirklich wunderschöne Brille.“<br />

Kate lachte Tränen, selbst jetzt nach all den Jahren noch.<br />

„Rodenstock ist ein Stümper dagegen. Ich kann <strong>mich</strong> noch genau erinnern, wie<br />

Sawyer sie aufsetzte und ausprobierte. Hurley kam vorbei und sah ihn mit der Brille. Er<br />

meinte damals, Sawyer sähe aus wie ein überrollter Harry Potter.“<br />

Genervt schnaufte Jim:<br />

„Schön, dass es euch auch heute noch eine Freude ist, euch über <strong>mich</strong> lustig zu<br />

machen. Ich dachte wirklich, ich hätte nen Hirntumor.“<br />

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Frauke Feind<br />

Am Funken seiner Augen sah ich, dass er die Worte nicht so meinte, wie er sie sagte.<br />

Lachend erklärte ich:<br />

„Armer Schatz. Wenn du <strong>mich</strong> so geärgert hättest wie Jack offensichtlich, weiß ich<br />

nicht, ob ich der Versuchung, es dir mal ein wenig heimzuzahlen, widerstanden hätte.“<br />

Äußerst frustriert sah Jim zu mir hinüber, dann stöhnte er theatralisch:<br />

„Du auch, mein Sohn Brutus?“<br />

„Und dann hat er die schöne Brille, mit der ich so viel Arbeit hatte, auch noch auf dem<br />

Floß verloren.“, meinte Sayid traurig.<br />

„Ja, das gute Stück ...“, grinste Jim und gähnte herzhaft. „Ich glaub, ich leg <strong>mich</strong> hin.<br />

Wo ist das Bett?“<br />

Gras.“<br />

Ich sah <strong>mich</strong> suchend um.<br />

„Sieht ja alles ungemein einladend aus. Ich glaube, ich versuche es vor der Höhle im<br />

Jim nickte.<br />

„Ja, scheint mir sinnvoller als hier auf den Steinen. Komm, Baby, auf geht„s, ich such<br />

uns n nettes Nachtlager.“<br />

Wir erhoben uns und marschierten nach draußen. Wenige Meter vom Höhleneingang<br />

entfernt fanden wir ein Plätzchen mit üppigem Gras und legten uns hier hin. <strong>Über</strong> uns<br />

funkelten die Sterne und ich kuschelte <strong>mich</strong> in Jims Arme.<br />

„Gott, ich vermisse jetzt schon ein anständiges Bett.“, stöhnte ich unwirsch.<br />

„Na, frag <strong>mich</strong> mal. Aber man gewöhnt sich schnell daran. Allerdings hatten wir<br />

damals wenigstens die Flugzeugsitze, Decken, Kissen ... Aber ich hatte dich damals nicht.“<br />

Er zog meinen Kopf sanft zu sich und gab mir einen Kuss.<br />

„Wenn ich die Wahl hätte, ein Bett oder dich ... Keine Frage. Dich.“<br />

Dankbar sah ich ihn an und gab ihm nun meinerseits einen Kuss. Dann fragte ich:<br />

„Dir geht es wirklich besser, oder?“<br />

Er nickte.<br />

„Erheblich. Irgendwas Gutes muss die Insel ja haben und wenn es nur das ist.“<br />

„Das ist mehr, als es irgendwo anders gibt.“<br />

Eng aneinander geschmiegt schliefen wir irgendwann ein und wurden am Morgen<br />

vom Gezwitscher der Vögel geweckt. Steif und verspannt erhoben wir uns. Jim legte stöhnend<br />

die Hände an den Rücken und streckte und reckte sich ausgiebig. Als wir wach genug waren<br />

genehmigten wir uns einen großen Schluck Wasser.<br />

„Kaffee wäre mir deutlich lieber.“, grinste ich und schöpfte mir mit den Händen auch<br />

Wasser ins Gesicht, um zu mir zu kommen.<br />

Gerade stießen Jack und Kate zu uns.<br />

„Morgen.“, murmelte der Arzt verschlafen. „Man, ist das unbequem. Wie konnten wir<br />

uns nur darauf einlassen, wieder hierher zu kommen?“<br />

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Frauke Feind<br />

Er war ganz offensichtlich ziemlich schlecht gelaunt.<br />

„Ihr hättet euch auch hier draußen hinlegen sollen, im Gras war es ziemlich an-<br />

genehm.“, erklärte ich fröhlicher als ich <strong>mich</strong> fühlte.<br />

Mir tat alles weh. Nachdem alle sich frisch gemacht hatten, setzten wir uns vor der<br />

Höhle auf den Boden, aßen von den Früchten, die noch da waren und schließlich meinte<br />

Sayid:<br />

„Wir sollten aufbrechen. Heute müssten wir den Swan erreichen. Falls es ihn gibt, was<br />

ich immer mehr bezweifle.“<br />

Also machten wir uns wieder auf den Weg. Es ging zum Teil über Hochplateaus und<br />

wir kamen etwas schneller voran als am Tag zuvor. Gegen Mittag fing das Gelände an, abzu-<br />

fallen und Jack meinte:<br />

„Da unten zwischen den Bäumen sollte das Hatch liegen.“<br />

Bergab kamen wir noch ein wenig schneller voran und so hatten wir bald den Wald-<br />

rand erreicht. Hier wurde es wieder schwieriger, voran zu kommen und wir kämpften mit der<br />

dichten Vegetation. Dass es auch noch anfing, wolkenbruchartig zu regnen machte die<br />

Wanderung nicht angenehmer. Als der Regen endlich wieder nachließ, tropfte es aus Büschen<br />

und Bäumen weiter auf uns herab und wir waren alle gereizt und abgekämpft. Und dann blieb<br />

Kate, die die meiste Zeit voran ging, plötzlich stehen und lauschte. Sie zeigte deutliche<br />

Zeichen von Angst und keuchte:<br />

„Oh Gott!“<br />

Und jetzt hörten wir es auch!<br />

Ein metallisches Heulen, Rasseln und Brüllen war in der Ferne zu hören, dann konnten<br />

wir ein Krachen vernehmen, als brächen große Bäume auseinander. Jim griff nach meiner<br />

Hand und zog <strong>mich</strong> an sich.<br />

„Scheiße, Scheiße!“, keuchte er erschrocken.<br />

Verwirrt fragte ich:<br />

„Was, um Himmels Willen, ist das?“<br />

Kate wirbelte zu mir herum und stieß panisch:<br />

„Das Monster!“ hervor.<br />

Angespannt lauschten wir alle und die Geräusche kamen eindeutig näher, und zwar<br />

schnell. Hektisch sahen wir uns nach Deckungsmöglichkeiten um und Jim zog <strong>mich</strong> mit sich,<br />

während Kate und Jack zusammen mit Sayid in die<br />

andere Richtung losrannten. Vor uns tauchte ein<br />

riesiger, uralter Feigenbaum auf, dessen Luftwurzeln so<br />

viel Platz boten, dass Jim sich dazwischen quetschen<br />

konnte. Ich wollte ihm gerade folgen, als zwischen den<br />

Bäumen eine Art schwarze Rauchsäule mit rasender<br />

Geschwindigkeit auf <strong>mich</strong> zu geschossen kam. Entsetzt und fasziniert gleichermaßen stand<br />

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Frauke Feind<br />

ich wie gelähmt da und starrte das schwarze Etwas an. Irgendwo hinter mir hörte ich Jim ver-<br />

zweifelt brüllen:<br />

„Kelly!“<br />

Ich stand immer noch erstarrt dem Rauch gegenüber und dieser senkte sich langsam<br />

auf <strong>mich</strong> herunter. Hinter mir brüllte Jim panisch:<br />

„NEIN. Verschwinde! Lass sie in Ruhe!“<br />

Ich sah <strong>mich</strong> kurz um und stellte unterbewusst fest, dass er versuchte, zwischen den<br />

Wurzeln hervor zu kommen, aber aus irgendeinem Grund hing er scheinbar fest. Hysterisch<br />

riss und zerrte er, um sich zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Ich sah wieder zum Rauch<br />

und dieser hatte sich so weit gesenkt, dass er <strong>mich</strong> fast berührte. Sekunden reihten sich an-<br />

einander und ich hatte das eigenartige Gefühl, von dem Etwas genau analysiert zu werden. Es<br />

schien <strong>mich</strong> zu Scannen. Sekunden reihten sich aneinander. Plötzlich brüllte das Ding ohren-<br />

betäubend auf, drehte sich herum und verschwand so schnell zwischen den Bäumen, wie es<br />

erschienen war. Und jetzt erst gelang es Jim, sich aus seinem Käfig zu befreien.<br />

Er war mit drei schnellen Schritten bei mir und riss <strong>mich</strong> in seine Arme.<br />

„Großer Gott, Kelly, ist dir was passiert? Geht es dir gut? Kelly?“<br />

Ich wachte aus meiner Erstarrung auf und klammerte <strong>mich</strong> zitternd an ihn.<br />

„Es ... es geht mir gut ...“, keuchte ich.<br />

„Oh, Gott. Ich ...“<br />

Ihm fehlten offensichtlich die Worte.<br />

„Es geht mir wirklich gut, Jim, bitte, halte <strong>mich</strong> einfach nur fest.“<br />

Und das tat er, und zwar so, als wolle er <strong>mich</strong> zur Sicherheit in sich hinein saugen.<br />

Und nun kamen auch Jack, Kate und Sayid auf uns zu gerannt.<br />

„Kelly, ist dir was passiert?“, fragte Jack fassungslos.<br />

„Nein, nein, wirklich nicht, mir geht es gut. Was ist das?“<br />

Sayid schüttelte den Kopf.<br />

„Das wissen wir nicht. Wir wissen nur, zu was es fähig ist. Es hat dich nicht an-<br />

gegriffen. Das ... Warum nicht?“<br />

Ich lag immer noch in Jims Armen und zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub.<br />

„Keine Ahnung. Ich hatte das Gefühl, es würde <strong>mich</strong> ... ja, Scannen, genau Abtasten, Ana-<br />

lysieren, ich kann es nicht beschreiben.“<br />

„Es ist mir so was von egal, warum es dich nicht attackiert hat, Hauptsache, es hat<br />

nicht.“, erklärte Jim mit zitternder Stimme. „Ich konnte nicht aus dem verdammten Baum<br />

raus. Erst, als es weg war, ging es plötzlich wieder. Ich kapier das nicht. Es war, als würde<br />

<strong>mich</strong> was zurückhalten, zu Kelly zu kommen.“<br />

„Vielleicht hat dir das das Leben gerettet.“, sagte Sayid überlegend. „Nicht sehr viele<br />

haben die Begegnung mit dem Monster bisher überlebt.“<br />

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Frauke Feind<br />

Es dauerte eine Weile, bis wir uns alle soweit gefangen hatten, dass wir weiter gehen<br />

konnten. Jim blieb dicht bei mir und hatte den rechten Arm um <strong>mich</strong> gelegt. Er war still und<br />

schien tief in Gedanken zu sein. Schließlich fragte ich ihn:<br />

„Was ist mit dir?“ Er sah <strong>mich</strong> an und seufzte.<br />

„Na, was denkst du denn? Ich hab mir fast in die Hose gemacht. Ich dachte, das war‟s.<br />

Dass es dich vor meinen Augen zerfetzen würde, so, wie es damals die Söldner zerfetzt hat.<br />

Kelly, du hast keine Ahnung, zu was dieses Ding in der Lage ist!“<br />

Ich spürte, dass ihm ein Schauer über den Körper huschte und war dankbar für seine<br />

Sorge und Angst. Ich wollte antworten, wurde aber von Kate unterbrochen, die einige Meter<br />

vor uns ging.<br />

„Hier. Hier ist es! Oder sollte es sein. Hier ist der umgestürzte Baum, auf dem du<br />

damals gesessen hast, als ich dir zeigte, dass wir noch auf der Insel sind.“<br />

Auch Jim erkannte die Umgebung jetzt wieder und Jack seufzte.<br />

„Wie zu erwarten war, keine Station. Wunderbar. Nun sind wir so schlau wie vorher.“<br />

Frustriert kickte Jack einen Stein in den Dschungel. Ratlos standen wir alle da und Sayid<br />

meinte:<br />

„Es bleibt uns keine andere Wahl, wir müssen versuchen, die ‟Anderen‟ zu finden.“<br />

„Und wie sollen wir das schaffen, Ali? Solange durch den verdammten Dschungel latschen,<br />

bis wir über sie stolpern?“, fragte Jim ruhig.<br />

„So in etwa.“, erwiderte Sayid und sah uns der Reihe nach an. „Oder hat einer von<br />

euch eine bessere Idee?“<br />

Frustriert schüttelten wir die Köpfe. Es war scheinbar unsere einzige Möglichkeit. Wir<br />

hatten noch einige Stunden Licht, also entschieden wir, uns wieder auf den Weg zu machen,<br />

Richtung Norden über die Berge. Das war laut Aussage der Freunde durchaus machbar.<br />

12) Gefangen<br />

Die nächsten Meilen wurden sehr anstrengend und ab und zu gefährlich. Zwar waren<br />

die Berge durchaus bezwingbar, aber es ging an einigen Stellen doch ziemlich steil in die<br />

Höhe und grenzte schon deutlich mehr an Bergsteigen als an Wandern. Einmal mussten wir<br />

ein Stück zurück, da es einfach nicht weiter ging, ohne wirklich Gefahr zu laufen, abzu-<br />

stürzen. Fluchend und keuchend stiegen wir also wieder gute dreihundert Meter tiefer und<br />

wandten uns deutlich weiter nach Westen. Als es dunkel wurde, hatten wir ein kleines Plateau<br />

erreicht und sanken dort völlig erschöpft zu Boden. Uns allen knurrte der Magen, aber hier<br />

oben gab es nichts mehr, was man hätte essen können. Und auch Wasser fanden wir nicht. So<br />

legten wir uns durstig, hungrig und vollkommen erschöpft ins Gras und schliefen Minuten<br />

später bereits wie die Toten.<br />

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Frauke Feind<br />

Am folgenden Morgen ging die Quälerei übergangslos weiter. Wir wollten endlich aus<br />

den Bergen raus. Wäre Jim nicht auf wundersame Weise von der Insel geheilt worden, er<br />

hätte diese strapaziöse Wanderung nicht durchgehalten. So aber stieg<br />

er unverdrossen weiter, half mir, wo es nur ging. Ab und zu hielt er<br />

sich zwar stöhnend das Kreuz, machte aber kommentarlos weiter.<br />

Schließlich hatten wir gegen Mittag den höchsten Punkt erreicht.<br />

Unglaublich erleichtert begannen wir nun mit dem Abstieg in das<br />

große, lang gestreckte Tal zwischen den beiden die Insel be-<br />

herrschenden Bergketten. Als wir tiefer und tiefer stiegen, wurde die Vegetation wieder<br />

dichter und schließlich entdeckte Kate zu unser aller Freude den ersten Papaya Baum. Sie war<br />

es auch, die an dem Baum in die Höhe turnte und uns die Früchte herunter warf. Heißhungrig<br />

machten wir uns darüber her. <strong>Der</strong> Saft des reifen Obstes löschte auch unseren Durst ein<br />

wenig, obwohl wir alle auch danach noch eine Menge für frisches Wasser gegeben hätten.<br />

Als wir auf diese Weise endlich wieder etwas im Magen hatten, machten wir uns deutlich<br />

besser gelaunt noch einmal auf die Füße. Immerhin hatten wir noch mindestens zwei Stunden<br />

Tageslicht. Kurz bevor es endgültig dunkel wurde, hatten wir die Berge hinter uns gelassen<br />

und marschierten durch ein mit übermannshohem Gras bewachsenes Gebiet. Jim sah sich um<br />

und meinte:<br />

bin.“<br />

„Das sieht hier aus wie in dem komischen Feld, wo ich damals zusammen gebrochen<br />

Mir jagte bei seinen Worten ein Schauer über den Rücken. Er hatte mir erzählt, dass<br />

die Anführerin der Hecküberlebenden ihn einfach hatte zurücklassen wollen.<br />

„Ich hab damals eigentlich schon abgeschlossen gehabt. Hab nicht damit gerechnet,<br />

dass Mike und Jin sich für <strong>mich</strong> einsetzen würden. Ich war sicher, die lassen <strong>mich</strong> einfach<br />

alleine zurück, zum Krepieren.“ Er war bei diesen Worten ziemlich erschüttert gewesen. „Ich<br />

hab ne höllische Angst gehabt. Krank, schwach, am Ende, und Ana erklärte einfach: Wir<br />

lassen ihn zurück. Ich hätte keine Chance gehabt, Kelly.“<br />

Glücklicherweise stand diese Ana-Lucia mit dieser Meinung alleine da. Jin und dieser<br />

Michael, der Erbauer des Floßes, hatten vehement dagegen protestiert und mit Hilfe eines der<br />

Hecküberlebenden eine stabile Trage gebaut, in der sie Jim dann mit geschleppt hatten. Ich<br />

griff unwillkürlich nach seiner Hand und er lächelte dankbar.<br />

Wir beschlossen, für heute Schluss zu machen und versuchten, es uns in dem hohen<br />

Gras bequem zu machen. Wir waren zwar wieder ziemlich am Ende unserer Kräfte, aber nicht<br />

so fertig wie am Abend zuvor. So saßen wir noch zusammen, Jim hatte sich ausgestreckt und<br />

seinen Kopf auf meinen Schoss platziert, und unterhielten uns.<br />

„Was ist eigentlich aus den Leuten aus dem Heckteil geworden?“, fragte ich neugierig.<br />

Sofort wurde die Stimmung gedrückt. Dann erklärte Jack:<br />

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Frauke Feind<br />

„Die meisten von ihnen sind inzwischen tot. Ana-Lucia, das war die Anführerin, und<br />

eine junge Frau namens Libby, wurden ... sie wurden von Michael erschossen. Das erfuhren<br />

wir aber erst später. Er hatte den Verdacht geschickt auf Ben gelenkt, um uns dazu zu bringen,<br />

diesen zu verfolgen. Mike war vorher von den ‟Anderen‟ überwältigt, in eines ihrer Lager<br />

geschleppt und zu seinem Sohn gebracht worden. Dort befahlen ihm die ‟Anderen‟, Kate,<br />

Hurley, Sawyer und <strong>mich</strong> selbst zu ihnen zu bringen. Im Gegenzug würde er Walt zurück-<br />

bekommen und die Gelegenheit, mit einem Boot von der Insel zu verschwinden. Michael ver-<br />

sprach, alles genauso zu machen. Wir erfuhren zwar von der Falle, und Michael gab irgend-<br />

wann im Wald zu, dass er die beiden Frauen getötete hatte, aber unser Gegenplan ging schief.<br />

Du weißt, dass wir in ihre Gefangenschaft gerieten. Hugo wurde ins Camp zurückgeschickt<br />

mit der Auflage, den restlichen Leuten dort klar und deutlich zu machen, dass es keinen Sinn<br />

haben würde, nach uns zu suchen, und dass es katastrophale Konsequenzen haben würde,<br />

wenn sie sich nicht daran hielten.“<br />

Ich war entsetzt.<br />

„Und was ist aus diesem Michael geworden?“<br />

Jim lachte sarkastisch.<br />

„<strong>Der</strong> Bastard stieg vor unseren Augen in das verdammte Boot und zitterte mit Walt ab,<br />

ohne uns noch eines Blickes zu würdigen. Ich hoffe, er schmort inzwischen in der Hölle. Er<br />

hat mir zwar das Leben gerettet, aber dafür hat er uns alle chancenlos diesen Mistkerlen zum<br />

Fraße vorgeworfen.“<br />

Kate stimmte ihm zu.<br />

„Das hoffe ich auch. Kelly, du machst dir keine Vorstellung davon, wie grässlich es<br />

bei den ‟Anderen‟ war. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel Angst gehabt.<br />

Dieser Danny ... Er war wirklich ein Psycho wie er im Buche steht. Jin, Sun und Sayid hatten<br />

damals versucht, uns zu helfen, weißt du. Sie hatten die Insel mit Desmonds Boot umsegelt<br />

und wollten die ‟Anderen‟ von der Wasserseite überraschen. Das ging jedoch schief. Die Frau<br />

von diesem Danny, sie hieß Coleen, wurde von Sun in Notwehr angeschossen und starb<br />

später. Daraufhin drehte Danny vollkommen durch und konzentrierte seinen ganzen Hass auf<br />

Sawyer. Es kam zu dem Zwischenfall, bei dem Danny ihn fast totgeschlagen hätte. Und als ob<br />

das noch nicht gereicht hätte, wollte er ihn dann ja vor meinen Augen erschießen.“<br />

Kate verstummte und ich sah, dass ihr Tränen über die Wangen kullerten. Jim lag auf<br />

meinem Schoss und seine Rechte tastete unwillkürlich nach meiner Hand. Kate fuhr leise fort:<br />

„Sie haben uns damals am Pier, nachdem Mike abgehauen war, Säcke über den Kopf<br />

gezogen und dann haben sie uns irgendwas gespritzt. Ich<br />

bin erst wieder zu mir gekommen auf der kleinen Insel.“<br />

„Ja, ich wachte in dem verdammten Bärenkäfig<br />

auf. War ein erhebendes Gefühl. Als sie dich später<br />

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Frauke Feind<br />

brachten und in den Käfig gegenüber steckten, war ich erleichtert, dich überhaupt zu sehen.<br />

Wir wussten zu dem Zeitpunkt ja nicht, was noch auf uns zukommen würde.“<br />

Er schwieg gedankenverloren und ich wusste, er war wieder in dem Käfig. Und ich<br />

konnte wieder einmal nicht fassen, was den <strong>Über</strong>lebenden hier widerfahren war.<br />

Eine Weile herrschte bedrücktes Schweigen zwischen uns, dann räusperte Jack sich.<br />

„Okay, wir sollten versuchen, zu schlafen. Morgen wird es wieder anstrengend.“<br />

Er hatte Recht. Wir versuchten, es uns so bequem wie möglich zu machen, wobei das<br />

Wort bequem eigentlich blanker Hohn war. Ich hatte es jetzt schon satt, auf dem nackten<br />

Boden liegen zu müssen, aber als Jim sich schließlich eng an <strong>mich</strong> kuschelte, hätte ich dieses<br />

wunderschöne Gefühl nicht gegen das beste Bett der Welt eingetauscht. Er gab mir einen<br />

Kuss und flüsterte:<br />

„Ich liebe dich.“<br />

Am liebsten hätte ich ihn in <strong>mich</strong> auf gesogen.<br />

„Ich liebe dich auch.“<br />

Seine Linke lag auf meinem Bauch und verursachte dort eine so angenehme Wärme,<br />

als wäre sie eine Daunenzudecke. Nach einigen Minuten verrieten mir seine ruhigen, gleich-<br />

mäßigen Atemzüge, dass er eingeschlafen war. Ich jedoch lag noch lange wach, lauschte auf<br />

die nächtlichen Geräusche des Dschungels, die Atemgeräusche der Anderen und sah die<br />

Sterne über mir. Hier zu sein erschien unwirklich und fantastisch. Meine Gedanken kehrten<br />

noch einmal zu der unheimlichen Begegnung mit dem Rauchmonster zurück und ich<br />

schüttelte <strong>mich</strong> innerlich. Was immer es auch gewesen war, es wusste jetzt genau, wer und<br />

was ich war, da war ich mir sicher. Warum es <strong>mich</strong> nicht angegriffen hatte, konnte ich mir<br />

absolut nicht erklären. Aber das darüber Nachgrübeln half mir auch nicht weiter. Energisch<br />

schob ich die Gedanken zur Seite und schloss die Augen.<br />

************<br />

<strong>Der</strong> nächste Tag brachte erst einmal eine <strong>Über</strong>raschung. Als ich aufwachte, lag ich<br />

alleine im hohen Gras, Jim war nicht mehr bei mir. In einiger Entfernung hörte ich leise<br />

Stimmen sich unterhalten. Müde und steif setzte ich <strong>mich</strong> auf und sah zu den Stimmen<br />

hinüber. Die anderen saßen ein paar Schritte entfernt am Boden um ein kleines Lagerfeuer.<br />

Und über diesem Lagerfeuer brutzelte etwas, das wie ein Kaninchen aussah! Ich sprang auf<br />

und eilte zu ihnen hinüber. Jim drehte sich herum, als er <strong>mich</strong> kommen hörte und grinste.<br />

„Ich wollte schon den Doc zu dir schicken, ihn kontrollieren lassen, ob du über Nacht<br />

ins Koma gefallen bist.“, begrüßte er <strong>mich</strong> frech.<br />

„Was denn? Heute ist Sonntag, da schlaf ich immer aus.“, erwiderte ich schmunzelnd<br />

und kniete neben ihm nieder. „Was ist das?“, fragte ich sehr geistreich.<br />

- 127 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Na, ich würd es für n Lagerfeuer mit Frühstück halten. Du hast es übrigens nur dem<br />

Sonntagsbraten zu verdanken, dass du solange schlafen durftest.“<br />

Jim zog <strong>mich</strong> an sich und gab mir einen liebevollen Kuss, der von Kate frustriert be-<br />

obachtet wurde.<br />

„Ist es vom Himmel gefallen?“, fragte ich mit einem Nicken in Richtung des Bratens.<br />

„Nein, eher nicht. Davy Crockett hat es gefangen. Es war verletzt, sonst hätte er es nicht ge-<br />

kriegt.“<br />

Ich seufzte. Zwar war ich mit Grandpa auch auf der Jagd gewesen, aber wir hatten<br />

auch immer nur verletzte, schwache und kranke Tier geschossen. Spaß hatte es mir nie ge-<br />

macht, aber Grandpa hatte als Volontär fürs Forstamt gearbeitet und ich hatte die Notwendig-<br />

keit eingesehen, den Tierbestand auf diese fachmännische Weise unter Kontrolle zu halten. Er<br />

war ein hervorragender Schütze gewesen und die Tiere hatten nie gelitten. Und auch <strong>mich</strong><br />

hatte er erst zu einer wirklich guten Schützin ausgebildet, bevor ich das erste Mal ein Reh<br />

schießen durfte. Ich hatte damals Rotz und Wasser geheult, aber das Tier hatte sich das Bein<br />

gebrochen und wäre jämmerlich verendet, wenn wir es nicht von seinem Leiden erlöst hätten.<br />

Sayid testete gerade mit seinem kleinen Messer, wie weit das Fleisch war und nickte<br />

zufrieden. Er grinste Kate und <strong>mich</strong> an und fragte:<br />

Essen.“<br />

„Ladys, wie sieht es aus, sind die Kartoffeln und der Rotkohl fertig? Wir können<br />

Wir grinsten und ich nickte.<br />

„Ja, Sir, alles bereit.“<br />

Sayid nahm vorsichtig das fertig gegarte Kaninchen vom Feuer, wartete einige<br />

Minuten und zerlegte es in fünf Teile. Als wir auf dem warmen, zarten Fleisch herum kauten,<br />

kam es uns allen nach der Obstdiät der letzten Tage wie ein fünf Sterne Dinner vor. Zum<br />

Nachtisch gab es Papayas und fast satt erhoben wir uns schließlich, um uns wieder auf den<br />

Weg zu machen.<br />

Wir marschierten stetig weiter nach Norden und entdeckten nichts und niemanden.<br />

Einmal meinten wir in sehr weiter Ferne erneut die Geräusche des Monsters zu hören, waren<br />

uns aber nicht sicher, ob wir sie uns nicht doch nur eingebildet hatten. <strong>Der</strong> Tag verging ohne<br />

weitere Vorkommnisse und am frühen Abend meinte Jim schließlich:<br />

auch immer.“<br />

„Ich bin sicher, weiter westlich liegt das Dorf, oder wird es in Zukunft liegen, wie<br />

Jack überlegte.<br />

„Vielleicht sollten wir es einfach einmal probieren ...“<br />

Müde nickten wir. Dann setzten wir uns westlich in Bewegung. Jim war im Verlaufe<br />

des Tages langsam geworden und blieb immer wieder kurz stehen, um sich den Rücken zu<br />

halten. Schließlich fragte ich ihn:<br />

- 128 -


„Ist alles in Ordnung?“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Er schüttelte ziemlich gereizt den Kopf und knurrte:<br />

„Kann man so nicht sagen. Mir tut das verdammte Kreuz weh.“<br />

Ein Schatten huschte dabei verräterisch über sein Gesicht, den ich nicht deuten konnte.<br />

„Das tut mir leid. Ich werde dich nachher massieren, das geht auch ohne Öl, okay?“<br />

Er verzog das Gesicht und nickte.<br />

„Ja, hört sich gut an.“<br />

Ich beobachtete ihn aufmerksam und mir ging durch den Kopf, dass es kaum noch<br />

vom langen Liegen in der Hütte kommen konnte, dass ihm der Rücken so oft so wehtat. Ich<br />

nahm mir vor, ihn später darauf anzusprechen.<br />

Als die Sonne unterging, waren wir nach Aussage Jims nur noch knapp eine halbe<br />

Meile vom Barackendorf entfernt. Aber wir wollten nicht im Dunkeln dort ankommen, zumal<br />

es irgendein Sicherheitssystem geben sollte, wie Kate erzählte. So lagerten wir auf einer<br />

kleinen Wiese und Jim und ich setzten uns etwas abseits in Gras. Ich bat ihn, sich das Hemd<br />

auszuziehen und sich auf den Bauch zu legen. Ohne das Massageöl war es zwar nicht ganz so<br />

angenehm, aber es gelang mir trotzdem, dafür zu sorgen, dass Jims Rücken sich entspannt.<br />

Was er nicht mitbekam war die Tatsache, dass ich seine Wirbelsäule diesmal gründlich ab-<br />

tastete und dabei an seiner Lendenwirbelsäule, am L 1, dem ersten Lendenwirbel, eine Ver-<br />

dickung fühlte. Erschrocken zuckte ich zusammen und rief ohne zu Zögern Jack.<br />

„Kannst du bitte mal kurz kommen?“<br />

Jim fuhr wütend auf.<br />

„Was soll das? Brauchst du Verstärkung?“<br />

Er versuchte, sich herum zu drehen, aber ich sagte ruhig:<br />

„Bitte, Jim, bleib liegen.“<br />

Knurrend und sehr widerwillig tat er mir den Gefallen. Jack kam zu uns herüber und<br />

fragte erstaunt:<br />

„Was ist denn los?“<br />

„Kannst du dir dass mal ansehen?“, bat ich ihn nervös und deutete auf die Stelle, die<br />

mir aufgefallen war.<br />

Jack nickte und kniete sich neben Jim, der genervt vor sich hin grummelte. Er legte<br />

seine Hände unterhalb der Stelle an Jims Wirbelsäule und tastete sich langsam hoch. Und<br />

dann hatte er die Stelle erreicht, die ich meinte. Er ließ seine Hände einen Moment dort und<br />

setzte sich neben uns. Einen Moment war er still, doch schließlich fragte er leise:<br />

„Wie lange weißt du es schon?“<br />

Ich hatte plötzlich einen Knoten im Hals. Und Jim setzte sich auf, schnappte sich sein<br />

Hemd und starrte verbissen ins Gras vor sich. Er atmete tief durch und sagte leise:<br />

„Seit ... acht Wochen ungefähr.“<br />

- 129 -


Jack nickte ruhig.<br />

„Was ist es?“, fragte er.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Jim starrte immer noch auf den Boden und erklärte schließlich leise:<br />

„Kein Krebs, aber inoperabel.“<br />

Mir schossen Tränen in die Augen. Jack nickte frustriert und stemmte sich müde auf<br />

die Beine. Jim sah zu ihm auf und erklärte hart:<br />

„Kein Wort, klar?“<br />

Jack nickte. Langsam ging er zu den Kate du Sayid zurück. Ich hockte zitternd neben<br />

Jim und fragte schließlich mit tränenerstickter Stimme:<br />

„Wann hattest du vor, es mir zu sagen?“<br />

Unglücklich seufzte er und sagte:<br />

„Gar nicht ...“<br />

„Wie hast du es erfahren?“<br />

Er sah wieder auf den Boden und schließlich fing er zögernd an:<br />

„Ich war in nem Shopping Center und auf dem Parkplatz hat so ein Opa <strong>mich</strong> im<br />

Rückspiegel übersehen. War nicht schlimm, aber du weißt ja, wie das läuft. Halskrause, nicht<br />

bewegen, ab in die nächste Klinik. Dort haben sie ein CT gemacht, um sicher zu gehen, dass<br />

ich mir nichts gebrochen hatte.“<br />

Unter Tränen nickte ich.<br />

„Dabei haben sie es entdeckt.“, stieß ich hervor.<br />

Er nickte.<br />

„Sie habe es biopsiert, festgestellt, dass es kein Krebs ist, aber eben nicht zu<br />

Operieren. Es wird wachsen und ...“<br />

Er verstummte. Verzweifelt schluchzte ich auf und Jim zog <strong>mich</strong> an sich. Stumm<br />

saßen wir da und mir war plötzlich und überdeutlich klar, was seine bedrückten Blicke so<br />

dann und wann bedeutet hatten. Weinend hing ich in Jims Armen und wusste nicht, was ich<br />

sagen sollte. Irgendwann sagte er leise:<br />

hervor.<br />

„Hey, noch ist es nicht so weit, Süße.“<br />

Ich spürte ihn leicht zittern und wusste, dass er Angst hatte.<br />

„Du hättest nicht mit hierher kommen dürfen.“, stieß ich vollkommen verzweifelt<br />

„Warum nicht? Ist doch egal, wo ich bin, machen kann ohnehin keiner was. Ich hab<br />

nicht mit dir gerechnet, aber sonst dachte ich mir, hier geht‟s vielleicht schneller.“<br />

Ich hatte das Gefühl, als würde in mir etwas zerreißen.<br />

************<br />

- 130 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Wann ich in dieser Nacht einschlief, konnte ich nicht sagen. Irgendwann fielen mir vor<br />

Erschöpfung die Augen zu. Als ich wieder aufwachte, hatte ich das Gefühl, keine Stunde ge-<br />

schlafen zu haben. Jim war nicht mehr bei mir, er stand ein wenig abseits, bei den anderen,<br />

und deutete in den Dschungel vor uns. Ich sah ihn an und mir schossen wieder Tränen in die<br />

Augen. Energisch zwang ich <strong>mich</strong>, sie herunter zu schlucken. Steif kam ich auf die Beine und<br />

trat zu Jim und den Freunden hinüber. Gerade meinte er:<br />

„Die müssten eigentlich schon in Sichtweite sein.“<br />

Mühsam beherrscht fragte ich:<br />

„Morgen. Was müsste zu sehen sein?“<br />

Jim drehte sich erschrocken zu mir herum und warf mir einen flehenden Blick zu.<br />

Schnell sagte er:<br />

„Die Pfeiler des verdammten Sonarzaunes.“<br />

Er sah sich suchend um und erklärte nachdrücklich:<br />

„Ich bin absolut sicher, dass sie dort drüben anfingen.“<br />

„Was denn bitte für ein Sonarzaun?“, fragte ich verwirrt.<br />

Jack erklärte mir:<br />

„Die DHARMA Initiative hatte um ihr Dorf herum einen Sonarzaun errichtet, der<br />

einen starken Fluss von Schallwellen mit hoher Intensität erzeugte. Diese Schallwellen ver-<br />

hinderten ein Passieren des Zaunes. Um durchzukommen, musste man ihn mittels eines sich<br />

ständig ändernden Codes deaktivieren. Wenn es das Dorf schon gäbe, würden wir diesen<br />

Zaun sehen können. Wir sollten uns mit dem Gedanken anfreunden, dass es ihn eben noch<br />

nicht gibt, also auch das Dorf nicht.“<br />

Er wollte noch etwas hinzufügen, aber dazu kam er nicht mehr. Plötzlich flogen von<br />

vor uns aus dem Gebüsch kleine Pfeile auf uns zu. Jack war der Erste, den einer dieser Pfeile<br />

traf. Aufschreiend vor Schmerzen ging er zu Boden und wand sich dort in Qualen. Kate<br />

wollte zu ihm eilen, wurde aber ebenfalls von einem der Pfeile getroffen und brach schreiend<br />

zusammen. Sayid warf sich geistesgegenwärtig auf den Boden und ich konnte ihn nicht mehr<br />

sehen, denn jetzt wurde auch Jim getroffen. Als ich ihn aufschreien hörte und zusammen<br />

brechen sah, rannte ich los, um zu ihm zu gelangen, aber ich kam keine zwei Schritte weit,<br />

dann erwischte es auch <strong>mich</strong>. Was immer es war, womit wir beschossen wurden, es ver-<br />

ursachte augenblicklich unerträgliche Schmerzen. Wie Stromstöße schossen sie durch den<br />

Körper und ich brüllte ebenfalls in Qualen auf. Aber nicht lange, denn mir wurde schwarz vor<br />

Augen und ich merkte nichts mehr.<br />

************<br />

- 131 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ich trieb auf Wellen von Übelkeit dahin. Es fiel mir unglaublich schwer, wieder in die<br />

Realität zurückzukehren. Mühsam versuchte ich, die Augen aufzubekommen. Neben mir<br />

hörte ich ein gequältes Stöhnen und endlich gelang es mir, die Augen zu öffnen. Mein<br />

Schädel hämmerte und brummte und es hätte nicht mehr viel gefehlt, und ich hätte <strong>mich</strong><br />

übergeben. Lediglich die Tatsache, dass ich nichts im Magen hatte, verhinderte dies. Mit<br />

offenem Mund atmete ich schnell und flach einige Male ein und aus, dann legte sich die<br />

Übelkeit endlich ein wenig. Sehr vorsichtig hob ich den Kopf. Was ich sah, hätte fast gereicht,<br />

<strong>mich</strong> gleich wieder ins Reich der Träume zurückzuschicken. Ich hing an einer Felswand, ge-<br />

halten von Stahlmanschetten am Handgelenk. Mir gegenüber hing Kate, in der gleichen<br />

Position. Von Jack, Sayid und Jim sah ich keine Spur. Kate schien auch eben erst zu sich ge-<br />

kommen zu sein, denn ihre Augen huschen genauso nervös umher wie meine. Mühsam<br />

richtete ich <strong>mich</strong> auf. Meine Schultern und Arme schienen dabei protestierend zu Jammern.<br />

Ich sah zu Kate hinüber und fragte schwerfällig:<br />

„Hey. Geht es dir gut?“<br />

Verzweifelt lachte sie.<br />

„Ging mir nie besser.“<br />

Ich sah <strong>mich</strong> etwas gründlicher um. Das Loch, in dem wir gefangen waren, war<br />

vielleicht zwei Meter im Durchmesser. Es war in den Fels gehauen worden und wurde durch<br />

eine einfache Gittertür verschlossen.<br />

„Wo ... wo sind die Männer?“, stieß ich panisch hervor.<br />

Mein Verstand realisierte langsam, dass werde Jim, noch Jack oder Sayid bei uns<br />

waren. Hoffnungslos schüttelte Kate den Kopf.<br />

„Ich habe keine Ahnung.“<br />

Verzweifelt ließ ich den Kopf gegen den Fels sinken.<br />

„Oh, Gott!“<br />

Minutenlang hingen wir schweigend da und versuchten, uns nicht von der um die Ecke<br />

lauernden Verzweiflung komplett überrollen zu lassen.<br />

„Was ist eigentlich passiert?“, fragte ich schließlich leise.<br />

„Die haben uns mit irgendwas beschossen, kleine Pfeile oder was immer es gewesen<br />

ist. Die haben sie damals auch benutzt, als sie uns nach Michaels Verrat geschnappt haben.<br />

Ich hab keine Ahnung, was das für Dinger sind.“<br />

„Sie haben jedenfalls höllisch wehgetan.“, bestätigte ich.<br />

In meinen Ohren hallten Jims Schreie nach und ich schüttelte <strong>mich</strong>. Es war entsetzlich<br />

gewesen, ihn vor Schmerzen schreien zu hören.<br />

herüber.<br />

„Wie lange mögen wir schon hier sein?“, fragte Kate verängstigt und sah zu mir<br />

- 132 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„So, wie meine Arme schmerzen, mindestens ein paar Monate.“, erwiderte ich<br />

frustriert. „Aber ich denke, es sind vielleicht ein paar Stunden. Ich habe keine Vorstellung.<br />

Ohne Tageslicht ...“<br />

Wieder kreisten meine Gedanken um Jim. Und das war nichts, was ich mir wünschte,<br />

trieben mir diese Gedanken doch augenblicklich wieder die pure Verzweiflung in die Glieder.<br />

„Wo mögen sie nur die Männer hin geschafft haben?“, fragte Kate und sah zur Tür, ob nicht<br />

vielleicht jemand kommen und Jack, Sayid und Jim bringen würde. Natürlich passierte das<br />

nicht.<br />

Kate sah <strong>mich</strong> an und plötzlich liefen ihr Tränen über die Wangen. Man sah ihr deut-<br />

lich an, dass sie nur noch aus nackter Angst bestand. Immerhin hatte sie sich schon in den<br />

Händen dieser Leute befunden und wusste nur zu genau, wozu diese fähig waren.<br />

„Kate. Es wird schon alles irgendwie gut gehen.“, versuchte ich ihr Mut zu machen.<br />

Mut, den ich selbst nicht empfand.<br />

Meine Emotionen waren reif für eine Grundüberholung. Alles, was in den letzten drei<br />

Wochen auf <strong>mich</strong> eingestürmt war, was <strong>mich</strong> aus meiner beschaulichen, kleinen Welt ge-<br />

rissen hatte, traf <strong>mich</strong> jetzt mit voller Wucht, denn erst hier, gefesselt in diesem Loch, hatte<br />

ich wirklich ungestört Gelegenheit, über all das nachzudenken. Von Jims überraschendem<br />

Auftauchen an meinem Jeep in Wright bis zum Aufwachen hier war alles ein einziger, böser<br />

Traum gewesen, mit einigen wenigen lichten und schönen Momenten. Als krönender Ab-<br />

schluss des ganzen Horrors die Erkenntnis am Abend, dass Jim einen Tumor an der Wirbel-<br />

säule hatte, der ihn umbringen würde und die Gefangennahme. Ich konnte nicht mehr ver-<br />

hindern, dass auch mir Tränen über die Wangen kullerten. Und in meine Verzweiflung hinein<br />

platzte Besuch.<br />

Wir hörten Schritte sich nähern und dann stand plötzlich eine vielleicht vierzig jährige<br />

Frau vor der Gittertür. Sie sah zu uns hinein und grinste.<br />

„Da seid ihr ja wieder, wie schön.“<br />

Sie rief zu jemandem hinter sich:<br />

„Alles klar, Pete, sie sind wach.“<br />

Sie schloss die Tür auf. Augenblicke später kam ein junger Mann dazu und musterte<br />

Kate und <strong>mich</strong> geringschätzig. Die beiden Fremden traten zu uns in das kleine Loch und<br />

lösten unsere Fesseln mit dem Hinweis, dass ein falscher Blick genügen würde, uns in sehr<br />

ernste Schwierigkeiten zu bringen. Wir wagten daraufhin kaum, weiter zu atmen und ließen<br />

uns stöhnend vor Schmerzen die Hände auf den Rücken drücken und in dieser Haltung mit<br />

normalen Handschellen erneut fesseln. Jetzt packte Pete <strong>mich</strong>, die Frau Kate am Oberarm und<br />

man führte uns aus dem Loch hinaus, einen dunklen Gang entlang, der ebenso wie das Loch<br />

in den Fels gehauen worden war. Schließlich wurde es vor uns hell und wir standen im Freien.<br />

Hektisch sahen wir uns um, in der Hoffnung, irgendwo die Männer zu entdecken, aber diese<br />

- 133 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Hoffnung wurde brutal enttäuscht. Keine Spur war von ihnen zu sehen. Dafür machten wir,<br />

als unsere Augen sich an das helle Licht gewöhnt hatten, einige Zelte aus, die sehr bewohnt<br />

aussahen. Zwischen diesen Zelten hindurch führte man uns zu einer riesigen Akazie, unter der<br />

ein einfacher Campingtisch, einige Stühle und andere Gegenstände standen. Man drückte uns<br />

auf zwei dieser Stühle und die Frau herrschte uns an, uns ja nicht zu rühren. Eingeschüchtert<br />

und verängstigt hockten wir da und harrten der Dinge, die da kommen mochten. Und sie<br />

kamen. In Form eines dunkelhaarigen, recht gut aussehenden Mannes um die vierzig. Kate<br />

keuchte erschrocken leise auf.<br />

„Richard ...“<br />

************<br />

Jim kam langsam zu sich. Er spürte die Nachwirkungen dessen, mit was auch immer<br />

man ihn und die Anderen beschossen hatte, in den Knochen und ihm war speiübel. Sein Kopf<br />

drohte zu platzen und er hätte ungehalten geflucht, hätte nicht ein unangenehmer Knebel in<br />

seinem Mund gesteckt. Er wollte die Augen öffnen, doch schnell merkte er, dass das nicht<br />

ging. Man hatte sie ihm mit einem Tuch verbunden. Außerdem spürte er schmerzhaft, dass er<br />

an den Handgelenken gefesselt vermutlich von der Decke hing. Seine Füße berührten eben<br />

noch den Boden und Jim hörte sein eigenes, schmerzerfülltes Stöhnen gedämpft durch den<br />

Knebel. Die Nachwirkungen des Betäubungsmittels ließen schnell nach und Jim versuchte,<br />

Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Leider gelang ihm das nur dürftig. Er versuchte aus-<br />

zumachen, ob jemand bei ihm war. Des optischen Sinnes beraubt, reagierten seine Ohren<br />

noch besser auf akustische Reize, als sie es ohnehin schon taten, und er hörte neben sich<br />

jemanden schwer atmen. Erneut verfluchte er den Knebel. Er wollte wissen, ob Kelly bei ihm<br />

war, ob es ihr gut ging, ob sie verletzt oder schlimmeres war. Er malte sich aus, dass sie ver-<br />

letzt sein konnte und sein Magen drehte sich augenblicklich herum.<br />

- Bitte, lieber Gott, lass ihr nichts passiert sein! -<br />

dachte er verzweifelt. Was in den Tagen, seit er sie kennen gelernt hatte, alles passiert<br />

war, ließ es an ein Wunder grenzen, dass bisher (hoffentlich) keinem von ihnen etwas ernst-<br />

haftes zugestoßen war. Allerdings konnte sich das schnell ändern. In wessen Händen sie sich<br />

auch immer befanden, Gute konnten es nicht sein.<br />

Er versuchte verzweifelt, seine Arme etwas zu entlasten, in dem er sich mehr auf die<br />

Fußspitzen stemmte, aber der wenige Bodenkontakt, den er hatte, ließ keinen Spielraum zu.<br />

So gab er schließlich auf und konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken sich selbstständig<br />

machten. Und dass Angst in ihm hoch kroch. Hier so vollkommen hilf- und wehrlos herum zu<br />

hängen, ließ ihm Schauer über den Körper jagen. Er lauschte auf jedes noch so kleine Ge-<br />

räusch, aber außer dem zweiten, schweren Atmen war nichts zu vernehmen. Wer mochte das<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

sein? Jack? Sayid? Oder eine der Frauen? Jims Gedanken kehrten zum vergangenen Abend<br />

zurück. Dass Kelly nun wusste, dass er einen Tumor hatte, war nicht geplant gewesen. Als er<br />

es im Krankenhaus zu erfahren bekommen hatte, war er wie paralysiert gewesen. Wut, Angst,<br />

Verzweiflung, all das war wie ein wildes Tier über ihn herein gebrochen und hatte ihn<br />

tagelang in den Klauen gehabt. Die Ärzte hatten ihm erklärt, was passieren würde. <strong>Der</strong> Tumor<br />

würde wachsen, irgendwann zwangsläufig zur Lähmung führen, später würden auch sehr<br />

starke Schmerzen einsetzen und schließlich würde er die Lebensleitung in der Wirbelsäule<br />

einfach abklemmen und das war‟s dann. Jim war tagelang sturzbesoffen gewesen. Schließlich<br />

aber hatte er sich gefangen und nun musste er damit leben, dass er eben nicht mehr lange<br />

leben würde. Die Ärzte hatten ihm höchstens noch ein Jahr gegeben, eher deutlich weniger,<br />

denn der Tumor wuchs schnell. Okay, er hatte sich letztlich damit abgefunden. Dass er dann<br />

aber Kelly kennen lernte, hatte alles über den Haufen geschmissen. Endlich hatte er eine Frau<br />

gefunden, die ihn liebte, obwohl sie alles über ihn wusste. Leute, die ihn näher kannten, und<br />

das waren wenige genug, hatten ihm immer eine gewisse Todessehnsucht nachgesagt.<br />

Wirklich abstreiten konnte Jim diese Annahme nicht. Aber jetzt wusste er nur eines: Nie<br />

zuvor war der Wunsch, alt zu werden, so groß in ihm gewesen. Und genau das würde er nicht<br />

werden.<br />

Plötzlich zuckte er erschrocken zusammen. Ganz deutlich hörte er Schritte sich<br />

nähern. Schritte von mindestens drei Menschen. Angespannt lauschte er und hörte unzweifel-<br />

haft, dass die Schritte sich ihm näherten. Und dann sagte eine Stimme unmittelbar vor ihm:<br />

„Na, wie nett, da weilt ihr ja wieder unter den Lebenden. Dann können wir uns ja ein wenig<br />

unterhalten.“<br />

Jim spürte Hände, die sich an der Augenbinde zu schaffen machten und nun wurde sie<br />

ihm endlich abgenommen. Geblendet schloss er die Augen. Er öffnete sie langsam wieder und<br />

nach einigen Augenblicken sah er mehr als grelle Blitze. Drei Männer standen vor ihm,<br />

keinen davon kannte er. Einer der Typen griff nach dem Knebel und nahm ihm diesen eben-<br />

falls ab. Und jetzt sah Jim auch endlich, dass es Jacks Atmen gewesen war, dass er die ganze<br />

Zeit neben sich gehört hatte. Dieser hing in der gleichen Haltung wie er selbst neben ihm und<br />

blinzelte gerade zu Jim hinüber. Sie befanden sich in einer kleinen, scheinbar in den Felsen<br />

gehauenen Höhle, vielleicht fünf Meter im Durchmesser. Kahle Wände, nur der Balken, von<br />

dem sie herunter hingen, war nachträglich angebracht worden. <strong>Der</strong> Mann, der ihnen die<br />

Knebel abgenommen hatte, grinste und sagte zu seinen Kumpels:<br />

sind.“<br />

„Viel Spaß. Ich werde mal Bescheid sagen, dass die Gentlemen zu sich gekommen<br />

Er drehte sich herum und verschwand. Die beiden anderen Typen allerdings blieben.<br />

Und das verursachte bei Jim eine Gänsehaut.<br />

Einer der Beiden trat dich an Jim heran.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Hallo, mein hängender Freund.“, sagte er ruhig. „Wir würden gerne ein wenig Kon-<br />

versation mit euch machen, wo ihr doch wieder ansprechbar seid. Wie sieht es aus? Seid ihr<br />

für eine kleine Unterhaltung bereit?“<br />

heiser sagte:<br />

Schwer atmend hingen sowohl Jack als auch Jim in ihren Fesseln und Jack war es, der<br />

„Wer seid ihr? Was wollt ihr von uns?“<br />

Anscheinend war es nicht das, was die Kerle unter Konversation verstanden, denn fast<br />

bedauernd schüttelte der Mann, der vor Jack Aufstellung genommen hatte, den Kopf. Dann<br />

holte er kurz aus und drosch dem Arzt die Faust in dem Körper. Als Jack wieder zu Atmen<br />

gekommen war, sagte der Typ fast freundlich:<br />

stumm.<br />

seid ihr?“<br />

er:<br />

vor Jim:<br />

ihr her?“<br />

„Ihr redet nur, wenn ihr gefragt werdet, verstanden?“<br />

Giftig und verängstigt gleichzeitig starrten Jim und Jack die Männer an und nickten<br />

„So ist es besser. Also, meine Herren, fangen wir mit einer einfachen Frage an: wer<br />

Jack seufzte frustriert und sagte möglichst ruhig:<br />

„Mein Name ist Jack Shephard. Ich bin Arzt, Chirurg, um genau zu sein.“<br />

Jim biss sich auf die Zunge, um keine unerlaubte Bemerkung zu machen, dann erklärte<br />

„Ich heiße James Ford.“<br />

Offensichtlich waren ihre Besucher zufrieden, denn sie nickten. Nun erklärte der Typ<br />

„Das war schon mal sehr gut. Die nächste Frage wird schon schwieriger. Wo kommt<br />

Hektisch überlegte Jack, was er antworten sollte. Doch Jim kam ihm zuvor.<br />

„Wir sind mit nem Segelboot unterwegs gewesen und hatten technische Probleme. <strong>Der</strong><br />

verdammte Karren ist abgesoffen und wir konnten uns eben noch auf diese Insel retten.“<br />

Jack beglückwünschte Jim im Stillen für dessen auch in Krisensituationen blitzschnell<br />

funktionierenden Verstand und betete, dass diese Erklärung reichen würde.<br />

„Von wo seid ihr gekommen?“, fragte der Typ ruhig und Jim erklärte:<br />

„Wir sind schon Wochen unterwegs, sollte ne Weltumseglung werden. Wir sind auf<br />

Guam gestartet, von Hagåtña.“<br />

leise:<br />

ein.<br />

Ohne eine Gemütsregung zu zeigen sah der Typ Jim an. Dann fragte er gefährlich<br />

„Bist du sicher?“<br />

Jack wusste nicht, ob er sich den nächsten Schlag einfangen würde, mischte sich aber<br />

- 136 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ja, sicher. Ich weiß nicht, welches Datum wir heute haben, aber wir sind am zehnten<br />

Februar von Hagåtña aus gestartet.“<br />

<strong>Der</strong> Typ, der vor ihm stand, fixierte Jack kalt und sagte:<br />

„Ich gebe euch noch eine Chance, euch eure Antwort zu überlegen.“<br />

Hektisch dachte Jack nach. Wollten die Typen sie nur in eine Falle locken oder<br />

wussten sie tatsächlich mehr? Er warf einen kurzen Blick zu Jim hinüber und sagte fest:<br />

haben.“<br />

„Da gibt es nichts zu überlegen. Wir werden doch noch wissen, was wir gemacht<br />

Ganz offensichtlich war das die falsche Antwort, denn ohne Vorwarnung holten die<br />

Kerle aus und droschen den Gefesselten die Fäuste einige Male brutal in die ungeschützten<br />

Körper. Die Wehrlosen zuckten unter den brutalen Hieben aufkeuchend zusammen. Die Luft<br />

blieb ihnen weg und Schmerzwellen schossen durch ihre Körper. Verzweifelt bemühten sich<br />

beide, die Bauchmuskulatur anzuspannen, um den Schlägen so die größte Wucht zu nehmen,<br />

aber es gelang ihnen nicht. Schließlich ließen die Typen von ihnen ab und gaben ihnen sogar<br />

Gelegenheit, zu Atem zu kommen. Dann fragte der Typ bei Jack erneut:<br />

„So, noch mal von vorne. Wo kommt ihr her?“<br />

Verzweifelt wechselten die Gefesselten einen Blick, der mehr als deutlich besagte:<br />

„Was nun?“<br />

************<br />

13) Kein Ausweg<br />

Kate starrte den dunkelhaarigen Mann an und biss sich auf die Lippen. Sie hatte ihn<br />

sofort wieder erkannt. Anscheinend veränderte der Typ sich nie. Ich beobachtete Kate auf-<br />

merksam und bemerkte ihre Unsicherheit. Richard. Den Namen hatte irgendjemand schon<br />

erwähnt. Richard ... Richard Alpert! Jetzt wusste ich es wieder. Das war der Mann, der<br />

scheinbar nicht alterte. Und nun stand er mir gegenüber. Auch in Grandpas Unterlagen war<br />

der Name erwähnt worden. Dort hatte es immer geheißen, Richard sei der geistige Anführer.<br />

Nervös sah ich zu ihm auf. Er lächelte beinahe freundlich und sprach uns ruhig an.<br />

„Es tut mir leid, dass wir euch ein wenig ruppig behandelt haben. Vielleicht möchtet<br />

ihr mir erzählen, wer ihr seid?“<br />

Kate biss sich nervös auf die Lippe, dann sagte sie unsicher:<br />

„Mein Name ist Kate, Kate Austen.“<br />

Richard wandte sich mir zu und sah <strong>mich</strong> auffordern an. Ich versuchte, meine Stimme<br />

nicht allzu sehr zittern zu lassen, als ich sagte:<br />

„Kelly Reardon.“<br />

- 137 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Zufrieden nickte der Dunkelhaarige. Er setzte sich uns gegenüber an den Camping-<br />

tisch und behielt uns dabei aufmerksam im Auge.<br />

„Ich möchte so höflich sein, <strong>mich</strong> ebenfalls vorzustellen. Mein Name ist Richard<br />

Alpert. Ich bin ... nun, drücken wir es mal so aus: Man hört hier auf <strong>mich</strong>. Euer Wohlergehen<br />

liegt in meinen Händen. Allerdings nicht ausschließlich. Wenn ihr zu Kooperieren bereit seid,<br />

kann es euch nur helfen. Wir müssen erfahren, wer ihr seid, wie ihr hierher kommt und was<br />

ihr hier wollte. Je ehrlicher ihr seid, desto besser für euch.“<br />

Kate und ich wechselten einen verzweifelten Blick. Was sollten wir antworten?<br />

Schmerzhaft wurde uns klar, dass wir keinen Gedanken daran verschwendet hatten,<br />

uns zu überlegen, was wir im Falle der vorliegenden Situation sagen sollten. Wir hatten mit<br />

den Männern nichts abgesprochen, und abgesehen von der Wahrheit, die uns ohnehin<br />

niemand glauben würde, musste jede andere Geschichte in eine Katastrophe führen, da wir<br />

eben keine Erklärung abgestimmt hatten. Man würde uns blitzschnell die Lüge nachweisen<br />

können und ich mochte mir nicht vorstellen, was dann mit uns geschehen würde. Verzweifelt<br />

wagte ich einen Gegenangriff.<br />

„Sie wollen von uns wissen, wie wir hierhergekommen sind, das kann ich verstehen.<br />

Aber verstehen Sie bitte auch, dass wir erst einmal wissen möchten, warum Sie uns brutal<br />

überfallen und gefangen genommen haben! Wir haben niemandem etwas getan, waren halb<br />

verhungert und verdurstet, haben keine Waffen und führten nichts Böses im Schilde. Wo sind<br />

unsere Begleiter? Was haben Sie mit ihnen gemacht?“<br />

In Alperts dunklen Augen war plötzlich ein kalter Glanz, der sein freundliches<br />

Lächeln Lügen strafte. Ruhig erklärte er:<br />

„Oh, eure Begleiter ... Nun, ich fürchte, es geht ihnen nicht sehr gut. Sie lernen gerade,<br />

was geschieht, wenn man nicht kooperationsbereit ist.“<br />

Er achtete genau auf unsere Reaktionen und ein zufriedenes Grinsen legte sich auf sein<br />

Gesicht, als er bemerkte, dass sowohl Kate als auch ich leichenblass wurden.<br />

„Ich sehe, euch liegt das Wohl der Herren am Herzen.“<br />

Plötzlich schlug er heftig mit der flachen Hand auf den Tisch. Kate und ich zuckten<br />

vor Schreck in die Höhe. Und jetzt sagte Richard kalt und hart:<br />

„Wenn es euch etwas bedeutet, dass sie in einem Stück überleben, solltet ihr mir<br />

schnellstens alles erzählen, verstanden?“<br />

************<br />

Jack hatte keine Ahnung, was sie antworten sollten. Hektisch dachte er nach. Was<br />

immer sie sagen würden, alles, was nicht der Wahrheit entsprach, würde schnell als Lüge ent-<br />

tarnt werden. Jack dachte daran, dass sie keinen Gedanken daran verschwendet hatten, eine<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Geschichte abzustimmen, für den Fall, dass sie in Gefangenschaft geraten würden. <strong>Der</strong> Arzt<br />

machte sich ernsthafte Sorgen um seine Gesundheit und um die der Freunde, aber im Augen-<br />

blick mochte es das Beste sein, einfach zu Schweigen. Ihm war klar, dass das schmerzhafte<br />

Konsequenzen haben würde, aber die Wahrheit zu sagen, hätte die gleichen Folgen. Egal, was<br />

auch immer sie erzählen würden, glauben würde ihnen zum jetzigen Zeitpunkt niemand.<br />

Hoffnungs- und mutlos ließ er den Kopf sinken.<br />

Ähnliche Gedanken gingen Jim durch den Kopf. Er wünschte verzweifelt, sie hätten<br />

darüber gesprochen, was in einer Situation wie dieser zu tun und vor allem zu sagen war. Sie<br />

hatten es nicht getan, und so blieb kein Ausweg. Was immer sie sagen würden, man würde<br />

ihnen nicht glauben. Er dachte an Kelly und betete zu Gott, dass die Typen ihr nichts antun<br />

würden. Sollten sie sich auf Jack und ihn konzentrieren. Er schluckte trocken und seufzte<br />

resigniert. Er sah den Kerl vor sich herausfordernd an.<br />

„Egal, was wir sagen, ihr glaubt uns ohnehin kein einziges beschissenes Wort. Also,<br />

bringt es hinter euch.“<br />

Innerlich bereitete er sich darauf vor, in absehbarer Zeit erneut kennen zu lernen, wie<br />

weit er Schmerzen ertragen konnte. Verkrampft wartete er darauf, dass es losgehen würde. Er<br />

sah kurz zu Jack hinüber und dieser nickte, um anzudeuten, dass er mit Jims Worten einver-<br />

standen war. Schwer atmend hingen die Männer in ihren Fesseln und warteten. <strong>Der</strong> Typ vor<br />

Jack sah seinen Kumpel an.<br />

„So, ihr beschließt also, das Maul zu halten? Nun, ich denke, es gibt Mittel und Wege,<br />

euch die Zungen zu lösen.“<br />

Er trat näher an den Wehrlosen heran und knöpfte ihm das Hemd auf. <strong>Der</strong> zweite Kerl<br />

verfuhr bei Jim genauso. Verbissen mussten die Männer es geschehen lassen, presste die<br />

Lippen fest zusammen und gaben keinen Laut von sich. Als man ihnen die Hemden ganz auf-<br />

geknöpft hatte, wurden diese in die Höhe geschoben und über ihre Schultern gestopft. Dann<br />

traten die beiden Kerle ein Stück zurück und begutachteten ihr Werk.<br />

„Wir werden euch den fähigen Händen eines Spezialisten überlassen. Ich an eurer<br />

Stelle würde es mir noch einmal gründlich überlegen. Die Entscheidung, zu Schweigen ist<br />

nicht die Klügste eures Lebens.“<br />

ihnen trat.<br />

Jim sah den Typen an und stieß verzweifelt:<br />

„Leck <strong>mich</strong>!“, hervor.<br />

<strong>Der</strong> Mann nickte.<br />

„Okay, ich wünsche euch viel Spaß. Hey, Parker, du kannst loslegen.“<br />

Das galt einem älteren Mann mit gepflegtem Vollbart, der langsam in die Höhle zu<br />

„Ich habe es dir gesagt, Tom, die sind stur.“, sagte der Mann namens Parker zu dem<br />

Kerl, der sich mit Jack befasst hatte.<br />

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erklärte:<br />

Jerry.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Mal sehen, ob du ihnen die Sturheit nicht austreiben kannst, Park.“, grinste dieser und<br />

„Na, dann lass uns mal Bescheid geben. Man wird schon auf unseren Bericht warten,<br />

Und damit verschwanden die beiden Männer nach draußen. Parker musterte seine hilf-<br />

losen Opfer gelassen. Kalt sagte er:<br />

„Ihr seid dumm. Ihr habt keine Vorstellung, zu was ich fähig bin. Aber ihr werdet es<br />

kennenlernen.“<br />

Er griff an seinen Gürtel und löste dort eine lange Peitsche. Jim und Jack schluckten.<br />

Parker trat hinter Jim und sagte:<br />

„Du hast vermutlich keine Ahnung, wie weh das tun wird, mein Junge.“<br />

Ohne ein weiteres Wort holte er mit der Peitsche aus und der Riemen wickelte sich<br />

brennend um Jims Körper.<br />

Aufkeuchend zuckte dieser in den Fesseln. Augenblicklich schossen ihm Tränen in die<br />

Augen. Und dann traf ihn der zweite Schlag. Seine gefesselten Hände ballten sich zu Fäusten<br />

und er knirschte mit den Zähnen. Die Striemen brannten wie Feuer. <strong>Der</strong> dritte und vierte<br />

Schlag folgten schnell und Jim brach der Schweiß aus. Beim fünften Hieb entwich ihm erst-<br />

mals ein leiser Aufschrei, den er verzweifelt versuchte, zu unterdrücken. Doch Parker wusste,<br />

wie er Jims Widerstand brechen konnte. Härter und schneller kamen die Hiebe und schließ-<br />

lich schaffte der Wehrlose es nicht mehr, sich zu beherrschen. Aufbrüllend hing er in den<br />

Fesseln und schrie bei jedem Treffer. Die Schmerzen waren unerträglich. Noch nie hatte Jim<br />

etwas Ähnliches gespürt. Er wollte sich so verzweifelt zusammen reißen, aber er hatte keine<br />

Chance. Irgendwann wollte er nur noch, dass es vorbei war. Jack musste hilflos zusehen und<br />

zuhören. Es war ihm klar, dass er der Nächste sein würde, der sich der liebevollen Be-<br />

handlung würde unterziehen müssen und Jack brach der Schweiß aus. Als Jim neben ihm<br />

leiser und kraftloser wurde und schließlich einfach in sich zusammen sackte, war Jack klar,<br />

dass es bei ihm losgehen würde. Und richtig, schon trat Parker mit einem verächtlichen<br />

Schnauben hinter Jack.<br />

„Na, Dr. Shephard, dann wollen wir doch mal sehen, ob du genauso widerstandsfähig<br />

bist wie dein Freund.“<br />

hatte!<br />

Und schon traf ihn der erste Hieb und Jack wunderte sich, wie Jim es solange ertragen<br />

************<br />

Vollkommen verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg. Ich bestand nur noch aus<br />

Angst. Die ersten Tränen kullerten mir über die Wangen und ich sah Kate an. Diese war nicht<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

weniger verängstigt als ich und zuckte mutlos die Schultern. Was sollten wir antworten? Ich<br />

wusste es nicht und so fiel mir nichts anderes ein, als zu Schweigen. Kate raffte das letzte<br />

bisschen Mut, dessen sie noch fähig war, zusammen und flüsterte:<br />

„Ganz egal, was wir sagen, Sie werden uns ohnehin nicht glauben ...“<br />

Jetzt liefen auch ihr Tränen die Wangen hinunter. Und Richard musterte uns kalt.<br />

„Okay, ihr seid also nicht bereit, zu Kooperieren. Gut. Wir sind keine Monster, wir werden<br />

uns nicht an Frauen vergreifen. Ihr bekommt Gelegenheit, darüber nachzudenken, was ihr als<br />

nächstes tun werdet.“<br />

Zu den beiden Leuten, die uns her geschafft hatten sagte er:<br />

„Bringt sie zurück ins Loch. Ab morgen werden sie die Chance haben, ihre Kraft ein<br />

wenig für uns einzusetzen. Ihr bringt sie zur Baustelle, zusammen mit den anderen<br />

Arbeitern.“<br />

Er sah Kate und <strong>mich</strong> erneut an und erklärte:<br />

„Ihr werdet für uns arbeiten. Und wenn es nicht so läuft, wie ich es mir vorstelle, oder<br />

wenn ich merke, dass ihr faul seid und nicht mit vollem Einsatz dabei, werden wir nach-<br />

einander eure Begleiter erschießen. Habt ihr das verstanden?“<br />

Verzweifelt nickten wir.<br />

„Verstanden ...“<br />

Dann wurden wir an den Oberarmen gepackt und wieder weg geführt, zurück in das<br />

kleine Loch, in dem wir zu uns gekommen waren.<br />

Als wir dort ankamen, löste man uns die Handfesseln, dann schloss sich das Gitter<br />

hinter uns und wir waren alleine. Langsam trat ich an die Felswand und sank auf den Boden.<br />

Ich war am Ende meiner Beherrschung angekommen und schlug aufschluchzend die Hände<br />

vor das Gesicht. Kate ging es nicht besser. Sie sackte mir gegenüber in sich zusammen und<br />

lehnte weinend den Kopf an die Felswand. Minutenlang herrschte Schweigen zwischen uns.<br />

Schließlich flüsterte Kate verzweifelt:<br />

„Was haben diese Schweine nur mit Sawyer, Jack und Sayid gemacht?“<br />

Ich hatte versucht, diesen Gedanken zu verdrängen, doch nun kam er mit Macht<br />

zurück. Meine Fantasie spielte mir augenblicklich die schlimmsten Streiche. Ich sah Jim, ver-<br />

letzt, tot, misshandelt, und keuchte verzweifelt:<br />

„Nein!“<br />

Kate verstand nicht, und sah <strong>mich</strong> verwirrt an.<br />

„Was?“<br />

Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken daran, was mit Jim sein mochte, zu ver-<br />

treiben. Leise und verzweifelt sagte ich:<br />

verrückt.“<br />

„Wir müssen einfach daran glauben, dass es ihnen gut geht, Kate, sonst werden wir<br />

Ich ließ <strong>mich</strong> auf den nackten Boden sinken und rollte <strong>mich</strong> zusammen.<br />

- 141 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Wir wachten davon auf, dass die Tür zu unserer Zelle geöffnet wurde und fuhren beide<br />

erschrocken in die Höhe. Das ich überhaupt eingeschlafen war, grenzte für <strong>mich</strong> an ein<br />

Wunder. Eine junge Frau brachte uns Sandwichs und Kaffee.<br />

„Hier, esst, vor heute Abend gibt es nichts wieder.“, herrschte sie uns an und wir<br />

griffen ausgehungert nach den Tellern.<br />

Gierig stopften wir das Brot in uns hinein und schon hieß es:<br />

„Los, hoch jetzt. Ihr werdet sehnsüchtig erwartet.“<br />

Steif kamen wir auf die Beine. Ungefesselt wurden wir nach draußen geführt und es<br />

ging ein kurzes Stück in den Dschungel. Endlich sagte die Frau:<br />

„So, da wären wir. Ihr seht die Bänder, die dort drüben gespannt sind?“<br />

Sie deutete auf ein rotes Band, das sich in einem großen Rechteck um kleine, in den<br />

Boden gerammte Pfähle zog. Es diente ganz offensichtlich als Markierung für ein größeres<br />

Gebäude. Wir nickten.<br />

„Gut. Hier sind Spaten und Schaufeln, ihr werdet an jedem Pfahl ein Loch buddeln.<br />

Einen Meter dreißig tief und vierzig Zentimeter im Durchmesser, verstanden?“<br />

Hastig nickten wir.<br />

„Was passiert, wenn ihr zu fliehen versucht oder nicht schnell genug arbeitet, hat<br />

Richard euch gesagt. Ihr solltet seinen Worten lieber Glauben schenken, das ist besser für die<br />

Kerle, die bei euch waren.“<br />

Sie drücke uns Spaten in die Hand und verschwand einfach. Wir waren auf der Bau-<br />

stelle hier nicht die einzigen Menschen. Einige andere Leute waren ebenfalls am Schaufeln.<br />

Es gab noch einige dieser gespannten Bänder auf der freien Fläche. Insgesamt schienen es<br />

acht Gebäude zu sein, die hier entstehen sollten. Sie würdigten uns keines Blickes und so be-<br />

schlossen wir, uns genauso zu verhalten. Gemeinsam gingen wir zum ersten Pfahl hinüber<br />

und begannen zu Buddeln.<br />

Schnell lief uns der Schweiß am Körper herab, aber wir strengten uns an. Die<br />

Drohung, die Männer zu erschießen, steckte uns mehr als nachhaltig in den Knochen. Wir<br />

wechselten kaum ein Wort und schufteten in der glühenden Sonne an den Löchern. Leider<br />

konnten wir nicht verhindern, dass auf diese Weise unsere Gedanken immer wieder zu Jim,<br />

Jack und Sayid drifteten. Was mochte mit ihnen geschehen sein? Wo waren sie? Mussten sie<br />

vielleicht auch irgendwo hier im Dschungel schuften? Jim würde ... Er würde starke Rücken-<br />

schmerzen haben, da war ich sicher. Fast hätte ich aufgeschluchzt, zwang aber die Tränen<br />

zurück. Wie lange er, wenn sie auch arbeiten mussten, diese Schufterei durchhalten würde,<br />

konnte ich mir ausrechnen. Nicht lange. <strong>Der</strong> Gedanke daran, dass er sehr schnell sehr starke<br />

Schmerzen bekommen würde, verursachte mir heftige Übelkeit und ich stöhnte gequält auf.<br />

- Hör auf, ständig an ihn zu denken! -<br />

giftete ich <strong>mich</strong> selbst an.<br />

- 142 -


- Du quälst dich damit nur selber. -<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Ich seufzte. Meine Hände wiesen schon Blasen auf und mir tat jeder Knochen im<br />

Körper weh. Kate ging es nicht anders. Verbissen kämpften wir weiter mit dem harten Boden<br />

und langsam vertrieben die Erschöpfung und die eigenen Schmerzen die Gedanken an die<br />

Männer ein wenig aus unseren Köpfen. Als die Sonne senkrecht am Himmel stand, durften<br />

wir eine Pause einlegen. Wir bekamen Wasser und durften uns sogar kurz in den Schatten<br />

setzten.<br />

„Ich bin am Ende.“, stieß Kate hervor.<br />

„Ich auch, aber wir dürfen nicht nachlassen.“, stöhnte ich und rieb mir die Ober-<br />

schenkel, die von der ungewohnten Arbeit genauso schmerzten wie der Rest des Körpers.<br />

Kate sah sich hastig um, stellte fest, dass niemand in unserer Nähe war und flüsterte:<br />

„Siehst du die Typen dort drüben in den beigen Overalls? Die sind von der DHARMA<br />

Initiative. Anscheinend gibt es sie doch schon!“<br />

Diese neue Erkenntnis riss <strong>mich</strong> aus den trüben Gedanken und ich flüsterte ebenso<br />

leise zurück: „Dann ist der Kampf schon entbrannt und wir sind doch schon in den<br />

Siebzigern.“ Kate nickte.<br />

„Ja, scheint wohl so.“<br />

Was das für uns bedeuten mochte, mussten wir abwarten. Nach vielleicht dreißig<br />

Minuten wurden wir aufgefordert, weiter zu Arbeiten. <strong>Der</strong> Nachmittag wurde bald zu einer<br />

einzigen Qual. Aber wir kämpften verbissen weiter. Zu groß war unsere Angst, den Ärger<br />

dieser Leute auf die Männer zu lenken. Mit einer vom Stress hochdosierten Menge Adrenalin,<br />

Noradrenalin und Dopamin im Körper war der Mensch leistungsfähiger, als er sich je<br />

Träumen lassen würde, das lernten wir an diesen Nachmittag deutlich kennen. Als schließlich<br />

die Sonne anfing, unter zu gehen, hieß es:<br />

„Feierabend.“<br />

Vollkommen zerschlagen schleppten wir uns in das Lager zurück und waren dankbar,<br />

als wir in unserer Zelle auf den nackten, harten Boden sinken konnten. Wir schliefen, kaum<br />

dass unsere Körper sich ausgestreckt hatten und zuckten hoch, als jemand uns an den<br />

Schultern schüttelte.<br />

„Hier ist euer Abendbrot.“<br />

Müde richteten wir uns noch einmal auf. Man hatte uns Braten, Gemüse und<br />

Kartoffeln gebracht. Mit unseren wunden Händen konnten wir kaum das Besteck halten.<br />

Schweigend aßen wir die Teller leer und kaum, dass wir es geschafft hatten, sanken wir<br />

wieder in die Waagerechte. Wir lagen noch gar nicht richtig, da schliefen wir auch schon.<br />

Mein letzte Gedanke war der, wie wir das weiter durchhalten sollten.<br />

************<br />

- 143 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Jim kam langsam wieder zu sich. Das Erste, was er wahrnahm, waren heftige<br />

Schmerzen. Es fühlte sich an, als würde jemand auf seinem Rücken ein Lagerfeuer ver-<br />

anstalten. Gequält stöhnte er auf. <strong>Der</strong> Schmerz, der nach wie vor in seinen Armen und<br />

Schultergelenken wütete, verschwand angesichts der Schmerzen auf seinem Rücken ins<br />

Nichts. Erneut stöhnte er auf und versuchte mühsam, die Augen auf zu bekommen. Als er es<br />

endlich geschafft hatte, glitt sein Blick nach rechts. Dort hing Jack, noch bewusstlos und<br />

damit zu Beneiden. Sie waren alleine, das realisierte Jim überdeutlich. Niemand, der ihn<br />

weiter auspeitschte. Er bemühte sich, auf den Füßen Halt zu finden, um die Arme ein wenig<br />

zu entlasten. Wirklich gelingen wollte es ihm nicht. Die heftigen Schmerzen, die in seinem<br />

ganzen Körper tobten, ließen ihn erneut aufstöhnen. Er hätte sonst was für einen Schluck<br />

Wasser getan. Und kaum, dass er wieder richtig denken konnte, waren seine Gedanken bei<br />

Kelly.<br />

„Es tut mir so leid ...“, flüsterte er verzweifelt.<br />

Wo sie wohl war? Ob man ihr etwas getan hatte? In welcher Verfassung mochte sie<br />

sein? Er konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken einzig um Kelly kreisten. Neben sich<br />

hörte er Jack qualvoll aufstöhnen. <strong>Der</strong> Doc kam also auch langsam wieder zu sich. Lange<br />

konnten sie nicht weg gewesen sein. Jim spürte noch Blut aus den offenen Striemen auf<br />

seinem Rücken tröpfeln.<br />

„Hey, Doc ... Wach auf!“<br />

Jack ächzte.<br />

„Bin wach ...“<br />

Allerdings dauerte es noch einige Minuten, bis der Chirurg wirklich ansprechbar war.<br />

„Alles in Ordnung?“, fragte Jim erschöpft.<br />

„Soll das ein Witz sein?“<br />

Jack stöhnte.<br />

„Wo ist ... ah ... wo ist dieser Dreckskerl hin?“<br />

Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß Jim hervor:<br />

„Hoffentlich in die Hölle. Jack, hör zu, noch so eine Behandlung und die können mit<br />

uns den Boden wischen. Was sollen wir machen?“<br />

Jack drehte mühsam den Kopf zu Jim.<br />

„Ich weiß es nicht, ehrlich. Egal, was wir sagen, glauben werden sie uns kein Wort.<br />

Wenn ich nur wüsste, dass Kate halbwegs in Ordnung ist ...“<br />

Jack schluckte. Er wollte noch etwas sagen, wurde aber von der Ankunft einiger<br />

Männer unterbrochen, die zu den Gefesselten traten.<br />

fallen?“<br />

„Da sind ja unsere Helden wieder. Wie hat euch die Unterhaltung mit Parker ge-<br />

Verbissen schwiegen die Gefesselten.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Ihr seid beleidigt, das kann ich verstehen.“, erklärte der eine der Kerle ironisch.<br />

„Aber glaubt mir, das war erst der Anfang. Parker ist ein Fachmann. Habt ihr darüber nach-<br />

gedacht, uns nicht doch lieber alles zu sagen, was wir wissen wollen?“<br />

Erneutes Schweigen war die Antwort. <strong>Der</strong> Mann zuckte die Schultern.<br />

„Nun, wir sind keine Unmenschen. Wir geben euch noch eine Chance, bevor Park<br />

ernst machen darf. Und glaubt mir, für diese Chance solltet ihr eurem Schöpfer auf Knien<br />

danken. Ihr habt Glück. Ihr bekommt die Möglichkeit, darüber nachzudenken, ob ihr uns nicht<br />

doch lieber sagen wollt, was wir wissen möchten.“<br />

Je zwei Männer traten zu den Gefesselten und bevor diese realisierten, was geschah,<br />

holten zwei der Typen aus und droschen Jim und Jack die Fäuste an die Kinnspitzen.<br />

Augenblicklich gingen den ohnehin schon stark geschwächten Gefangenen die Lichter erneut<br />

aus.<br />

Als Jim abermals zu sich kam, merkte er, dass er lag. Die Schmerzen in seinem Körper<br />

waren auf ein halbwegs erträgliches Maß reduziert. Er spürte wie durch Watte, dass er auf<br />

dem Bauch lag und sich nicht rühren konnte. Hand- und Fußgelenke waren an metallene Bett-<br />

gestelle gefesselt worden. Mühsam versuchte Jim, den Kopf zu heben und nach Jack Aus-<br />

schau zu halten. Da hinten. Dort stand ein zweites, einfaches Metallbett und auf diesem lag<br />

der Doc. Gerade sah er zu Jim hinüber.<br />

„Willkommen im Paradies.“, grinste er verbissen.<br />

„Wo sind wir?“, fragte Jim und verrenkte sich fast den Hals, um sich umzuschauen.<br />

Sie lagen ganz offensichtlich in einem Zelt. Außer den beiden Betten enthielt es, wie Jim<br />

sehen konnte, nicht viel. Ein Schrank, ebenfalls aus Metall, stand in einer Ecke. Auf ihm<br />

konnte Jim ein rotes Kreuz erkennen. Zwei weitere, leere Betten, ein Waschtisch, ein kleiner<br />

Campingtisch mit zwei Stühlen, damit erschöpfte sich das Mobiliar auch schon.<br />

„Scheint so, als wären wir im Krankenhaus gelandet.“<br />

Jack nickte.<br />

„Sieht fast so aus.“<br />

Jim ließ den Kopf wieder auf die einfache Matratze sinken.<br />

„Was von Kate und Kelly gesehen?“<br />

Jack schüttelte den Kopf.<br />

„Natürlich nicht. Ich bin auch eben erst wieder zu mir gekommen.“<br />

Beide Männer zuckten heftig zusammen, als plötzlich die Plane des Zeltes geöffnet<br />

wurde und eine dunkelhäutige Frau in einem weißen Kittel zu ihnen trat. Ohne ein Wort zu<br />

sagen zog sie einen der Stühle neben das Bett, auf dem Jim lag. Sie stellte den kleinen Tisch<br />

daneben, suchte nun in dem Schrank nach ein paar Sachen, die sie auf dem Tisch abstellte.<br />

Zuletzt füllte sie die Waschschüssel mit Wasser und trug auch diese zum Tisch hinüber. Nun<br />

begann sie wenig rücksichtsvoll Jims Rücken zu säubern. Immer wieder entfuhren diesem bei<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

der ruppigen Behandlung leise Schmerzgeräusche. Endlich schien die Frau zufrieden zu sein<br />

und griff nach einer Flasche mit einer bräunlichen Flüssigkeit. Sie tränkte ein wenig Ver-<br />

bandsmull und begann, die Wunden, die die Peitsche auf Jims Rücken hinterlassen hatte, mit<br />

dieser Flüssigkeit abzutupfen. Jim wimmerte auf, obwohl er verzweifelt die Zähne auf-<br />

einander biss. Es brannte in den offenen Wunden wie Feuer. Aber auch diese Tortur war<br />

schließlich vorbei. Die Frau wartete einige Minuten, dann rieb sie Jim eine angenehm<br />

kühlende Salbe in die Wunden. Als sie fertig war, trug sie alles zu Jack hinüber und unterzog<br />

diesen der gleichen liebevollen Behandlung. Schließlich erklärte sie:<br />

„Ihr habt vierundzwanzig Stunden Ruhe, dann werdet ihr Arbeiten.“<br />

Sie verließ das Zelt und ließ die Männer verwirrt zurück.<br />

************<br />

Zwei Tage waren vergangen. Tage, in denen wir von morgens bis abends geschuftet<br />

hatten wie die Sklaven. Tage, an dessen Enden wir wie die Toten geschlafen hatten. Tage<br />

ohne ein Ende der Qual. Morgens und abends bekamen wir jeweils etwas zu Essen, mittags<br />

blieb es bei der halbstündigen Pause. Kate und ich bewegten uns inzwischen wie Roboter.<br />

Nur noch die Angst um Jim, Sayid und Jack hielt uns überhaupt auf den Beinen. Wir hatten in<br />

diesen insgesamt drei Tagen zwölf Löcher gebuddelt. Unsere Hände waren aufgescheuert bis<br />

aufs nackte Fleisch, wir hatten tatsächlich eine Salbe für sie bekommen, die wir uns abends<br />

leise wimmernd auf die offenen Wunden schmierten und die wenigstens ein bisschen<br />

Linderung brachte. Zum Grübeln waren wir viel zu erledigt. Und wenn wir einmal die Kraft<br />

fanden, nachzudenken, trieb es uns meistens Tränen in die Augen, denn dann dachten wir nur<br />

an Jim und Jack. Das wir keinen noch so kleinen Hinweis erhielten, was mit ihnen geschah,<br />

war Folter pur. Als uns an diesem Abend das Essen gebracht wurde, erklärte die Frau, die es<br />

uns immer brachte:<br />

wiedersehen.“<br />

„Morgen werdet ihr einer anderen Arbeit zugeteilt. Dann werdet ihr die Männer<br />

Diese Worte waren wie Stromschläge. Unsere Augen weiteten sich und wir starrten<br />

die Frau überrascht an.<br />

„Ihr werdet kein Wort wechseln, ihr werdet eure Arbeit machen. Ihr werdet euch<br />

einander nicht nähern. Habt ihr das verstanden?“<br />

Wie aus einem Mund stießen wir:<br />

„Ja, verstanden.“, hervor.<br />

Mein Herz polterte gegen meine Rippen und ich konnte es kaum fassen. Jim wieder-<br />

sehen. Und wenn es nur von weitem war. Endlich sehen, ob es ihm einigermaßen gut ging.<br />

Mir schossen unwillkürlich Tränen in die Augen. Als wir wieder alleine waren stieß Kate auf-<br />

geregt hervor:<br />

- 146 -


dürfen?“<br />

„Hoffentlich!“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Ob die das ernst meinen? Ob wir wirklich mit den Männern zusammen arbeiten<br />

Es hätte nicht mehr viel gefehlt und ich hätte die Hände betend zusammen gelegt.<br />

Wir rollten uns auf dem Boden zusammen. Aber trotz der völligen Erschöpfung<br />

konnten wir an diesem Abend nicht so schnell einschlafen. Und als mir dann endlich doch die<br />

Augen zufielen, schien mein Herz in einem ganz neuen Rhythmus zu schlagen: Jim sehen ...<br />

Jim sehen ... Jim sehen...<br />

************<br />

Jim fuhr erschrocken aus dem Schaf hoch. Jemand beugte sich über ihn und löste seine<br />

Fesseln. <strong>Über</strong> Jack gebeugt stand ebenfalls einer der ‟Anderen‟ und befreite auch ihn von den<br />

Fesseln.<br />

„Noch liegen bleiben.“, wurden sie angeherrscht und dann erfolgte eine erneute Be-<br />

handlung der Wunden auf ihren Rücken. Schließlich durften sie sich aufrichten und in ihre<br />

Hemden schlüpfen. Sie bekamen einen großen Teller mit belegten Broten gereicht und er-<br />

hielten dazu Kaffee. Während sie aßen, erklärte einer der Typen:<br />

„Ihr werdet ab jetzt arbeiten. Ihr seid zum Bäume fällen eingeteilt. Falls ihr Dumm-<br />

heiten macht, werden wir eure Begleiterinnen nacheinander erschießen. Habt ihr das ver-<br />

standen?“<br />

„Ja, ja, haben wir.“, sagte Jim tonlos.<br />

„Gut. Und nehmt unsere Worte lieber ernst. Ihr werdet sie heute wiedersehen. Ihr habt<br />

nicht die Erlaubnis zu Reden oder ihnen nahe zu kommen. Solltet ihr dies trotzdem ver-<br />

suchen, werdet ihr euch wünschen, nie geboren worden zu sein, klar? Und die Ladys eben-<br />

falls.“ Wieder nickten beide Männer.<br />

„Klar.“<br />

Jim und Jack aßen hastig ihr Brot auf und tranken den Kaffee. Dann standen sie etwas<br />

schwankend auf. Ungefesselt wurden sie nach draußen getrieben. Es ging kurz durch den<br />

Dschungel und endlich tat sich vor ihnen eine kleine Lichtung auf. Hier waren schon ein paar<br />

andere Leute damit beschäftigt, Bäume zu fällen und fort zu schaffen. Und plötzlich stockte<br />

den Männern das Herz. Dort hinten standen Kelly und Kate. Sie sahen zu ihnen hinüber und<br />

als die Männer näher kamen, sahen sie, dass beide Frauen unverletzt, aber vollkommen ver-<br />

dreckt und erschöpft wirkten. Und Beiden liefen Tränen über die Wangen!<br />

************<br />

- 147 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Wir wurden am kommenden Morgen mit dem üblichen Brot versorgt, dann ging es<br />

los. Eine Weile führte man uns durch den Dschungel. Irgendwann erreichten wir eine kleine,<br />

künstlich geschaffene Lichtung. Man befahl uns, zu warten und Minuten später schien mein<br />

Herz einige Schläge zu überspringen. Da kamen Jack und ... Jim. Kate entdeckte sie im selben<br />

Moment und klammerte sich unwillkürlich an meinen Arm.<br />

„Da ...“, stieß sie atemlos hervor.<br />

Ich konnte nur nicken. Ich konnte es kaum glauben. Man führte die Männer bis auf<br />

wenige Schritte an uns heran. Hier mussten sie stehen bleiben. Jim stand mir genau gegen-<br />

über. Ich sah an seinem Gesicht, dass es ihm nicht besonders gut ging, aber seine Augen<br />

strahlten, als er <strong>mich</strong> sah. Unsere Blicke saugten sich aneinander fest und nicht nur meine<br />

Augen füllten sich mit Tränen. Nicht zueinander zu dürfen, nicht fragen zu dürfen, wie es<br />

ging, war grausam. Ich hätte mein Leben dafür gegeben, ihn in die Arme schließen zu können.<br />

Aber wir durften nicht. Stattdessen wurde uns erklärt:<br />

„Ihr werdet Bäume fällen und sie samt der Stümpfe wegschaffen. Dort hinten ist der<br />

Sammelplatz, von dort werden die Stämme abtransportiert. Sollten wir auch nur das Geringste<br />

von euch hören, werdet ihr es bitter bereuen. Und jetzt fangt an.“<br />

Jim und Jack bekamen Sägen in die Hände gedrückt, Äxte wurden vor uns auf den<br />

Boden geworfen, ebenso Spaten und Schaufeln und dann waren wir alleine. Um den gesamten<br />

Platz herum standen Wachen, mit Gewehren in den Händen, und ließen uns nicht eine<br />

Sekunde aus den Augen. Keiner von uns wagte, auch nur lauter zu atmen. Schweigend und<br />

immer scharf darauf achtend, einen Sicherheitsabstand zu einander zu halten, traten wir an<br />

den ersten Baum heran. Und genauso schweigend und peinlich darauf achtend, uns nicht zu<br />

nahe zu kommen, wurde der große Baum von uns gefällt. Mit den Sägen begannen Kate und<br />

ich, das Geäst abzutrennen, während Jim und Jack den Baumstumpf ausgruben. Suchend<br />

sahen Kate und ich uns um. Dort hinten war ein Platz geschaffen worden, an den auch die<br />

anderen Arbeiter das abgetrennte Geäst schafften. Wir begannen ebenfalls, das von uns ab-<br />

gesägte Geäst auf den Sammelplatz zu schaffen. Wir beeilten uns, um schnell wieder zu Jack<br />

und Jim zurückzukommen. Dass Sayid nicht bei den beiden Männern war, hatten wir, so<br />

hofften wir wenigstens, unbeeindruckt registriert. Wilde Hoffnung zuckte durch <strong>mich</strong> hin-<br />

durch, als ich es realisierte. Vielleicht war er tatsächlich entkommen und fand irgendwann<br />

eine Möglichkeit, uns zu Hilfe zu kommen. Gehässig erwiderte der Pessimist in mir<br />

- Oder er ist tot! -<br />

Ich schüttelte energisch den Kopf. Er lebte. Ich schob den Gedanken ganz zur Seite<br />

und konzentrierte <strong>mich</strong> auf die Arbeit und, was viel wichtiger war, auf Jim. Nur allzu deutlich<br />

war zu sehen, dass er Schmerzen hatte, aber dieselben Symptome beobachtete ich bei Jack.<br />

Was hatte man den Männern nur angetan? Beide bewegten sich vorsichtig und zuckten immer<br />

wieder zusammen. Ab und zu entrang sich ihren Lippen ein leises Ächzen oder Stöhnen. Und<br />

immer wieder verzogen sie vor Schmerzen das Gesicht. <strong>Der</strong> Drang, zu erfahren was los war<br />

- 148 -


By<br />

Frauke Feind<br />

wurde immer größer, aber wir alle zwangen diesen Drang nieder. Vielleicht in der Mittags-<br />

pause ...<br />

Doch diese Hoffnung wurde brutal zerstört. Wir wurden getrennt, Jim und Jack<br />

wurden an das eine Ende der Lichtung, Kate und ich an das andere Ende geschafft.<br />

Verzweifelt schluchzte ich auf und sank auf den heißen Boden. Stumm hockten wir neben-<br />

einander und schauten sehnsüchtig zu den Männern hinüber. So nah, und doch unerreichbar.<br />

Es war grausam, schlimmer als jede körperliche Folter. War in den ersten Tagen die halbe<br />

Stunde Pause viel zu wenig gewesen, erschien sie uns heute beinahe unerträglich lang. Schon<br />

die körperliche Nähe, ohne sich berühren zu dürfen, hatte etwas Tröstliches. Und so warteten<br />

wir alle vier darauf, endlich weiter arbeiten zu dürfen. Kate und ich schwiegen. Wir hätten<br />

uns zwar unterhalten dürfen, aber keine von uns hatte das Verlangen, zu Sprechen. Unsere<br />

Augen und Gedanken waren bei den beiden Männern uns gegenüber. Ich wollte wissen, was<br />

mit ihnen los war, warum sie offensichtlich Schmerzen hatten. Was hatte man ihnen angetan?<br />

Ich konnte aus dieser Entfernung Jims Gesicht nicht gut genug erkennen, aber es war über-<br />

deutlich, dass er schon ziemlich am Ende war. Und Jack sah nicht besser aus.<br />

Endlich war die Pause vorbei und wir durften weiter arbeiten. In weniger als einem<br />

Meter Abstand voneinander schufteten wir den ganzen Nachmittag. Wir schafften gemeinsam<br />

noch einen weiteren Baum, mehr war nicht drin. Jack und Jim wurden immer langsamer und<br />

mussten immer häufiger durchatmen. In mir krampfte sich alles zusammen. Ich hätte mein<br />

rechtes Bein gegeben, hätte ich Jim dafür helfen dürfen. Kate und ich versuchten, sie<br />

wenigstens arbeitstechnisch so gut es nur ging zu unterstützen, mehr konnten wir nicht<br />

machen. Verzweifelt beobachtete ich die Sonne, die langsam begann, unter zu gehen. Ich war<br />

sicher, einen Schreikrampf zu bekommen, wenn man uns am Abend wieder trennen würde.<br />

Und dann kam der Befehl: Feierabend. Meine Beine fingen bedenklich an zu Zittern. Wie<br />

sollte ich das nur überstehen? Aber man nahm mir die Entscheidung ab. Zwei Männer kamen<br />

und führten Jim und Jack gnadenlos fort. Verzweifelt drehten sie sich noch einmal zu uns<br />

herum, dann verschluckte der Dschungel sie und ich brach zusammen. Schluchzend sank ich<br />

auf die Knie und weinte, dass es <strong>mich</strong> schüttelte. Kate versuchte, <strong>mich</strong> zu beruhigen, dabei<br />

liefen ihr selbst Tränen über die Wangen. Und schon wurde ich angeschnauzt, gefälligst auf<br />

die Beine zu kommen. Als ich nicht reagierte, wurde ich brutal am Haar gepackt und hoch<br />

gezerrt.<br />

„Du hast die Wahl: Entweder, du reißt dich zusammen und kommst mit, oder Ford<br />

wird die Abreibung seines Lebens kriegen.“, erklärte mir der Typ, der <strong>mich</strong> so gemein auf die<br />

Füße gezogen hatte.<br />

Panisch riss ich <strong>mich</strong> zusammen.<br />

„Nein, nein, bitte, ich komme ja schon, bitte.“<br />

- 149 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ich taumelte los und Kate folgte mir. Kurze Zeit später erreichten wir bereits das<br />

Camp und wurden in unsere Zelle geschafft. Hier sank ich wie paralysiert auf den Boden und<br />

starrte ins Leere. Als man uns unser Essen brachte, aß ich mechanisch ein wenig davon, dann<br />

schob ich den Teller zur Seite. Kate sah <strong>mich</strong> besorgt an.<br />

den Schlaf.<br />

„Du musst was Essen, Kelly.“<br />

Ich schüttelte nur den Kopf, rollte <strong>mich</strong> auf dem Boden zusammen und weinte <strong>mich</strong> in<br />

************<br />

14) Sklaven<br />

Jim zerriss es fast das Herz. Kelly zu sehen und doch nicht zu ihr zu dürfen überstieg<br />

fast seine Kräfte. Aber die Angst, dass man ihr etwas antun würde, hielt sowohl seine Lippen<br />

verschlossen als auch seine Hände davon ab, sie zu berühren. Als der Feierabend ausgerufen<br />

wurde und er zusammen mit Jack weg geführt wurde, hatte er das Gefühl, in zwei Hälften<br />

zerrissen zu werden. Verzweifelt sah er sich noch einmal nach Kelly um, dann verwehrte ihm<br />

der Wald die Sicht. Jack neben ihm stöhnte verzweifelt auf. Aber die Männer schwiegen, bis<br />

man sie in ihre neue Unterkunft gebracht hatte. Ein in die Felsen gehauenes Loch, vielleicht<br />

zwei Meter im Durchmesser, kahle Wände, kahler Fußboden, von einer Gittertür ver-<br />

schlossen. Kaum waren sie dort eingesperrt, kam eine Frau mit zwei Tellern und reichte diese<br />

durch ein dafür vorgesehenes Loch in den Gitterstäben in den Käfig hinein. Müde und mutlos<br />

nahmen die Männer die Teller entgegen und aßen mechanisch, was man ihnen zubereitete<br />

hatte. Dann sprach Jack aus, was auch Jim dachte.<br />

„Wenn ich die Wahl hätte zwischen ausgepeitscht werden und noch so einen Tag wie<br />

heute, so dicht bei Kate und doch so unerreichbar weit weg, ich würde <strong>mich</strong> für die Peitsche<br />

entscheiden.“<br />

Jim saß an die Wand gelehnt da und starrte vor sich hin. Sein Rücken brannte und er<br />

wünschte, man würde ihnen wieder von der Salbe auf die Striemen streichen. Er war ver-<br />

schwitzt, dreckig und hatte das Gefühl, zu stinken. Seit er mit Kelly in dem See gebadet hatte,<br />

war er ungewaschen. Er fühlte sich schrecklich. Am Ende seiner Kraft streckte er sich bäuch-<br />

lings auf dem harten Boden aus und versuchte, einzuschlafen. Leider gelang ihm das trotz<br />

aller <strong>Über</strong>müdung und Erschöpfung nicht so schnell. Zu sehr kreisten seine Gedanken um<br />

Kelly und das, was man da von ihnen verlangte. So nah und doch so fern. Wie sollten sie das<br />

nur auf Dauer aushalten?<br />

<strong>Der</strong> Morgen kam schnell und schon wurden sie wieder aus dem Käfig geholt. Bevor<br />

man sie in den Dschungel führte, wurde tatsächlich ihr Rücken noch einmal mit Salbe be-<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

handelt. Jim war erstaunt darüber. Es ging bereits besser, aber ein paar Tage würde es sicher<br />

noch dauern, bis alles einigermaßen verheilt war. Dass sein Rücken überhaupt mitspielte,<br />

grenzte für Jim an ein Wunder. Er hatte gestern Abend, wie der Rest seines Körpers, höllisch<br />

weh getan, aber er konnte sich noch bewegen. Er war gespannt, wie lange noch. Jim hastete<br />

voran, um schnell die Lichtung und damit Kelly zu erreichen. Die Frauen waren noch nicht<br />

da, aber wenige Minuten kamen sie ebenfalls auf der Baustelle an. Heute war es fast noch<br />

schwerer, nicht zu einander zu dürfen. Jim sah Kelly mehr als deutlich an, wie fertig sie war.<br />

Ihre Blicke trafen sich immer wieder und die Sehnsucht zueinander war fast mehr, als sie er-<br />

tragen konnten. Sie wären schon für eine einzige Umarmung unendlich dankbar gewesen. Nur<br />

für eine Minute den Partner spüren. Nur wenige, kleine Worte wechseln. Aber sie mussten<br />

Schweigen und sich fern halten. Jim schloss vollkommen verzweifelt die Augen und stöhnte.<br />

<strong>Der</strong> Tag verging mit der schweren körperlichen Arbeit und der nächste, und der über-<br />

nächste. Von morgens bis abends waren sie damit beschäftigt, Bäume zu fällen, zu entasten,<br />

fort zu schaffen. Eine harte, kräftezehrende Arbeit. Sie hatten Schmerzen im ganzen Körper,<br />

die Hände waren wund und aufgescheuert, die Muskeln schrien bei jeder Bewegung gequält<br />

auf. Irgendwann schließlich kam ein Punkt, an dem sie aufhörten, ständig an einander zu<br />

denken, einfach, weil dafür keine Kraft mehr vorhanden war. Die wenigen Kräfte, die sie<br />

noch aufbringen konnten, mussten sie dafür verwenden, sich anzutreiben, durchzuhalten. Ein<br />

Tag verging wie der andere. In der glühenden Sonne wurde die Lichtung langsam größer.<br />

Mechanisch, wie programmiert, schufteten alle vier weiter. Fielen abends nach dem Essen auf<br />

den harten Boden und schliefen wie betäubt, am Rande der völligen körperlichen und<br />

seelischen Erschöpfung. Und dann kam der fünfte Tag der Schufterei. Und er brachte eine<br />

<strong>Über</strong>raschung.<br />

Morgens waren Jack und Jim wieder auf die Lichtung geschafft worden, die schon<br />

deutlich größer geworden war. Wie Maschinen, möglichst ohne nachzudenken, waren sie an<br />

die Arbeit gegangen. Das Nachdenken war zu schmerzhaft, denn dann drehten sich die Ge-<br />

danken ausschließlich um die grausame Folter, sich zu sehen und doch weiter voneinander<br />

getrennt zu sein, als wären sie auf Mars und Mond verteilt. Sie hatten weder ein Wort mit-<br />

einander gewechselt, noch sich berührt. Alles, was ihnen blieb war, sich mit Blicken sehn-<br />

suchtsvoll anzuschmachten. Jeder Abend war schlimmer gewesen als der Vorangegangene,<br />

jede Trennung schwerer zu ertragen, und jedes Wiedersehen am Morgen schmerzhafter. Man<br />

wusste, man war wieder den ganzen Tag zusammen und doch nicht. Jim verfluchte mehr als<br />

einmal das Schicksal, dass sie wieder auf diese elende Insel mit ihren geisteskranken Be-<br />

wohnern geführt hatte. Er sah zu Kelly hinüber. Sie sah so unglaublich erschöpft aus.<br />

Vollkommen verdreckt, die Kleidung zerrissen, Tränenspuren überdeutlich im schmutzigen<br />

Gesicht. Wie gerne hätte er sie in die Arme genommen und von hier fort gebracht. Stattdessen<br />

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Frauke Feind<br />

musste er zusehen, wie sie zusammen mit Kate weiter Äste absägte, fortschaffte, die nächsten<br />

holte. Jim konnte es nicht mehr ertragen.<br />

************<br />

Die Tage vergingen einförmig, vom Aufstehen am Morgen bis zum Einschlafen am<br />

Abend. Ich wusste nicht, woher ich die Kraft nahm, immer weiter zu arbeiten, aber die<br />

schreckliche Angst, dass sie Jim vor meinen Augen einfach erschießen würden, trieb <strong>mich</strong><br />

voran. Meine Muskeln gewöhnten sich langsam an die ungewohnten Bewegungen, der<br />

Schmerz, der im ganzen Körper wütetet, ließ allmählich etwas nach. Und da ich nicht mehr<br />

ausschließlich mit meinen eigenen Qualen so viel zu kämpfen hatte, dass ich kaum einen<br />

Blick für etwas anderes hatte, merkte ich, dass Jim immer noch aufrecht stand. Er schuftete<br />

wirklich hart, was angesichts seines Zustandes erstaunlich war. Theoretisch hätte er schon<br />

längst zusammen gebrochen sein müssen. Unerträgliche Rückenschmerzen hätten ihn um-<br />

werfen müssen. Alles in mir schrie danach, ihn zu fragen, wie es ihm ging. Aber mehr, als<br />

ihm heimlich verzweifelte Blicke zuzuwerfen, wagte ich nicht. <strong>Der</strong> Abend des fünften Tages<br />

unseres Sklavendaseins brach an. <strong>Der</strong> Vorarbeiter erklärte kurz vor dem Sonnenuntergang:<br />

„Okay, das war‟s für heute.“<br />

Ich schluckte. Wieder würde ich zusehen müssen, wie man Jim weg brachte. Heute<br />

war es besonders schlimm gewesen, denn ich hatte gesehen, dass er sich an einem vor-<br />

stehenden Ast ziemlich übel den Oberschenkel aufgekratzt hatte. Die Wunde hatte eine Weile<br />

ziemlich geblutet, aber niemand hatte sich darum gekümmert. Als wir nun getrennt wurden<br />

und er humpelnd im Wald verschwand, zerriss es mir fast das Herz. Und dann kam etwas,<br />

womit ich nun wirklich überhaupt nicht gerechnet hatte. Wir wurden abgeholt und ins Lager<br />

zurück geführt. Dort jedoch brachte man uns nicht in die Zelle, sondern zu einer inzwischen<br />

erbauten, relativ großen Hütte. In der Hütte standen zwei einfache gusseiserne, mit Wasser<br />

gefüllte Badewannen. Ungläubig starrten Kate und ich uns an. Neben den Wannen stand ein<br />

Stuhl, auf dem saubere Jeans und frische T-Shirts lagen. Auf dem Rand der Wannen lagen<br />

Seifenstücke und kleine Fläschchen mit Shampoon. Wir zögerten nicht mehr, sondern stiegen<br />

aus den hoffnungslos verdreckten und teilweise zerrissenen Sachen, die wir jetzt seit der An-<br />

kunft auf der Insel trugen und stiegen in die Wannen.<br />

Es war ein unbeschreibliches Gefühl, das warme Wasser am Körper zu spüren. Wir<br />

wussten nicht, wie viel Zeit man uns geben würde, und so beeilten wir uns sicherheitshalber<br />

damit, uns zu waschen. Aber niemand kam und störte uns. So blieben wir lange in den<br />

Wannen und hatten endlich das Gefühl, wieder halbwegs sauber zu sein. Als wir gerade fertig<br />

waren mit Anziehen, kam Richard Alpert in die Hütte. Leutselig erklärte er:<br />

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Frauke Feind<br />

„Ihr habt gut gearbeitet und euch an die Befehle gehalten. Dafür werdet ihr eine Be-<br />

lohnung bekommen, die euren Wünschen entsprechen wird.“<br />

Nervös folgten wir ihm, als er uns dazu ein Zeichen gab. Er führte uns zu einem Zelt<br />

am Ende des Lagers und sagte:<br />

„Morgen habt ihr frei, nutzt die Zeit. Wenn ihr Gelegenheit hattet über alles<br />

Nachzudenken werden wir uns erneut unterhalten.“<br />

Verwirrt standen wir vor dem Zelt und wussten nicht, wie wir uns verhalten sollten.<br />

Richard deutete auf den Zelteingang und sagte:<br />

„Nun geht schon hinein.“<br />

Langsam setzten wir uns in Bewegung, schlugen die Plane zurück und standen dann<br />

im Halbdunkel des Zeltes. Und glaubten, zu Träumen. Da standen Jim und Jack, ähnlich er-<br />

staunt wie wir, und starrten uns entgegen. In der nächsten Sekunde hing ich an Jims Hals und<br />

heulte wie der sprichwörtliche Schlosshund!<br />

Ich hatte das Gefühl, gleich zusammen zu sacken. Jim schien dies zu spüren, denn er<br />

nahm <strong>mich</strong> sicherheitshalber auf den Arm und trug <strong>mich</strong> zu einem Bett an der rechten Zelt-<br />

seite. Er setzte sich mit mir im Arm auf die Bettkanten und nun war es mit seiner Be-<br />

herrschung auch vorbei. Seine Augen schimmerten feuchte und er drückte <strong>mich</strong> zitternd an<br />

sich. Wir küssten uns wie Ertrinkende, flüsterten uns sinnlose Liebkosungen in die Ohren,<br />

streichelten einander wieder und wieder und irgendwann stotterte ich:<br />

„Wieso ... Ich verstehe das nicht ... Warum ...“<br />

Jim lächelte selig.<br />

„Das ist mir doch so scheißegal, Hauptsache, ich hab dich wieder.“<br />

Wieder spürte ich seine Lippen und hatte das Gefühl, aus der Hölle direkt in den<br />

Himmel katapultiert worden zu sein. Wir brauchten eine ganze Weile, uns wenigstens an-<br />

nähernd zu beruhigen. Jim hielt <strong>mich</strong> auf seinem Schoss fest und machte nicht den Eindruck,<br />

als wolle er <strong>mich</strong> je wieder los lassen. Und ich wollte auch nie wieder los gelassen werden.<br />

Doch irgendwann kam die Frau, die uns mit Essen versorgte, ins Zelt und stellte wortlos ein<br />

Tablett mit vier Tellern auf einen kleinen Tisch, den ich erst jetzt bemerkte. Schweren<br />

Herzens erhoben wir uns und setzten uns an diesen, da uns allen der Magen laut knurrte. Aber<br />

kaum waren die Teller leer, standen wir wortlos wieder auf und kehrten zu den beiden Betten<br />

zurück, die man uns aufgestellt hatte. Und endlich kamen wir dazu, uns gegenseitig zu<br />

Fragen, wie es uns ging.<br />

„Wie geht es dir? Wie fühlst du dich? Was ist mit dem Kratzer an deinem Bein? Was<br />

haben sie euch getan?“, sprudelte es aus mir hervor.<br />

Jim machte sich lang, zog <strong>mich</strong> eng an sich und gab mir erneut einen Kuss. Erst dann<br />

antwortete er auf meine Fragen.<br />

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Frauke Feind<br />

„Mach dir keine Sorgen, Kelly, mir geht es soweit gut. Abgesehen vom Muskelkater<br />

fühl ich <strong>mich</strong> ... naja, den Umständen entsprechend, würde ich sagen. <strong>Der</strong> Kratzer ist wirklich<br />

nur ein Kratzer. Getan haben sie uns bisher nur am Anfang was. Sie wollten natürlich wissen,<br />

wer wir sind und woher wir kommen.“<br />

Ich unterbrach ihn.<br />

„Ja, das wollten sie von uns auch und wir merkten, dass wir es versäumt haben,<br />

darüber zu Sprechen.“<br />

Jim nickte.<br />

„Du sagst es. Das haben wir auch schnell gemerkt. Wie blöde muss man eigentlich<br />

sein, um das völlig zu vergessen? Erst haben wir ihnen eine Story aufgetischt von ner Welt-<br />

umseglung und nem Schiffbruch, aber sie schienen genau zu wissen, dass das ne Lüge war.<br />

Dann wurden sie ...“<br />

Er stockte und ich fragte alarmiert nach:<br />

„Was wurden sie? Bitte, Jim, was haben sie getan?“<br />

Jim seufzte. Schweren Herzens erzählte er weiter.<br />

„Naja, sie haben ... uns ausgepeitscht ...“<br />

Ich keuchte entsetzt auf.<br />

„Was? Diese Bastarde! Oh, Gott.“<br />

Wieder schossen mir Tränen in die Augen.<br />

„Halb so wild.“, versuchte Jim abzuwiegeln, aber ich glaubte ihm nicht.<br />

Jetzt war mir klar, warum er und Jack die ersten Tage immer wieder gequält auf-<br />

gestöhnt hatten.<br />

„Lass <strong>mich</strong> ... lass es <strong>mich</strong> ansehen, bitte.“, flüsterte ich geschockt.<br />

Frustriert seufzte Jim, dann rollte er sich auf den Bauch und ich schob sein T-Shirt,<br />

welches er wie wir anderen trug, in die Höhe. Und stöhnte entsetzt auf. Immer noch waren die<br />

Striemen auf Jims gesamten Rücken zu sehen, wenn sie auch so gut wie verheilt waren.<br />

„Oh, mein Gott. Das sind Monster!“, wimmerte ich entsetzt.<br />

Jim zog sich das T-Shirt wieder herunter und drehte sich zu mir herum.<br />

„Ich leb ja noch, Süße.“, sagte er beruhigend und zog <strong>mich</strong> wieder eng an sich.<br />

Er fuhr mir mit dem Zeigefinger zärtlich über die Wangen und wischte mir Tränen<br />

fort. Ich sah ihn an und flüsterte mutlos:<br />

nehmen!“<br />

„Ja, aber wie lange noch?“<br />

Kalt erklärte Jim:<br />

„Hoffentlich noch lange genug, ein paar von den Bastarden mit mir in die Hölle zu<br />

In meinem desolaten Zustand waren diese Worte für <strong>mich</strong> Anlass genug, erneut in<br />

Tränen auszubrechen. Erschrocken sagte Jim:<br />

„Hey, tut mir leid, dass war nicht so gut.“<br />

- 154 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Schluchzend lag ich in seinem Arm und schließlich fragte ich leise:<br />

„Wie geht ... was macht dein Rücken?“<br />

Gereizt erwiderte Jim:<br />

„Nun vergiss mal, wie es mir geht. Ich will wissen, was sie euch angetan haben.“<br />

Ich schluckte die letzten Tränen hinunter und war dankbar, dass ich ihm sagen konnte,<br />

dass sie uns gar nichts getan hatten.<br />

„Dieser Richard Alpert hat uns am ersten Tag befragt, aber sie haben uns nichts getan,<br />

als wir keine Antwort gaben. Wir wurden nur eingesperrt und mussten von da an für sie<br />

Schuften. Zwei Tage lang haben sie uns Löcher graben lassen, dann ... Naja, das weißt du ja.“<br />

Jim schwieg einen Moment und ich spürte seine Erleichterung. Leise sagte er:<br />

„Wenn ich nur wüsste, warum die so erpicht darauf sind, zu erfahren, wer wir sind.“<br />

Er konnte ein Gähnen nicht mehr unterdrücken und auch ich war zum Umfallen müde.<br />

„Wir haben morgen frei, also sollten wir vielleicht versuchen, ein wenig zu Schlafen,<br />

wir sind alle vollkommen erledigt.“, meinte ich leise.<br />

Jim nickte.<br />

„Ich bin total alle.“<br />

Obwohl wir es eigentlich nicht wirklich wollten, forderte unser Körper energisch die<br />

dringend notwendige Ruhe und eng aneinander geschmiegt schliefen wir schließlich ein.<br />

Als ich am Morgen erwachte, war der erste Gedanken<br />

- Jim ist bei mir. -<br />

und dieser Gedanke ließ <strong>mich</strong> blitzschnell klar im Kopf werden. Ich spürte ihn in<br />

meinen Armen und in jeder Faser meines Körpers. Er schlief noch und ich rührte <strong>mich</strong> nicht,<br />

um ihn nicht zu stören. Aber er schien zu fühlen, dass ich wach war, denn schon Minuten<br />

später schlug auch er die Augen auf. Seine Augen leuchteten auf und er flüsterte leise:<br />

„Einen Moment lang dachte ich, ich hätte nur geträumt.“<br />

Ich lächelte.<br />

„Nein, ich bin real. Und du auch.“<br />

Wir küssten uns, erst sanft und zärtlich, dann aber zog Jim <strong>mich</strong> eng an sich und der<br />

Kuss wurde von einer geradezu verzweifelten Intensität. Dass Jack und Kate ebenfalls im Zelt<br />

waren, hatten wir komplett aus unseren Gedanken gestrichen, im Augenblick waren wir<br />

alleine auf der Welt. Wir lagen einfach still nebeneinander und genossen die Nähe des<br />

Anderen. Die Gedanken daran, dass wir uns am Ende des Tages wieder würden Trennen<br />

müssen, schoben wir erst einmal weit weg. Im Moment wollten wir einfach nur in vollen<br />

Zügen genießen, zusammen sein zu dürfen.<br />

Irgendwann kam unser Frühstück und wir erhoben uns schweren Herzens. Erst als wir<br />

an den Tisch traten wurde uns wieder bewusst, dass wir nicht alleine waren. Kate und Jack<br />

setzten sich zu uns und wir unterhielten uns erstmals miteinander.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Wie geht es dir?“, wollte Kate wissen und ich erklärte:<br />

„Na, wie schon? Im Moment bin ich im Himmel, das ist doch klar. Und ich will nicht<br />

daran denken, dass wir wieder in der Hölle landen werden.“<br />

Kate nickte.<br />

„Geht mir genauso. Hast du gehört, was sie Sawyer und Jack angetan haben?“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, Jim hat es mir erzählt. Diese verfluchten Bastarde!“<br />

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal einen Menschen so sehr hassen würde, dass ich<br />

im Stande gewesen wäre, ihn kalt lächelnd umzubringen. Aber wenn ich an den Mann dachte,<br />

der die Peitsche geschwungen hatte, wurde mir überdeutlich klar, dass ich genau dazu bereit<br />

gewesen wäre.<br />

„Wir sollten uns überlegen, wie es weiter gehen soll.“, sagte Jack leise.<br />

Ratlos sahen wir uns an.<br />

„Ich hab keine Ahnung. Die werden uns so oder so nichts, aber auch gar nichts<br />

glauben. Und wenn wir mit der Wahrheit rausrücken, kann ich das sogar verstehen.“<br />

Jim schnaufte genervt.<br />

„Aber irgendwas werden wir sagen müssen, sonst wird das hier in einer Katastrophe<br />

für uns enden.“, meinte Jack sehr leise.<br />

Wir nickten. Es war wirklich zum Verzweifeln, wir steckten in einer ziemlich unent-<br />

rinnbaren Falle.<br />

Um das Thema zu wechseln fragte Kate:<br />

„Habt ihr einen Anhaltspunkt dafür gefunden, wann wir uns befinden?“<br />

Jim und auch Jack schüttelten den Kopf.<br />

„Unsere Vermutung, dass wir vor 1950 sind war ja nur durch Adam und Eva be-<br />

gründet. Ich bin sicher, unter den anderen Arbeitern Leute von der DHARMA Initiative ge-<br />

sehen zu haben, jedenfalls trugen ein paar von ihnen die Overalls.“, überlegte Jack im Flüster-<br />

ton. „Das würde bedeuten, dass wir doch schon in den 70gern sind.“<br />

Kate lachte leicht hysterisch und meinte ebenso leise:<br />

„An Hand von Richards Alter können wir jedenfalls nicht ersehen, welches Jahr wir<br />

haben. <strong>Der</strong> Mann ist mir so was von unheimlich! Kelly, der sieht 2005 noch genauso aus wie<br />

jetzt. Das ist ... gruselig. Aber die Overalls habe ich auch erkannt.“<br />

Ich seufzte und spürte eine Gänsehaut auf dem Rücken.<br />

„Er machte mir eigentlich immer einen ziemlich vernünftigen Eindruck, im Gegensatz<br />

zu vielen anderen bei den ‟Anderen‟.“, meinte Jack und Kate und Jim nickten.<br />

tut.“<br />

„Irgendwas muss wohl geschehen sein, ihn so reagieren zu lassen, wie er es gerade<br />

„Wenn wir nur wüssten, was hier los ist. Die DHARMA Initiative wurde laut den<br />

Unterlagen Grandpas Anfang der Siebziger gegründet, davon ausgehend, dass einige von<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

ihnen auch hier gefangen gehalten werden, muss es also schon soweit sein. Dann haben sie<br />

sicher auch gleich angefangen, die Stationen zu bauen. Vielleicht gibt es schon welche, nur<br />

eben den Schwan noch nicht.“<br />

Jack nickte.<br />

„Möglich. Was wir erfahren haben, als wir damals bei ihnen waren ist, dass der Swan<br />

ursprünglich für die Erforschung elektromagnetischer Energie gebaut wurde. Irgendwann hat<br />

es dann einen Vorfall gegeben, der es erforderlich machte, den Schwan umzubauen, um die<br />

elektromagnetische Energie zu Kontrollieren, die scheinbar zum Absturz der 815 geführt hat.<br />

Es ist also möglich, dass die Station erst noch gebaut wird.“<br />

„Wenn die DHARMA Initiative schon auf der Insel gelandet ist, kann das zu der<br />

Spannung hier geführt haben.“, warf Jim ein. „Was auch immer, im Moment können wir<br />

nichts machen als abwarten. Und wenn es hart auf hart kommt, müssen wir eben die Wahrheit<br />

sagen und mit fliegenden Fahnen und stolz untergehen.“<br />

Ich spürte bei diesen Worten einen Schauer über meinen Körper huschen und griff<br />

unwillkürlich nach Jims Hand. Dieser erhob sich und sagte:<br />

gezogen hatte.<br />

„Wir ziehen uns wieder zurück, wenn es euch nichts ausmacht.“<br />

Er zog <strong>mich</strong> zum Bett zurück und wir legten uns wieder hin.<br />

„Ich möchte einfach nur mit dir alleine sein.“, sagte er sanft, als er <strong>mich</strong> wieder an sich<br />

„Ich auch.“, erwiderte ich leise.<br />

Seine Hand rutschte unter mein T-Shirt und streichelte zärtlich meine nackte Haut.<br />

„So alleine wir eben sind.“, flüsterte er und küsste <strong>mich</strong>.<br />

schäftigte.<br />

Ich seufzte. Dann aber stellte ich die Frage, die <strong>mich</strong> schon seit Tagen intensiv be-<br />

„Ich weiß, dass ich dich nerve, aber, bitte, Jim, sag mir, wie es deinem Rücken geht.<br />

Ist es schon sehr schlimm?“<br />

Er sah mir in die Augen und erklärte leise:<br />

„Du bist ne Nervensäge, weißt du das? Und da du sowieso keine Ruhe geben wirst:<br />

Nein, es ist nicht schlimmer geworden, so schnell trete ich nicht ab.“<br />

<strong>mich</strong>.“<br />

Er stockte und schien intensiv nachzudenken. Dann sagte er langsam:<br />

„Genau genommen ... ist es sogar besser geworden.“<br />

Ich griff nach seiner Hand und fragte:<br />

„Darf ich es mir anschauen?“<br />

Resigniert nickte er.<br />

„Du wirst ja doch nicht aufhören rumzunerven, also in Gottes Namen, untersuch<br />

Er streifte das T-Shirt über den Kopf und rollte sich auf den Bauch. Ich biss mir auf<br />

die Lippe. Einen Moment lang zögerte ich, hatte Angst, ihn zu berühren, Angst vor der Wahr-<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

heit, schließlich jedoch tastete ich entschlossen seine Lendenwirbel ab. Bis zu den Brust-<br />

wirbeln hoch ließ ich meine Finger über seine Wirbelsäule gleiten, und dann noch einmal, und<br />

schließlich sogar noch ein drittes Mal. Mit dem gleichen Resultat. <strong>Der</strong> Tumor, den ich so<br />

deutlich gespürt hatte, war nicht mehr zu ertasten! Mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen<br />

meine Rippen. Ich starrte blicklos vor <strong>mich</strong> hin, dann rief ich laut:<br />

„Jack. Komm sofort her, schnell!“<br />

Jim sah nervös zu mir auf.<br />

„Was?“<br />

hinüber eilte.<br />

Ich antwortete nicht, sondern sah ungeduldig Jack entgegen, der verwirrt zu uns<br />

„Was ist los?“<br />

Ich rutschte vom Bett und erklärte:<br />

„Fass mal an, taste mal nach dem Tumor.“<br />

Jim lag angespannt still und fragte noch einmal ungeduldig und verunsichert:<br />

„Was ist los, zur Hölle?“<br />

Jack beugte ich über ihn und ließ wie Minuten zuvor ich selbst seine Finger tastend an<br />

Jims Wirbelsäule hoch wandern. Er stutzte und mein Herz machte einen Luftsprung. Dann<br />

begann er noch einmal von unten, ging langsam Wirbel für Wirbel den ganzen Rücken hoch<br />

und stieß schließlich fassungslos hervor:<br />

„Das gibt es nicht! Das ist absolut unmöglich.“<br />

Jim reichte es. Wütend und angstvoll zugleich fuhr er auf:<br />

„Hätten Dr. House und Dr. Cameron vielleicht mal die Güte, mir zu sagen, was zum<br />

Teufel los ist?“<br />

da.“<br />

Von der anderen Seite des Zeltes war auch Kate herüber gekommen.<br />

„Was ist denn?“, fragte sie neugierig.<br />

Und jetzt sagte Jack vollkommen verwirrt:<br />

„Er ist weg.“<br />

Jim richtete sich auf.<br />

„Was ist weg?“<br />

Seine Stimme zitterte. Ich stotterte:<br />

„<strong>Der</strong> Tumor. Jim, er ist weg, nicht mehr da, nicht zu Ertasten!“<br />

„Was?“<br />

Heftig stieß Jim das Wort aus und Kate fragte alarmiert:<br />

„Was für ein Tumor?“<br />

Hastig erklärte ich:<br />

„Jim hatte einen Tumor an der Lendenwirbelsäule. <strong>Der</strong> ist weg! Einfach nicht mehr<br />

- 158 -


„Tumor?“, fragte Kate entsetzt.<br />

Jim war blass geworden.<br />

„Wie, weg?“, keuchte er.<br />

Jack schüttelte den Kopf.<br />

„Bück dich mal.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Jim starrte ihn dumm an und Jack wiederholte ungeduldig:<br />

„Los, nun mach schon den Rücken krumm.“<br />

Ergeben und nervös beugte Jim den Oberkörper Richtung Boden und Jack tastete noch<br />

einmal alles gründlich ab. Dann trat er zur Seite und nickte mir zu. Und auch ich arbeitete<br />

<strong>mich</strong> noch einmal an den Wirbeln entlang, aber egal, wie gründlich ich auch vorging, das<br />

Resultat blieb das Gleiche: <strong>Der</strong> Tumor war nicht mehr zu spüren.<br />

„Er ist wirklich verschwunden.“, meinte Jack fassungslos.<br />

Jim richtete sich langsam auf und sah von Jack zu mir und wieder zurück. Er schüttelte<br />

entgeistert den Kopf.<br />

„Weg, wie ... weg?“<br />

Lachend und weinend gleichzeitig nickte ich.<br />

„Ja, Honey, weg wie weg. Weg!“<br />

Jim fing haltlos an zu Zittern. Und dann kullerten ihm erste Tränen über die Wangen.<br />

Jack und Kate zogen sich unauffällig zurück, aber sie hätten genauso gut einen Indianertanz<br />

um uns herum aufführen können, auch das hätten wir nicht bemerkt. Wir lagen uns in den<br />

Armen und heulten beide vor Glück. Als wir uns endlich ein wenig fingen, ließen wir uns<br />

wieder auf das Bett sinken.<br />

„Wie ist das möglich?“, fragte Jim immer noch mit zitternder Stimme.<br />

Ich zuckte die Schultern.<br />

„Ich weiß es nicht. Scheinbar ist die Insel dir wirklich wohl gesonnen. Jim, es ist voll-<br />

kommen egal, warum, Hauptsache, er ist fort. Er ist weg, du wirst ... Leben!“<br />

„Das ist ... Ich hab ... Kelly, ich hatte ne derartige Angst! Ich bin wirklich kein Feig-<br />

ling, wenn ich mir irgendwann ne Kugel gefangen hätte, wär das okay gewesen, aber so zu<br />

krepieren ... Und jetzt ...“<br />

Er biss sich auf die Lippe und schüttelte immer noch völlig fassungslos den Kopf.<br />

„Seit ich es wusste hab ich mir vorgestellt, dass ich ... dass ich irgendwann irgendwo alleine<br />

...“ Er musste tief durchatmen, dann fuhr er fort: „... jämmerlich verrecken würde. Die haben<br />

mir genau erklärt, wie es weiter gegangen wäre. Irgendwann in absehbarer Zeit gelähmt,<br />

Schmerzen, die nicht mal mit Morphium weg gewesen wären, dann irgendwann einfach<br />

Exitus. Dass du dazwischen kamst, machte die ganze Sache auch nicht besser, denn nun<br />

stellte ich mir vor, dass ich in deinen Armen genauso jämmerlich verrecken würde und du<br />

dabei hilflos zusehen müsstest. Und jetzt ...“<br />

Unaufhörlich liefen ihm Tränen über die Wangen und mir ging es nicht anders.<br />

- 159 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Und jetzt wirst du leben und mit neunzig in meinen Armen ganz ruhig einschlafen.“,<br />

schluchzte ich.<br />

Ganz allmählich machte die Fassungslosigkeit in seinen Augen einer unbändigen<br />

Freude Platz. Er stieß ein kurzes Lachen aus, dass dann in ein richtiges, befreites, überglück-<br />

liches Lachen überging. Und ich stimmte, wenn auch immer noch unter Tränen, in das Lachen<br />

ein. Wir vergaßen für den Moment, in welch prekärer Lage wir waren und empfanden einfach<br />

nur ein unglaubliches Glücksgefühl. Unbewusst glitten meine Finger immer wieder an seine<br />

Wirbelsäule, um <strong>mich</strong> davon zu überzeugen, dass da wirklich nichts mehr war. Aber so oft ich<br />

auch danach tastete, es blieb verschwunden.<br />

Wir blieben auf dem Bett liegen und versuchten einfach, so viel Kraft wie nur möglich<br />

aus dem Zusammensein zu ziehen. Uns allen war klar, dass es so nicht weiter gehen würde<br />

und in die Freude und das Glück mischte sich immer wieder der mahnende Zeigefinger, uns<br />

darauf vorzubereiten, dass man uns wieder brutal trennen würde. Doch erst einmal waren wir<br />

zusammen. Unterhalten taten wir uns nicht großartig. Das, was wir uns sagen wollten, war nur<br />

für unsere Ohren bestimmt, und es wäre nicht zu vermeiden gewesen, dass Kate und Jack<br />

etwas aufgeschnappt hätten, so, wie wir ihre leisen Stimmen zu uns herüber dringen hörten.<br />

Und außerdem wollten wir es einfach nur genießen, uns zu haben, nahe zu sein, den Anderen<br />

spüren zu können. Ich hatte meinen Kopf auf Jims Brust gelegt und meine Hand streichelte<br />

zärtlich immer und immer wieder über seine warme Haut. Da war kein Verlangen nach Sex,<br />

sondern einfach nur nach Zärtlichkeit. Seine eigene Hand strich über meinen Rücken und ich<br />

genoss die Berührungen. Als der Tag voran schritt, wurden wir zusehends bedrückter und<br />

dann geschah es, viel zu früh.<br />

Zwei Männer betraten die Arena und befahlen uns:<br />

„So, genug herumgelegen, hoch mit euch, Richard will euch sehen.“<br />

Mit wild klopfenden Herzen standen wir auf. Jim schlüpfte in sein T-Shirt zurück und<br />

legte nun einen Arm um <strong>mich</strong>. So verließen wir das Zelt, bewacht von den beiden Männern.<br />

Draußen blendet uns die Sonne. Angespannt folgten wir den Männern, die uns wieder zu der<br />

großen Akazie führten, unter der Kate und ich Richard erstmals getroffen hatten. Dieser<br />

wartete schon auf uns und nickte.<br />

„Da seid ihr ja, setzt euch bitte hin.“<br />

Nervös ließen wir uns auf die vier Stühle sinken, die vor dem Campingtisch standen.<br />

Dann schickte Richard die beiden Wachen fort.<br />

„Ich möchte gerne alleine mit unseren Gästen reden.“<br />

Wortlos zogen die Wachen ab und wir saßen dem unheimlichen Mann alleine gegen-<br />

über. Richard zog sich ebenfalls einen Stuhl heran und ließ sich darauf sinken. Er sah uns<br />

lange an, dann fing er an zu Sprechen.<br />

- 160 -


By<br />

Frauke Feind<br />

15) <strong>Der</strong> Unfall<br />

„Diese Insel ist etwas ganz besonderes. Mir drängt sich der Gedanke auf, dass ihr das<br />

genau wisst. Und ich bin überzeugt, dass ihr noch erheblich mehr wisst. Wir haben euch ein<br />

paar Tage Zeit gegeben, über eure Situation nachzudenken. Nicht, weil wir das Gefühl hatten,<br />

ihr würdet dann kooperationsbereiter sein, vielmehr, um euch Gelegenheit zu geben, euch<br />

darüber im Klaren zu werden, dass wir am längeren Hebel sitzen. Bisher waren wir aus-<br />

gesprochen rücksichtsvoll.“<br />

Uns wurde immer wärmer und wir starrten Richard unsicher an. Dieser fuhr fort:<br />

„Ich werde euch einmal sagen, was ich vermute.“<br />

Er sah uns der Reihe nach scharf an und fuhr kalt fort:<br />

„Vor einiger Zeit beschloss die U.S. Army, im Pazifik Bombentests zu machen. Dabei<br />

gelang es einer Einheit von achtzehn Mann, hier auf der Insel zu landen. Sie hinterließen uns<br />

ein kleines Geschenk, bevor wir sie alle töten konnten. Ich<br />

denke, ihr seid ein <strong>Über</strong>bleibsel dieser Einheit. Wir vermuten,<br />

dass ihr den Auftrag habt, die Bombe zu zünden. Meine Leute<br />

haben beschlossen, keine Geduld mehr mit euch zu haben.<br />

Entweder, ihr sagt uns freiwillig alles, was wir wissen wollen,<br />

oder ich habe keine andere Wahl mehr, als Parker auf euch los zu lassen. Er wird eher früher<br />

als später alles aus euch heraus foltern, was wir wissen müssen. Ich weiß, wie er arbeitet und<br />

glaubt mir, das möchtet ihr nicht wirklich erleben.“<br />

Dabei richteten sich Richards Augen auf Jack und Jim. Mir wurde schlecht und ich<br />

spürte, dass ich unkontrolliert zu Zittern begann. Ohne zu überlegen griff ich Jims Hand und<br />

klammerte <strong>mich</strong> an ihr fest. Panisch stieß ich hervor:<br />

„Das können Sie nicht machen. Das ist ... unmenschlich!“<br />

Jim und Jack saßen stumm und resigniert da und starrten blicklos auf den Tisch.<br />

„Unmenschlich? Nun, die Sicherheit einer Menge Leute hängt davon ab, zu erfahren,<br />

was ihr plant. Und nicht nur das. Ihr ...“<br />

Ich unterbrach ihn verzweifelt.<br />

„Alles, was wir sagen könnten, wird von euch als Lüge dargestellt werden. Egal, was<br />

wir auch erzählen würden! Die Wahrheit können wir nicht beweisen. Also wird, was immer<br />

ihr uns antun werdet, aus reinem Sadismus passieren. Das ist unmenschlich. Ihr seid nichts<br />

anderes als Bestien! Feige, widerliche Bestien! Ich begreife nicht, wie mein ...“<br />

Im letzten Moment biss ich mir auf die Zunge.<br />

Richard war allerdings ein guter Zuhörer. Er sah <strong>mich</strong> an und fragte sofort nach.<br />

„Du begreifst nicht, wie dein ... Was?“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

- 161 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Nichts. Ich verstehe nicht, wie man so sein kann wie ihr.“<br />

Richard sah <strong>mich</strong> einen Moment fast mitleidig an. Dann sagte er:<br />

„Das kannst du nicht verstehen. Die Menschen hier bei mir sind gute Menschen. Sie<br />

würden alles tun, um die Insel zu schützen, vor Leuten wie euch. Wir alle hier leben schon ...<br />

lange auf ihr und kennen und schätzen ihre Wunder. Wenn ihre Geheimnisse an die<br />

Öffentlichkeit dringen würden, hätte das katastrophale Auswirkungen auf uns alle. Daher<br />

sehen wir uns gezwungen, zu drastischen Mitteln zu greifen.“<br />

„Klar, versteh schon, Parker sah auch ganz geknickt aus, als der miese Sadist uns aus-<br />

gepeitscht hat. Schickt den Penner doch mal zu mir, wenn ich <strong>mich</strong> wehren kann!“, stieß Jim<br />

giftig hervor.<br />

Ich hielt die Luft an, aber Richard nickte nur.<br />

„Du hast Recht, Parker ist ein brutaler, sadistischer Mann. Aus dem Grunde solltet ihr<br />

euch sehr genau überlegen, ob ihr es darauf ankommen lassen wollt, dass er noch einmal in<br />

eure Nähe kommt.“ Er sah Jim scharf an und meinte: „Ihr könnt sogar noch dankbar für die<br />

Tatsache sein, dass wir den Frauen kein Haar gekrümmt haben.“<br />

...“<br />

wurde.<br />

Jack schnaufte verzweifelt.<br />

„Ja, ungemein dankbar ...“, stieß er leise hervor.<br />

Richard schüttelte den Kopf.<br />

„Nicht wir sind in euer Haus eingedrungen, sondern ihr in das Unsere. Wir sind hier<br />

„Die Guten.“, entfuhr es Kate, ehe sie es verhindern konnte.<br />

Richard stutzte, dann sah er Kate so scharf an, dass diese in ihrem Stuhl immer kleiner<br />

Atemlos warteten wir, was geschehen würde. Richard wollte etwas sagen, aber in<br />

diesem Moment kamen zwei junge Männer angehetzt. Aufgeregt stieß der Eine hervor:<br />

„Es gab einen Unfall! Ellie ist verletzt und die Wehen haben eingesetzt und Jason ist<br />

eingeklemmt. Sein Bein sieht übel aus. Wir brauchen Hilfe.“<br />

Richard war aufgesprungen und erklärte:<br />

„Verflucht! Ich habe alle zum Dock 1 geschickt, bis wir sie hier haben, ist es vermut-<br />

lich zu spät.“ Er sah uns an und nickte dann entschieden. „Ihr kommt mit, na los, macht<br />

schon. Charly, hol den Erste Hilfe Koffer, dann komm uns nach. Kevin, du führst uns. Los,<br />

Bewegung.“<br />

<strong>Der</strong> junge Mann, der Bericht erstattet hatte, hastete los, zum Krankenzelt, um den<br />

Koffer zu holen. Wir sprangen auf und wurden von Richard und Kevin angetrieben, die<br />

Waffen in der Hand hatten, die sie ganz offensichtlich im Hosenbund getragen hatten. Es ging<br />

in den Wald und auf einem breiten Pfad eine Zeit lang bergan. Endlich sahen wir vor uns eine<br />

kleine Ebene auftauchen, die an einem steilen Felshang endete. Zu diesem Hang wurden wir<br />

geführt und sahen, was geschehen war. Eine Höhle in dem Felshang war offensichtlich bei<br />

- 162 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Bauarbeiten eingestürzt, ein Träger hatte wohl nachgegeben und dazu geführt. Begraben von<br />

dem Träger sah ich eine blonde junge Frau am Boden liegen, etwas weiter rechts lag, eben-<br />

falls unter dem Träger vergraben, einen Mann. Bei der Frau, die vor Schmerzen gerade auf-<br />

schrie, kniete ein weiterer, noch junger Mann und hielt ihre Hand. <strong>Der</strong> Balken hatte sie auf<br />

den Oberschenkeln getroffen. Er drückte gegen ihren Körper und wenn sie Wehen hatte,<br />

wurde die Geburt durch den Balken verhindert. <strong>Der</strong> eingeklemmte Mann wimmerte ab und zu<br />

vor Schmerzen auf. Unter ihm hatte sich eine Blutlache gebildet und man konnte sehen, dass<br />

sein rechtes Bein in Höhe des Knies von dem Balken getroffen und scheinbar ziemlich zer-<br />

schmettert worden war.<br />

Richard erfasste, genau wie wir, die Situation mit einem Blick. Bevor er noch An-<br />

weisungen geben konnte, eilten wir schon zum Höhleneingang und Jim sagte hastig:<br />

„Kommt schon, wir sollten das Scheißding anheben können.“<br />

<strong>Der</strong> junge Mann, der bei der blonden Frau kniete, sprang auf und trat an den Holz-<br />

balken heran. Gerade kam auch Charly angehetzt und stürzte zu uns. Und auch Kevin und<br />

Richard packten mit an. Jack sah Kate und <strong>mich</strong> an.<br />

„Ihr müsst sie daraus ziehen, wenn es uns gelingt, ihn anzuheben.“<br />

Wir nickten. Kate war etwas kräftiger als ich, daher eilte sie zu dem Mann hinüber,<br />

während ich bei Ellie blieb. Gerade schrie diese wieder gellend auf vor Schmerzen und ich<br />

hielt ihre Hand. Beruhigend sagte ich:<br />

„Alles wird gut, wir holen dich daraus.“<br />

Richard sah die Männer an und sagte:<br />

„Hoch damit.“<br />

Verzweifelt versuchten sie, den Balken anzuheben, aber er schien sich verkeilt zu<br />

haben. Charly fluchte resigniert:<br />

„Das schaffen wir nicht.“<br />

Und dann glaubte ich zu Träumen. Urplötzlich tauchte aus dem Wald Sayid auf. Er<br />

schien über sich selbst den Kopf zu schütteln, eilte zu uns und packte ohne ein Wort mit an.<br />

Und endlich schafften es die Männer, den Balken wenigstens soweit anzuheben, dass Kate<br />

und ich die Eingeklemmten hervor ziehen konnten. <strong>Der</strong> Verletzte brüllte vor Schmerzen und<br />

verlor zum Glück schnell das Bewusstsein. Ellie wurde bereits von der nächsten Wehe über-<br />

rollt und Charly und der andere junge Mann eilten zu ihr.<br />

kniete.<br />

Jack kniete bereits bei dem verletzten Mann am Boden, während ich bei Ellie nieder<br />

„Schnell, wir müssen ihr die Jeans ausziehen.“<br />

Charly und der andere Mann sahen <strong>mich</strong> an, als hätte ich von ihnen verlangt, Ellie zu<br />

vergewaltigen. Wütend schnauzte ich die Beiden an.<br />

- 163 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Wir können natürlich auch warten, bis sich die Jeans irgendwann von selbst in Luft<br />

auflöst oder das Baby einen Weg findet, aus dem Hosenbein zu krabbeln. Los doch!“<br />

Jetzt endlich reagierten sie. Während ich Ellie die Hose öffnete, hoben Charly und der<br />

andere Mann die junge Frau an und ich streifte ihr die Blut getränkte Jeans samt Slip vom<br />

Körper. Als sie mit nacktem Unterleib vor uns lag, wandten sich die Männer geradezu panisch<br />

ab und gingen zu Jack und dem Verletzten hinüber. Kate kam zu mir und fragte:<br />

„Was soll ich machen?“<br />

„Hol mir bitte mindestens vier T-Shirts.“<br />

Kate nickte und eilte zu den Männern hinüber.<br />

„Ich brauch eure T-Shirts, schnell.“<br />

Jim, Jack, Kevin, Charly und der junge Mann, dessen Namen wir noch nicht kannten,<br />

zogen sich die Shirts, beziehungsweise Hemden aus und drückten sie Kate in die Hand. Diese<br />

eilte zu mir zurück. Ich half Ellie, den Unterleib ein wenig anzuheben und Kate breitete eines<br />

der Hemden unter ihr aus. Jetzt bat ich:<br />

leichter.“<br />

„Kate, hilf ihr, sich ein wenig aufzurichten und halte sie so fest, so presst es sich<br />

Kate kniete hinter Ellie, richtete diese in eine halb sitzende Position und rutschte unter<br />

die junge Frau. Ich kniete zwischen ihren angezogenen und gespreizten Beinen und unter-<br />

suchte sie. Ihr Muttermund war nahezu vollständig geöffnet, sie war also eindeutig bereits in<br />

der Austreibungsphase.<br />

Gerade kam wieder eine Presswehe und Ellie schrie. Sie klammerte sich an Kates<br />

Hände, während ich mit einem der T-Shirts, das ich zusammen gelegt hatte, sanften Druck auf<br />

Ellies Damm ausübte. Die Presswehen kamen alle zwei bis drei Minuten und jedes Mal<br />

konnte ich das Köpfchen ein wenig besser sehen. Ruhig erklärte ich Ellie:<br />

„Es geht los, dein Muttermund ist vollständig geöffnet, dein S ... Baby wird bald da<br />

sein. Du musst bei jeder Wehe pressen, mit aller Kraft. Durch den Balken wurde der Geburts-<br />

vorgang schon zu lange verzögert. Wir müssen uns beeilen, verstehst du? Es kann sein, dass<br />

das Baby zu wenig Sauerstoff bekommen hat, es steckt schon lange im Geburtskanal.“<br />

Ellie nickte verzweifelt und in diesem Moment wurde ihr Körper bereits von der<br />

nächsten Presswehe überrollt. Ich feuerte die junge Frau an, die am Ende ihrer Kräfte schien.<br />

„Komm schon, du packst das, es ist bald geschafft. Ja, komm, Pressen, los, mit aller Kraft!“<br />

Endlose Minuten quälte Ellie sich vor Schmerzen schreiend und endlich war das Köpfchen<br />

durch und der Rest war ein Kinderspiel. Nach wenigen weiteren Minuten rutschte mir der<br />

Säugling, von einer letzten Kraftanstrengung Ellies herausgedrückt, entgegen. Ich fing das<br />

Neugeborene sanft auf und reinigte ihm kurz das Gesicht. Es schrie bei dieser Behandlung<br />

empört auf und ich lachte erleichtert.<br />

„Na, du bist mir ja ein Schreihals.“<br />

Ich legte Ellie ihren Sohn auf den Bauch und dachte<br />

- 164 -


By<br />

Frauke Feind<br />

- Na, großartig, jetzt weiß ich wenigstens, wie dieser Daniel nackt aussieht. -<br />

Kate und ich wechselten einen Blick und irgendetwas sagte mir, dass ihr ähnliche Ge-<br />

danken durch den Kopf gingen. Ich bat sie, bei Ellie zu bleiben und auf die Nachgeburt zu<br />

warten, während ich zu Jack und den Männern hinüber eilte. Dort passierte mir ein Fauxpas,<br />

der Richard augenblicklich auffiel. Ich erklärte nämlich Charly:<br />

„Dein Sohn ist da, geh zu ihr.“<br />

Sofort hätte ich mir auf die Zunge beißen mögen. Charly bemerkte es nicht, Richard<br />

dafür umso mehr. Er warf mir einen Blick zu, der eindeutig ‟später‟ besagte. Ich kniete neben<br />

dem Verletzten nieder und sah Jack an.<br />

„Wie sieht es aus?“<br />

„Beschissen. Das Bein, genauer das Knie ist vollkommen zertrümmert. In einem<br />

Krankenhaus wäre es vielleicht mit viel Glück zu Retten, hier ...“<br />

Er sah Richard an.<br />

„Wir brauchen Tragen für die Beiden und zwar schnell. Sein Leben kann ich vielleicht<br />

Retten, wenn er schnell ins Lager kommt. Sein Bein ...“<br />

Er schüttelte den Kopf. Richard nickte verstehend. Er sah den jungen Mann neben sich<br />

an und sagte ruhig:<br />

„Tim, du holst Tragen. Beeil dich.“<br />

Anscheinend war ich angeschlagener als ich vermutete hatte, denn als Richard den<br />

jungen Mann Tim nannte, fuhr ich unwillkürlich herum:<br />

„Tim Walsh?“<br />

Perplex starrte ich den Jungen an. Dieser nickte verwirrt, dann aber drehte er sich<br />

herum und rannte los. Und Richard warf mir einen neuerlichen Blick zu, der mir eine Gänse-<br />

haut verursachte. Meine Gedanken überschlugen sich. Mein Großvater. Ich hatte soeben<br />

meinen Großvater als jungen Mann kennen gelernt!<br />

Jack und ich bemühten uns in den folgenden Minuten, die Blutung zu stillen. Jim stand<br />

neben mir und war weiß wie eine Wand. Er starrte auf das, was einmal ein Knie gewesen war<br />

und würgte unwillkürlich. Ohne von meiner Arbeit aufzusehen sagte ich:<br />

„Schatz, warte da drüben, okay?“<br />

Schwer atmend nickte Jim und trat ein paar Schritte zur Seite. Richard und Sayid, der<br />

von diesem einen Wink bekommen hatte, folgten ihm. Ruhig erklärte Alpert:<br />

„Wir werden uns später ausgiebig unterhalten. Erst einmal danke ich euch für eure<br />

Hilfe. Das werden wir nicht vergessen, das verspreche ich euch.“<br />

Jim sank ächzend zu Boden und atmete tief ein und aus. Sayid hockte sich zu ihm und<br />

grinste verkniffen. Er sah sauberer aus als wir vor dem überraschenden Bad am Vortag. Jim<br />

hätte gerne Fragen gestellt, verkniff sich aber alles, was ihm auf der Zunge brannte.<br />

Ungeduldig warteten wir auf die Rückkehr Tims. Wir wurden auf eine harte Probe gestellt.<br />

- 165 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ich sah zwischendurch nach Ellie, die sich ein wenig erholt hatte. Sie sah <strong>mich</strong> an und sagte<br />

schlicht: „Danke für deine Hilfe.“<br />

trennen.“<br />

Ich kniete <strong>mich</strong> neben sie und erwiderte:<br />

„Kein Problem. Kann ich ein Messer bekommen? Ich muss die Nabelschnur durch-<br />

Charly, der Ellie im Arm hielt, nickte.<br />

„Hier.“<br />

Er zog ein Taschenmesser aus der Hosentasche und reichte es mir. Ich griff danach,<br />

bat Kate, aus dem Erste Hilfe Koffer zwei Stücke Mullbinde zu holen und band damit die<br />

Nabelschnur in der Mitte ab. Nun durchtrennte ich sie vorsichtig. Ich griff nach dem Säugling<br />

und wickelte ihn sorgfältig in eines der T-Shirts ein. So legte ich ihn Ellie wieder in den Arm.<br />

Eines der Hemden breitete ich über Ellies entblößten Unterleib, was sie mit einem dankbaren<br />

Nicken zur Kenntnis nahm. Leise fragte sie:<br />

„Was ist mit Steve?“<br />

Ich seufzte.<br />

„Er ist sehr schwer verletzt, sein Knie ist vollkommen zertrümmert, ich weiß nicht, ob<br />

wir ihn durchbekommen werden.“<br />

„Oh, Gott.“<br />

Ellie stöhnte entsetzt auf.<br />

„Wir werden tun, was wir können.“, versprach ich und fragte <strong>mich</strong> ernsthaft, ob ich<br />

bei der Landung hier vielleicht einen irreparablen Hirnschaden davon getragen hatte. Wir<br />

waren von diesen Menschen brutal gefangen genommen, zu Sklavenarbeit gezwungen und<br />

Jack und Jim sogar gefoltert worden, und jetzt saßen wir hier und wollten ihnen helfen. Ich<br />

schüttelte den Kopf.<br />

„Was ist?“, fragte Ellie besorgt. „Stimmt etwas nicht?“<br />

Ein kurzes, verzweifeltes Lachen entfuhr mir.<br />

„So einiges, und das Meiste davon in meinem Kopf. Ich meine, ihr habt uns brutal<br />

überfallen als wir ohnehin schon halb verhungert und verdurstet „euren„, beschissenen Wald<br />

getaumelt sind, gefangen gehalten, gequält, wie Sklaven behandelt, uns mit dem Tode be-<br />

droht, die Männer gefoltert und wolltet es mit Vergnügen wieder tun, und jetzt sitzen wir hier<br />

bei euch und helfen euch. Das ist nicht normal. Wir sollten zusehen, wie ihr alle langsam ver-<br />

reckt. Das wäre es, was ihr verdient habt! Stattdessen kommt unser Freund sogar freiwillig<br />

aus seinem Versteck, um euch zu helfen, euch, die ihr uns noch vor einer Stunde weitere<br />

brutale Folter angedroht habt. Und wir helfen euch auch noch. Ihr seid nichts weiter als<br />

brutale, unmenschliche Bestien und wir sind so bescheuert und helfen euch ...“<br />

Dass alles sprudelte aus mir heraus und ich sah dabei zu Richard Alpert hinüber, der<br />

sich zu mir umgedreht hatte. Jim sah <strong>mich</strong> ebenfalls an. Ohne zu Zögern stand er auf und kam<br />

zu mir hinüber. Er nahm <strong>mich</strong> in den Arm und sagte:<br />

- 166 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Du hast zwar Recht, aber ... Komm schon, beruhig dich, Dr. Quinn.“<br />

In der Runde herrschte leicht verlegenes Schweigen, dass unterbrochen wurde von der<br />

Ankunft Tims, der atemlos und nass geschwitzt mit zwei einfachen Tragen unter dem Arm<br />

auf die Lichtung gehetzt kam. Auf einer der Tragen war eine Decke fest geschnallt. Damit<br />

eilte er zu Ellie hinüber, während Richard ihm die zweite Trage abnahm. Er hetzte damit zu<br />

Jack. Vorsichtig wurde der verletzte Steve auf diese Trage gehoben und fest geschnallt. Jetzt<br />

griffen Jack, Jim, der wieder näher gekommen war, Sayid und Kevin zu und machten sich auf<br />

den Weg zum Camp. Ellie rutschte vorsichtig selbst auf die zweite Trage, ich deckte sie mit<br />

der Decke zu und diese schnappten Charly, Tim und Richard sich und marschierten ebenfalls<br />

los.<br />

Kate und ich blieben bei Jack und Jim. So schnell es möglich war, trugen wir die Ver-<br />

letzten zum Lager zurück. Dort angekommen<br />

eilten die Männer mit dem Schwerverletzten sofort<br />

zum Krankenzelt hinüber. Ellie wurde in ihr<br />

eigenes Zelt geschafft und Charly blieb bei ihr,<br />

ebenso wie ich. Ich versorgte hier die Wunden, die sie an den Oberschenkeln davon getragen<br />

hatte und ließ sie in der Obhut des jungen Mannes, der einmal der Multimillionär Charles<br />

Widmore werden würde. Mein Großvater war irgendwo anders hin verschwunden. Ich hetzte<br />

im Laufschritt zum Krankenzelt hinüber. Hier ließ Jack sich gerade alles zeigen, was an Aus-<br />

rüstung vorhanden war. Sayid und Jim standen ein wenig hilflos herum, wobei Jim den Blick<br />

auf den Verletzte vermied. Jack wühlte ungeduldig in dem Medizinschrank herum und fragte<br />

Richard, der dabei stand:<br />

„Habt ihr etwas zur Narkose hier?“<br />

Alpert zuckte die Schultern.<br />

„Alles, was wir an medizinischen Sachen haben, liegt hier im Schrank.“<br />

Jack seufzte.<br />

„Okay.“<br />

Er fand einige Skalpells, eine Menge Gefäßklemmen, mehrere Wundhaken, Pinzetten,<br />

Wundspreizer, Scheren, Stieltupfer, Nadeln und medizinisches Garn, Watte, Verbände waren<br />

genug da.<br />

Kevin sagte:<br />

„Ich brauche eine kleine Säge.“, erklärte er Richard, der nickte und zu dem wartenden<br />

„Du hast es gehört, besorge eine möglichst kleine Säge.“<br />

<strong>Der</strong> Mann rannte aus dem Zelt. Jack sah sich um.<br />

„Hier drinnen ist es zu dunkel, wir werden es draußen in der Sonne machen müssen.<br />

Ich brauche einen stabilen Tisch, heißes Wasser, und ich brauche mindestens drei Helfer.<br />

Kelly bleibt dabei, Kate?“<br />

Diese schüttelte entsetzt den Kopf.<br />

- 167 -


„Niemals!“, keuchte sie.<br />

Jack nickte.<br />

„Gut, dann Richard und Jim.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Richard nickte ruhig, Jim wurde wachsbleich, nickte aber auch.<br />

„Werd ich schon schaffen.“, erklärte er.<br />

Ungeduldig fuhr Jack ihn an:<br />

„Musst du, während der OP musst du voll da sein, kapiert? Sonst sag es jetzt.“<br />

Jim knurrte ungehalten.<br />

„Wenn ich sag, ich schaff das, dann schaff ich es auch.“<br />

„Wisst ihr, welche Blutgruppe der Mann hat?“, wollte Jack wissen.<br />

Richard nickte.<br />

„Ja, es gibt Unterlagen darüber, ich hole sie.“<br />

Er eilte aus dem Zelt und wir waren erstmals alleine. Alle schauten wir zu Sayid<br />

hinüber, der frustriert die Schultern zuckte.<br />

„Was hätte ich machen sollen? Alleine hättet ihr den Balken nicht bewegt be-<br />

kommen.“, sagte er ruhig.<br />

„Das stimmt. Wie bist du davon gekommen?“, stieß Jim gespannt hervor.<br />

„Hab <strong>mich</strong> fallen lassen, als es los ging und während sie damit beschäftigt waren, euch<br />

einzusammeln, habe ich <strong>mich</strong> ins Gebüsch rollen lassen. Dann bin ich gerannt.“<br />

„Schlau, der Mann.“, grinste Jim und sah Jack an. „Was soll ich gleich machen, Doc?“<br />

„Ausnahmsweise einmal alles, was ich dir sage, ohne zu Zögern, schnell und präzise, ver-<br />

standen?“<br />

Jim nickte und schluckte eine Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, gekonnt<br />

hinunter. Sayid sah Jack an.<br />

„Kann ich auch helfen?“, fragte er ruhig.<br />

Jack nickte.<br />

„Wir haben keine Narkotika. Wir werden ihn am Tisch festbinden müssen. Ich kann<br />

keine Leute um <strong>mich</strong> herum gebrauchen, die den armen Kerl festhalten, während ich an ihm<br />

herum säge.“<br />

Sayid nickte.<br />

„Okay, ich werde etwas suchen, womit wir ihn festschnallen können.“<br />

Er verließ das Zelt und sah, dass draußen inzwischen ein großer, stabiler Tisch auf-<br />

gestellt worden war. <strong>Der</strong> junge Mann Tim schrubbte diesen mit Scheuerpulver ab. Sayid<br />

fragte: „Wir müssen euren Kollegen irgendwie fest binden, kannst du mir helfen, das zu<br />

organisieren?“<br />

lager.<br />

Tim nickte und spülte die letzten Seifenreste vom Tisch.<br />

„Komm mit.“, sagte er zu Sayid und die Beiden verschwanden Richtung Material-<br />

- 168 -


frieden.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Jack trat an den Zeltausgang, sah, dass der Tisch schon bereit stand und nickte zu-<br />

„Dann mal raus mit ihm.“<br />

Zusammen trugen wir den Verletzten nach draußen und legten ihn dort vorsichtig auf<br />

den Tisch. Ich begann, ihm die Hose auszuziehen und bat Jim, mir zu helfen.<br />

Er nickte.<br />

„Bist du sicher, dass du es machen willst?“, fragte ich ihn besorgt.<br />

„Ja, ich schaff das schon. Vertrau mir einfach.“<br />

Ich lächelte.<br />

„Das tue ich ohnehin. Aber es wird eine ziemlich üble Schlachterei werden, Schatz.“<br />

„Ist mir klar. Aber ich bleib bei dir, okay.“<br />

Ich sah ihn an und gab ihm einen Kuss.<br />

„Und du wolltest mir erzählen, du seiest nicht gut genug für <strong>mich</strong>. Ich liebe dich.“<br />

Wir wurden von Jack unterbrochen.<br />

„Hey, das könnt ihr später klären.“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, konnten wir nicht, das war etwas für sofort.“<br />

Gerade kamen Sayid und Tim zurück und hatten Seile in der Hand. Während Jack und<br />

ich zusammen mit Kevin ins Zelt zurück eilten, um die Instrumente und den kleinen Tisch<br />

nach draußen zu schaffen, fesselten Tim, Sayid und Jim den Verletzten an den großen Tisch.<br />

Jack hatte sie instruiert, das verletzte Bein frei zu lassen und sie hielten sich daran. Wir hatten<br />

den kleinen Tisch mit den Instrumenten ebenfalls draußen und ich fragte Jack:<br />

und bat Jim:<br />

„Soll ich eine Manschette improvisieren?“<br />

Jack nickte.<br />

„Ja, wir müssen die Blutung so gering wie möglich halten.“<br />

Ich suchte in dem Verbandsmaterial nach einer möglichst breiten elastischen Binde<br />

„Kannst du das Bein bitte ein wenig hoch halten?“<br />

Vorsichtig griff er zu und hielt das verletzte Glied in die Höhe. Ich legte einen sehr<br />

strammen Verband um den Oberschenkel und hoffte, dass das reichen würde. Ruhig sagte ich:<br />

„Okay, wir können.“<br />

Gerade kam Richard zurück und sagte:<br />

„A positiv.“<br />

Jack nickte und bat alle, die nicht halfen, sich zurückzuziehen. Jim, Richard und ich<br />

standen bereit. Jack erklärte schnell, welche Instrumente er brauchen würde. Er sah <strong>mich</strong> an.<br />

„Du wirst mit schneiden müssen, schaffst du das?“<br />

Ich nickte ruhig.<br />

- 169 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ist mir klar. Jack, ich habe acht Semester Medizin studiert, Chirurgie, war mein<br />

Traumgebiet. Ich habe nur abgebrochen, weil meine Stiefmutter erkrankte. Es ist mir klar,<br />

dass das hier schnell gehen muss.“<br />

Ich nahm ein Skalpell in die Hand, Richard drückte dem Verletzten ein Stück Holz<br />

zwischen die Zähne und zügig fingen wir an. Jim stand am Instrumententisch, Richard sollte<br />

austretendes Blut weg tupfen. Wir machten beidseitig des Beines einen rundum laufenden<br />

Hautschnitt, dann arbeiteten wir uns durch Muskelgeweben und Blutgefäße. Das Abklemmen<br />

übernahm ich. Jim war großartig. Er reagierte sofort und reichte uns die Instrumente schnell<br />

und präzise zu. Wann der Verletzte vor Schmerzen zu sich kam, konnte ich hinterher nicht<br />

sagen. Jim und Richard hatten beide einen zartgrünen Tatsch im Gesicht, aber sie blieben<br />

konzentriert und gewissenhaft. Schließlich hatten wir alles Gewebe durchtrennt, zum Glück<br />

waren genug Gefäßklemmen da. Und nun mussten Richard und Jim richtig ran. Jack forderte<br />

sie auf, sich Wundhaken zu nehmen und auch ich griff mir einen. Wir zogen das Fleisch und<br />

die Haut soweit zurück, dass Jack die Säge hoch oben am Knochen ansetzten konnte, um so<br />

viel Fleisch und Haut zum Verschließen des Stumpfes zu erhalten wie nur möglich. Die<br />

Ohren gegen die verzweifelten Schreie des Verletzten verschließend begann Jack die Arbeit.<br />

Jim zitterte bedenklich und Jack schnauzte ihn nervös an:<br />

„Kipp hier ja nicht um, Sawyer!“<br />

Ich sah Jack an und erklärte ruhig:<br />

„Kümmere du dich um den Knochen, Jim wird schon nicht umkippen.“<br />

Verbissen sägte Jack weiter und schließlich hatte er es geschafft. Ich nahm ihm das<br />

Bein ab und trug es ein Stück zur Seite, deckte es mit einer Plane ab. Hastig eilte ich an den<br />

Tisch zurück. Mit einer Raspel glättete Jack den Knochenabsatz, bis wirklich keine scharfe<br />

Kante mehr vorhanden war. Anschließend begann er mit meiner Hilfe, Haut, verschlossene<br />

Blutgefäße und Muskeln über den Knochenstumpf zu ziehen und zu vernähen. Als alles fertig<br />

war, legten wir einen festen Druckverband an und schoben einen Drainageschlauch unter den<br />

Verband. Endlich nickte Jack zufrieden.<br />

„Wenn es nicht zu einer starken Sepsis kommt, hat er gute Chancen, zu <strong>Über</strong>leben.“<br />

Ich atmete auf und wollte anfangen, aufzuräumen, als ich sah, dass Jim bedenklich die<br />

Beine zitterten. Ich sah ihn an und fragte:<br />

„Ist alles in Ordnung?“<br />

Er schüttelte den Kopf, sagte aber gleichzeitig:<br />

„Ja.“<br />

Ich fragte Jack:<br />

„Kommt ihr alleine klar?“<br />

Jack nickte und so ging ich zu Jim und nahm ihn in den Arm. Wir zogen uns ein paar<br />

Schritte zurück und ließen uns im Schatten des kleinen Geräteschuppens auf den Boden<br />

sinken. Leise sagte Jim:<br />

- 170 -


„Mir ist schlecht.“<br />

Ich lachte.<br />

ausgehalten.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Das kann ich verstehen. Du warst eben großartig. Das hätte noch lange nicht jeder<br />

Er sah <strong>mich</strong> an und meinte verkniffen:<br />

„Ich glaub, ich hab <strong>mich</strong> noch nie so nach nem doppelten Scotch gesehnt.“<br />

Ich sah zu unserem improvisierten OP Tisch hinüber, wo der wieder besinnungslose<br />

Steve gerade ins Zelt zurück geschafft wurde. Kate half beim Aufräumen und gerade kam<br />

Richard zu uns herüber. Er hockte sich vor uns hin und sagte ruhig:<br />

„Ihr habt Steve das Leben gerettet. Dafür danke ich euch. Leider müssen wir euch<br />

wieder einsperren, bis alles geklärt ist. Aber keine Sorge, ihr bleibt zusammen. Jack und Kate<br />

kommen in die eine Zelle, ihr Beide in die andere. Ich habe Betten hinein schaffen lassen und<br />

wenn morgen unsere Leute alle wieder da sind, werde ich eine Versammlung einberufen und<br />

klären, dass ihr nicht länger als Gefangene gehalten werdet.“<br />

Ich fragte:<br />

ihm zu folgen.<br />

„Was ist mit Sayid?“<br />

„Er wird unter Bewachung in einem Zelt untergebracht.“, erklärte Richard und bat uns<br />

Wir erhoben uns und ließen uns von ihm in eine der kleinen Zellen führen. Dort<br />

fanden wir eine Waschschüssel, etwas zu Essen und ein Bett vor und waren plötzlich gar nicht<br />

mehr böse, wieder eingesperrt zu sein. Eine Nacht allein, ohne störende Faktoren. Nur wir<br />

Beide. Wir konnten es kaum glauben! Richard lächelte und schien unsere Gedanken zu lesen.<br />

„Habt eine ruhige Nacht.“, sagte er, zog die Zellentür hinter sich zu und kaum waren seine<br />

Schritte verklungen, hatte Jim auch schon vergessen, dass ihm ja eigentlich schlecht gewesen<br />

war.<br />

Er riss <strong>mich</strong> stürmisch an sich und wir küssten uns, bis uns der Atem weg blieb.<br />

16) Die Wahrheit<br />

Langsam bewegte Jim sich rückwärts auf das Bett zu, ohne <strong>mich</strong> dabei loszulassen.<br />

Unsere Lippen schienen aneinander festgeklebt zu sein. Es würde die erste Nacht werden, seit<br />

wie zusammen waren, in der wir wirklich alleine sein würden. Und nach all dem Horror, den<br />

wir, seit Jim mir schwer verletzt in die Arme gestolpert war, erlebt hatten, würden wir uns<br />

diese Nacht von niemandem nehmen lassen. Als Jims Beine gegen das Bett stießen schob er<br />

seine Hände an mein T-Shirt und streifte es mir vorsichtig über den Kopf. Da meine Hände<br />

gerade genau das Gleiche machten, standen wir Sekunden später mit freien Oberkörpern eng<br />

aneinander geschmiegt da. Liebkosend glitten unsere Hände über den Körper des Anderen<br />

- 171 -


By<br />

Frauke Feind<br />

und ich konnte nicht verhindern, die frischen Striemen auf Jims Rücken zu spüren. Eine<br />

Gänsehaut bildete sich bei mir, die nicht angenehmer Natur war. Aber schnell wurde der Ge-<br />

danke daran, was man Jim angetan hatte, fortgespült von dem wunderbaren Gefühl, seine<br />

Hände zu spüren. Er ließ sie gerade tiefer gleiten, an den Bund meiner Jeans, und öffnete<br />

diese geschickt. Ungeduldig half ich nach, das störende Teil über meine Hüften gleiten zu<br />

lassen und Jim nutzte die gute Gelegenheit, den Slip gleich mit verschwinden zu lassen. Mir<br />

erschien das eine gute Idee zu sein und ich fummelte an Jims Hose herum, bis ich die Knöpfe<br />

geöffnet hatte. Ungeduldig schob ich ihm die Jeans herunter und wurde auf diese Weise auch<br />

den Boxershort los. Meine Hände streichelten zart über Jims Po und ich spürte seine Er-<br />

regung. Langsam ließ er sich auf das Bett sinken und nahm <strong>mich</strong> dabei mit. Blind tastete er<br />

nach der Decke, die auf dem Bett lag und zog diese zur Seite. Uns immer noch küssend<br />

sanken wir vorsichtig in die Waagerechte.<br />

Als wir auf dem schmalen Bett lagen, ließ Jim seine Hände sanft über meinen<br />

bebenden Körper gleiten und liebkoste diesen zärtlich. Er sah <strong>mich</strong> in dem dürftigen Licht in<br />

der Zelle an und sagte leise:<br />

„Du warst großartig vorhin, weißt du das? Wenn wir jemals in ein normales Leben<br />

zurückkehren sollten, solltest du dir überlegen, das Medizinstudium fortzusetzen.“<br />

Für einen Moment vergaß ich vollkommen, wo wir waren und was wir gerade taten<br />

und starrte Jim verblüfft ins Gesicht.<br />

„Ist das dein Ernst?“<br />

Er nickte und meinte:<br />

„Du bist wirklich gut und es wäre Verschwendung, wenn du weiter als Assistentin<br />

eines Landeis arbeiten würdest.“<br />

Die Vorstellung, dass er gerade meinen dynamischen, durchaus gut aussehenden und<br />

hochintelligenten Chef als Landei bezeichnet hatte, ließ <strong>mich</strong> kichern. Dann aber sagte ich<br />

ruhig:<br />

„Jim, Medizin kann ich nur in der ... realen Welt weiter studieren. Wenn wir die<br />

Möglichkeit bekommen, dorthin zurückzukehren, besteht die Möglichkeit, dass ...“ Ich musste<br />

tief durchatmen, um auszusprechen, was mir durch den Kopf schoss. „Es besteht die<br />

Möglichkeit, dass dein Tumor zurückkommt.“<br />

Er lächelte und erklärte ruhig:<br />

„Klar, möglich wär es, ich weiß nicht, wie weit die seltsamen Heilkräfte der Insel<br />

reichen, aber ich wär bereit, dafür das Risiko auf <strong>mich</strong> zu nehmen.“<br />

Ich sah ihm in die Augen und erklärte fest:<br />

„Ich aber nicht. Ich würde gerne Chirurgin werden und ich würde auch gerne nach-<br />

hause zurückkehren, aber nicht um diesen Preis. Ich habe beschlossen, hier zu bleiben, mit<br />

dir. Du warst hier drei Jahre lang mit Juliet sehr glücklich, wir werden für den Rest unseres<br />

Lebens hier glücklich sein, egal, wie immer es auch kommen mag.“<br />

- 172 -


Jim schüttelte langsam den Kopf.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Nein, das würde ich nie von dir verlangen. Du kannst nicht ernsthaft ein Leben auf<br />

dieser Insel in Erwägung ziehen.“<br />

Ich lachte leise.<br />

„Weißt du, mit dir würde ich sogar ein Leben in der Hölle in Erwägung ziehen. Im<br />

Moment ist mir allerdings mehr nach Himmel ...“<br />

Ich hatte meine Linke auf Reisen geschickt und erreichte gerade Jims Unterleib. Er<br />

zuckte leise aufstöhnend zusammen und schloss erregt die Augen.<br />

„Oh, mir auch ...“, stieß er atemlos hervor.<br />

Meine Hand liebkoste sanft weiter den derzeitigen Mittelpunkt von Jims Denken und<br />

Dasein und er wand sich keuchend auf der Matratze. Ich setzte <strong>mich</strong> auf und kniete rittlings<br />

über seinen Oberschenkeln. Meine Hände glitten streichelnd über seine Brust und seinen<br />

festen, flachen Bauch. Ich beugte <strong>mich</strong> vor und ließ meine Lippen meinen Händen folgen.<br />

Schwer atmend lag Jim still vor mir, zuckte nur hier und da vor Erregung heftig zusammen.<br />

Tiefer glitten meine Lippen und Jim hielt unwillkürlich die Luft an, als ich das Ziel seiner<br />

Wünsche erreichte. Er drückte aufstöhnend seinen Kopf in den Nacken und im Gegenzug<br />

seinen Unterleib in die Höhe. Langsam und sinnlich spielten meine Lippen mit ihm. Mein<br />

eigener Unterleib pulsierte mittlerweile vor Erwartung und schließlich hob ich meinen Körper<br />

ein wenig an, um <strong>mich</strong> vorsichtig auf Jim gleiten zu lassen. Seine Hände zuckten auf der<br />

Matratze und krallten sich schließlich um meine Oberschenkel. Ich saß einen Moment ganz<br />

still, genoss einfach das herrliche Gefühl, Jim tief in mir zu spüren. Das entsprach jedoch in<br />

keiner Weise mehr seinen Vorstellungen und er bewegte sich mir entgegen.<br />

Damit löschte er meine eigene Beherrschung augenblicklich komplett aus. Ich seufzte<br />

leise und ging auf seine Bewegungen ein. Wir wurden schneller und meine Hände tasteten<br />

nach seinen. Unsere Finger krallten sich ineinander und kurz vor dem Höhepunkt drückte ich<br />

seine Hände links und rechts seines Kopfes fest auf das Kissen. Nass geschwitzt und atemlos<br />

sank ich auf Jim herab und wir brauchten einige Minuten, bis wir beide wieder ruhiger<br />

atmeten. Dann rollten wir uns langsam auf die Seite und Jim flüsterte:<br />

„Ich liebe dich ...“<br />

Glücklich schmiegte ich <strong>mich</strong> an ihn und erklärte leise:<br />

„Ich liebe dich auch. Es ist unglaublich, da muss erst so etwas Unfassbares passieren,<br />

um <strong>mich</strong> den Mann finden zu lassen, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen will.“<br />

Jim gab mir einen zärtlichen Kuss und sagte:<br />

„Ich kapier sowieso nicht, wie ... Es gab nicht viele Frauen, die über <strong>mich</strong> Bescheid<br />

wussten, und die, die es taten, haben mir natürlich nicht gerade vertraut. Du tust es, ohne Ein-<br />

schränkungen. Warum?“<br />

Ich zuckte die Schultern.<br />

- 173 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich habe dir schon vertraut, als du besinnungslos in der Hütte auf dem Bett lagst. Ich<br />

kann es dir nicht erklären, es war einfach mein Bauchgefühl. Dass ich dich trotzdem erst ein-<br />

mal an das Bett gefesselt habe, hatte nichts mit mangelndem Vertrauen als vielmehr mit an-<br />

geborenem Selbsterhaltungstrieb zu tun. Ich musste es tun, verstehst du? Als du zu dir kamst<br />

und merktest, dass du gefesselt warst, da habe ich die Angst in deinen Augen gesehen und<br />

wollte dich sofort befreien. Nur meine Vernunft und mein Selbsterhaltungstrieb haben das<br />

verhindert. Mein Großvater hat mir beigebracht, immer auf mein Gefühl zu vertrauen, aber<br />

trotzdem rational zu Handeln, meinen Verstand zu benutzen, das habe ich in dem Moment<br />

getan. Es tut mir heute noch leid, dass ich dir das angetan habe, aber es war notwendig. Du<br />

warst so schwach und so voller Angst, es hat mir fast das Herz zerrissen.“<br />

Jim hatte mir ruhig zugehört und küsste <strong>mich</strong> erneut zärtlich.<br />

„Das brauchst du mir nicht zu erklären, Kelly. Du hattest jedes Recht dazu, dich zu<br />

überzeugen, dass ich kein irrer Psychopath bin, der bei der ersten, sich bietenden Gelegenheit<br />

über dich herfallen würde.“ Er grinste plötzlich. „Obwohl ich ja genau genommen gerade das<br />

getan hab.“<br />

dir sagen.“<br />

Ich lachte leise.<br />

„Oh, ja. Und ich habe jede einzelne Sekunde davon mehr als genossen, das kann ich<br />

Er grinste anzüglich und sagte mit ganz dunkler Stimme:<br />

„Jederzeit wieder.“<br />

Es war nicht zu glauben, wir lagen gefangen in einem Felsloch und waren doch im<br />

Augenblick die glücklichsten Menschen im ganzen Universum. Jim rollte sich ein wenig<br />

herum, sodass er sich über <strong>mich</strong> beugen konnte. Er küsste <strong>mich</strong> leidenschaftlich und löste<br />

damit wieder Hitzewellen aus, die durch meinen Körper schossen wie Feuerwerk. Das schien<br />

er zu spüren, denn seine Rechte verirrte sich auf meine linke Brust und massierte diese sanft<br />

und doch fordernd. Langsam rutschte sie tiefer und ich hielt erwartungsvoll die Luft an. Seine<br />

Finger spielten mit mir und ich wusste nicht, ob ich die Beine weiter spreizen sollte, um ihm<br />

den Zugang zu erleichtern, oder lieber zusammenkneifen, um seine Hand genau dort festzu-<br />

halten. Er nahm mir die Entscheidung ab, als er sich vorsichtig auf <strong>mich</strong> rollte und langsam in<br />

<strong>mich</strong> eindrang. Diesmal ließen wir uns mehr Zeit und zögerten den Orgasmus solange es nur<br />

ging hinaus.<br />

Als wir später rundherum glücklich und entspannt Arm in Arm unter der Decke lagen,<br />

fragte Jim leise:<br />

„Was glaubst du wird morgen passieren?“<br />

Ich zuckte ratlos die Schultern.<br />

„Ich habe keine Ahnung. Wir werden es auf uns zukommen lassen müssen. Ich neige<br />

dazu, auf eine bestehende Situation schnell zu reagieren, weißt du. Man kann sich vorher so<br />

- 174 -


By<br />

Frauke Feind<br />

viel den Kopf zerbrechen wie man will, meiner Erfahrung nach kommt es doch immer anders,<br />

als man es sich gedacht hat. Darum grübel ich nicht schon vorher lange darüber nach, was ich<br />

machen könnte, sondern tue gezielt etwas, wenn es wirklich nötig wird.“<br />

Jim nickte langsam.<br />

„Auch ne Einstellung.“, sagte er leise.<br />

„So bin ich bisher immer gut gefahren.“, erklärte ich schmunzelnd.<br />

Dann gähnte ich herzhaft. Es musste schon spät sein und ich war ziemlich müde.<br />

Meinen Kopf legte ich auf Jims Brust und meine Linke liebkoste sanft seine Haut. Müde<br />

murmelte ich:<br />

„Wir sollten versuchen zu schlafen. Ich weiß ja nicht, wie anstrengend die<br />

kommenden Tage werden.“<br />

Er nickte.<br />

„Hast Recht, wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Schlaf gut, okay.“<br />

„Du auch ...“, nuschelte ich und schloss die Augen.<br />

Ich spürte Jims ruhigen, gleichmäßigen Herzschlag und so schlief ich ein.<br />

<strong>Der</strong> Morgen kam erheblich schneller als wir vermutet hatten. Es war wohl am Abend<br />

zuvor doch sehr viel später geworden als gedacht. Als es an der Zellentür klapperte, fuhren<br />

Jim und ich erschrocken in die Höhe. Charly stand dort und sah uns grinsend an.<br />

„Richard will euch sehen, vielleicht solltet ihr euch aber vorher etwas anziehen.“<br />

Erst jetzt bemerkten wir, dass die Decke nicht mehr über uns lag. Anscheinend hatten<br />

wir sie irgendwann von uns gestrampelt, weil es sehr warm und stickig in der kleinen Höhle<br />

war. Verlegen angelte ich nach ihr und zog sie über uns.<br />

„Macht euch schnell fertig, ich bin in zehn Minuten wieder hier.“<br />

Charly nickte uns noch einmal zu, dann verschwand er und wir gaben uns erst einmal<br />

einen sehr ausgiebigen Kuss.<br />

grinsend.<br />

„Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“, fragte Jim liebevoll.<br />

„Und wie. Du hast absolut Recht, alles eine Frage des Kissens ...“, erklärte ich<br />

„Na, sag ich doch die ganze Zeit.“, schmunzelte Jim frech.<br />

Seufzend erhoben wir uns und versuchten, uns mit dem Wasser in der Waschschüssel<br />

ein wenig frisch zu machen. Wir kleideten uns an und kurz bevor Charly zurück kam, um uns<br />

abzuholen, zog Jim <strong>mich</strong> noch einmal an sich und küsste <strong>mich</strong> leidenschaftlich. Er sagte ernst:<br />

„Was immer auch passieren mag, vergiss nie, dass ich dich liebe.“<br />

Ich nickte.<br />

„So, wie ich dich, Schatz.“<br />

- 175 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Nervös warteten wir, dass Charly zurückkam. Angespannt ließen wir uns von ihm aus<br />

der Zelle nach draußen in die Morgensonne führen. Während wir erneut zu dem großen Baum<br />

hinüber gingen, fragte ich:<br />

„Wie geht es Ellie und dem Baby und Steve?“<br />

Charly sah <strong>mich</strong> an und erklärte:<br />

„Ellie geht es gut, der Kleine ist auch wohlauf, er wird scheinbar ein strammes Kerl-<br />

chen, so, wie er reinhaut. Steve ist gestern Abend noch zu sich gekommen. Es geht ihm den<br />

Umständen entsprechend. Er muss erst einmal damit fertig werden, dass er ein Bein verloren<br />

hat.“<br />

Ich nickte.<br />

„Das ist klar. Aber heutzutage gibt es ja schon so gute Prothesen, dass man es ...“<br />

Ich schluckte. Wenn wir richtig lagen mit unserer Vermutung über die Zeit, in der wir<br />

uns befanden, gab es diese guten Prothesen selbstverständlich noch nicht. Charly sah <strong>mich</strong><br />

sehr seltsam an und nickte.<br />

„Ja, ich verstehe.“<br />

Schweigend gingen wir weiter und Jim legte unwillkürlich einen Arm schützend um<br />

<strong>mich</strong>. Schließlich erreichten wir die große Akazie, wo Richard schon auf uns wartete. Neben<br />

ihm saßen Tim und Ellie. Jack, Kate und Sayid waren bereits dort und sahen uns entgegen.<br />

„Morgen.“<br />

Sayid grinste uns an und ich spürte, dass ich rot wurde.<br />

„Morgen.“, erwiderte Jim ebenfalls grinsend.<br />

Wir setzten uns auf die verbleibenden zwei Stühle und Charly nickte Richard noch<br />

einmal zu. Ruhig verschwand er nun irgendwo in die kleine Zeltsiedlung hinein. Suchend sah<br />

ich <strong>mich</strong> kurz um, aber weiter war kein Mensch im Lager zu sehen. Richard deutete meinen<br />

Blick richtig.<br />

„Wir werden ganz ungestört sein.“, erklärte er.<br />

Er deutete auf einen großen Teller Sandwichs und zwei Kannen Kaffee, die nebst<br />

Tassen auf dem Tisch standen und sagte:<br />

„Bedient euch.“<br />

Ich schenkte uns allen Kaffee ein und wir nahmen uns ein Sandwich vom Haufen.<br />

Richard beobachtete uns und als wir fertig waren mit dem Essen sagte er:<br />

fortsetzen.“<br />

„So, und jetzt werden wir unsere so unschön unterbrochene Unterhaltung von gestern<br />

Er musterte uns alle ruhig und sagte:<br />

„Ich möchte, dass ihr vollkommen vergesst, dass ihr davon ausgeht, dass, was immer<br />

ihr sagen werdet, von uns ohnehin nicht geglaubt wird. Im Gegenteil möchte ich, dass ihr so<br />

tut, als würdet ihr euch mit Freunden unterhalten, die jedes Wort glauben werden, dass ihr zu<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

sagen habt. Bevor ihr aber anfangt, möchte ich wissen, woher du wusstest, dass Charly der<br />

Vater von Ellies Baby ist und woher du Tims Nachnamen kennst.“<br />

Genau damit hatte ich gerechnet. Ich schloss kurz die Augen und schüttelte resigniert<br />

den Kopf. Ich sah die Freunde an und diese nickten.<br />

lächelte milde.<br />

„Okay. Tust du uns vorher einen kleine Gefallen?“, fragte ich Richard und dieser<br />

„Ihr seid gestern anstandslos zu Hilfe gekommen, als wir euch brauchten, daher ist es<br />

nur Recht, wenn du um einen Gefallen bittest, solange er nichts damit zu tun hat, euch gehen<br />

zu lassen.“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, absolut nicht. Wir möchten nur wissen, welches Datum wir heute haben.“<br />

Richard sah erstaunt aus, antwortete aber:<br />

„Heute ist der sechsundzwanzigste Mai.“<br />

„Nein, welches ... Jahr?“<br />

Jetzt sahen <strong>mich</strong> alle erstaunt an und Jim entfuhr ein leises Schnaufen. Angespannt<br />

und gleichermaßen verwirrt aber erklärte Richard:<br />

hervor:<br />

„1971.“<br />

Wir mussten alle erst einmal tief durchatmen. Jim lachte leicht hysterisch und stieß<br />

„Ich bin noch ein Baby ...“<br />

Das war allerdings ein sehr eigenartiges Gefühl. Und niederschmetternd, denn bis zu<br />

den Ereignissen, die uns hierher geführt hatten, waren es noch sechs Jahre hin. Was, um alles<br />

in der Welt, sollten wir machen? Eigenartigerweise blieben Richard, Ellie und Tim bei Jims<br />

Worten ganz ruhig. Sie sahen uns nur deutlich interessiert an und warteten auf unseren Be-<br />

richt. Richard wandte sich mir zu und sagte freundlich:<br />

„Vielleicht übernimmst du es, zu berichten?“<br />

Ergeben nickte ich.<br />

„Wir sind leider kaum in der Lage, etwas von dem, was wir erzählen werden, be-<br />

weisen zu können.“<br />

Richard nickte verstehend.<br />

„Das haben wir uns bereits gedacht. Versuche es doch einfach einmal.“<br />

Ich überlegte krampfhaft, womit ich anfangen sollte. Irgendeinen Beweis gleich zu<br />

Beginn würde sicher hilfreich sein. So sagte ich, <strong>mich</strong> Tim zuwendend:<br />

„Dein richtiger Name ist Lars Hanso, deine Eltern sind Alvar und Lena Hanso, die<br />

1945 mit dir und deiner Schwester Rachel von Kopenhagen in die USA auswanderten. Dein<br />

Vater ist Gründer und Leiter der Hanso Foundation. Du bist seit 1955 hier auf der Insel.<br />

Richard, du lebst schon sehr, sehr lange, und wirst auch noch sehr, sehr lange leben, ohne dich<br />

- 177 -


By<br />

Frauke Feind<br />

im Geringsten zu verändern. Ihr erhaltet eure Befehle von einem Mann Namens Jacob, den<br />

vermutlich kaum einer von euch je wirklich gesehen hat.“<br />

Richard sah <strong>mich</strong> ernst an und fragte:<br />

„Woher weißt du dass alles?“<br />

„Dazu komme ich noch, hört mir bitte einfach zu. Du warst es, der sagte, wir sollen so<br />

tun, als unterhalten wir uns mit Freunden, die uns jedes Wort glauben.“, bat ich und fuhr fort<br />

„Diese Insel birgt eine Energiequelle noch ungeahnten Ausmaßes. Anfang 1970 wird die Insel<br />

von einer Initiative, die sich DHARMA nennt, Department of Heuristics And Research on<br />

Material Applications, die dein Vater finanziert, Tim, gefunden und für Forschungszwecke<br />

genutzt. Ihr werdet aus Gründen, die wir noch nicht kennen, mit den Mitgliedern der<br />

DHARMA Initiative in einen heftigen Kampf verwickelt werden. <strong>Der</strong> Initiative wird es ge-<br />

lingen, die elektromagnetische Energie der Insel, oder besser die Energiequelle, die in den<br />

Bergen ein Stück weiter westlich liegt, zu nutzen. Sie entdecken den Ursprung der Energie<br />

und finden dort einen Mechanismus, der es erlaubt, Reisen durch die Zeit zu unternehmen.<br />

Leider kommt es irgendwann zu einem dramatischen Zwischenfall, der die immense Energie<br />

frei setzen wird. Daraufhin wird ein Mechanismus gebaut, der alle hundertacht Minuten er-<br />

neut aktiviert werden muss, um eine erneute Freisetzung der Energie zu verhindern. Durch<br />

einen Unfall wird im September 2004 diese Aktivierung zu spät vorgenommen und die<br />

Energie wird vorübergehend frei gesetzt werden. Dabei kommt es zu einem Flugzeugabsturz<br />

über der Insel, den nur achtundvierzig Menschen überleben. Viele von ihnen sterben in den<br />

kommenden Monaten, unter Anderen durch euch. Jack, Kate, Jim und Sayid hier sind <strong>Über</strong>-<br />

lebende dieser Katastrophe. Ihnen gelingt es, die Insel irgendwann zu verlassen. Soweit der<br />

einfache Teil.“<br />

Richard und seine Leute sahen uns an. Ihre Blicke konnte ich absolut nicht deuten. Sie<br />

waren jedenfalls nicht überrascht. Ich trank einen Schluck Kaffee und erzählte weiter.<br />

„Wie gesagt, dass war der unkomplizierte Teil unserer Geschichte. Jetzt kommt der<br />

Komplizierte. Genau genommen gelang es nur Kate, Jack und Sayid, die Insel zu verlassen.<br />

Jim blieb zurück, mit den wenigen noch lebenden Flugzeuginsassen, drei Wissenschaftlern,<br />

die, soweit bekannt ist, im Auftrag von Charles Widmore, ich komme später darauf zurück,<br />

okay, nach der Insel suchten, sowie mit einem späteren Mitglied eurer Gemeinschaft.<br />

Irgendwann in den Siebzigern erreichte ein Mann, Roger Linus, mit seinem Sohn Benjamin,<br />

der zu diesen Zeitpunkt vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt ist, die Insel als einfacher Arbeiter<br />

für die DHARMA Initiative. Dieser Benjamin Linus wir kurze Zeit später schwer verletzt zu<br />

dir, Richard, gebracht. Er bleibt in eurer Obhut, obwohl er zu seinem Vater in die DHARMA<br />

Initiative zurückkehrt, und wird zu einem späteren Zeitpunkt euer Anführer, der seine Befehle<br />

scheinbar auch von Jacob erhält. Nachdem Jack, Kate und Sayid die Insel verlassen haben,<br />

muss auch Ben gehen, da er einen schweren Fehler gemacht hat. Er wird verbannt und setzt<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

beim Verlassen der Insel mittels der Energiequelle einen verheerenden Mechanismus ver-<br />

sehentlich in Gange: Die Insel springt plötzlich wahllos in einem nicht erkennbaren Rhythmus<br />

durch die Zeit und mit ihr die letzten <strong>Über</strong>lebenden, Jim, Juliet, die Wissenschaftler. Bei<br />

diesen Zeitsprüngen kommt es immer wieder zu kurzen Konfrontationen mit euch.<br />

Schließlich gelingt es, dies zu stoppen und Jim, die Wissenschaftler, sowie die Ärztin, Juliet,<br />

die einmal bei euch gearbeitet hat, bleiben in 1974 hängen. Um zu <strong>Über</strong>leben schließen sie<br />

sich der DHARMA Initiative an und werden dort als vollwertige Mitglieder akzeptiert.“<br />

Ich ließ bewusst Locke und auch Jin und Hurley weg, das würde nur noch ver-<br />

wirrender werden. Nachdem ich einen weiteren Schluck Kaffee getrunken hatte, redete ich<br />

weiter. „Einer der Wissenschaftler, ein Physiker Namens Daniel Faraday, hat schließlich 1977<br />

die Idee, die Energiequelle mittels der Wasserstoffbombe, die von den US Militärs hier<br />

zurück gelassen wurde, zu vernichten, in der Hoffnung, damit alle Geschehnisse seit dem Ab-<br />

sturz zu verhindern. Er ist es, der 1962 zu euch gelangt und euch rät, die H-Bombe tief zu<br />

vergraben. Er sucht dich 1977 erneut auf, Richard, und will dich zwingen, ihn zu der Bombe<br />

zu bringen. Dabei wird er von dir, Ellie, getötete. Und damit kommen wir zum Grund unseres<br />

Besuches. In 2007 erhalten wir den Auftrag, zu verhindern, dass das geschieht. Du selber,<br />

Ellie, hilfst uns, hierher zurück zu kehren. Du kannst mit einem ausgeklügelten Computer-<br />

system und irgendwelchen Gleichungen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit errechnen, wann<br />

die Insel wo sein wird. Leider will jemand verhindern, dass wir zurückkehren. Wir vermuten,<br />

dass es Benjamin Linus ist. Und hier komme ich ins Spiel. Jim wird von Männern, die ihn<br />

verfolgen, gefangen genommen und schwer gefoltert, um von ihm Informationen zu be-<br />

kommen. Es gelingt ihm, zu fliehen und dabei trifft er auf <strong>mich</strong>. Ich nehme ihn mit zu mir und<br />

flicke ihn zusammen. Dabei stellt sich heraus, dass mein Großvater und meine Eltern hier auf<br />

der Insel waren und ich hier geboren wurde. Meine Eltern und mein Großvater verlassen die<br />

Insel, als ich noch klein bin. Mein Großvater, der inzwischen leider erstorben ist, hinterlässt<br />

mir einen Brief, in dem er <strong>mich</strong> bittet, einigen Leuten zu helfen, die ihn unter dem Namen<br />

Timothy Walsh eines Tages suchen mögen.“<br />

Jetzt starrte Tim <strong>mich</strong> an und stieß vollkommen fassungslos hervor:<br />

„Großvater? Ich bin ... dein Großvater?“<br />

Ich nickte langsam. Dann sagte ich:<br />

„Es kommt aber noch dicker. <strong>Der</strong> Wissenschaftler, den du tötest, Ellie, er ist ... er ist<br />

dein eigener Sohn, den du gestern geboren hast.“<br />

Ellie sah <strong>mich</strong> fassungslos an.<br />

„Warum sollte ich meinen eigenen Sohn töten?“, fragte sie und sah <strong>mich</strong> an, als ge-<br />

höre ich in die Irrenanstalt. Ich wollte gerade antworten, als Tim dazwischen fuhr.<br />

„Weil du es nicht wusstest! Das ist doch klar.“<br />

- 179 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Erst einmal herrschte Schweigen. Jim griff nach meiner Hand und hielt diese fest in<br />

seiner. Richard überlegte. Langsam sagte er:<br />

„Damit, dass ihr das hier erzählt habt, ist eure Aufgabe theoretisch erledigt, oder?“<br />

Ich zuckte zusammen. An diese Möglichkeit hatte ich noch nicht gedacht.<br />

„Theoretisch, ja. Wie haben nur damals festgestellt, dass immer nur wir erinnerten,<br />

dass wir während der Zeitsprünge mit euch zusammen gestoßen sind, ihr selbst konntet euch<br />

nicht daran erinnern. Oder sagen wir mal so, ihr konntet euch nicht an alles erinnern. Daher ist<br />

es gut möglich, dass es auch in diesem Fall so ist.“, warf Jim ein.<br />

Richard nickte.<br />

„Gehen wir mal davon aus, dass alles stimmt, was Kelly gerade erzählt hat, und weiter<br />

davon, dass wir es vergessen werden ... Ihr seid hier, und wie ich das verstanden habe, gibt es<br />

keine Möglichkeit für euch, hier wieder weg zu kommen, da die Energiequelle erst irgend-<br />

wann in der Zukunft von der DHARMA Initiative frei gelegt wird. Richtig?“<br />

Resigniert nickten wir. Richard überlegte weiter.<br />

„Nun gehen wir mal weiter davon aus, dass Ellie ihren Sohn nicht erschießen wird.<br />

Das würde heißen, es könnte ihm gelingen, die Bombe in die Luft zu jagen. Was würde mit<br />

der Insel geschehen?“<br />

Jim hatte Richard genau zugehört und starrte blicklos vor sich hin. Sayid, Kate und<br />

Jack ging es nicht anders. Ich sah erschrocken zu Jim hinüber und wollte ihn ansprechen, aber<br />

Richard schüttelte den Kopf und machte mir ein Zeichen, zu Schweigen. Minuten vergingen,<br />

dann stieß Jim plötzlich heftig hervor:<br />

„Die darf niemals hochgehen!“<br />

Jack und Kate erwachten wie aus einem Traum. Sayid stieß leise hervor:<br />

„Ich ... lag im Sterben ...“<br />

Er fasste sich an den Bauch, als wäre dort eine Wunde, die er zuhalten musste. Und<br />

jetzt sagte Jack leise:<br />

„Das ist ... nicht das erste Mal, dass wir hier sitzen. Mein Gott! Ich weiß es wieder.<br />

Daniel wollte die Bombe zünden, er kam aber ja nicht mehr dazu. Also haben wir es getan.<br />

Kate wollte nicht, sie ... du bist abgehauen. Jim, Juliet und du, ihr wolltet es verhindern, aber<br />

ich habe euch überredet. Großer Gott ...“<br />

„Es kam bei der Baustelle zum Kampf mit der DHARMA Initiative, aber es gelang<br />

uns, die verdammte Bombe in den Schacht zu werfen.“, fuhr Jim tonlos fort. „Dann ...<br />

passierte irgendwas ... Plötzlich wurden alle metallischen Gegenstände von dem verfluchten<br />

Loch angezogen.“ Er starrte immer noch vor sich hin. „Juliet ...<br />

sie verhedderte sich in ne Stahlkette und ... oh, man, sie wurde in<br />

den Schacht gerissen. Ich konnte sie nicht mehr halten ...“ Er<br />

konnte kaum weiter sprechen, ein Kloß saß ihm in der Kehle.<br />

„Sie stürzte und dann ... Da war dieser grelle Blitz und ... als nächstes ...“<br />

- 180 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Sitzen wir wieder in der Oceanic 815 ...“, beendete Jack den Satz.<br />

Fassungsloses Schweigen herrschte am Tisch, nur Jims schweres Atmen war zu hören.<br />

Endlich sagte Sayid bis ins Mark getroffen:<br />

„Wir stecken in einer Zeitschleife fest.<br />

Ich aber saß da und war mir absolut sicher, bisher nicht Bestandteil dieser Zeitschleife<br />

gewesen zu sein. Und ich wusste nicht, wie ich auf Jims Reaktion selbst reagieren sollte. Ich<br />

sah zu ihm herüber und spürte einen Stich im Herzen, der mir sehr wehtat. Es war nicht<br />

gerade ein erhebendes Gefühl, nach einer solchen Eröffnung hier zu sitzen und zu sehen, wie<br />

der Mann, den man mehr liebte als alles andere auf der Welt, für den man bereit gewesen<br />

wäre, zu sterben, hilflos um eine andere Frau weinte. Richard, Ellie und Tim waren ebenfalls<br />

ratlos, und schienen das Gehörte erst einmal verarbeiten zu müssen. Irgendwann, es kam mir<br />

wie Stunden später vor, fragte Richard ruhig:<br />

„Wie mag es kommen, dass ihr euch vorher nicht daran erinnert habt, dass dies alles<br />

schon passiert ist? Habt ihr denn eine Idee, wie oft es schon geschehen ist? Und wie passt<br />

Kelly da hinein?“<br />

Jack sah auf und zuckte die Schultern.<br />

„Ich habe keine Ahnung, wirklich nicht. Wie oft? Ich weiß es nicht, ehrlich. Mög-<br />

licherweise schon ... Und Kelly? Ich kann <strong>mich</strong> nicht erinnern, dass du dabei gewesen<br />

wärest.“ Sayid und Kate schüttelten entschieden den Kopf.<br />

„Nein, ich auch nicht.“, erklärte Sayid überzeugt.<br />

Jim reagierte noch immer nicht, er weinte nicht mehr, saß aber wie paralysiert auf<br />

seinem Stuhl und blickte ins Leere. Plötzlich stemmte er sich hoch und stapfte ohne ein Wort<br />

oder einen Blick davon, Richtung Dschungel. Richard machte keine Anstalten, ihn zurückzu-<br />

holen oder auch nur zurückzuhalten.<br />

Jack sah Jim hinterher, dann aber sah er <strong>mich</strong> an.<br />

„Du warst nie dabei, Kelly, aus irgendeinem Grund bist du jetzt in der Geschichte<br />

mitten drinnen. Wir müssen ... jemand muss verhindern, dass wir diesen Irrsinn machen.<br />

Vielleicht ... Ich glaube, es ist auch das erste Mal, dass wir zu dieser Zeit hier bei euch landen.<br />

Ich kann <strong>mich</strong> immer nur daran erinnern, von Jin gefunden und zur DHARMA Initiative und<br />

damit zu Miles, Jin, Sawyer und Juliet gebracht worden zu sein. Wie sieht es bei euch aus?“<br />

Kate und Sayid nickten.<br />

„Diesmal ist etwas ganz anders. Jin, Sun und Hurley sind nicht bei uns. Dafür ist Kelly<br />

hier. Und wir sind nicht in 1977, sondern in 1971 gelandet. Woran liegt das? <strong>Der</strong> einzige<br />

Unterschied, der ... das bist du, Kelly. Nur du kannst der Auslöser dafür sein, dass wir uns<br />

abseits der bisherigen Geschichte befinden. Das mag bedeuten, dass wir im Stande sein<br />

werden, uns aus der Zeitschleife zu befreien.“<br />

Jack sah <strong>mich</strong> an und Kate fügte hinzu:<br />

- 181 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Oder uns schon befreit hast. Denn es ist ja diesmal ganz anders.“<br />

Ich hatte nur halb zugehört. In Gedanken war ich bei Jim. Auf der einen Seite schrie<br />

alles in mir danach, ihm zu folgen, auf der anderen Seite hatte <strong>mich</strong> seine Reaktion zutiefst<br />

getroffen. Ich sagte mir, dass dadurch, dass er sich gerade erst erinnert hatte, Juliets Tod oder<br />

Verschwinden für ihn ganz frisch war. Aber auf der anderen Seite dachte ich an die ver-<br />

gangenen fast vier Wochen und hatte das unangenehme Gefühl, jemand hätte mir ein Messer<br />

in den Rücken gestoßen. Ich sah Jack an und sagte unglücklich:<br />

„Ich ... Bitte, ich brauche ein wenig Zeit, um dass alles zu begreifen. Ich ... Das ist<br />

alles ein wenig viel, versteht ihr?“<br />

Langsam erhob ich <strong>mich</strong> ebenfalls und ohne zu fragen, ob es erlaubt war, entfernte ich<br />

<strong>mich</strong> ebenfalls von unserer kleinen Gesprächsrunde. Ich ging in die entgegen gesetzte<br />

Richtung, in der Jim verschwunden war und als ich zwischen die Bäume kam, liefen mir erste<br />

Tränen über die Wangen. Hastig eilte ich weiter, bis ich das Gefühl hatte, weit genug weg<br />

vom Lager zu sein. Dort sank ich auf den Urwaldboden und weinte...<br />

************<br />

17) Verzweifelte Suche<br />

Am Tisch herrschte Stille. So lange, bis Tim leise sagte:<br />

„Wenn wir davon ausgehen, dass alles, was ihr gesagt habt, der Wahrheit entspricht,<br />

und ich bin ehrlich, ich gehe davon aus, müssen wir eine Antwort dafür finden, was diesmal<br />

anders ist und ob es dennoch zu dem Ereignis kommen wird, obwohl ihr Bescheid wisst.<br />

Kelly hatte also einen Brief von mir?“<br />

Jack nickte.<br />

„Ja, in diesem Brief hast du ihr klar gemacht, dass sie auf der Insel geboren wurde und<br />

dass sie vielleicht irgendwann einmal Besuch von jemandem bekommen würde, der nach dir<br />

unter dem Namen, den du hier benutzt, suchen würde. Nebenbei, warum benutzt du diesen<br />

Namen hier eigentlich, und nicht deinen Richtigen?“<br />

Tim überlegte.<br />

„Ich weiß es nicht. Als ich erfuhr, dass ich auf die Insel sollte, hielt ich es für besser,<br />

nicht mit meinem Vater in Verbindung gebracht zu werden. Ich weiß nicht, warum ...“<br />

Er schien sich das Gehirn zu zermartern, dann sagte er langsam:<br />

„Mein Vater ... Er hat die Insel erwähnt. Er wollte sie finden und hat daraufhin die<br />

DHARMA Initiative gegründet. Sie wollten die Energie der Insel vermarkten ... Woher weiß<br />

ich das? Dass geschieht erst in ein paar Jahren.“<br />

an.<br />

„Kellys Vater müsste doch schon geboren sein, wo ist er?“, fragte Jack und sah Tim<br />

- 182 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ja, ich habe einen Sohn. Er ist mit den Anderen zum Pier. Er ist fünfzehn ... Meine<br />

Frau starb kurz nach seiner Geburt.“<br />

sagt hatte.<br />

Richard sah Ellie scharf an, die während der ganzen Unterhaltung noch kein Wort ge-<br />

„Geht es dir nicht gut?“, fragte er besorgt.<br />

„Ich bin ein wenig müde.“, erklärte die junge Frau etwas zu schnell und erhob sich.<br />

„Ich werde <strong>mich</strong> ein wenig ausruhen.“<br />

Sie stand auf und verließ mit klein Daniel, den sie die ganze Zeit in einer Trage-<br />

schlinge vor dem Körper gehalten hatte, die traute Runde in Richtung ihres Zeltes. Richard<br />

nickte. „Ich denke, wir sollten alle eine Pause einlegen. Wir haben sehr viel zu verarbeiten<br />

und sollten ein wenig Abstand gewinnen. Ich lasse euch ein Zelt räumen, in dem ihr wohnen<br />

könnt.“ Damit löste er die Runde auf und Jack, Kate und Sayid erhoben sich ebenfalls. Sie<br />

machten sich zusammen auf den Weg zum Krankenzelt, traten hinein und Jack sah nach<br />

Steve. Dann marschierten die drei gemeinsam zum Waldrand hinüber, ließen sich dort in das<br />

Gras sinken und versuchten, zu verdauen, was heraus gekommen war.<br />

************<br />

Jim war blind durch den Dschungel gestapft und war dabei irgendwann auf eine<br />

Klippe gestoßen, die eine kleine Schlucht begrenzte. Hier war er zu Boden gesunken und<br />

hockte nun schon seit vielen Minuten wie erstarrt am Boden. Sein Blick war über die Schlucht<br />

gerichtet, aber vor seinem geistigen Auge sah er etwas ganz anderes. Wie in einem Film liefen<br />

Bilder in seinem Kopf ab. Die Schießerei mit den Dharmaisten, dann plötzlich der<br />

magnetische Sog, all die Gegenstände, die auf das Loch im Boden zuflogen, Juliet, die plötz-<br />

lich entsetzt aufschrie und im letzten Moment von Kate erwischt wurde. Dann sah er sich<br />

selber, wie er verzweifelt halb in dem Loch hing und versuchte, Jules herauszuziehen. Er sah<br />

die entsetzliche Angst in ihren Augen, ihre Tränen und hörte sie verzweifelt schreien, er solle<br />

sie los lassen, als sie sah, dass er selbst in Lebensgefahr geriet, von herumfliegenden Gegen-<br />

ständen erschlagen zu werden. Er hörte sie sagen, wie sehr sie ihn liebte und spürte erneut,<br />

dass sie ihm aus der Hand rutschte, sah sie in den Schacht stürzen. Verzweifelt schlug er die<br />

Hände vor sein Gesicht. Minutenlang saß er wie gelähmt da, dann kehrte er langsam in die<br />

Gegenwart zurück, wie aus einem tiefen Traum erwachend. So plötzlich mit der schrecklichen<br />

Wahrheit konfrontiert zu werden, war zu viel gewesen. Er wusste nicht, wie oft sie das nun<br />

schon erlebt hatten. Wie oft hatte er Jules verloren? Und dann schoss ihm plötzlich ein<br />

anderer, genauso bedrückender Gedanke durch den Kopf. Kelly! Was hatte er getan? Er<br />

sprang auf die Füße und sah sich um. Wo, zum Teufel, war er hingelaufen? Er konnte sich<br />

nicht erinnern, wie er gegangen war und sah sich um. Nur undurchdringlicher Dschungel um<br />

- 183 -


By<br />

Frauke Feind<br />

ihn herum, der ihn höhnisch anzugrinsen schien. Glasklar wusste er: Er hatte sich hoffnungs-<br />

los verlaufen.<br />

Ein mulmiges Gefühl machte sich in Jim breit. Die Insel war durchaus groß genug, um<br />

tagelang hilflos darauf herumzuirren. Und er machte sich nichts vor: Wenn er etwas nicht<br />

war, dann ein Waldläufer, dass hatte er hinlänglich bewiesen, als er Wochen nach dem Ab-<br />

sturz versucht hatte, ein Wildschwein zu verfolgen. Er hatte sich bis auf die Knochen blamiert<br />

und musste letztlich einen Deal mit Kate eingehen, die ihm glücklicherweise gefolgt war und<br />

ihm aus der Patsche half. Das Glück würde er heute bestimmt nicht haben. Und auf dieser<br />

beschissenen Insel alleine und unbewaffnet herumzuirren war nicht gerade eine angenehme<br />

Vorstellung. Genervt und verzweifelt sah Jim sich um. Irgendwo musste doch eine Spur sein,<br />

ein Hinweis, von wo er gekommen war. Warum, zum Teufel, hatte er nur nicht aufgepasst! Er<br />

gab sich selbst einige wenig nette Schimpfnamen, dann schüttelte er frustriert den Kopf und<br />

marschierte los, in die Richtung, die ihm am vertrautesten vorkam.<br />

Eine gute halbe Stunde kämpfte er sich so durch das Dickicht, dann musste er sich<br />

eingestehen, dass das definitiv nicht die Richtung gewesen war, aus der er gekommen war.<br />

„Verdammte Scheiße! Das gibt es doch nicht.“, fluchte er wütend.<br />

Er sah sich um, doch das half auch nicht im Geringsten. <strong>Über</strong>all sah die undurchdring-<br />

liche grüne Wand gleich aus.<br />

„Verdammte Scheiße!“<br />

Wut und Verzweiflung hielten sich die Waage, noch. Er war vielleicht eine Stunde ge-<br />

laufen, eine Stunde. Läppische sechzig Minuten, da konnte man sich doch nicht verirren.<br />

Hilflos sah Jim sich noch einmal um. <strong>Der</strong> verfluchte Wald sah überall gleich aus. Total ge-<br />

nervt marschierte er wieder los, diesmal in eine andere Richtung. Nur, um nach einiger Zeit<br />

festzustellen, dass auch das nicht der Rückweg zum Lager gewesen war. Langsam wurde Jim<br />

bewusst, dass er in Schwierigkeiten war. Genau genommen wusste er ja nicht einmal, in<br />

welchem Teil der Insel sich das Lager befand. Sie hatten keine Ahnung, wie lange sie nach<br />

der Attacke durch Alperts Leute besinnungslos gewesen waren. Man hätte sie Stunden oder<br />

sogar Tage betäubt halten und sonst wo hin schleppen können. Vor sich sah er einen um-<br />

gestürzten Baum und ließ sich entnervt darauf sinken. Wie konnte er nur so blöde gewesen<br />

sein, einfach wahllos drauflos zu rennen. Gut, er war emotional angeschlagen gewesen, aber<br />

trotzdem hätte er nicht einen solchen idiotischen Fehler machen dürfen. Er fuhr sich mit der<br />

Hand durch die Haare und schnaufte verzweifelt. Und dann schoss ihm der Gedanke an Kelly<br />

durch den Kopf. Großer Gott, was musste sie denken? Er hatte dort neben ihr gesessen und<br />

um eine andere Frau geheult. Sie musste verletzt sein und das zu Recht! Geradezu panisch<br />

sprang er auf und rannte los, in irgendeine Richtung, in der Hoffnung, wieder auf das Lager<br />

zu stoßen. Gute zwanzig Minuten hastete er so durch den Dschungel. Und dann, von einer<br />

Sekunde zur Anderen, geschah es. Jim spürte, wie der Boden unter ihm nach gab und bevor er<br />

- 184 -


By<br />

Frauke Feind<br />

auch nur geistig reagieren konnte, stürzte er schon ins Nichts. Unwillkürlich schrie er er-<br />

schrocken auf, als er in eine totale Dunkelheit fiel. Dann kam der Aufprall und Jim verlor<br />

augenblicklich die Besinnung...<br />

************<br />

Als ich <strong>mich</strong> ein wenig beruhigt hatte, begann ich, rational an die Sache heran zu<br />

gehen. Jim hatte Juliet sicher geliebt. Nicht so sehr, wie er Kate geliebt haben musste, aber er<br />

hätte sicher sein Leben mit Juliet verbracht, wäre nicht all das schreckliche Geschehen da-<br />

zwischen gekommen. Als er nach Kates Wiederauftauchen gemerkt hatte, dass er sie noch<br />

immer liebte, musste das ein Schock für ihn gewesen sein. So, wie ich Jim einschätzte und<br />

kennen gelernt hatte, musste sein Gewissen ihn ziemlich gequält haben. Er wollte mit Juliet<br />

zusammen bleiben, so viel war sicher. Als er sie dann auf so grausame Weise verlor, hatte er<br />

sich mit Sicherheit die Schuld gegeben. Etwas, wofür Jim prädestiniert war. Er würde immer<br />

die Schuld bei sich suchen, schon bei Kleinigkeiten. Dass es ihm nicht gelungen war, Juliet zu<br />

retten, musste für ihn die Hölle gewesen sein. Darum hatte ihn die plötzliche Erinnerung an<br />

das Desaster so überwältigt. Sicher war ich verletzt und ärgerlich und auch traurig, aber ich<br />

vertraute Jim letztlich uneingeschränkt und wusste, dass er <strong>mich</strong> aufrichtig liebte. So riss ich<br />

<strong>mich</strong> zusammen, rappelte <strong>mich</strong> auf die Füße und trat den Rückweg an.<br />

Zwanzig Minuten später erreichte ich das Lager wieder und sah <strong>mich</strong> um. Jack trat<br />

gerade aus dem Krankenzelt und sah <strong>mich</strong> kommen. Er winkte <strong>mich</strong> zu sich und fragte:<br />

„Kelly. Wo hast du gesteckt? Alles wieder klar bei dir?“<br />

Ich seufzte.<br />

„Ja, es geht wieder. Ich würde gerne mit Jim reden, weißt du, wo er ist?“<br />

Jack biss sich auf die Lippe und erklärte:<br />

„Er ist noch nicht wieder da. Er braucht wohl ein wenig Zeit, er wird sicher bald<br />

wieder auftauchen.“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, wird er wohl.“<br />

Jack sah <strong>mich</strong> an.<br />

„Dort hinten, das ist unser Zelt.“<br />

Er deutete auf eines der Zelte am Rande des Lagers.<br />

„Kate und Sayid sind dort. Falls du mit jemandem Reden willst, der dabei war. Du<br />

kannst natürlich auch mir helfen, Steves Verband zu wechseln.“<br />

Ich nickte.<br />

„Gerne. Ein wenig Ablenkung von all dem kann nicht schaden.“<br />

- 185 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ich folgte Jack in das Zelt und zusammen traten wir an das Bett des Verletzten. Steve<br />

war wach und sah <strong>mich</strong> an.<br />

liegen.“<br />

„Du musst Kelly sein. Ich hatte noch keine Gelegenheit, <strong>mich</strong> zu bedanken ...“<br />

„Das ist doch kein Problem. Wie geht es dir?“<br />

Seine Stimme war schwach und zitterte.<br />

„Ich habe ... ziemliche Schmerzen, aber sonst geht es.“<br />

Ich nickte.<br />

„Die werden bald nachlassen. Wir werden den Verband erneuern, bleibe einfach ruhig<br />

Er nickte müde.<br />

„Werd‟s versuchen.“<br />

Jack hob das Bein vorsichtig an und ich begann, den Verband zu entfernen.<br />

Schließlich war ich bei den letzten Lagen Verbandmull angelangt. Hier klebte das Material an<br />

der ausgetretenen Wundflüssigkeit und am nach gesickerten Blut. Ich nahm Ringerlösung aus<br />

dem Schrank und weichte den Verband sehr gründlich auf, um Steve weitere Schmerzen zu<br />

ersparen. Nun konnte ich den Verbandmull vom Stumpf lösen und Jack sah sich die Wunde<br />

gründlich an. Steve lag schwer atmend still und zitterte am ganzen Körper. Beruhigend sagte<br />

ich:<br />

„Du hast es geschafft, okay, es sieht sehr gut aus. Wir werden einen neuen Verband<br />

anlegen, dann bekommst du etwas gegen die Schmerzen und kannst Schlafen.“<br />

Eine halbe Stunde später war Steve frisch verbunden und mit Schmerztabletten ver-<br />

sorgt. Er war, kaum, dass wir fertig waren, eingeschlafen. Ich erklärte Jack:<br />

„Ich werde mal schauen, ob Jim wieder da ist. Bis später.“<br />

Jack nickte.<br />

„Bis später.“<br />

Ich trat in die Sonne hinaus und sah <strong>mich</strong> suchend um. Jim war nirgends zu sehen.<br />

Vielleicht war er im Zelt bei Kate und Sayid. Entschlossen marschierte ich zu unserer neuen<br />

Unterkunft, traf jedoch im Schatten davor nur Kate an.<br />

„Da bist du ja.“, sagte die junge Frau und sah <strong>mich</strong> an.<br />

„Hast du Jim schon gesehen?“, fragte ich.<br />

Sie schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, er ist noch nicht wieder aufgetaucht, oder jedenfalls nicht bei mir.“<br />

Ich seufzte.<br />

„Hm, na gut, ich werde mal sehen, ob ich ihn irgendwo auftreiben kann.“<br />

Kate erhob sich.<br />

„Warte, ich komme mit.“<br />

Zu zweit liefen wir also los, durchsuchten das ganze Lager und fragten Richard und<br />

Charly, die wir unterwegs trafen, ob sie Jim gesehen hatten, bekamen aber negative<br />

- 186 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Antworten. Die Sonne fing allmählich an unter zu gehen und ich konnte nicht abstreiten, dass<br />

ich langsam etwas nervös wurde. Ich sah in die Richtung, in die er vor guten drei Stunden<br />

verschwunden war und erklärte Kate:<br />

Weg.“<br />

„Ich werde mal ein Stück in den Dschungel gehen, vielleicht läuft er mir ja über den<br />

Sie nickte und meinte:<br />

„Pass gut auf!“<br />

Ich nickte. Dann machte ich <strong>mich</strong> auf den Weg.<br />

Ich hatte nicht mehr viel Zeit, bevor die Sonne beginnen würde, unterzugehen, und so<br />

beeilte ich <strong>mich</strong>. So schnell es in dem dichten Wald möglich war, hastete ich voran.<br />

Irgendwann begann ich, nach Jim zu rufen, erhielt aber keine Antwort. Schließlich wurde es<br />

dämmrig und ich hatte keine Wahl als umzukehren. Wieder im Lager, eilte ich sofort zu<br />

unserer neuen Behausung, aber außer Kate, Sayid und Jack traf ich niemanden an. Und ob-<br />

wohl ich eigentlich nicht dazu neigte, schnell in Panik zu geraten, wurde ich doch sehr un-<br />

ruhig. Schön und gut, Jim hatte eine Weile alleine sein müssen, aber er war jetzt seit über vier<br />

Stunden fort. Solange würde er kaum brauchen, um sich zu fangen. Nervös sagte ich zu den<br />

Anderen:<br />

„Haltet <strong>mich</strong> meinetwegen für hysterisch, aber ich habe kein besonders gutes Gefühl.“<br />

Sayid war es, der mir zustimmte.<br />

ist.“<br />

„Du hast Recht, Kelly, das ist kein sehr gutes Zeichen, dass er noch nicht wieder hier<br />

Auch Kate nickte.<br />

„Sawyer ist im Wald eine absolute Niete. Er wird sich verlaufen haben.“, vermutete<br />

sie nachdenklich.<br />

Jack versuchte, uns zu beruhigen.<br />

„Wir müssen realistisch bleiben, vor morgen früh können wir nichts unternehmen,<br />

wenn wir im Dunkeln losmarschieren, haben wir nur jede Chance, uns den Hals zu brechen<br />

und Sawyer zu übersehen. Ihm wird schon nichts passiert sein. Vielleicht findet er bei Tages-<br />

anbruch den Weg ganz alleine zurück.“<br />

Verzweifelt musste ich Jack zustimmen. Im Dunkeln im Dschungel herumzuirren war<br />

dumm. So blieb mir nichts anderes übrig, als <strong>mich</strong> auf eine Nacht ohne Jim einzurichten. Wir<br />

legten uns irgendwann alle in die Betten und ich lag Stunde um Stunde wach, dachte an Jim<br />

und betete zu Gott, dass ihm nicht passiert war.<br />

************<br />

- 187 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Jim kam langsam zu sich. Als sein Verstand klarer wurde, merkte er, dass er auf dem<br />

Rücken lag. Im ersten Moment wusste er nicht, was passiert war, doch schon Sekunden später<br />

schoss ihm die Erinnerung durch den Kopf. Er war in irgendetwas Tiefes im Boden gefallen.<br />

Vorsichtig bewegte er Arme und Kopf. Abgesehen davon, dass ihm alles wehtat, schien er<br />

sich nicht verletzt zu haben. Er versuchte, sich aufzurichten. Und jetzt durchfuhr ihn ein<br />

heißer Schreck! Er konnte seine Beine nicht bewegen. Wellen von Angst überrollten ihn.<br />

Hektisch stemmte er sich in eine sitzende Position und versuchte er es noch einmal. Aber<br />

seine Beine gehorchten ihm nicht.<br />

„Nein! Bitte! Nein!“, keuchte er verzweifelt.<br />

Er tastete nach seinen Beinen und erschrak bis ins Mark. Er konnte seine Hände an<br />

seinen Beinen nicht fühlen. Jetzt war es mit seiner Beherrschung endgültig vorbei!<br />

„NEIN!“<br />

Sein Schrei hallte in der Dunkelheit höhnisch zu ihm zurück. Vollkommen verzweifelt<br />

ließ er sich auf die Seite sinken und wimmerte:<br />

„Nein ... Das kann nicht sein. Bitte ... NEIN!“<br />

Er merkte nicht mehr, dass er das Bewusstsein erneut verlor.<br />

************<br />

Die Nacht war endlos. Ich döste zwar immer wieder ein, aber es war ein leichter<br />

Schlaf, von Albträumen durchsetzt. Träumen, in denen ich Jim mal von dem Rauchmonster<br />

zerfetzt im Wald fand, mal zerschmettert am Grund einer Schlucht, dann wieder verhungert<br />

und verdurstet in einer eingestürzten Höhle. Lange vor dem Morgengrauen hatte ich es satt<br />

und erhob <strong>mich</strong> leise. Ich schlüpfte aus unserem Zelt und setzte <strong>mich</strong> draußen auf den Boden.<br />

Tränen liefen mir über die Wangen, ohne dass ich es überhaupt merkte. Leise schluchzte ich:<br />

„Ich will ihn zurück haben, bitte, lieber Gott.“<br />

Mir wäre es sogar egal gewesen, wenn er Arm in Arm mit Juliet wieder gekommen<br />

wäre, Hauptsache, ihm war nichts passiert. Ich hatte das Gefühl, es dauerte noch Stunden, bis<br />

es langsam hell wurde und Leben ins Lager kam. Spät in der Nacht waren Menschen auf-<br />

getaucht, die sich auf die anderen Zelte verteilt hatten. Das mussten die Leute sein, die<br />

Richard zum Pier geschickt hatte. Als die ersten Leute aus ihren Zelten auftauchten, sah ich<br />

eine Menge unbekannter Gesichter und wurde von ihnen interessiert und nicht unfreundlich<br />

gemustert. Einer der Ersten, die aus ihrer Behausung kamen, war Richard. Er sah <strong>mich</strong> vor<br />

unserem Zelt hocken und kam zu mir.<br />

„Guten Morgen, Kelly. Ich habe gehört, was passiert ist. Mach dir keine Sorgen, wir<br />

werden ihn nachher suchen gehen. Ihm wird schon nichts passiert sein. Er wird sich nur ver-<br />

laufen haben. Wir werden, sobald es hell genug ist, aufbrechen, und ihn zusammen suchen.“<br />

Dankbar sah ich Richard an.<br />

- 188 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich hoffe, du hast Recht.“, stieß ich in brünstig hervor.<br />

Die Sonne ging schnell auf und schließlich kamen auch Jack, Kate und Sayid aus dem<br />

Zelt. Wir marschierten zusammen zum Versorgungszelt hinüber und halfen dort, Frühstück zu<br />

machen. Woher das Brot stammte, das wir aßen, hinterfragten wir nicht. Irgendwann würden<br />

wir es vielleicht erfahren. Ungeduldig wartete ich darauf, dass es endlich losging. Als alle satt<br />

waren, stand Richard auf und erklärte ruhig:<br />

„Ich weiß, dass ihr erst spät zurückgekehrt seid, aber ich muss euch dennoch bitten,<br />

euch an einer kleinen Suchaktion zu beteiligen. Einer der Neuzugänge ist gestern Nachmittag<br />

in nördlicher Richtung in den Dschungel gegangen und es besteht die Chance, dass er sich<br />

übel verlaufen hat. Ich möchte euch bitten, bei der Suche nach ihm zu helfen. Wir werden uns<br />

in fünf Gruppen aufteilen und das Gebiet nördlich, nordöstlich, nordwestlich und südlich ab-<br />

suchen. Jack, dich möchte ich bitten, hier zu bleiben und dich um Steve zu kümmern. Charly,<br />

du führst eine Gruppe, Tim, du ebenfalls, Kevin, die Dritte, ich selbst werde die vierte Gruppe<br />

führen und Ken, du übernimmst die fünfte Gruppe.“<br />

Kurz wurde ich aus meiner Angst gerissen und sah den vielleicht fünfzehn Jahre alten<br />

Jungen an, den Richard mit Ken ansprach. Ich erkannte in ihm gleich meinen Vater wieder.<br />

Aber sofort wurde dieser Gedanken von der Angst um Jim beiseitegeschoben. Die Gruppe<br />

hatte aufmerksam zugehört. Alles in allem waren es dreiundzwanzig Menschen, die hier ver-<br />

sammelt waren, Ellie und Steve fehlten. Richard sah <strong>mich</strong> an und bat:<br />

„Du kommst mit mir, ebenso Greg, Diane und Henry. Ihr anderen teilt euch bitte<br />

selbstständig in die Gruppen auf. <strong>Der</strong> Mann, den ihr sucht, heißt Jim. Und nun los.“<br />

Ohne Fragen zu stellen bildeten sich die von Richard geforderten Gruppen und dann<br />

machten wir uns auf den Weg. Wir marschierten in südlicher Richtung in den Dschungel und<br />

ich betete, dass wir Jim unverletzt finden würden.<br />

************<br />

Jim wachte langsam wieder auf. Einen Moment war er ziemlich orientierungslos, dann<br />

aber war sein Verstand voll da. Und mit diesem die Erinnerung. Die Erkenntnis, sich nicht<br />

bewegen zu können. Er lag auf der Seite und die Schmerzen in seinem Körper, die von dem<br />

Sturz herrührten hatten etwas nachgelassen. Jim schloss die Augen und wünschte sich ver-<br />

zweifelt, tot zu sein. Er war so unendlich dankbar und glücklich gewesen, als Jack und Kelly<br />

festgestellt hatten, dass der Tumor auf wundersame Weise verschwunden war und jetzt lag er<br />

in dieser Höhle oder was immer es war und war doch gelähmt. Tränen traten ihm in die<br />

Augen und er merkte, wie der Wunsch zu Sterben in ihm übermächtig wurde. Eine Weile gab<br />

er sich ganz seiner Verzweiflung hin, dann rollte er sich langsam wieder auf den Rücken.<br />

<strong>Über</strong> sich, in vielleicht drei Metern Höhe, sah er einen hellen Lichtfleck. Dass musste das<br />

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Frauke Feind<br />

Loch sein, durch das er gestürzt war. Unerreichbar selbst wenn er sich hätte bewegen können.<br />

Das Licht, welches durch das Loch in die Höhle drang, reichte nicht bis auf den Boden. Um<br />

Jim herum herrschte tiefe Dunkelheit. Müde schloss er die Augen. So oder so, sein Wunsch<br />

zu sterben würde sich erfüllen. Hier unten würde ihn niemand finden. Sie wussten ja nicht<br />

einmal, wo sie überhaupt nach ihm suchen sollten. Er würde verdursten. Auch gut. Alles<br />

hinter sich lassen. Sein Tod würde die verdammte Zeitschleife endgültig sprengen. Still lag er<br />

da und gab sich auf.<br />

Und dann zuckte er plötzlich wie elektrisiert zusammen. Eine leise, sanfte, ihm absolut<br />

vertraute Stimme sprach ihn an.<br />

„James. Honey, du darfst nicht aufgeben!“<br />

Er riss die Augen auf, fuhr hoch und erstarrte regelrecht. Er musste bei dem Aufprall<br />

doch härter mit dem Kopf aufgeschlagen sein als vermutet, denn sein Verstand hatte sich ganz<br />

offensichtlich verabschiedet, oder aber er war schon tot. Denn das, was er sah, war ein Trug-<br />

bild, eine Halluzination, eine Täuschung. Vor ihm stand Juliet und lächelte sanft auf ihn<br />

herab. Erschüttert starrte er die blonde Frau an.<br />

„Jules ...“<br />

Juliet sah mit einem Blick, in dem ihre ganze Liebe lag, auf Jim herab.<br />

„Ja, James, ich bin es. Hör mir genau zu. Ich habe nicht viel Zeit. Du bist nicht ge-<br />

lähmt! Du hast dir nur die Wirbelsäule sehr stark geprellt. Verstehst du? Das wird schnell<br />

vorbei gehen, wenn die Schwellung abklingt. Vertrau mir bitte. Du musst es schaffen!“<br />

Jim starrte immer noch fassungslos zu Juliet auf.<br />

„Jules, wie ... Was muss ich schaffen? Bitte, Juliet.“<br />

Sie ging auf seine Worte nicht ein, sondern flüsterte:<br />

„Kelly ... sie liebt dich, enttäusche sie nicht. Mir geht es gut, mache dir keine Sorgen.<br />

Du musst es schaffen ...“<br />

Leiser wurde Juliets Stimme und irgendwie wurde ihr Körper durchsichtig, waberte in<br />

der Luft wie Rauch und dann war sie von einer Sekunde zur Anderen verschwunden. Zurück<br />

blieb Jim, fassungslos, verwirrt, an seinem Verstand zweifelnd und alleine.<br />

************<br />

Gegen Mittag legten wir eine kurze Pause ein. Wir waren kreuz und quer durch den<br />

Dschungel gelaufen, hatten quasi unter jedem Busch und Baum nach Jim gesucht, aber noch<br />

keine Spur von ihm entdeckt. Ich war inzwischen nur noch in Panik. Wir hatten mit den<br />

anderen Gruppen ausgemacht, drei Schüsse abzugeben, sollte Jim entdeckt werden. Doch wir<br />

hörten nichts. Hoffnungslosigkeit und wilde Entschlossenheit, nicht aufzugeben, wechselten<br />

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Frauke Feind<br />

sich bei mir in fröhlicher Reihenfolge ab. Ich war heiser, immer wieder riefen wir nach Jim.<br />

Müde trank ich einen Schluck Wasser, dann fragte ich:<br />

„Wo wollen wir weiter machen?“<br />

Richard sah sich um.<br />

„Ich denke, wir werden ein wenig weiter südlich suchen. Dort ist das Gebüsch nicht<br />

ganz so dicht. Er wird ja nicht auf allen Vieren durch die Gegend gekrabbelt sein.“<br />

Ich nickte ergeben. Wir machten uns wieder auf den Weg. Wir suchten, bis es dunkel<br />

wurde, und hatten noch immer keine Spur von Jim gefunden. Als Richard schließlich ruhig<br />

erklärte, dass wir auf einer kleinen Lichtung die Nacht verbringen würden, hatte ich das Ge-<br />

fühl, er hätte von mir verlangt, Jim zum Tode zu verurteilen. Er musste verletzt sein, sonst<br />

wäre er sicher schon irgendwo aufgetaucht. Und nun musste er schon die zweite Nacht alleine<br />

irgendwo hier draußen verbringen, vielleicht von Schmerzen gequält und ohne Hoffnung,<br />

noch rechtzeitig gefunden zu werden. Ich sank zu Boden, wo ich gerade stand und schlug<br />

weinend die Hände vor das Gesicht. Richard setzte sich zu mir und sagte ruhig:<br />

„Jim wird von der Insel begünstigt, Kelly. Mach dir nicht zu große Sorgen.“<br />

Vollkommen verzweifelt sah ich Richard an.<br />

„Ich hoffe so sehr, dass du dich nicht irrst!“<br />

Die Nacht war noch schlimmer als die vorangegangene. Ich schlief unruhig, fuhr<br />

immer wieder hoch, weil ich mir einbildete, Jim verzweifelt schreien zu hören und gab<br />

schließlich entnervt auf. Leise erhob ich <strong>mich</strong>. Ich setzte <strong>mich</strong> an einen Baum gelehnt ein<br />

Stück abseits der Anderen auf den Boden und wartete ungeduldig darauf, dass es endlich<br />

dämmerte. Die nächtlichen Geräusche um <strong>mich</strong> herum waren gleichermaßen beruhigend wie<br />

auch bedrohlich. Einmal meinte ich in einiger Entfernung so etwas wie ein Knurren zu hören,<br />

dann aber sagte ich mir, dass es Einbildung gewesen sein musste. Als endlich die Dunkelheit<br />

von den ersten Strahlen der Sonne vertrieben wurde, atmete ich erleichtert auf. Und schon<br />

eine Stunde später waren wir wieder unterwegs. Weiter gingen wir im Zickzack durch den<br />

Wald, riefen und sahen quasi hinter jedem Baum nach, ob wir Jim irgendwo sehen konnten.<br />

Ich wurde mit fortschreitendem Tag immer mutloser und verzweifelter. Auch Richard schien<br />

immer öfter darüber nachzudenken, umzukehren. Sollte er dies beschließen, würde ich alleine<br />

weiter suchen, so viel war sicher. Als es erneut Abend wurde, mussten wir abermals Rasten.<br />

„Wie weit sind wir von eurem Lager jetzt entfernt?“, fragte ich unglücklich, als wir zu-<br />

sammen um ein kleines Lagerfeuer saßen.<br />

Richard überlegte nicht lange.<br />

„Wir sind kaum acht Kilometer entfernt. Gelaufen sind wir durch den Zickzackkurs<br />

natürlich erheblich weiter.“ Er sah ins Feuer, dann erklärte er ruhig: „Kelly, dir ist klar, dass<br />

die Chancen, ihn zu finden, immer geringer werden, oder? Wenn er verletzt ist, ist die<br />

Hoffnung, ihn nach drei Tagen noch lebend zu finden, sehr fragwürdig.“<br />

Ich nickte unter Tränen.<br />

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Frauke Feind<br />

„Das ist mir klar. Aber egal, ob ihr mitkommt oder nicht, ich habe schon einmal ge-<br />

schworen, diese ganze beschissene Insel Stein für Stein nach ihm abzusuchen, und das werde<br />

ich auch diesmal tun. Und selbst, wenn ich ihn nur noch tot finde, ist das besser, als nie zu<br />

erfahren, was aus ihm geworden ist.“<br />

Richard sah <strong>mich</strong> erneut an, dann nickte er.<br />

„Das kann ich verstehen.“<br />

Wir legten uns auf den Waldboden und ruhige Atemzüge verrieten mir, dass meine<br />

Begleiter schnell eingeschlafen waren. Ich lag wach, obwohl mir die Augen brannten vor<br />

Müdigkeit. Wenn ich doch einmal weg dämmerte, hatte ich schreckliche Albträume und<br />

irgendwann mitten in der Nacht gab ich abermals auf und erhob <strong>mich</strong>, er-<br />

schöpft, verzweifelt, am Ende. <strong>Der</strong> Mond, der sich am Himmel über uns<br />

zeigte, war fast voll und spendete ein diffuses Licht. Ohne weiter darüber<br />

nachzudenken, setzte ich <strong>mich</strong> in Bewegung. Ich tappte vorsichtig durch den<br />

nächtlichen Dschungel und dann blieb mir vor Schreck fast das Herz stehen.<br />

In den Büschen vor mir stand von einer Sekunde auf die Nächste plötzlich eine schlanke,<br />

hübsche, blonde Frau. Ich wusste sofort, das war Juliet. Sie lächelte <strong>mich</strong> an und drehte sich<br />

wortlos herum. Ich zögerte keine Sekunde und folgte ihr. Vielleicht eine Stunde führte sie<br />

<strong>mich</strong> in nördlicher Richtung durch den Dschungel, dann blieb sie stehen. Ich ging langsam<br />

und vorsichtig näher und sah <strong>mich</strong> suchend um. Vor mir am Boden meinte ich, einen dunklen<br />

Fleck zu sehen. Ganz langsam näherte ich <strong>mich</strong> diesem und erkannte, dass es ein Loch im<br />

Boden war. Mein Herz hämmerte gegen die Rippen, dass es schmerzte. Ich legte <strong>mich</strong> auf den<br />

Bauch und schob <strong>mich</strong> langsam an das dunkle Loch heran. Schließlich konnte ich über den<br />

Rand hinein schauen, sah aber nur tintenschwarze Finsternis. Dass Juliet <strong>mich</strong> hierher geführt<br />

hatte, musste einen Grund haben! Sie liebte Jim, oder hatte ihn geliebt, also ging ich einfach<br />

davon aus, dass sie mir hatte helfen wollen. Ich zögerte kurz, dann rief ich in die Dunkelheit<br />

unter mir hinein: „JIM! Bist du da unten?“<br />

Ich erhielt keine Antwort, versuchte es noch einmal, aber mit dem gleichen Resultat.<br />

Verzweifelt überlegte ich. Ich hatte, als ich Juliet folgte, versucht, eine deutliche Spur zu<br />

hinterlassen, hatte so viele Äste wie möglich umgeknickt und so traute ich mir zu, den Weg<br />

zu meinen Begleitern zurück zu finden. Entschlossen machte ich <strong>mich</strong> auf den Weg, so<br />

schnell es mir möglich war. Als es gerade dämmerte, sah ich vor mir den Lichtschein eines<br />

kleinen Lagerfeuers und rannte die letzten Meter. Dann sah ich Richard, Greg, Henry und<br />

Diane zwischen den Bäumen auftauchen.<br />

„Kelly? Bist du das?“, fragte Richard besorgt.<br />

Atemlos erreichte ich die Vier und keuchte:<br />

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Frauke Feind<br />

„Ja. Ich ... ich habe ein Loch im Boden gefunden, vielleicht eine Stunde von hier. Ich<br />

... konnte nicht hinein sehen, es war zu dunkel. Wir müssen da hin. Ich bin sicher, Jim ist dort<br />

unten.“<br />

Richard nickte entschlossen.<br />

„Gut, findest du den Weg?“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, kein Problem, ich habe den Rückweg sogar im Dunkeln gefunden. Ti ... Mein<br />

Großvater hat mir gründlich beigebracht, <strong>mich</strong> im Wald zu orientieren.“<br />

Ruhig erklärte Richard:<br />

„Gut, dann führe uns dort hin.“<br />

Gemeinsam machten wir uns nun also wieder auf den Weg. Eine gute Stunde später,<br />

die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel, hatten wir das Loch abermals erreicht. Ich<br />

rutschte wieder auf dem Bauch an den Rand heran, Richard legte sich neben <strong>mich</strong>. Zusammen<br />

starrten wir in die Dunkelheit unter uns und versuchten, etwas auszumachen. Erneut rief ich:<br />

„Jim!“, aber eine Antwort bekam ich nicht.<br />

Richard stand vorsichtig auf und befahl:<br />

„Macht eine Fackel fertig.“<br />

Sofort traten Greg und Diane an einen großen Baum und suchten nach einem<br />

passenden Ast, den sie abbrachen. Dann nahmen sie aus einem der mitgenommenen Ruck-<br />

säcke einige alte Lumpen und wickelten diese um den Ast herum. Schließlich entzündete<br />

Greg die Lumpen und reichte diese behelfsmäßige Fackel Richard. Dieser trat wieder an den<br />

Rand des Loches und ließ die Fackel schließlich ohne zu zögern in die Tiefe fallen. Sie schlug<br />

nach vielleicht drei Metern auf dem Boden auf und erhellte den Raum, der unter uns war. Ich<br />

strengte meine Augen an, um etwas erkennen zu können. Und dann schrie ich auf.<br />

„Dort! Das ist Jims T-Shirt!“<br />

************<br />

Jim wusste nicht, wie lange er nach Juliets Besuch wie erstarrt dagesessen hatte.<br />

Irgendwann fing er sich wieder und beschloss, ihr Erscheinen als gegebene Tatsache hinzu-<br />

nehmen. Wie so vieles auf dieser verhexten Insel. Er ließ sich langsam wieder in die<br />

Waagerechte sinken und versuchte, aus Juliets Worten Mut zu schöpfen. Was hatte sie ge-<br />

sagt? Es wäre keine Lähmung, nur eine Prellung, die vorübergehend Lähmungserscheinungen<br />

hervor rief? Er betete zu Gott, dass sie Recht haben würde. Erst einmal lag er hier, unfähig,<br />

sich zu Bewegen, hilflos, alleine und zugegeben völlig verängstigt in der Dunkelheit. Wäre<br />

ein <strong>Angriff</strong> auf ihn erfolgt, egal, welcher Art, er hätte nicht den Hauch einer Chance gehabt.<br />

Minute um Minute lag er so da und lauschte in die Finsternis. Seine Fantasie fing schnell an,<br />

ihm Streiche zu spielen. Mal meinte er, leise, schleichende Schritte zu hören, dann wieder war<br />

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Frauke Feind<br />

es ein Rascheln, schließlich ein Knurren. Schnell und flach atmete er und musste sich be-<br />

herrschen, seine Zähne nicht aufeinander klappern zu lassen vor Angst. Er hatte Hunger und<br />

Durst. Ob sie ihn wohl suchten? Natürlich. Kelly würde nicht aufgeben. Als er an sie dachte,<br />

füllten sich seine Augen mit Tränen und er schob den Gedanken energisch zur Seite.<br />

Stattdessen richtete er sich irgendwann wieder halb auf und fing an, sich langsam und vor-<br />

sichtig rückwärts zu schieben. Seine Beine schleiften nutzlos über den Boden und Jim stöhnte<br />

auf. Nein, er wollte auf das Vertrauen, was Jules ihm gesagt hatte! Er würde sich nicht auf-<br />

geben. Verdammt noch mal, er hatte schon ganz andere Situationen geschafft.<br />

Endlich spürte er hinter sich eine Wand. Erleichtert lehnte er sich dagegen und ver-<br />

suchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Mit zitternden Händen tastete er nach<br />

seinem Rücken und zuckte aufkeuchend zusammen, als er eine große, schmerzende Beule<br />

kurz oberhalb seines Hosenbundes spürte. Dann aber jagten Wogen der Erleichterung durch<br />

ihn hindurch. Juliet musste Recht haben. Das war eine heftige Prellung, die er sich bei dem<br />

Sturz zugezogen hatte!<br />

„Oh, Gott, danke.“, flüsterte er in die Dunkelheit hinein.<br />

Er saß in relativ entspannter Haltung still und bemühte sich, keine deprimierenden<br />

Gedanken zuzulassen. Er würde hier einfach ein wenig sitzen und warten, dass die<br />

Schwellung abklang. Und dann würde er einen Ausweg finden. Oder gefunden werden. Er<br />

warf immer wieder Blicke nach oben, zu dem hellen Fleck an der Höhlendecke. Das war<br />

sprichwörtlich sein Licht in der Finsternis. Als dieses Licht immer trüber wurde, wusste Jim,<br />

dass draußen die Nacht herein brach. Wieder spürte er Angst in sich aufsteigen. Lange<br />

Stunden totaler Dunkelheit warteten auf ihn. Sein Herz raste. Aber er zwang sich, ruhig zu<br />

bleiben. Panik nutzte ihm nichts. Irgendwann wurde er müde und ließ sich seitlich auf den<br />

Boden sinken. So gut es ging rollte er sich zusammen. Dann schloss er die Augen und hoffte,<br />

einschlafen zu können. Und schließlich gelang ihm dies auch.<br />

Als er aufwachte, war der helle Punkt in der Decke wieder da und Jim seufzte er-<br />

leichtert auf. Auch, wenn ihm das hier unten nichts nützte, war es doch wie ein Hoffnungs-<br />

schimmer, der dort über ihm leuchtete. Er setzte sich langsam auf und zuckte heftig zu-<br />

sammen. Unwillkürlich hatte er versucht, die Beine zu bewegen und sie gehorchten ihm<br />

wieder. Mühsam, aber er hatte wieder Gefühl in ihnen. Vor Erleichterung schossen ihm kurz<br />

Tränen in die Augen, die er ärgerlich fort wischte. Dann versuchte er, die Beine anzuziehen<br />

und auch da spielten sie mit. Jetzt setzte auch schlagartig sein in Krisen so gut<br />

funktionierender Verstand wieder ein. Er lag zwei Tage hier, keiner war gekommen, um ihn<br />

zu Retten, sie würden ihn hier nicht finden. Also musste er verdammt noch mal selbst etwas<br />

zu seiner Rettung tun. Entschlossen versuchte er, auf die Füße zu kommen und auch, wenn es<br />

zu ziemlichen Schmerzen im Rücken führte, schaffte er es schließlich. Wackelig und steif<br />

stand er da und wartete ein paar Minuten, dann hörte das Zittern der Beine langsam auf.<br />

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Frauke Feind<br />

„Okay, Ford, du wirst deinen Arsch in Bewegung setzen und sehen, ob es hier nen<br />

anderen Ausgang gibt!“, feuerte er sich selbst an.<br />

Er wollte losmarschieren, als ihm noch etwas einfiel. Er streifte sein Shirt über den<br />

Kopf und breitete es sauber und gut sichtbar unter dem Loch aus. Sollte Kelly doch noch das<br />

Loch finden, würde sie das T-Shirt sehen und wissen, dass er hier unten war. Mit knurrendem<br />

Magen und ausgetrocknetem Mund machte er sich schließlich ganz langsam und vorsichtig<br />

auf den Weg. Er tastete sich einmal an der Wand der Höhle entlang, stellte fest, dass es nur<br />

einen Ausgang gab und setzte sich in Bewegung.<br />

Außerordentlich vorsichtig tastete er vor jedem Schritt den Boden genau ab. Er wollte<br />

sich ja nicht doch noch den Hals brechen. Immer wieder musste er Pausen einlegen, weil<br />

seine Beine ihn noch nicht wieder so tragen wollten, wie er es gerne gehabt hätte. Aber er<br />

kam voran, wenn auch langsam. <strong>Der</strong> Gang, in dem er sich mühsam vorwärts tastete, war<br />

schmal und ging ziemlich steil bergab. Er konnte mit ausgestreckten Armen die gegenüber-<br />

liegende Wand ertasten. Es kostete Jim alle Kraft, die völlige Dunkelheit zu ignorieren, aber<br />

es gelang ihm. Irgendwann musste er eine längere Rast einlegen und streckte sich vorsichtig<br />

auf dem Boden aus, um den Rücken zu entlasten. Es war kalt und unangenehm, mit nacktem<br />

Oberkörper auf dem Boden zu liegen, aber diesen Gedanken schob er zur Seite. <strong>Der</strong> Durst war<br />

inzwischen so groß, dass Jim so ziemlich alles für einen Schluck Wasser getan hätte. Wütend<br />

zwang er sich, an etwas anderes zu denken. Wenigstens ließ der Hunger nach. Ob der Tag<br />

wohl schon um war? Kelly ... Sie würde inzwischen vollkommen am Ende sein. Was hatte er<br />

sich nur gedacht? Was er ihr gerade antat, war unentschuldbar. Sie würde ihn dafür hassen.<br />

Nein, würde sie nicht ... Seine Gedanken verwirrten sich und die Augen fielen ihm zu.<br />

Das Aufwachen fiel Jim schwer. Er brauchte eine ganze Weile, bis er wirklich bei sich<br />

war. Seine Zunge klebte ihm trocken am Gaumen und sein Hals tat weh.<br />

sich selbst an.<br />

„Los, du Schlappschwanz, schwing deinen faulen Arsch in die Höhe!“, schnauzte er<br />

Mühsam rappelte er sich auf und stellte fest, dass seine Beine wieder fast normal<br />

reagierten. Allerdings wurde jeder Schritt schwerer als der vorhergehende. Er baute rapide ab.<br />

Die Pausen wurden häufiger, das Vorankommen langsamer. Und dann zuckte er heftig zu-<br />

sammen. Vor sich sah er plötzlich einen sehr schwachen Lichtschein. Noch einmal raffte er<br />

alle Kraft zusammen und wankte auf dieses Licht zu. Dann stand er in einer kleinen Höhle.<br />

Ohne wirkliches Begreifen starrte er auf das, was er vor sich sah. Eine Felswand, aus der ein<br />

riesiges Rad mit Speichen hervor ragte. Die gemauerte Spalte, in der das Rad steckte,<br />

leuchtete hell und pulsierend. Es war eisig kalt hier und das Rad und die Felswand waren mit<br />

einer dicken Eisschicht überzogen. Schwer atmend und am ganzen Leib zitternd vor Kälte<br />

und Schwäche stand Jim da und sah sich weiter um. Doch es gab nichts mehr zu sehen. Hier<br />

endete der Gang und es führte kein Weg weiter. Er war in einer Sackgasse gelandet!<br />

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Frauke Feind<br />

Verzweifelt sank Jim auf die Knie und starrte minutenlang blicklos vor sich hin. Dann fror er<br />

so sehr, dass ein Selbsterhaltungstrieb ihn noch einmal auf die Beine jagte. Taumelnd<br />

schleppte er sich wieder in den dunklen Gang zurück, soweit, dass die Kälte hinter ihm zurück<br />

blieb. Hier jedoch war er mit seiner Kraft endgültig am Ende angelangt. Langsam sank er auf<br />

die Knie und weiter, bis er bäuchlings auf dem Boden des Ganges lag und schloss erschöpft<br />

die Augen. Er schlief ein...<br />

Aufgeregt packte ich Richard am Arm.<br />

„Wir müssen da runter! Schnell!“<br />

Richard nickte. Er sagte zu Greg:<br />

************<br />

18) Das Rad<br />

„Wir brauchen die Taue, dann werden Kelly und ich hinunter steigen. Ihr wartet hier.“<br />

Aus den Rucksäcken wurden die mitgebrachten Seile genommen und zusammen geknotet.<br />

Schließlich waren sie lang genug, uns auf den Boden der Höhle zu bringen. Schnell machte<br />

Diane noch drei weitere Fackeln, die wir in das Loch warfen. Wir nahmen nur einen Ruck-<br />

sack mit, in dem wir Wasser, Essen und Verbandmaterial mit uns trugen. Richard stieg zuerst<br />

an dem Seil nach unten, das wir um einen Baum geschlungen hatten. Dann folgte ich, ziem-<br />

lich unelegant, aber wild entschlossen. Unten sammelte Richard die brennende Fackel auf und<br />

sah sich um. Es gab nur einen Weg aus der Höhle und diesem folgten wir so schnell es sicher<br />

möglich war. <strong>Der</strong> Gang, der stetig bergab führte, war eben und gut begehbar und wir kamen<br />

schnell voran. Stunde um Stunde eilten wir weiter, immer mehr breitete sich die Angst, was<br />

wir vorfinden würden, in mir aus. Wenn wir Jim nur noch tot vorfinden würden, ich wusste<br />

nicht, was ich tun würde. Wir unterhielten uns kaum, während wir immer tiefer in den Berg<br />

vordrangen. Schließlich mussten wir anhalten, wir waren beide am Ende unserer Kräfte.<br />

Müde legten wir uns auf den Boden und selbst ich schlief ein, tief und fest.<br />

Als ich aufwachte, war Richard bereits auf den Beinen. Er hatte eine zweite Fackel<br />

angezündet und fragte:<br />

„Bist du bereit?“<br />

Ich rappelte <strong>mich</strong> auf die Beine und nickte.<br />

„Auf jedem Fall, wir müssen uns beeilen. Er ist schon über vier Tage ohne Nahrung<br />

und Wasser ...“<br />

Wir hasteten voran und hatten bald das Gefühl, schon eine Ewigkeit durch diese<br />

Dunkelheit zu laufen. Und dann, es musste schon wieder auf den Abend zugehen, so er-<br />

schöpft, wie wir waren, zuckte ich zusammen. Ich hatte nur wenige Schritte vor uns im<br />

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Frauke Feind<br />

tanzenden Licht der Fackel etwas entdeckt. Mein Herz raste von einer Sekunde zur Anderen<br />

schmerzhaft gegen meine Rippen und in meiner Kehle schien sich ein Eisklumpen zu bilden.<br />

Mit heftig zitternden Knien wankte ich auf das zu, was ich dort am Boden gesehen hatte und<br />

dann traf es <strong>mich</strong> wie ein Vorschlaghammer. Dort vor uns am Boden lag Jim, auf dem Bauch,<br />

regungslos, wie tot. Ich wimmerte vor Angst auf und stand wie erstarrt da. Richard reagierte<br />

besser. Er machte drei schnelle Schritte, kniete neben Jims reglosen Körper nieder und legte<br />

diesem die Hand an die Halsschlagader. Er konzentrierte sich und ich wagte nicht zu Atmen.<br />

Endlich, ganz leise, dann lauter, stieß Richard hervor:<br />

„Er lebt ... Kelly, er lebt noch! Schnell, das Wasser.“<br />

Jetzt erwachte ich aus meiner Starre und warf <strong>mich</strong> ebenfalls neben Jim auf die Knie.<br />

Ich rollte ihn herum, sodass er halb auf meinem Schoss lag und während mir ununterbrochen<br />

Tränen über die Wangen stürzten, setzte ich ihm eine Wasserflasche an die trocknen, auf-<br />

gesprungenen Lippen. Sein Schluckreflex funktionierte und ich ließ ihn vier, fünf Schlucke<br />

trinken, dann nahm ich die Flasche weg. Weinend beugte ich <strong>mich</strong> über Jim und flüsterte:<br />

„Du bist in Sicherheit, Baby, ich bin bei dir, ich lasse nicht zu, dass du stirbst. Das<br />

habe ich schon einmal nicht zugelassen und werde es auch diesmal verhindern!“<br />

lebendig.“<br />

Richard ließ mir ein paar Minuten, doch schließlich sagte er sanft:<br />

„Wir sollten ihn so schnell wie möglich hier raus schaffen, Kelly. Er ist mehr tot als<br />

Ich nickte.<br />

„Wie wollen wir es machen?“<br />

Richard lächelte sanft.<br />

„Ich werde ihn tragen.“<br />

Entschlossen ließ ich Jim von mir gleiten und half Richard, sich den schlaffen Körper<br />

über die Schultern zu hieven. Ohne Zögern machten wir uns auf den Rückweg. Schon um Jim<br />

immer wieder Wasser einzuflößen, legten wir in regelmäßigen Abständen Pausen ein, die<br />

Richard auch mehr als nötig hatte. Immerhin kämpfte er mit guten achtzig Kilo auf seinen<br />

Schultern und es ging die ganze Zeit stetig, wenn auch nur leicht bergan. Als wir schließlich<br />

keinen Schritt weiter konnten, legte Richard Jim sanft ab und ich flößte ihm wieder Wasser<br />

ein, das er mechanisch schluckte. Ich lehnte <strong>mich</strong> an die Felswand und zog Jim auf meinen<br />

Schoss. Richard reichte mir ein Stück getrocknetes Fleisch aus unserem Rucksack und ich<br />

kaute darauf herum. Dabei streichelte ich immer wieder Jims Gesicht, das im Licht der dritten<br />

Fackel blass wirkte. Irgendwann fielen mir die Augen zu und als ich wieder aufwachte, hatte<br />

ich Angst, nach Jim zu gucken. Aber er atmete und mir schossen vor Erleichterung Tränen in<br />

die Augen. Richard wachte ebenfalls gerade auf und wir aßen abermals von dem getrockneten<br />

Fleisch. Dann seufzte Alpert und sagte:<br />

habe.“<br />

„Gut, lass uns den Rest des Weges in <strong>Angriff</strong> nehmen, bevor ich keine Kraft mehr<br />

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Frauke Feind<br />

Er schulterte Jim erneut und die Quälerei des Vortages ging weiter. Als wir schon das<br />

Gefühl hatten, die Höhle mit dem Loch nie wieder zu erreichen, wich der Gang vor uns einer<br />

großen Dunkelheit und wir wussten, wir hatten die Höhle wieder erreicht.<br />

„Hey! Greg, Henry, Diane! Wir sind wieder da. Wir haben ihn gefunden.“, rief ich laut<br />

und Sekunden später streckte oben Greg seinen Kopf durch das Loch.<br />

„Richard, Kelly, Gott sei Dank! Ihr habt ihn?“<br />

Richard hatte Jim ächzend zu Boden sinken lassen und keuchte:<br />

„Ja, wir haben ihn ... Es geht ihm sehr schlecht, wir müssen ihn schnellstens ins Lager<br />

schaffen. Ich komme hoch und dann müssen wir ihn daraus ziehen.“<br />

Er wartete ein paar Minuten, dann half er mir, Jim den Strick unter den Achseln um<br />

den Oberkörper zu legen und erst jetzt turnte er geschickt an dem Seil nach oben. Wenige<br />

Minuten später wurde Jim langsam und vorsichtig nach oben gezogen. Kaum war er außer<br />

Sicht, kam schon das Seil wieder herunter und nun wurde auch ich aus der Höhle gezogen.<br />

Sofort war ich wieder bei Jim, der regungslos neben dem Lagerfeuer auf dem Boden lag.<br />

Richard hatte seine Waffe in der Hand und feuerte drei Schüsse in den dunklen Nachthimmel,<br />

die sicher meilenweit zu hören waren. Dann erklärte er:<br />

Greg nickte.<br />

„Wir müssen ihn ins Lager schaffen. Am besten, wir bauen so was wie eine Trage.“<br />

„Ich werde zwei große Äste besorgen.“<br />

Er verschwand zusammen mit Henry im Wald und Diane forderte <strong>mich</strong> auf:<br />

„Komm mit, wir suchen dünne Lianen, aus denen wir eine Art Netz flechten können.“<br />

Ich folgte der Frau und im Dunkeln zeigte sie mir, welche Lianen geeignet waren. Als wir<br />

genug gesammelt hatten, kehrten wir an das Lagerfeuer zurück. Richard war gerade dabei,<br />

Jim wieder Wasser einzuflößen. Greg und Henry hockten am Boden und verbanden zwei<br />

stabile Zweige mit den Stricken, die wir dabei hatten.<br />

Ich eilte erst kurz zu Jim und half dann Diane, aus den Lianen etwas wie ein Netz zu<br />

flechten. Sie zeigte mir genau, wie ich es machen musste. Als es langsam dämmrig wurde,<br />

hatten wir es geschafft. Zwischen den beiden Ästen spannte sich ein stabiles Netz aus Lianen,<br />

unterstützt zusätzlich von den Seilen. Vorsichtig hoben wir Jim auf diese provisorische Bahre,<br />

Richard löschte das Feuer und wir hoben Jim zu viert an. Diane nahm die Rücksäcke und zu-<br />

sammen mit Greg packte ich am Fußteil an, die beiden anderen Männer am schwereren Kopf-<br />

teil. Durch den Wald schleppten wir Jim langsam dem Lager zu. Da wir einen direkteren Weg<br />

nehmen konnten, hatten wir es am frühen Nachmittag bereits geschafft. Nur Jack kam uns<br />

zusammen mit Ellie entgegen, die Anderen waren noch nicht wieder eingetroffen.<br />

„Was ist mit ihm? Wo habt ihr ihn gefunden?“, fragte Jack angespannt.<br />

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Frauke Feind<br />

„Er ist dehydriert und scheinbar vor Erschöpfung, Durst und Hunger zusammen ge-<br />

brochen. Ob er verletzt ist, weiß ich nicht, jedenfalls keine offensichtlichen Verletzungen.“,<br />

erklärte ich hektisch.<br />

Wir trugen Jim zu unserem Zelt hinüber und Minuten später lag er nur noch in Boxer-<br />

shorts auf unserem Bett. Zusammen mit Jack untersuchte ich ihn gründlich nach offenen oder<br />

verborgenen Verletzungen und ich war es auch, die den großen Bluterguss an Jims Wirbel-<br />

säule entdeckte.<br />

unverletzt.<br />

„<strong>Der</strong> wird von dem Sturz herrühren.“, sagte ich erschüttert.<br />

„Sturz? Welchem Sturz, verdammt? Wo habt ihr ihn gefunden?“<br />

Kurz erklärte ich:<br />

„In einer Höhle. Er ist in ein Loch im Waldboden gestürzt.“<br />

Wir untersuchten Jim weiter, aber abgesehen von dem Bluterguss war er scheinbar<br />

„Wir müssen schnellstens den Flüssigkeitsverlust ausgleichen und er muss essen.“,<br />

sagte ich nervös.<br />

„Hat er denn geschluckt?“, fragte Jack und sah Jim besorgt an.<br />

„Ja, hat er.“, nickte ich und setzte <strong>mich</strong> auf die Bettkante. „Vielleicht können wir eine<br />

kräftige Brühe mit Fleisch bekommen.“<br />

Jack nickte.<br />

„Das ist eine gute Idee. Vielleicht kann Ellie da helfen.“<br />

Er verschwand aus dem Zelt und ich war mit Jim alleine. Sanft streichelte ich ihm über<br />

die stoppelbärtige Wange.<br />

„Du schaffst das, ich habe dir versprochen, dass ich nicht zulasse, dass dir etwas<br />

passiert. Aber du musst mithelfen, Jim, alleine ... Du musst helfen, verstehst du? Und wenn du<br />

Juliet lebend wieder findest und sie so sehr liebst, dann musst du bei ihr bleiben, das ist ganz<br />

klar. Sie hat ja ältere Rechte. Ich liebe dich viel zu sehr, als dass ich deinem Glück im Wege<br />

stehen würde.“<br />

Mir liefen Tränen über das Gesicht und ich beugte <strong>mich</strong> herunter und gab Jim einen<br />

zarten Kuss auf die spröden, aufgesprungenen Lippen. Dann hob ich sanft seinen Kopf und<br />

sorgte dafür, dass er wieder ein paar Schlucke Wasser zu sich nahm. Ich deckte ihn zu und<br />

setzte <strong>mich</strong> wieder auf das Bett.<br />

„Lass <strong>mich</strong> hier nicht solange alleine, hörst du? Ich brauche dich, brauche deine freche<br />

Klappe, um dass alles hier zu überstehen.“<br />

Hand hielt.<br />

Hinter mir hörte ich, wie jemand das Zelt betrat. Es war Ellie, die eine Schüssel in der<br />

„Ich habe mir so was schon gedacht, darum habe ich eine kräftige Suppe vorbereitet.<br />

Es wäre gut, wenn er sie Essen würde.“, sagte die blonde Frau besorgt.<br />

- 199 -


widerte ich.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Danke, vielen Dank. Ich werde sie schon irgendwie in ihn hinein bekommen.“, er-<br />

Ellie nickte, drehte sich schweigend herum und verließ leise das Zelt. Ich holte von<br />

einem der anderen Betten ein zusätzliches Kissen und stopfte es Jim unter den Kopf. Dann<br />

füllte ich ein wenig der Suppe in einen Becher um und hielt diesen an Jims Lippen. Ganz<br />

langsam ließ ich die kräftige Nahrung in seinen Mund laufen und wieder machte er auto-<br />

matisch Schluckbewegungen. So gelang es mir, nach und nach die ganze Schüssel voll in ihn<br />

hinein zu bekommen. Unendlich erleichtert atmete ich auf. Das war mehr als wichtig ge-<br />

wesen. Ich zog das zweite Kissen unter seinem Kopf hervor und legte es wieder auf das<br />

andere Bett. Noch einmal gab ich ihm Wasser und dann legte ich <strong>mich</strong> neben ihn. Ich stützte<br />

<strong>mich</strong> auf meinen rechten Arm und sah Jim an. Ganz sanft und zärtlich strichen meine Finger<br />

über sein Gesicht. Eng kuschelte ich <strong>mich</strong> an ihn, sicher, sofort zu spüren, wenn etwas sein<br />

sollte. Meine Augen fielen mir erschöpft zu und ich schlief tief und fest ein.<br />

Als ich vielleicht zwei Stunden später wieder aufwachte, waren wir immer noch<br />

alleine im Zelt. Die anderen Betten waren verschwunden, scheinbar gönnte man es uns,<br />

alleine zu sein. Ich erhob <strong>mich</strong> und gab als erstes Jim wieder Wasser. Dann tastete ich nach<br />

seinem Puls, der bereits wieder deutlich kräftiger schlug. Ich schob ihm sanft das linke<br />

Augenlid hoch und überprüfte so die Reaktion seine Pupille. Sie verengte sich normal und ich<br />

atmete erleichtert auf. Er war eindeutig auf dem Wege der Besserung. Ich setzte <strong>mich</strong> wieder<br />

zu ihm auf das Bett und nahm seine Linke in meine Hände. Leise sagte ich:<br />

„Hey, du. Ich bin es, Kelly. Es wäre nicht schlecht, wenn du langsam mal aufwachen<br />

könntest. Ich warte auf dich. Lass <strong>mich</strong> nicht zu lange warten, bitte.“<br />

So saß ich Stunde um Stunde bei ihm. Irgendwann kam Diane zu uns und brachte eine<br />

neue Schüssel mit Suppe für Jim, die ich ihm wieder vorsichtig und langsam, Schluck für<br />

Schluck zu Trinken gab. Draußen wurde es dunkel und ich entzündete die Gaslampe, die auf<br />

dem Tisch stand. Sie spendete genug Helligkeit, um Jims Gesicht aus der Dunkelheit im Zelt<br />

zu reißen. Irgendwann konnte ich die Augen vor Müdigkeit nicht mehr offen halten und legte<br />

<strong>mich</strong> erneut zu Jim auf das Bett. Ich legte den Arm über seinen Körper und schlief Minuten<br />

später bereits ein.<br />

Wach wurde ich davon, dass es warm und hell im Zelt war. Die Sonne war draußen<br />

aufgegangen und ich vernahm auch Stimmen, die zu uns herein schallten. Viele Stimmen.<br />

Scheinbar waren die anderen Suchtrupps auch inzwischen zurückgekehrt. Mein erster Blick<br />

galt Jim, der noch immer schlief. Aber er sah nicht mehr so schlecht aus und hatte wieder<br />

Farbe im Gesicht. Ich erhob <strong>mich</strong> vorsichtig und streckte <strong>mich</strong>. Nachdem ich ein paar<br />

Stunden wirklich tief geschlafen hatte, fühlte ich <strong>mich</strong> selbst erheblich besser. Auf dem Tisch<br />

stand eine inzwischen kalt gewordene Tasse Kaffee. Ohne zu Zögern trank ich sie aus. Dann<br />

schöpfte ich aus der Waschschüssel in der Ecke Wasser in mein Gesicht. Schließlich setzte<br />

- 200 -


By<br />

Frauke Feind<br />

ich <strong>mich</strong> wieder zu Jim auf das Bett. Ich wollte ihn nicht eine Sekunde alleine lassen. Die Zeit<br />

tickte langsam dahin und dann plötzlich sah ich seine Lider zucken. Ich hielt die ganze Zeit<br />

seine Hand und merkte, dass auch sie leicht zuckte. Ich strich ihm mit der anderen Hand sanft<br />

über die Haare und wartete. Und endlich schlug er langsam und schwerfällig die Augen auf.<br />

Einen kurzen Moment irrten sie orientierungslos herum, dann richteten sie sich auf <strong>mich</strong> und<br />

er schluckte schwer. Er sagte leise:<br />

„Kelly ...“<br />

Ich streichelte ihm sanft über die Wange und erwiderte liebevoll:<br />

„Ja, ich bin bei dir.“<br />

Er schluckte erneut und stieß verzweifelt hervor:<br />

„Es tut mir so leid ...“ Er sah <strong>mich</strong> an und in seinen Augen erkannte ich nackte Angst.<br />

„Du ... musst <strong>mich</strong> doch hassen ...“<br />

Ich schüttelte erschüttert den Kopf.<br />

„Blödsinn! Ich werde dich niemals hassen, Jim. Du hast ...“<br />

„Ich bin wegen ner Anderen heulend aus dem Lager gerannt und hab dich sitzen lassen<br />

...“, stieß er heftig hervor.<br />

nichts.“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Na und? Du warst erschüttert, das ist doch kein Grund, dich zu hassen.“<br />

Er schloss die Augen und seufzte unglücklich.<br />

„Du musstest meinetwegen ... so viel Angst haben ...“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, die hatte ich, Baby, ich bin fast verrückt geworden. Aber dafür kannst du doch<br />

Er sah <strong>mich</strong> an und erwiderte heftig:<br />

„Natürlich! Ich hab <strong>mich</strong> benommen wie der letzte Idiot. Abzuhauen in den Dschungel<br />

... Wenn ich nicht so verblödet gewesen wär, wär das nicht passiert.“<br />

Er drehte den Kopf zur Seite. Ruhig antwortete ich:<br />

„Wir alle machen mal etwas vollkommen blödes, da bildest du keine rühmliche Aus-<br />

nahme, okay? Du hast einen Fehler gemacht. Na und? Was wäre ich für eine Partnerin, wenn<br />

ich dich dafür gleich hassen würde. Jim, ich weiß nicht, ob du überhaupt kapierst, wie sehr ich<br />

dich liebe!“<br />

Er sah wieder zu mir und knurrte:<br />

„Das ist n Fehler! Jag <strong>mich</strong> zum Teufel, solange du es noch kannst.“<br />

Ich spürte langsam auch Ärger in mir aufsteigen.<br />

„Hör mir mal zu, okay! Ich mag es nicht, wenn du dich selbst so dermaßen schlecht<br />

machst. Das bist du nämlich nicht. Begreife das endlich. Jeder macht Fehler! Ich hätte dich<br />

aufhalten oder dir sofort nachgehen müssen, so angeschlagen, wie du gewesen bist. Ich hätte<br />

dich niemals einfach so weggehen lassen dürfen. Aber ich fand es ja wichtiger, mein an-<br />

- 201 -


By<br />

Frauke Feind<br />

geschlagenes Ego zu Pflegen. Ich habe also auch einen riesigen Fehler gemacht. Dass dir das<br />

passiert ist, ist genauso auch meine Schuld. Ich hätte es verhindern können!“<br />

„Red keinen Quatsch.“, stieß Jim heftig hervor. „Du hast nun wirklich keine Schuld.“<br />

„Oh doch. Ich habe gesehen, wie erschüttert du warst. Ich hätte dich niemals alleine in<br />

den Dschungel laufen lassen dürfen.“<br />

Er konnte es offensichtlich nicht fassen, dass ich mir wirklich Vorwürfe dafür machten<br />

und fragte leise:<br />

„Du meinst das ernst, oder?“<br />

Unter Tränen nickte ich.<br />

„Natürlich meine ich das ernst. Ich war egoistisch und habe <strong>mich</strong> lieber selbst be-<br />

mitleidet, statt dir zu helfen.“<br />

Erschüttert tastete er nach meiner linken Hand.<br />

„Hey, rede doch keinen Stuss. Das ist doch nicht deine Schuld.“<br />

Er setzte sich vorsichtig auf und schwang die Beine vom Bett. Dann zog er <strong>mich</strong> an<br />

sich. Und ich klammerte <strong>mich</strong> aufschluchzend an ihn und schwor mir, diesmal ernst zu<br />

machen und ihn nie wieder los zu lassen. Lange saßen wir so zusammen, eng umschlungen,<br />

und versuchten beide, uns wieder zu fangen. Schließlich sagte Jim leise:<br />

„Du bist mir nicht böse?“<br />

Ich schüttelte heftig den Kopf.<br />

„Natürlich nicht!“<br />

Er sah <strong>mich</strong> einen Moment lang an, zog <strong>mich</strong> fester an sich und gab mir einen Kuss.<br />

Und dann noch einen und noch einen ... Schließlich erklärte er:<br />

„Kelly, ich liebe dich. Als ich da unten alleine hockte, warst du das Einzige, was <strong>mich</strong><br />

angetrieben hat, nicht aufzugeben.“<br />

Kurz zögerte er, dann biss er sich auf die Lippe und sagte ruhig:<br />

„Ich hab Juliet gesehen. Sie stand plötzlich vor mir und hat ... Sie sagte mir, dass ich<br />

nicht gelähmt wäre, sondern ...“<br />

Ich erschrak zutiefst.<br />

„Gelähmt?“: keuchte ich entsetzt.<br />

Er nickte.<br />

„Ja, als ich nach dem Sturz unten zu mir kam, konnte ich meine Beine nicht mehr be-<br />

wegen. Ich dachte, ich dreh durch, Kelly. Ich hab noch nie solche Angst gehabt! Ich ... Ich<br />

wollte tot sein, verstehst du? Und dann war plötzlich Jules da und sagte, es wäre keine<br />

Lähmung, ich hätte nur ne Prellung, die diese Lähmungserscheinungen hervorruft. Sie hat ...<br />

Sie sagte, ihr ginge es gut und ich solle mir keine Sorgen um sie machen.“<br />

Ich starrte Jim fassungslos an.<br />

- 202 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich habe sie auch gesehen. In der Nacht, im Dschungel. Sie hat <strong>mich</strong> zu dem Loch<br />

geführt! Was geht hier nur vor?“<br />

Jetzt starrte Jim <strong>mich</strong> an, als hätte ich ihm erklärt, der Mann im Mond wäre zum<br />

Kaffee vorbei gekommen.<br />

„Du auch? Ich begreif das alles nicht. Sie muss doch tot sein. Sie ist in den Schacht<br />

gestürzt, was weiß ich, bestimmt zwanzig Meter tief. Wie kann sie da ...“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Ich weiß es auch nicht. Sie war es jedenfalls. Wir sollten nicht hinterfragen, wie das<br />

möglich ist, sondern uns freuen, dass es passiert ist.“<br />

Langsam nickte er.<br />

„Dann hast du <strong>mich</strong> also nur deswegen gefunden? Weil Jules dir geholfen hat?“<br />

Ich nickte.<br />

„Aber ich hätte auch sonst weiter gesucht, allerdings wäre es dann zu spät gewesen.“<br />

Ich angelte nach der Wasserflasche auf dem Tisch und reichte sie Jim.<br />

überhaupt?“<br />

„Hier, du musst viel Trinken, du warst vollkommen dehydriert. Wie fühlst du dich<br />

Er nahm einige große Schlucke und sagte dann:<br />

„Gut soweit. Bisschen matschig, aber das gibt sich, wenn ich was im Magen hab.<br />

Für‟n gutes Frühstück würd ich einiges geben.“<br />

Ich stand auf und fragte:<br />

„Kannst du aufstehen?“<br />

Er nickte.<br />

„Und ob.“<br />

Langsam stemmte er sich auf die Füße und sah sich suchend um.<br />

„Meine Klamotten?“<br />

Ich reichte sie ihm.<br />

„Hier. Zieh dich an, dann werden wir dir etwas zu Essen besorgen.“<br />

Jim schlüpfte in Jeans und ein neues Hemd, dass jemand für ihn bereit gelegt hatte,<br />

dann zog er seine Stiefel an. Noch einmal zog er <strong>mich</strong> an sich und sagte leise:<br />

„Wenn ich son Blödsinn noch mal versuch, erschieß <strong>mich</strong>, okay?“<br />

Ich schlang meine Arme um seinen Hals und erwiderte ebenso leise:<br />

„Ich glaube nicht. Aber ich werde dich nie wieder allein in den Dschungel lassen,<br />

Finde dich damit ab, dass du von jetzt an einen Bluthund der übelsten Sorte an den Hacken<br />

hast.“ Erstmals, seit er aufgewacht war, huschte ein Lächeln über sein Gesicht.<br />

„Ist das n Versprechen?“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Nein. Ein Schwur!“<br />

„Noch besser. Kelly, es tut mir wirklich alles unglaublich leid, verstehst du?“<br />

- 203 -


Ich nickte und erwiderte ernst:<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Ja, das weiß ich, so wie mir. Aber lass uns das vergessen, okay? Wir haben beide<br />

Fehler gemacht, wir sind nur Menschen. Und Menschen machen Fehler. Aber ich möchte dich<br />

um eines bitten: Versprich mir, dass du dich nie wieder so ... so schlecht machst. Ich kann das<br />

nicht ertragen. Du bist für <strong>mich</strong> das Beste, was mir je passiert ist und wenn du dich dermaßen<br />

selbst zerfleischt und nieder machst, zerreißt es mir das Herz. Du bist mehr wert als die<br />

meisten anderen Menschen die ich kenne zusammen. Du hast es wirklich nicht nötig, dich so<br />

zu verachten.“<br />

Zelt.<br />

Er hatte mir bestürzt zugehört und nickte langsam.<br />

„Ich werd‟s versuchen, okay? Das versprech ich dir.“<br />

Wir küssten uns noch einmal leidenschaftlich, dann verließen wir Arm in Arm das<br />

Draußen wurden wir interessiert gemustert und zum Teil mit einem freundlichen<br />

Nicken begrüßt. Kate, Sayid und Jack entdeckten wir vor dem Krankenzelt und sie winkten<br />

uns zu sich. Vor ihnen stand ein Campingtisch, auf dem Kannen mit Kaffee, Tassen und<br />

etwas zu Essen standen. Als wir zu ihnen traten, stand Kate auf und umarmte Jim erfreut.<br />

Dann grinste sie.<br />

„Und du wunderst dich ernsthaft, dass Kelly das Gefühl hat, du müsstest ständig einen<br />

Arzt im Gepäck haben?“<br />

Jack grinste und begrüßte Jim mit den Worten:<br />

„Na, wie fühlst du dich?“<br />

Sayid nickte nur und meinte:<br />

„Gut, dich wieder auf den Beinen zu sehen, Sawyer.“<br />

Ein wenig verlegen ließ Jim sich in einen freien Stuhl fallen und erklärte todernst:<br />

„Mir geht‟s gut, ihr braucht euch um <strong>mich</strong> keinen Kopf machen …“<br />

Dann wurde ihm die Absurdität seiner Worte selbst bewusst und er fing an zu Lachen.<br />

„Na klar, um dich doch nicht.“, stimmte Jack lang gezogen zu.<br />

Ich fing ebenfalls an zu Kichern und schließlich lachten wir alle.<br />

„Wo du auch so gar nicht zu Unfällen neigst …“, stieß Kate atemlos hervor.<br />

„Genau. Du bist doch derjenige von uns, der die wenigstens Probleme hat.“, meinte<br />

Sayid todernst.<br />

Und ich setzte noch einen drauf, in dem ich sagte:<br />

„Eben. Jeder andere hier war schon öfter verletzt als du.“<br />

Jim grinste.<br />

„Sag ich doch. Um <strong>mich</strong> braucht man sich nun wirklich keine Sorgen zu machen.“<br />

Er biss in ein Stück kaltes Fleisch und trank einen Schluck Kaffee dazu. Wir ließen<br />

ihm die Zeit, in aller Ruhe etwas zu sich zu nehmen, dann aber fragte Jack:<br />

- 204 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Was ist nun wirklich passiert? Richard meinte nur, sie hätten dich in einer Höhle ge-<br />

funden.“ Jim seufzte. „Naja, da war son beschissenes Loch im Boden und in das bin ich natür-<br />

lich zielstrebig reingefallen. Bin wohl ne Weile weg gewesen und als ich wieder zu mir kam<br />

…“<br />

Er musste tief einatmen, dann erst konnte er weiter Sprechen.<br />

„… konnte ich meine Beine nicht bewegen.“<br />

„Oh, Gott! Wie das?“, fragte Kate erschrocken.<br />

„Hatte mir heftig die Wirbelsäule geprellt und nen dicken Bluterguss, der wohl auf die<br />

Nerven gedrückt hat.“<br />

Er sah Jack an.<br />

„Du bist hier der Knochenspezialist.“<br />

Jack nickte.<br />

„Ja, das kann nach Stürzen passieren, ist meistens nicht von langer Dauer.“<br />

Jim nickte.<br />

„Naja, mir hat‟s gereicht. Ich lag da zwei Tage gelähmt rum, weißt du. Lustig war das<br />

nicht. Absolut dunkel, bewegungsunfähig, hab <strong>mich</strong> wie auf nem Opfertisch gefesselt gefühlt.<br />

Dann merkte ich, dass das Gefühl in den Beinen zurückkehrte. Irgendwann hab ich <strong>mich</strong> auf<br />

die Socken gemacht, um nen anderen Ausgang zu finden.“<br />

Er stockte. Dann sagte er leise und langsam:<br />

„Ich hab da unten was entdeckt. Wir sollten mit Richard darüber reden.“<br />

„Was denn?“, wollte Sayid wissen.<br />

„Kann ich nicht genau sagen. Sah aus wie ein in der Felswand steckendes Rad, groß,<br />

mit Speichen. In ner Höhle am Ende eines Ganges. Das war schon seltsam, aber dass es in der<br />

Höhle eiskalt war, war noch merkwürdiger. So kalt, dass das Rad und die Wände mit ner<br />

dicken Eisschicht überzogen waren.“<br />

Wir starrten Jim an und schüttelten ungläubig den Kopf.<br />

„Das hast du dir nicht nur eingebildet?“, fragte Sayid vorsichtig.<br />

Jim schüttelte entschieden den Kopf.<br />

„Nein, glaub mir, hab ich nicht. Zusammengebrochen bin ich erst danach. Möchte<br />

wissen, was das ist.“<br />

Jack sah Jim an und meinte:<br />

„Wenn das stimmt, sollten wir wirklich mit Richard darüber sprechen. Vielleicht weiß<br />

er etwa darüber.“<br />

„Dann sollten wir das gleich machen.“, erklärte Sayid entschlossen und stand auf.<br />

Wir erhoben uns auch und machten uns gemeinsam auf die Suche nach dem Anführer.<br />

Schließlich entdeckten wir ihn unter seinem Baum.<br />

Wir traten zu ihm und Jim sagte:<br />

- 205 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Morgen. Wollte <strong>mich</strong> für die Rettung bedanken und … Hast du nen Moment Zeit?“<br />

Richard erwiderte den Gruß und nickte.<br />

„Natürlich, setzt euch, was kann ich für euch tun?“<br />

Wir ließen uns auf Stühle sinken und nun sagte Jim:<br />

„Als ich da unten rumgeirrt bin, hab ich was Seltsames entdeckt. Bin dem Gang, der<br />

von der Höhle weg führte, bis zum Ende gefolgt. Er endet in ner anderen, kleinen Höhle. Und<br />

dort hab ich ne … Maschine, oder wenigstens nen Teil davon gefunden. Maschine ist<br />

vielleicht auch nicht der richtige Ausdruck, es war n Rad, das aus ner gemauerten Spalte in<br />

der Felswand ragt. Die Höhle ist fast komplett mit Eis überzogen, war mörderisch kalt da<br />

unten. Kannst du da was mit anfangen?“<br />

Richard hatte aufmerksam zugehört. Jetzt spiegelte sich auf seinem Gesicht die gleiche<br />

Frage wie vorhin bei Sayid. Hatte Jim sich das alles vielleicht nur eingebildet? Geschwächt,<br />

dehydriert, verängstigt, verzweifelt … Da konnte einem die Fantasie schon mal Streiche<br />

spielen. Jim spürte die Zweifel und schüttelte den Kopf.<br />

„Vergiss es, ich hab mir das nicht eingebildet.“<br />

Richard nickte ruhig.<br />

„Dann werden wir uns das gemeinsam anschauen. Fühlst du dich …“<br />

Jim unterbrach ihn.<br />

„Auf jedem Fall, mir geht‟s gut.“<br />

„In Ordnung. Dann werde ich eine Gruppe zusammenstellen. Wie weit bist du von der<br />

Höhle aus wieder zurückgegangen?“<br />

Jim zuckte die Schultern.<br />

„Keine Ahnung, ehrlich, ich bin da nur wieder raus, weil ich sonst erfroren wäre. Wie<br />

weit ich es nach der Schlappe noch geschafft hab, weiß ich nicht.“<br />

Richard überlegte.<br />

„Gut, wir werden uns auf vier Tage einrichten, dass sollten wir schaffen.“<br />

Er stand auf und erklärte:<br />

„Wir brechen in einer Stunde auf, haltet euch bereit.“<br />

Wir erhoben uns ebenfalls und schlenderten zusammen zu unserem Zelt hinüber. Viel<br />

einpacken konnten wir ja nicht, da wir nichts besaßen. Aber schon kurze Zeit später kam<br />

Diane zu uns und hatte Wasserflaschen, trockenes Fleisch, ebenfalls getrocknetes Obst und<br />

auch für Jim einen Rucksack bei sich.<br />

„Hier, das werdet ihr brauchen.“<br />

Sie reichte uns die Sachen und wir bedankten uns. Dann packten auch wir unsere<br />

Rucksäcke. Ich zog Jim mit mir ins Zelt und fragte ihn dort:<br />

„Bist du sicher, dass du es schaffst?“<br />

Er nickte.<br />

„Auf jedem Fall. Mir geht‟s gut, wirklich.“<br />

- 206 -


Ich seufzte.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Gut, wenn du das sagst, muss ich es dir glauben. Wenn etwas ist, versprich mir, dass<br />

du Bescheid sagst, okay?“<br />

werden.“<br />

Er lächelte <strong>mich</strong> verliebt an und nickte.<br />

„Versprech ich.“<br />

Er zog <strong>mich</strong> an sich und ich schlang ihm die Arme um die Taille.<br />

„Viel lieber hätte ich ja ne ungestörte Nacht mit dir, aber was nicht ist, kann ja noch<br />

Seine Hände verirrten sich unter mein T-Shirt und er grinste anzüglich.<br />

„Das werden wir nachholen. Das Rad ist vielleicht etwas Wichtiges. Wir sollten es auf<br />

jedem Fall untersuchen.“<br />

auf.“<br />

Er nickte etwas genervt.<br />

„Ja, scheinbar ist immer was wichtiger als wir. Aber ich geb die Hoffnung ja nicht<br />

Seine Hände glitten über meine nackte Haut und ich erschauderte wohlig. Ich ließ<br />

meine eigenen Hände auch unter sein Shirt rutschen und streichelte ihn sanft.<br />

hervor.<br />

„Mach so weiter und ich pfeif auf das dämliche Rad …“, stieß er ein wenig atemlos<br />

Sofort nahm ich ihn beim Wort und ließ meine Hände sanft in den Bund seiner Jeans<br />

gleiten. Sie war ihm zu weit und so hatte ich keine Probleme, hinein zu kommen. Ich schob<br />

sie tiefer bis zu seinem Po und er keuchte leise auf.<br />

„Du bist gemein …“<br />

Ich lachte.<br />

„Ich weiß. Später, ja?“<br />

Ich zog die Hände zurück und Jim stieß ein enttäuschtes Seufzen aus.<br />

„Ja, später.“<br />

Das klang wie ein Schwur.<br />

Etwas wehmütig traten wir wieder hinaus in die Sonne. Minuten später schon kam<br />

Richard zusammen mit Ellie, Tim, Charly und einem mir noch unbekannten Mann zu uns.<br />

„Das ist Mark, er ist Physiker. Er wird uns begleiten. Seid ihr soweit?“<br />

Wir nickten.<br />

„Ja, es kann losgehen.“<br />

Wir schulterten die Rucksäcke und marschierten los, abermals in den dichten<br />

Dschungel hinein. Es war warm und drückend und ein Gespräch wollte nicht aufkommen, zu<br />

sehr hatten wir alle mit der Wärme zu kämpfen. Nach vielleicht vier Stunden hatten wir das<br />

Loch erreicht. Jim verzog das Gesicht, als er es sah und ihm lief eine Gänsehaut über den<br />

Rücken. Ich trat zu ihm und legte ihm sanft einen Arm um die Taille.<br />

„Hey, alles in Ordnung?“<br />

- 207 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Er zuckte zusammen und sagte ein wenig zu schnell:<br />

„Jepp. Alles klar bei mir.“<br />

Ich sah ihn an und sagte ruhig:<br />

„Du bist diesmal nicht alleine und nicht verletzt. Deine gute Fee ist bei dir.“<br />

Er lächelte. Dann beugte er sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr:<br />

„Du bist mein Licht in der Dunkelheit, die Luft, die ich zum Atmen brauche und der<br />

Grund für <strong>mich</strong> zu leben.“<br />

steigen.“<br />

erledigen.“<br />

Er stutzte, dann lachte er leise.<br />

„Hab ich mal irgendwo gelesen. Klingt furchtbar schmalzig.“<br />

Ich lachte ebenfalls.<br />

„Ja, aber auch wunderschön. Ich kann das nur zurückgeben.“<br />

Sayid hatte uns beobachtet und meinte ironisch:<br />

„Wenn ihr Beiden mit Turteln fertig seid, können wir vielleicht in die Höhle ein-<br />

Jim drehte sich zu ihm herum und sagte frech:<br />

„Geht doch schon mal vor, wir kommen nach, haben noch was Wichtiges zu<br />

Ich gab ihm einen sanften Boxhieb gegen den Arm und er legte den Kopf auf die<br />

Seite, grinste und fragte:<br />

„Was denn? Etwa nicht?“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, Mister, wir müssen jetzt da runter.“<br />

Er seufzte schwer.<br />

„Spielverderberin. Na gut, dann bringen wir es besser sofort hinter uns.“<br />

Wir knoteten einige Seile zusammen und befestigten ein Ende an einem Baum. Den<br />

Rest warfen wir in das finstere Loch unter uns. Als wir nacheinander in die Tiefe kletterten,<br />

lief mir ein Schauer über den Rücken. Gerne stieg ich nicht wieder hier hinunter. Als wir alle<br />

am Grunde der Höhle standen und Fackeln in den Händen hielten, sagte Richard:<br />

„So, dann wollen wir mal. Jim, kannst du noch eine Weile?“<br />

Jim verzog das Gesicht.<br />

„Um hier schnell wieder raus zu kommen, kann ich noch ne ganze Weile, glaub mir.“<br />

So setzten wir uns also langsam und vorsichtig in Bewegung. Bergab ging es leicht und wir<br />

kamen gut voran. Mark meinte irgendwann:<br />

„<strong>Der</strong> Gang ist nicht natürlichen Ursprungs, oder was meint ihr?“<br />

Sayid stimmte ihm zu.<br />

„Richtig. Es sieht künstlich angelegt aus, zu ebener Boden und die Wände sind auch<br />

sehr sauber und glatt. Da hat sich jemand richtig Mühe gegeben.“<br />

Nachdem wir gute fünf Stunden gelaufen waren, meinte Richard:<br />

- 208 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Wir sollten Schluss machen für heute. <strong>Der</strong> Rückweg wird erheblich anstrengender<br />

und wir sollten uns nicht verausgaben.“<br />

Erleichtert ließen wir uns auf den Boden sinken und steckten die Fackeln in den er-<br />

staunlich weichen Boden. Er war nicht aus Fels, scheinbar war nachträglich Erde herein ge-<br />

schafft worden. Ich lehnte <strong>mich</strong> an die Wand und Jim lag so schnell mit dem Kopf auf meinen<br />

Oberschenkeln, dass ich keine Chance mehr hatte, ihm dies auszureden. Nicht, dass ich es<br />

getan hätte.<br />

Wir kauten auf Fleisch und Obst herum und unterhielten uns leise. Die Dunkelheit um<br />

uns herum war bedrückend, trotz der Fackeln und ich fragte <strong>mich</strong> unwillkürlich, wie Jim sich<br />

hier in vollkommener Dunkelheit, alleine, halb verdurstet, verletzt und ohne Hoffnung gefühlt<br />

haben musste. Unwillkürlich traten mir Tränen in die Augen und ich legte ihm meine Hand<br />

auf die Brust.<br />

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte ich besorgt.<br />

„Ja, Sheena, mir geht‟s gut. Wie sieht‟s bei dir aus?“<br />

Ich schluckte.<br />

„Ich versuche mir gerade nicht vorzustellen, wie du dich gefühlt haben musst.“<br />

Ich spürte augenblicklich, wie sein Herzschlag sich beschleunigte und er leicht zitterte.<br />

„Nicht so toll, geb ich zu. War n Scheißgefühl.“<br />

Seine Rechte verirrte sich auf meine Hand und drückte diese sanft.<br />

„Bin froh, dass ich nicht wieder alleine und ohne Licht hier rumstolpern muss.“<br />

Mein Herz krampfte sich vor Mitgefühl zusammen.<br />

„Wenn du nicht wieder mal den Drang verspürst, abzuhauen, musste du nie wieder<br />

alleine sein, das schwöre ich dir.“, flüsterte ich so leise, dass nur Jim es hören konnte.<br />

Dankbar drückte er meine Hand.<br />

„Ich werd dich beim Wort nehmen.“, antwortete er ebenso leise.<br />

Ich seufzte bedrückt. So gerne wäre ich mir ihm irgendwo alleine gewesen, hätte ihm<br />

so gerne geholfen, die letzten Tage schnell zu vergessen. Aber das war nun leider im Moment<br />

nicht möglich und ich musste <strong>mich</strong> damit abfinden. Müde erklärte ich:<br />

„Lass <strong>mich</strong> mal bitte hoch, ich möchte <strong>mich</strong> auch hinlegen.“<br />

Enttäuscht hob er den Kopf und ließ <strong>mich</strong> unter sich hervor schlüpfen. Ich streckte<br />

<strong>mich</strong> neben ihm auf den Boden aus und wir versuchten, es uns so bequem wie möglich zu<br />

machen. Jim zog meinen Kopf auf seine Brust und so lag ich halbwegs gut.<br />

Es gelang uns ziemlich schnell, einzuschlafen. Irgendwann wachte ich davon auf, dass<br />

Jims Herz wild klopfte. Erschrocken fuhr ich hoch. Um uns herrschte absolute Dunkelheit,<br />

scheinbar waren die Fackeln heruntergebrannt. Jim war aufgewacht und hatte sich in dieser<br />

totalen Finsternis wieder gefunden. Er versuchte zwar, ruhig zu bleiben, konnte aber nicht<br />

verhindern, dass sein Herz wild zu Pochen begann. Und dies spürte ich. Leise sagte ich:<br />

- 209 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Alles in Ordnung, es sind nur die Fackeln, die sind heruntergebrannt.“<br />

Er atmete schnell und flach und flüsterte:<br />

„Ist mir klar. Aber diese Dunkelheit macht <strong>mich</strong> fertig. Du hast keine Vorstellung, wie<br />

entsetzlich das war. Du hast ständig das Gefühl, etwas schleicht um dich rum, hörst Ge-<br />

räusche, die es nicht gibt, hast sogar das Gefühl, Schatten huschen zu sehen. Ich bin wirklich<br />

kein Feigling, aber das möcht ich nicht noch mal erleben müssen.“<br />

„Glaube ich dir.“<br />

Ich zog ihn eng an <strong>mich</strong> und sagte:<br />

„Komm, mach die Augen zu, dann siehst du nicht, wie dunkel es ist. Du fühlst und<br />

hörst nur <strong>mich</strong>, okay?“<br />

Ich spürte, wie sein Kopf auf meiner linken Schulter zur Ruhe kam und konnte fühlen,<br />

wie er langsam wieder entspannte. Sehr leise sagte er:<br />

„Weißt du, bei dir hab ich nie das Gefühl, <strong>mich</strong> für irgendwas schämen zu müssen. Du<br />

akzeptierst so kommentarlos all meine … Empfindungen, Schwächen und Gefühle, es ist un-<br />

glaublich. Kate hat <strong>mich</strong> immer aufgezogen, wenn ich mal versucht hab, <strong>mich</strong> ihr zu öffnen.<br />

Darum hab ich‟s irgendwann gelassen.“<br />

Ich spielte sanft mit seinen Haaren und erklärte:<br />

„Jim, du bist doch kein gefühlloser Superheld. Wir alle haben vor irgendwas Angst,<br />

der eine mehr, der andere weniger. Aber sicher ist davor niemand. Wenn du wüsstest was mir<br />

alles Angst macht. Und meine allergrößte Angst ist, dass dir etwas zustößt. Weißt du, ich war<br />

vorher mit einem Mann zusammen, der seine Gefühle nie gezeigt hat. Er hielt sich für den<br />

Größten deswegen. Dachte, ich würde ihn auch für einen ganzen Mann halten, wenn er keine<br />

Emotionen zeigt. Ich wusste nie, woran ich war. Das war schlimm. Er gab sich immer cool<br />

und überlegen. Zu Anfang fand ich es bedingt ja noch halbwegs in Ordnung, irgendwann<br />

ödete es <strong>mich</strong> nur noch maßlos an. Eines schönen Tages erklärte ich ihm, dass er sich eine<br />

andere Frau suchen könnte. Da hat er dann plötzlich Gefühle gezeigt! Und was für welche. Er<br />

rastete vollkommen aus, schrie <strong>mich</strong> an, wie ich dazu kommen würde, zu denken, ich könne<br />

mit ihm Schluss machen. Ich erklärte ihm, dass ich ihn für einen Idioten hielt. Daraufhin …“<br />

Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme anfing zu Zittern. „Daraufhin fing er an,<br />

<strong>mich</strong> zu Schlagen.“<br />

Ich spürte, wie alles in Jim sich verkrampfte.<br />

„Was?“<br />

Ich nickte in der Dunkelheit und fuhr fort.<br />

„Ja, er schlug <strong>mich</strong> windelweich. Ich versuchte, <strong>mich</strong> zu wehren und habe ihm mit<br />

aller Kraft zwischen die Beine getreten. Dann wollte ich fliehen, doch der Dreckskerl erholte<br />

sich schneller als ich gedacht hatte. Er rappelte sich auf die Beine und ging mit einem Messer<br />

auf <strong>mich</strong> los.“<br />

Ich zitterte am ganzen Leib. Und Jim bebte vor Wut.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Zum Glück hatten meine Nachbarn den Krach gehört und wollten nachschauen, was<br />

los war. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass er <strong>mich</strong> abstechen<br />

konnte.“<br />

Tränen liefen mir bei der Erinnerung daran über die Wangen und ich zitterte wie<br />

Espenlaub. Jim hatte <strong>mich</strong> fest in seine Arme genommen und so spürte ich ihn selbst zittern<br />

vor Wut.<br />

„Er ging mit dem Messer auf einen der Nachbarn los und verletzte diesen ziemlich<br />

schwer, dann gelang es endlich, ihn zu überwältigen. Die Polizei war informiert worden und<br />

nahm ihn fest. <strong>Der</strong> Nachbar und ich wurden nach Beckley ins Krankenhaus gebracht, mein Ex<br />

ins Gefängnis. Er sitzt jetzt fünfundzwanzig Jahre wegen schwerer Körperverletzung und ver-<br />

suchtem Mordes.“<br />

gut.<br />

Jims Hand strich mir beruhigend über den Rücken und seine Anteilnahme tat mir sehr<br />

„Ich habe zehn Tage im Krankenhaus gelegen, hatte eine Nieren- und eine Leber-<br />

quetschung, er hat mir nur in den Körper geschlagen, weißt du. Als ich entlassen wurde, habe<br />

ich <strong>mich</strong> sofort zu einem Karate- und einem Selbstverteidigungskurs angemeldet. Ich werde<br />

<strong>mich</strong> nie wieder wehrlos von einem Mann schlagen lassen, das habe ich mir geschworen.“<br />

umgebracht.“<br />

Leise sagte Jim:<br />

„<strong>Der</strong> Mistkerl kann sich freuen, dass er im Knast sitzt. Sonst hätte ich ihn gesucht und<br />

Ich beruhigte <strong>mich</strong> langsam und sagte leise:<br />

„Das ist er nicht wert.“<br />

Ich drückte <strong>mich</strong> noch enger an Jim und fuhr leise fort:<br />

„Und noch weniger ist er es wert, dass ich überhaupt noch einen Gedanken an ihn ver-<br />

schwende. Verstehst du, warum ich dich so sehr liebe? Du hast von Anfang an deine Gefühle<br />

nicht vor mir versteckt. Du hast mir ein Vertrauen entgegengebracht, das <strong>mich</strong> umgehauen<br />

hat. Du hast dich mir vorbehaltlos geöffnet. Und was das Wichtigste ist, in deiner Nähe fühle<br />

ich <strong>mich</strong> immer sicher und geborgen.“<br />

Jims Stimme klang in der Dunkelheit, als kämpfe er mit Tränen, als er antwortete:<br />

„Ich bring dir genauso viel Vertrauen entgegen wie ich von dir bekomm. Du hast mir<br />

sofort vertraut, als du noch gar nicht wusstest, wer oder was ich bin. Das hab ich auch noch<br />

nie kennen gelernt, weißt du. Jeder ist mir immer mit Misstrauen begegnet. Besonders die, die<br />

wussten, was ich mach. Ist klar. Wer vertraut schon nem Betrüger. Aber du hast es sogar noch<br />

gemacht, nachdem du alles erfahren hast. Das hat nie zuvor jemand getan. Und ehrlich, auf so<br />

viel Vertrauen kann man nur mit Gegenvertrauen antworten, ist so. Ich weiß genau, dass ich<br />

<strong>mich</strong> immer auf dich verlassen kann und dass kannst du auch.“<br />

„Ich weiß das. Und es gab auch nur einen Menschen, dem ich genauso vertraut habe.<br />

Meinem Großvater. Er ist fort, dafür habe ich jetzt dich.“<br />

- 211 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Wir hatten nicht gemerkt, wie viel Zeit vergangen war, während wir uns leise unter-<br />

hielten. Erst, als aus der Ecke von Jack und Kate ein verschlafenes:<br />

geredet hatten.<br />

„Hey, guten Morgen.“, kam, wurde uns bewusst, dass wir erheblich länger als geplant<br />

Seufzend mussten wir uns damit abfinden, dass die Schlafphase offensichtlich vorbei<br />

war. Nun wachten auch die Anderen auf. Als erstes zündeten wir neue Fackeln an, dann aßen<br />

wir in der deprimierenden Dunkelheit von unseren Vorräten.<br />

weit.“<br />

„Wie weit mag es noch sein?“, fragte Ellie an Jim gewandt.<br />

„Keine Ahnung. Hab dafür erheblich länger gebraucht. Ich denk, ist nicht mehr sehr<br />

Wir rappelten uns auf die Beine und es ging weiter.<br />

„Ich habe langsam das Gefühl, wir nähern uns dem Mittelpunkt der Erde.“, sagte Kate<br />

irgendwann. „Wenn ich daran denke, dass wir dass alles auch wieder hoch müssen, wird mir<br />

schlecht.“<br />

Richard lachte leise.<br />

„Ja, und wenn du dabei auch noch satte achtzig Kilo schleppst, weißt du erst so richtig,<br />

was du getan hast.“<br />

Jim knurrte irgendetwas, dass keiner von uns verstand. Ich kicherte.<br />

„Was war das gerade?“<br />

„Hab ich mir auch nicht ausgesucht, wie ein Kartoffelsack geschleppt zu werden.“<br />

„Dann pass in Zukunft einfach besser auf dich auf.“, schnaufte ich lachend.<br />

haft.“<br />

„Was, noch besser?“<br />

Jim lachte ebenfalls und zog <strong>mich</strong> an sich. Ich knuffte ihn in die Seite.<br />

„Ja, Meister, noch besser. Deine bisherigen Leistungen auf dem Gebiet waren mangel-<br />

„Und weniger ...“, grinste Kate.<br />

Richard, der vorweg ging, blieb plötzlich stehen.<br />

„Da vorne ist ein Lichtschein. Jim, ist es das?“<br />

Wir rückten auf und sahen uns den Lichtschein an. Jim nickte.<br />

hier nicht.“<br />

„Jepp, das muss es sein. N anderes Licht gab‟s<br />

Sehr vorsichtig gingen wir weiter und spürten<br />

nun auch die Eiseskälte, die uns aus der Höhle entgegen<br />

schlug. Wir nahmen unsere Rucksäcke ab und zogen<br />

Jacken hervor, die wir eingesteckt hatten. Dann gingen<br />

wir langsam weiter. Heller wurde das Licht und schließlich weitete sich der dunkle Gang in<br />

die kleine Höhle, die Jim erwähnt hatte. Vorsichtig traten wir ein. <strong>Der</strong> Boden war spiegelglatt<br />

- 212 -


By<br />

Frauke Feind<br />

und fast hätte es <strong>mich</strong> hin gehauen. Im letzten Moment erwischte Jim <strong>mich</strong> und hielt <strong>mich</strong><br />

fest.<br />

grinste er.<br />

„Vorsichtig, Rena, wir sind hier doch nicht auf ner Schlittschuhbahn beim Paarlauf.“,<br />

Nachdem ich wieder Fuß gefasst hatte, starrte ich, wie die Anderen, fassungslos auf<br />

das große Rad, das aus der leuchtenden Spalte in der Wand heraus ragte. Es war ringförmig<br />

mit acht Speichen, das nahmen wir jedenfalls an, denn vier davon ragten aus der Wand. An<br />

den Eis überzogenen Wänden erkannten wir altägyptische Hieroglyphen. Wir traten näher an<br />

das Rad heran. Es schien aus Holz zu sein und wurde von Metallbändern zusammen gehalten.<br />

Die ganze Konstruktion implizierte ein hohes Alter.<br />

Aufmerksam sahen wir uns dieses Rad an und versuchten auch, in der Spalte, in der es<br />

steckte, etwas zu sehen. Doch dort war nur das helle Licht zu erkennen, das uns so stark<br />

blendete, dass niemand von uns länger als ein paar Sekunden hinein schauen konnte.<br />

„Nichts zu erkennen.“, meinte Sayid und griff probehalber nach einer der Speichen.<br />

Er drückte dagegen, aber das Rad war so schwer, oder so schwergängig, dass es sich<br />

nicht rührte. Dass es in Mauerwerk steckte, wie Jim gesagt hatte, stimmte nur zum Teil. Zwar<br />

waren Steine beschlagen und aufgeschichtet worden, aber sie waren nur übereinander gelegt<br />

worden und wurden von ihrem eigenen Gewicht, nicht von Verbundmaterial gehalten. Schon<br />

jetzt klapperten uns allen die Zähne aufeinander, mit der Kälte hier hatte Jim eher noch unter-<br />

trieben. Jack sagte langsam:<br />

„Das Ding hat einen gewisse Ähnlichkeit mit dem DHARMA-Cakra, das wir einige<br />

Male gesehen haben, findet ihr nicht auch?“<br />

Jim nickte zitternd.<br />

„Kann man sagen. Ja.“<br />

Plötzlich rief Kate, die sich in der kleinen Höhle umgesehen hatte:<br />

„Hey, kommt mal her. Hier ist eine Leiter.“<br />

So schnell es auf dem Eis möglich war, schlitterten wir zu ihr hinüber. Sie hatte Recht.<br />

Erst jetzt erkannten wir an einer Stelle der Wand eine hölzerne Leiter, mit Eis dick überzogen.<br />

„Wo mag die hinführen?“, fragte Ellie gespannt.<br />

„Denk mal, in die Orchidee. Oder was meint ihr?“<br />

Jim sah nach oben, wo sich die Sprossen in der Dunkelheit verloren. Richard und seine<br />

Leute sahen uns erstaunt an.<br />

„Was ist die Orchidee?“, fragte Tim.<br />

„Das ist die DHARMA-Station, von der aus Glupschauge und Lederstrumpf Zugang<br />

zu dem Mechanismus hatten, der die Zeitsprünge in Gange gesetzt hat.“<br />

Jim verzog das Gesicht.<br />

„Und wenn ich <strong>mich</strong> nicht irre, haben wir wohl diesen Mechanismus hier vor uns.“<br />

Richard sah Jim verwirrt an und Kate grinste.<br />

- 213 -


Worte.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Ben Linus und John Locke, einer der mit uns abgestürzten.“, übersetzte sie Jims<br />

Dieser sah an der Leiter hoch und machte eine einladende Kopfbewegung.<br />

„Wie sieht‟s aus, Dr.Quinn, wollen wir mal die Kälte hier hinter uns lassen und nach-<br />

sehen, was da oben ist?“<br />

Dabei hielt er mir eine Hand entgegen. Ich nickte.<br />

„Klar, bevor wir uns hier noch wichtige Körperregionen erfrieren ...“<br />

Ich griff nach der Leiter und trat vorsichtig auf die unterste Sprosse. Es war höllisch<br />

glatt und ich krallte <strong>mich</strong> nervös fest, als ich höher stieg.<br />

„Sei vorsichtig!“, warnte Jim <strong>mich</strong> und behielt <strong>mich</strong> genau im Auge. „Ich fang dich<br />

auf, wenn was passiert.“<br />

Ich stieg höher und höher und dann war die Leiter zu Ende. <strong>Über</strong> mir war eine weiße<br />

Decke, die wie eine dünne Eisschicht aussah. „Geht mal ein paar Schritte zurück.“, rief ich<br />

nach unten und klopfte gegen das, was mir wie Eis aussah. Und ich hatte Recht. Als ich fester<br />

dagegen schlug, zerbröselte es und gab ein nahezu rundes Loch frei.<br />

„Hier ist eine weitere Leiter.“, gab ich nach unten weiter.<br />

Diese Leiter, ebenfalls aus Holz, war eisfrei und ich stieg die Sprossen empor. Die<br />

Leiter mündete in einem engen, niedrigen Gang.<br />

die Beste.“<br />

„Hier ist ein weiterer Gang.“, rief ich nach unten. „Passt auf, die Leiter ist nicht mehr<br />

Jim schickte sich an, mir zu folgen. Schon auf der dritten Sprosse knackte es und auf<br />

der fünften passierte es dann: Die Sprosse brach unter Jims Gewicht und er landete unsanft<br />

wieder am Boden, zwei weitere Sprossen dabei zerbrechend.<br />

„Vergiss es, ich schau <strong>mich</strong> hier kurz um, dann komme ich wieder runter.“, erklärte<br />

ich und turnte in den niedrigen, engen Gang hinein.<br />

Ich hatte eine Fackel mitgenommen und so konnte ich <strong>mich</strong> umschauen. <strong>Der</strong> Gang, in<br />

dem ich <strong>mich</strong> befand, war scheinbar natürlichen Ursprungs und mit kleinen und größeren<br />

spitzen Steinen übersät. Vorsichtig bewegte ich <strong>mich</strong> vorwärts. An einigen Stellen musste ich<br />

auf die Knie gehen. Und dann stand ich vor einer gemauerten Wand.<br />

„Kelly?“<br />

Ich hörte Jims Stimme besorgt zu mir dringen.<br />

„Ja, alles klar. Hier ist eine Mauer, es geht nicht weiter.“, rief ich zurück.<br />

Ich suchte mit Hilfe der Fackel die Mauer gründlich ab, in der Hoffnung, vielleicht<br />

einen Schalter oder Hebel zu finden, konnte jedoch nichts entdecken.<br />

„Verfluchter Mist.“<br />

Genervt sah ich <strong>mich</strong> um, doch es gab wirklich keine Möglichkeit, weiter zu kommen.<br />

„Ich komme wieder runter.“, rief ich also nach unten und machte <strong>mich</strong> auf den Rückweg.<br />

- 214 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Um beide Hände frei zu haben, warf ich die Fackel nach unten und stieg vorsichtig die<br />

Leitern herab. Dank Jim wurde der letzte Teil eine Rutschpartie, die in seinen Armen endete.<br />

„Hab ich doch gesagt, dass ich dich auffange, Félix Trombe.“, grinste er, als er <strong>mich</strong> zögernd<br />

absetzte.<br />

Ich meinte <strong>mich</strong> vage zu erinnern, über Trombe einmal in Bezug auf Höhlenforschung<br />

etwas gelesen zu haben und wunderte <strong>mich</strong> ein wenig, dass Jim ganz offensichtlich nicht nur<br />

mit Namen aus dem Fernsehen Bescheid wusste. Ich hatte <strong>mich</strong> schon vorhin gewundert, als<br />

er <strong>mich</strong> Rena nannte. Rena Inoue war nicht gerade ein Name, der in aller Munde war, auch,<br />

wenn sie zusammen mit ihrem Partner John Baldwin im Eiskunstlauf einige Erfolge zu ver-<br />

buchen hatte. Anscheinend konnte er meine Gedanken in meinem Gesicht lesen, denn er<br />

lachte leise.<br />

„Hab im Knast viel gelesen, Honey, und nicht nur dort.“<br />

Ich nickte verstehend. Dann erklärte ich:<br />

„Da oben ist eine stabile, gemauerte Wand, da kommen wir so nicht weiter.“<br />

Gemeinsam traten wir wieder an das Rad.<br />

„Sollen wir versuchen, es in Gange zu kriegen?“, fragte Charly gespannt.<br />

Richard überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf.<br />

„Ich denke, wir sollten das lieber lassen, bis wir mehr darüber wissen, was das für ein<br />

Mechanismus ist.“<br />

hat.“<br />

Jim schnaufte.<br />

„Das wird die verdammte Zeitmaschine sein, die erst Ben und dann Locke bedient<br />

„Steht zu Vermuten. Aber da wir nicht wissen, was es auslöst, sollten wir die Finger<br />

davon lassen.“, meinte auch Ellie.<br />

„Gut, dann sind wir uns einig. Also, lasst uns Mary Byrd Land mal den Rücken<br />

kehren, ich erfriere.“, knurrte Jim zähneklappernd und wir stimmten nur zu gerne zu.<br />

Wir beeilten uns, in den Gang zurückzukehren und möglichst schnell bergan zu eilen,<br />

um die Kälte hinter uns zurück zu lassen. Zum Glück wurde uns bald wieder warm und<br />

schließlich konnten wir die Jacken ausziehen. Wir waren alle ziemlich erschöpft und be-<br />

schlossen, für heute Schluss zu machen. Müde machten wir es uns auf dem Boden gemütlich,<br />

wobei das natürlich blanker Hohn war, denn gemütlich war es nun wirklich nicht. Ich lehnte<br />

<strong>mich</strong> mit dem Rücken gegen die Wand und Jim nutzte natürlich sofort die sich bietende Ge-<br />

legenheit, <strong>mich</strong> wieder einmal als Kissen zu benutzen. Lächelnd ließ ich meine Finger durch<br />

seine Haare gleiten. Während wir dann auf unserem Trockenfleisch herum kauten, fragte Tim:<br />

„Wie wollen wir herausfinden, wie das Rad funktioniert?“<br />

Mark sinnierte:<br />

„Wenn es nach mir ginge, würde ich einfach einen Versuch starten.“<br />

- 215 -


Jim schnaufte.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Ja, und uns fliegen dann die Hirne auseinander. Hey, ich war dabei, als wir durch die<br />

Zeit gezappt sind, bis auf Daniel und Locke hatten wir alle schon Nasenbluten, Charlotte ist<br />

vor unseren Augen gestorben! Vorher hat sie sich aber geistig in Little Charlotte zurück ver-<br />

wandelt. Ich leg keinen gesteigerten Wert darauf, das wieder zu versuchen.“<br />

„Es wäre doch möglich, dass dieses Phänomen nur dadurch entstanden ist, dass das<br />

Rad sich verheddert hatte.“, warf Jack ein. „So habe ich das jedenfalls verstanden. Als Locke<br />

es erneut bewegt hat, hörte das doch auf, oder irre ich <strong>mich</strong>?“<br />

„Das nahmen wir an. Es gab noch einen letzten, überdimensionalen Flash, dann war es<br />

vorbei und wir hingen in 1974 fest. Aber wer sagt denn, dass das nicht wieder passiert, dann<br />

vielleicht irreparabel?“<br />

„Und wer sagt, dass es wieder passiert? Vielleicht gibt es auch nur einen Zeitsprung<br />

oder wir werden von der Insel geschafft?“, meinte Sayid ruhig.<br />

„Klar, Saddam, und wenn das passiert, hocken wir möglicherweise immer noch in der<br />

beschissenen Zeitschleife fest. Oder wir landen im Jurassic Park.“<br />

Jim warf Sayid einen giftigen Blick zu.<br />

„Das kann kaum sein, da ihr bereits einiges geändert habt.“, meinte Mark grübelnd.<br />

„Wenn es eine Möglichkeit gäbe, herauszufinden, wie man die Zeitsprünge steuern kann,<br />

könnten wir versuchen, euch in das Jahr 77 zu schaffen, damit ihr überprüfen könntet, ob der<br />

Supergau wirklich stattfindet.“<br />

„Ich hätte nichts dagegen, hier wieder zu verschwinden.“, meinte Kate. „Wie es aus-<br />

sieht, dürften wir den Gau ja bereits verhindert haben, da wir alle jetzt Bescheid wissen, was<br />

passieren wird. Also ist unsere Aufgabe erledigt, oder?“<br />

Ich sah Kate an und sagte dann:<br />

„Wenn das überhaupt die Aufgabe gewesen ist. Denn es scheint ja noch einiges mehr<br />

geschehen zu sein, dass auf diesen Vorfall basiert.“<br />

Jim sah zu mir auf und sagte dann leise:<br />

„Wenn es ne Möglichkeit gäbe, herauszufinden, was zum Beispiel bewirkt hat, warum<br />

ihr drei bei uns gelandet seid, zusammen mit Jabba. Und warum Sun, Locke und die Anderen<br />

nicht in der Flower Power Zeit landeten, sondern scheinbar in der Gegenwart der Insel ... Und<br />

warum man hier tote Leute sieht, würd <strong>mich</strong> auch interessieren. Irgendwie scheint die<br />

DHARMA Initiative ja auch ne große Rolle zu spielen. Eure Säuberungsaktion, Methusalem<br />

... Ihr werdet dabei über hundert Menschen killen.“<br />

Richard nickte langsam.<br />

„Scheinbar ist das doch auf den Befehl dieses Benjamin Linus entstanden. Da wir jetzt<br />

über ihn Bescheid wissen, sollte das alles auch zu verhindern sein.“<br />

Jim schüttelte den Kopf.<br />

- 216 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich weiß nicht, Daniel hat immer wieder darauf verwiesen, dass, was passiert ist,<br />

eben passiert ist. Er war der Meinung, man könne vielleicht die Umstände etwas verändern,<br />

aber nicht das Ereignis selber.“<br />

Mark hatte ruhig zugehört. Jetzt sagte er:<br />

„Die Diskussion über Zeitreisen ist schon sehr alt. Jeder Wissenschaftler oder Forscher<br />

denkt sicher ab und zu darüber nach. Obwohl physikalisch durch eine Ausnutzung der Zeit-<br />

dilatation ‟Reisen‟ in die Zukunft theoretisch möglich sind, gehören Zeitreisen im engeren<br />

Sinne der Science Fiction an, besonders wenn mittels Zeitmaschinen auch Reisen in die Ver-<br />

gangenheit bewerkstelligt werden sollen. Wenn wir hier tatsächlich etwas wie Zeitreisen<br />

machen können, wäre das die größte Entdeckung der Menschheit. Aber darauf wollte ich<br />

nicht hinaus. Die Debatten darüber, was einem Menschen theoretisch möglich wäre, könnte er<br />

in die Vergangenheit reisen, sind endlos. Manche denken, die Zukunft ließe sich ändern, wenn<br />

man in der Vergangenheit Veränderungen vornimmt, andere verwerfen diese Möglichkeit<br />

ganz. Euch von Gravitation, Relativitätstheorie, Raum-Zeit-Kontinuum, Raum-Zeit-<br />

Krümmung oder Zeitdilatation zu erzählen, würde voraussetzen, dass ihr Physiker seid.“<br />

Er sah uns an und fuhr dann fort:<br />

„Grundsätzlich würde ich sagen, wenn man an einem bestimmten Punkt in der Ver-<br />

gangenheit etwas verändert, muss das zwangsläufig auch zu einer veränderten Zukunft führen.<br />

Andere behaupten, man kann Dinge, die bereits geschehen sind, nicht verhindern, sondern nur<br />

verändern.“<br />

Hier unterbrach Jack den Physiker.<br />

„Das würde genau das belegen, was mit Charlie geschehen ist.“<br />

„Charlie?“, wollte Mark wissen.<br />

„Ein junger Mann, der mit uns zusammen den Absturz überlebte. Als die Swan-Station<br />

damals in die Luft flog, war ein Mann namens Desmond Hume, der vor der Insel Schiffbruch<br />

erlitten und von der DHARMA Initiative aufgenommen worden war, unmittelbar der<br />

elektromagnetischen Energie ausgesetzt. Er hatte danach Visionen der Zukunft, in denen er<br />

Charlie sterben sah. Jedes Mal auf eine andere Weise. Drei Mal verhinderte er dies, beim<br />

vierten Mal jedoch starb Charlie schließlich. Ergo, es wurde nicht verhindert, nur verändert.“<br />

Mark nickte.<br />

„Ja, der Zeitstrahl wurde abgewandelt, aber nicht das Endresultat völlig verhindert.<br />

Wenn es euch gelingen würde, oder sogar schon durch euer Erscheinen hier gelungen ist, den<br />

Zeitstrahl, auf dem ihr euch befindet, zu verändern, kann es durchaus sein, dass etwas ganz<br />

anderes geschehen wird, dass einen ebenso großen, wenn auch anderen Effekt hat.“<br />

Verwirrt hatten wir zugehört. Dann meinte Sayid:<br />

- 217 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Beweisen ließe sich das nur, wenn wir gezielt nach 1977 gelangen würden, um dabei<br />

zu sein, wenn diese Bombenexplosion stattfinden soll. Wobei wir wieder bei der Frage sind,<br />

wie wir dort hingelangen, ohne acht Jahre hier verbringen zu müssen.“<br />

Jim sah zu mir auf.<br />

„Hat Lady Einstein nicht gesagt, Kelly oder ihr Großvater wären die einzigen<br />

Menschen, die im Stande wären, einen gezielten Zeitsprung zu bewerkstelligen?“<br />

„Du meinst Eloise?“, wollte Jack wissen.<br />

Jim nickte. Ellie schüttelte den Kopf.<br />

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich zu diesem Wissen gekommen bin.“, sagte<br />

sie erschüttert. „Ich bin keine Physikerin.“<br />

„Du nicht, aber Daniel! Ich vermute, dass er vielleicht sogar derjenige ist, der den<br />

Raum mit dem Pendel baut.“, meinte Sayid langsam. „Du sagtest nur, ein kluger Kopf hätte<br />

den Raum gebaut und die Gleichung geschaffen, mit der die Position der Insel zu einem Zeit-<br />

punkt X in der nahen Zukunft errechnet werden kann. Sollte dieses Rad wirklich eine Art<br />

Zeitmaschine darstellen, müsste es doch möglich sein, dieses zu benutzen, um nach 1977 zu<br />

gelangen.“<br />

„Das birgt aber die Gefahr, dass ihr schon dort seid und ihr euch selbst begegnet und<br />

euch selbst daran hindern müsstet, die Bombe zu zünden.“, erwiderte Richard ruhig.<br />

Jim schnaufte.<br />

„Back to the future ...“<br />

Verständnislos sahen ihn Richard und seine Leute an. Jim schüttelte den Kopf.<br />

„Ach, vergesst es.“, sagte er.<br />

19) Die Entscheidung<br />

„Genauso gut wäre es auch möglich, dass ihr durch eure Landung hier bei uns niemals<br />

nach 77 gelangt und nie Mitglieder der DHARMA Initiative werdet.“, warf Mark ein.<br />

Langsam schwirrte mir der Kopf.<br />

„All das ist nur Theorie. Gehen wir doch einfach mal davon aus, dass dieses Ereignis<br />

nicht mehr eintritt, weil ihr nicht da seid.“<br />

Ellie schüttelte den Kopf.<br />

„Dadurch, dass ich jetzt Bescheid weiß, dass ich meinen eigenen Sohn töte, werde ich<br />

das nicht machen, folge dessen wird er eure Aufgabe übernehmen und die Bombe hoch jagen<br />

...“<br />

plodieren.“<br />

Mark nickte.<br />

„Veränderung, nicht Verhinderung.“, sagte er leise. „Die Bombe wird so oder so ex-<br />

- 218 -


Jack schüttelte den Kopf.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Wenn aber die Bombe hochgeht und zu dem Zeitparadoxon führt, in dem wir offen-<br />

sichtlich stecken, was würde passieren, wenn wir diese Bombe jetzt und hier zerstören oder so<br />

außer Funktion setzen, dass sie nicht mehr gezündet werden kann?“<br />

„Wir wissen ja eigentlich nicht einmal, ob es die Bombe war oder ob es aus ganz<br />

anderen Gründen, wie beispielsweise der Bohrung der DHARMA Initiative zu dem Zeitpara-<br />

doxon kam. Durch das eruptionsartige Freisetzen der elektromagnetischen Energie.“, meinte<br />

Jim genervt.<br />

„Das wäre allerdings durchaus möglich, denn die Energie hat ja erst dazu geführt, dass<br />

es zu dem Chaos kam, das Juliet letztlich das Leben gekostet hat. Die Bombe scheint nicht<br />

zum richtigen Zeitpunkt hochgegangen zu sein oder sie hat die elektromagnetische Energie<br />

noch forciert, sodass es zu dem Paradoxon kommen konnte.“, meinte ich überlegend. „An was<br />

genau könnt ihr euch erinnern, nachdem der magnetische Sog begann?“<br />

Jim seufzte und schwieg. Also sah ich Jack und Kate an.<br />

„Jack hat die Bombe in den Schacht geworfen. Wir warteten alle darauf, dass etwas<br />

passieren würde. Miles Vater versuchte, den Bohrer auszuschalten. Doch das funktionierte<br />

nicht. Er meinte, irgendwas würde den Bohrkopf quasi anziehen. Damit war klar, dass die<br />

Bohrung die Energietasche getroffen hatte. Dann ging alles ganz schnell. Alle Gegenstände<br />

aus Eisen flogen wie Geschosse in das Loch. <strong>Der</strong> Bohrturm begann sich zu verbiegen und<br />

wurde regelrecht in Richtung des Schachtes gesaugt. Juliet wurde von einer Stahlkette er-<br />

wischt, die sich durch den Magnetismus um ihren Körper wickelte und sie auf dem Weg zum<br />

Schacht mitriss. Ich bekam die Kette zu fassen und schrie nach Sawyer. Juliet verlor den Halt,<br />

aber Sawyer erwischte sie im letzten Moment.“<br />

Kate sah Jim an und dieser starrte an die Decke.<br />

„Ich kam nicht an die Kette ran und Juliet schaffte es alleine nicht, das verdammte<br />

Ding zu lösen. Sawyer hing inzwischen ebenfalls schon halb in dem Schacht und der elende<br />

Bohrturm gab immer mehr nach. Als Juliet merkte, dass Sawyer drohte, zerquetscht zu<br />

werden, ließ sie seine Hand schließlich los und wurde nach unten gerissen.“<br />

Ich spürte Jim zucken. Kate fuhr fort:<br />

„Ich versuchte, Sawyer vom Loch weg zu ziehen, aber ich schaffte es alleine nicht,<br />

also brüllte ich nach Jack, der mir half. Kaum hatten wir es geschafft, brach der ganze Turm<br />

auseinander und alles, was dazu gehörte, wurde in die Tiefe gesogen. Dann ... das absolut<br />

grelle Licht und das Nächste, an das ich <strong>mich</strong> erinnere, ist das Flugzeug, in dem wir sitzen<br />

und der Absturz.“<br />

Jack nickte.<br />

„Ist bei mir genauso.“<br />

Sayid sagte leise:<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich lag im Sterben, Hurley, Jin und Miles waren bei mir. Doch bevor mein Herz auf-<br />

hörte zu schlagen, war da dieses grelle Licht und dann ... Oceanic 815.“<br />

„Ihr könnt euch nicht erinnern, schon einmal hier in 1971 gewesen zu sein?“<br />

Alle schüttelten den Kopf.<br />

„Gut, aber ihr konntet euch auch nicht daran erinnern, dass ihr den Absturz schon<br />

einmal erlebt habt. Es wäre durchaus möglich, dass auch das Auftauchen hier bereits ge-<br />

schehen ist, ihr es nur nicht erinnert. Also wäre ich die einzige Variable in der ganzen Sache.“<br />

Richard sah <strong>mich</strong> an.<br />

„Das wäre durchaus möglich. Worauf willst du hinaus?“<br />

Ich kam mir zwar vor wie in einem Roman von Jules Verne, aber ich fuhr fort:<br />

„Wenn wir davon ausgehen, dass bei Auslösung eines neuen Zeitsprunges nach 1977<br />

alle Ereignisse vorher schon genauso geschehen sind, wie sie eben geschehen sind, und ihr<br />

dort seid, ohne euch an diese Landung hier zu erinnern, würdet ihr alles wieder so machen,<br />

wie es eben passiert ist, richtig?“<br />

Jack nickte.<br />

„Anzunehmen.“<br />

Ich überlegte weiter.<br />

„Dann würde es meine Aufgabe sein, da aufzuschlagen und euch darüber zu<br />

informieren, dass die Bombe die Zeitschleife erst auslöst.“<br />

Sayid konzentrierte sich und auch Kate und Jim schienen zu überlegen.<br />

„Miles ... Er hat so was gesagt, bevor wir die DHARMA Leute kommen sahen und<br />

Jack zur Hilfe eilten.“<br />

„Was hat er gesagt?“, fragte ich gespannt.<br />

„Ob wir schon mal an die Möglichkeit gedacht hätten, dass wir das Ereignis durch die<br />

Bombe erst auslösen.“, stieß Kate aufgeregt hervor.<br />

Ich sah die junge Frau an.<br />

„Was hat euch eigentlich zu eurem Meinungsumschwung gebracht?“<br />

Kate seufzte.<br />

„Ich weiß, was <strong>mich</strong> dazu gebracht hat: Jacks eindringlichen Worte. So, wie er es<br />

immer geschafft hat, <strong>mich</strong> auf seine Seite zu ziehen.“<br />

lich:<br />

Jack zog Kate an sich. Und ich fragte Jim:<br />

„Was war es bei dir?“<br />

Jim richtete sich langsam auf. Minutenlang starrte er zu Boden. Leise sagte er schließ-<br />

„Ich wollte Jack unbedingt aufhalten. Dann kam Juliet dazwischen und meinte plötz-<br />

lich, Jack hätte Recht und wir müssten ihm helfen. Ich wollte wissen, warum. Ich hab sie an-<br />

geschrien, mir eine verdammte Erklärung für ihren Meinungsumschwung zu geben. Sie<br />

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Frauke Feind<br />

meinte, sie hätte ... sie hätte den Blick gesehen, den ich Kate zuwarf. Ich hab ihr gesagt, dass<br />

der nichts zu bedeuten hätte, aber sie sagte, egal, wie sehr man sich lieben würde, manche<br />

Menschen wären nicht dafür bestimmt, zusammen zu sein. Ich hab ihr gesagt, dass ich sie nie<br />

verlassen würde, aber sie wusste, dass ich Kate noch immer liebte. Wenn Jacks Plan<br />

funktionierte, meinte sie, würde sie <strong>mich</strong> nie kennen lernen und demzufolge auch nie ver-<br />

lieren ...“<br />

Ich musste erst einmal schlucken bevor ich sagen konnte:<br />

„Okay, das waren eure Argumente. Die kann ich verstehen. Wenn wir nun eine<br />

Möglichkeit finden, zu diesem Zeitpunkt zurückzukehren, müsste es mir gelingen, euch daran<br />

zu hindern, die Bombe einzusetzen. Das hieße, der Vorfall würde so nicht geschehen und ihr<br />

würdet aus der Zeitschleife befreit.“<br />

„Aber wie würde es dann weiter gehen?“, fragte Jack nervös.<br />

„Nun, ich denke, ab da würde eure Zukunft neu geschrieben.“ meinte Richard ruhig.<br />

Jim sah <strong>mich</strong> an.<br />

„Wir würden neu anfangen können. Wir könnten alles irgendwie klären. Vielleicht.“<br />

Mir kullerten Tränen über die Wangen und Jim sah diese.<br />

den Kopf.<br />

„Was ist denn, Kelly?“, fragte er besorgt.<br />

Seine Augen weiteten sich in plötzlichem Verstehen.<br />

„Wir würden uns nicht kennen ...“, sagte er erschüttert.<br />

Ich nickte. Zu mehr war ich nicht fähig. Kate und Jack sahen <strong>mich</strong> an und schüttelten<br />

„Es muss ne andere Möglichkeit geben!“, stieß Jim panisch hervor.<br />

Richard seufzte.<br />

„Ich fürchte, die gibt es nicht.“, meinte er bedrückt.<br />

„Aber wir wissen immer noch nicht, wie wir den Zeitsprung hinbekommen sollen.“<br />

Tim sah <strong>mich</strong> an.<br />

„Vielleicht reicht es, wenn du das Rad bedienst. Immerhin sollst du die Einzige sein,<br />

die gezielte Sprünge machen kann.“<br />

„Das ist doch Blödsinn! Wie sollten wir ihr Glauben schenken? Wir haben uns nicht<br />

mal gegenseitig vertraut, wie sollen wir da einer Wildfremden glauben? Es muss ne andere<br />

Möglichkeit geben!“<br />

„Jim, es ist doch nicht gesagt, dass wir Kelly nicht wiedererkennen würden. Genauso<br />

ist es möglich, dass uns alles wieder einfällt, wenn wir sie sehen.“, warf Kate ein.<br />

„Ich will aus diesem ganzen Mist endlich raus. Wer weiß, wie lange wir schon in<br />

dieser Falle stecken.“<br />

Ruhig meinte Jack:<br />

„Das würde bedeuten, dass du ins Gefängnis kommen würdest.“<br />

Kate biss sich auf die Lippen.<br />

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Frauke Feind<br />

„Ja, ich weiß. Aber da hätte ich trotzdem mehr Chancen als hier.“<br />

Jack sah Sayid an.<br />

„Sayid, du bist dir darüber im Klaren, dass es deinen Tod bedeuten würde, wenn das<br />

funktioniert? Ich kann dir nicht mehr helfen, du wirst verbluten.“<br />

Sayid nickte.<br />

„Das ist mir klar. Aber das ist immer noch besser, als für immer und ewig in dieser<br />

Geschichte festzustecken.“, erklärte der Iraker ruhig.<br />

Ich konnte nur noch daran denken, dass ich Jim verlieren würde, sollten wir es auf<br />

diese Weise versuchen. So oder so. Er würde mit Juliet zusammen sein, Kate lieben und <strong>mich</strong><br />

mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht kennen und sich fragen, was diese<br />

arme Irre ihnen da einreden wollte, die so plötzlich aufgetaucht war. Mein Herz krampfte sich<br />

vor Verzweiflung zusammen. Ich hatte nie zuvor jemanden so sehr geliebt und war sicher,<br />

auch nie wieder jemanden so sehr lieben zu können, das spürte ich tief in meinem Inneren.<br />

Und man erwartete von mir, dass ich ihn freiwillig aufgeben sollte. Die Vorstellung war der<br />

nackte Horror. Andererseits, wenn Kate bereit war, das Risiko, ins Gefängnis zu wandern auf<br />

sich zu nehmen und Sayid sogar bereit war, sein Leben zu opfern, um seinen Freunden die<br />

Möglichkeit zu geben, wieder in ein normales Leben zurückzukehren, durfte ich nicht<br />

egoistisch sein. Ich sah zu Jim hinüber, der wie erstarrt da saß.<br />

- Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich liebe! -<br />

dachte ich und merkte, wie mir erneut Tränen über die Wangen kullerten.<br />

************<br />

Jim und ich saßen am Rande der kleinen Schlucht, die er bei seinem Ausflug in den<br />

Dschungel vor ein paar Tagen entdeckt hatte. Wir hatten den Rückweg zum Lager hinter uns<br />

gebracht und liefen jetzt schon seit vierundzwanzig Stunden schweigend herum, keiner von<br />

uns mochte auf das Thema zu Sprechen kommen. Am späten Vormittag hatte ich mir Jim<br />

schließlich geschnappt und ihn gebeten, einen Spaziergang mit mir zu machen. Wir hatten die<br />

Schlucht gefunden und saßen bereits fast eine Stunde stumm nebeneinander. Schließlich hielt<br />

ich es nicht mehr aus.<br />

„Bitte, Jim, wir können so nicht weiter machen. Wir müssen Reden.“<br />

Er sah <strong>mich</strong> an und seine Augen ... Sie waren so hoffnungslos und voller Ver-<br />

zweiflung, dass mir ein Schauer über den Rücken lief.<br />

„Was soll‟n wir denn noch Reden? Eure Entscheidung steht doch bereits fest.“, sagte<br />

er leise und starrte weiterhin in die Schlucht hinunter.<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

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Frauke Feind<br />

„Das steht sie nicht, aber, Jim, ihr müsst aus dem Teufelskreis raus, sonst werdet ihr<br />

ewig in dieser Zeitschleife fest hängen.“<br />

Resigniert meinte Jim:<br />

„Wir kehren nach 1977 zurück, du überzeugst uns, die Bombe nicht zu zünden und am<br />

Besten nicht einmal in der Nähe des Swan zu sein und dann?“<br />

Ich musste alle Kraft zusammen nehmen, um weiter zu Reden.<br />

„Juliet würde Leben, du würdest sie nicht verlieren. Ihr könntet irgendwo ein neues<br />

Leben beginnen.“<br />

Jetzt sah er <strong>mich</strong> erstmals direkt an.<br />

„Sie wollte <strong>mich</strong> verlassen, Kelly. Sie hat gemerkt, wie sehr ich immer noch an Kate<br />

hing. Es gab in meinem Leben nur fünf Menschen, die mir wirklich was bedeutet haben.<br />

Meine Eltern, Kate, Jules und am meisten du. Meine Eltern hab ich verloren, Kate nie gehabt,<br />

Juliet ... Ich hab sie wirklich geliebt, aber in keinem Vergleich zu dem, was ich für dich<br />

empfinde. Kelly, ich werd auch dich verlieren. Weißt du, ich bin wirklich kein Jammerlappen,<br />

aber ich ... ich ertrag das nicht noch mal. Ich hab dich gefunden, hab Kate dabei vergessen, als<br />

wär sie nie da gewesen und jetzt soll ich dich auch noch verlieren ...“<br />

Er verstummte und starrte wieder in die Schlucht hinunter.<br />

„Das weißt du doch gar nicht. Vielleicht erkennt ihr <strong>mich</strong> ja wieder.“<br />

Er atmete tief ein.<br />

„Vielleicht ... Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht verlier ich dich auch einfach nur.“<br />

Ich wusste nicht, was ich zum Trost sagen sollte. Nichts würde Jim trösten können, denn auch<br />

<strong>mich</strong> konnte nichts trösten. Die vage Hoffnung, dass sie sich würden erinnern können, reichte<br />

nicht. Sie hatten sich bisher nicht erinnert, hatten die ganze Sache möglicherweise schon x<br />

Mal durchgespielt und sich beim Einsetzen der Bombe nie erinnert, warum sollte es jetzt<br />

anders sein? Ich wusste wirklich nicht, was ich sagen sollte. Am liebsten hätte ich mir Jim<br />

geschnappt und wäre mit ihm geflohen. Irgendwo hin, wo wir für immer hätten zusammen<br />

sein können. Fort von hier. Aber mein Gewissen sagte mir, dass ich die Anderen nicht in<br />

dieser Klemme lassen konnte.<br />

„Jim, bitte, wenn wir uns dort neu kennenlernen, verlieben wir uns vielleicht auch neu.<br />

Wir haben uns einmal ineinander verliebt, diese Liebe muss doch reichen, es ein zweites Mal<br />

zu schaffen.“<br />

Jetzt sah er <strong>mich</strong> doch wieder an. In seinen Augenwinkeln hingen Tränen.<br />

„Wieder ein Vielleicht. Wir haben keine Ahnung, wie es nach dem Versuch weiter<br />

geht, Kelly, keine Vorstellung. Man wollte uns von der Insel schaffen. Vielleicht macht man<br />

das immer noch und ich seh dich nie wieder. Selbst ohne die Bombe herrschte dort plötzlich<br />

das absolute Chaos, verstehst du? Mit dem Wiedererscheinen Kates, Jacks, Hurleys und<br />

Sayids ging es nur noch bergab. Wir wissen nicht mal, ob das der Punkt ist, an dem wir die<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Abläufe ändern müssen. Vielleicht liegt der Punkt viel weiter zurück? Es ist, als ob man in ein<br />

Becken mit Haien springt und hofft, es zu überleben. Wir wissen nicht, was Locke und Ben in<br />

der Gegenwart getan haben, vielleicht lösen sie ja sogar alles aus. Wir wissen nichts, Kelly.<br />

Nur, dass ich dich nicht mehr kennen werde.“<br />

Ich schluckte.<br />

„Und wenn es so wäre, würdest du nicht darunter leiden müssen.“, sagte ich leise.<br />

Er nickte.<br />

Vorstellung.“<br />

„Das stimmt, ich wär wieder ne Marionette, die an Kates Fäden hängen würde. Tolle<br />

Er seufzte unglücklich.<br />

„Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen.“, sagte er leise. „Wer soll<br />

<strong>mich</strong> denn dann wieder zusammenflicken?“<br />

Er riss <strong>mich</strong> verzweifelt in seine Arme und ich spürte seine Schultern zucken. Wie<br />

lange wir so still dasaßen, hätte ich nicht sagen können. Ich bestand nur noch aus purer Ver-<br />

zweiflung und Angst. Mir vorzustellen, <strong>mich</strong> von Jim vielleicht wirklich für immer trennen zu<br />

müssen, ging über meine Vorstellungskraft. Und doch wusste ich, dass es genau darauf<br />

hinauslaufen würde. Die kurze Zeit, die ich mit ihm hatte verbringen dürfen, war die Glück-<br />

lichste meines Lebens gewesen. Und nun sollte das alles schon wieder zu Ende sein? Ich<br />

konnte es nicht fassen. So grausam konnte das Schicksal es nicht mit uns meinen.<br />

Als es hinter uns im Dschungel raschelte, fuhren wir zusammen. Ich drehte <strong>mich</strong><br />

herum und sah Richard aus dem Gebüsch treten.<br />

„Ich habe mir gedacht, dass ich euch hier finde. Es wird Zeit, wir sollten nicht zu<br />

lange warten. Seid ihr bereit, eine Entscheidung zu treffen?“<br />

Er sah uns mitleidig an und wir erhoben uns, langsam, als würden wir von Blei-<br />

gewichten zurückgehalten.<br />

„Nein, sind wir nicht, aber das ändert nichts ...“, sagte Jim leise und fuhr sich unauf-<br />

fällig mit der Hand über das Gesicht.<br />

Wir folgten Richard schweigend ins Lager zurück und stießen dort auf Kate, Sayid<br />

und Jack, die uns bedrückt entgegen sahen. Wir gingen zusammen unter die Akazie und<br />

setzten uns. Richard, Tim und Ellie saßen bei uns. Richard war es auch, der das Wort ergriff.<br />

„Wir hätten ungeheuer viel zu ändern, was die Zukunft betrifft. Ob uns dies gelingt, wird sich<br />

zeigen müssen. Das vorrangigste Problem ist, die Zeitschleife zu lösen, in der wir alle fest<br />

stecken. Wir wissen nicht, welche Konsequenzen das auf jeden einzelnen von uns hat. Mit ein<br />

wenig Glück keine allzu gravierenden. Es mag sein, dass wir hier den Grundstein für eine<br />

bessere Zukunft legen werden. Oder es gelingt uns nur, euch zu befreien. Aber das alleine<br />

würde schon eine ungeheure Änderung der Zukunft nach sich ziehen. Wenn ihr bereit seid,<br />

dieses Wagnis einzugehen, sollten wir es nicht hinauszögern.“<br />

Ellie nickte.<br />

- 224 -


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Frauke Feind<br />

„Ich bete zu Gott, dass ich <strong>mich</strong> daran erinnern werde, dass Daniel mein Sohn ist.<br />

Wenn dem nicht so ist, und es so kommen soll, dass ich ihn töte, muss ich das als mein<br />

eigenes Schicksal annehmen. Es mag in Zukunft Dinge geben, die mir eine solche Strafe auf-<br />

erlegen werden. Dann muss ich es akzeptieren. Wenn wir nichts unternehmen, werden wir bis<br />

in alle Ewigkeit in dieser Zeitschleife stecken. Ausgelöst wurde das Ganze offensichtlich mit<br />

der Betätigung des Rades durch diesen Benjamin Linus. Da aber die Ereignisse der Zukunft<br />

erst dazu führten, dass dies geschah, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es anders verlaufen wird,<br />

wenn unser Plan erfolgreich ist, sehr groß. Wir werden vermutlich unsere Geschichte neu<br />

schreiben können. Wir alle können nur hoffen, dass wir das Wissen, das wir haben, irgendwo<br />

in unseren Erinnerungen abrufen können, wenn es erforderlich ist. Die Frage ist, werden wir<br />

alle dieses Wagnis auf uns nehmen. Wir müssen uns entscheiden.“<br />

Richard sah Ellie kurz an, dann nickte er.<br />

„Wir alle werden Opfer bringen müssen. Ellies Opfer ist möglicherweise die Tötung<br />

ihres eigenen Sohnes, Sayids das seines Todes, Jim und Kelly werden sich unter Umständen<br />

für immer trennen müssen. Was es für den Rest von uns bringen mag, können wir nicht<br />

wissen. Die Frage ist, sind wir bereit, diese Opfer auf uns zu nehmen?“<br />

Sayid war der Erste, der antwortete.<br />

„Ich bin bereit. Alles, was ich nach dem Absturz erlebt habe, war schlimmer als das<br />

Wissen, zu Sterben und Frieden zu finden.“<br />

Jack und Kate nickten.<br />

„Was immer es sein mag, dass danach kommt, kann nur besser sein als das, was wir<br />

durchgemacht haben.“, erklärte Jack.<br />

sich.<br />

sie.<br />

Ellie liefen Tränen über die Wangen und sie drückte Daniel, den sie im Arm hielt, an<br />

„Wenn es hilft, eine bessere Zukunft zu schaffen, nehme ich es auf <strong>mich</strong>.“, schluchzte<br />

Aller Augen richteten sich auf Jim und <strong>mich</strong>. Mir war speiübel und ich hatte das Ge-<br />

fühl, jeden Moment den Verstand verlieren zu müssen. Leise hörte ich <strong>mich</strong> sagen:<br />

„Ich bin bereit ...“<br />

Jim neben mir sank in seinem Stuhl zusammen als hätte jemand die Luft aus ihm<br />

heraus gelassen. Tonlos sagte er:<br />

„Klar, warum nicht. Mein Leben ist ohnehin schon vollkommen zerstört, darauf<br />

kommt es nun auch nicht mehr an.“<br />

Er stand auf und ging langsam zu unserem Zelt hinüber. Mir liefen ununterbrochen<br />

Tränen über die Wangen und in mir zerriss etwas. Kate und Jack erhoben sich zusammen mit<br />

Sayid nun ebenfalls und schließlich saß ich alleine unter der Akazie.<br />

- 225 -


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Frauke Feind<br />

Lange saß ich dort und versuchte, irgendwie Beherrschung zurück zu erlangen. Es ge-<br />

lang mir nicht. Ich wusste nur eines: zu Jim zu gehen und <strong>mich</strong> zu verabschieden würde ich<br />

nicht schaffen. Würde ich zu ihm gehen und in seinen Armen liegen, wäre ich nie wieder im<br />

Stande, ihn loszulassen. Entschlossen erhob ich <strong>mich</strong> und eilte zu Richards Zelt hinüber. <strong>Der</strong><br />

Mann saß an einem Tisch im Zelt und blätterte in Akten herum.<br />

„Kann ich dich kurz sprechen?“, fragte ich. Richard nickte.<br />

„Natürlich, um was geht es denn?“<br />

„Kannst du mir eine Skizze machen, wo von der Höhle aus gesehen der Punkt ist, an<br />

dem ihr uns überwältigt habt?“<br />

Richard sah <strong>mich</strong> kurz an und nickte. Schnell zeichnete er auf einem Blatt Papier eine<br />

Skizze und drückte sie mir in die Hand.<br />

nicht ...“<br />

„Wirst du daraus schlau werden?“<br />

Ich nickte.<br />

„Auf jedem Fall. Danke. Ich mache <strong>mich</strong> auf den Weg, wenn ich warte, schaffe ich es<br />

„Das kann ich verstehen. Ich wünsche dir alles Glück.“<br />

Ärgerlich wischte ich mir Tränen vom Gesicht und bat:<br />

„Kannst du mir einen Rucksack und Seile mitgeben?“<br />

Er stand auf und nahm einen Rucksack von einem kleinen Ständer in einer Ecke des<br />

Zeltes. „Hier ist alles drinnen, was du brauchen wirst.“<br />

Ich griff nach dem Rucksack und trat ohne ein weiteres Wort in die Sonne hinaus.<br />

Plötzlich jedoch zuckte ein Gedanke durch meinen Kopf und ich drehte <strong>mich</strong> noch<br />

einmal zu Richard herum.<br />

„Wenn ihr euch nicht erinnern könnt, was ja immerhin denkbar wäre, wäret ihr in der<br />

Zukunft Feinde. Hättest du vielleicht eine Idee, wie wir, oder meinetwegen auch nur ich, dir<br />

klar machen könnten, dass wir uns kennen, irgendwas, dass ich als Beweis vorlegen könnte?“<br />

Richard hatte mir aufmerksam zugehört. Jetzt weiteten sich seine Augen und er nickte.<br />

„Das ist eine großartige Idee. Lass <strong>mich</strong> überlegen ...“<br />

Er dachte einige Minuten krampfhaft nach.<br />

„Es gibt etwas, das wir versuchen könnten.“<br />

Er trat in sein Zelt und ich folgte ihm langsam. An einem Tisch schrieb er einen Zettel:<br />

Ich, Richard Alpert, übergebe 1971 diese kurze Notiz an Kelly Reardon als Beweis, dass wir uns kennen.<br />

Er stand auf, ging an einen Schrank und nahm etwas heraus. Als er sich zu mir um-<br />

drehte, sah ich, dass er ein kleines Medaillon in den Händen hielt.<br />

„Das ist ein Erbstück meiner Mutter. Trage es bei dir, und sollten wir uns in der Zu-<br />

kunft begegnen, gib es mir. Wir werden die Notiz sicher darin verwahren.“<br />

- 226 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Er öffnete das Medaillon, dass mit feinen, altägyptischen Schriftzeichen verziert war,<br />

faltete den Zettel so klein es ging und legte ihn in das ovale, vielleicht vier Zentimeter große<br />

Schmuckstück.<br />

„Voraussetzung ist natürlich, dass du es nicht verlierst. Wenn wir uns vielleicht<br />

wiedersehen, sage zu mir zusätzlich folgenden Satz: Quid cubitus umbrae statuae? Kannst du<br />

dir das merken?“<br />

„Ja, das kann ich. Muss ich die Antwort kennen?“<br />

Er schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, das brauchst du nicht. Du solltest jetzt lieber gehen.“, sagte er lächelnd.<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, du hast Recht. Bis vielleicht in ein paar Jahren.“<br />

Ich legte mir die Kette um den Hals und nickte noch einmal. Hastig trat ich dann er-<br />

neut in die Sonne hinaus. Niemand war zu sehen und so schlug ich <strong>mich</strong> hinter Richards Zelt<br />

ins Gebüsch und machte <strong>mich</strong> auf den Weg.<br />

************<br />

Jim war ins Zelt gegangen und legte sich müde auf das Bett. Er konnte nicht fassen,<br />

dass die Entscheidung so schnell gefallen war. Alles, was er wollte war, zusammen mit Kelly<br />

ein gemeinsames Leben führen! Er war egoistisch genug, dies zu wollen. Sein ganzes Leben<br />

war von schlimmen Verlusten geprägt gewesen. Scheinbar verlor er jeden Menschen, der ihm<br />

etwas bedeutet hatte. Das wollte er auf gar keinem Fall erneut erleben. Er würde, wenn Kelly<br />

ins Zelt kommen würde, alles tun, um ihr die Idee auszureden. Es musste einfach eine andere<br />

Möglichkeit geben. Es konnte nicht sein, dass es das gewesen war. Endlich hatte er einen<br />

Menschen gefunden, der ihm alles bedeutete und dem auch er alles bedeutete und schon sollte<br />

es wieder zu Ende sein? Wütend schüttelte Jim den Kopf. Nein, das kam einfach nicht in<br />

Frage! Ungeduldig wartete er, aber Kelly kam nicht. Sie brauchte bestimmt auch Zeit, um<br />

damit klar zu kommen. Als jedoch immer mehr Zeit verging und sie nicht auftauchte, wurde<br />

Jim unruhig. Er setzte sich auf und trat langsam vor das Zelt. Schnell sah er sich um, aber er<br />

sah Kelly nirgends. Wo mochte sie sein? Und dann, von einer Sekunde zur Anderen, wurde<br />

Jim überdeutlich klar, wo sie war.<br />

„Oh, verflucht, nein!“<br />

Er fuhr herum und rannte in den Dschungel.<br />

Da inzwischen ein richtiger, kleiner Pfad getrampelt worden war, kam er schnell<br />

voran. Sein Herz raste vor Angst und Anstrengung gleichermaßen. Dort vorne, da war der<br />

Höhleneingang. Ein Seil, das von einem der Bäume in das Loch hinein hing, zeigte ihm, dass<br />

er mit seiner Ahnung Recht gehabt hatte. Kelly war los marschiert, ohne auf Wiedersehen zu<br />

- 227 -


By<br />

Frauke Feind<br />

sagen. So schnell es ging ließ Jim sich an dem Seil in die Dunkelheit hinunter gleiten. Er hatte<br />

keine Fackel bei sich und so musste er sich mühsam, Schritt für Schritt, vorwärts tasten.<br />

Immer mehr machte sich Panik in ihm breit. Kelly würde erheblich schneller voran kommen,<br />

denn sie hatte sicher an eine Fackel gedacht. Er hastete weiter und weiter. Stunde um Stunde<br />

kämpfte er sich durch die Dunkelheit. An Pause dachte er nicht, ganz im Gegenteil hoffte er<br />

so sehr, dass Kelly eine Pause einlegen würde. So hätte er eine Chance, sie doch noch einzu-<br />

holen. Er wusste nicht, wie weit es noch war, konnte in der Dunkelheit nicht abschätzen, wie<br />

weit er schon gelangt war. Wie ein Roboter tappte er weiter und weiter, auch, als er fast am<br />

Ende seiner Kräfte war. Nach einer schier endlosen Zeit spürte Jim plötzlich ein Vibrieren<br />

unter seinen Füßen. Er erschrak. Was war das jetzt? Das Vibrieren wurde stärker und dann<br />

sah er vor sich in der Dunkelheit ein grelles Licht aufleuchten. Es war wie das Licht, an das er<br />

sich nach der mutmaßlichen Zündung der Bombe erinnerte und er wusste, Kelly hatte das<br />

verdammte Rad bedient! Alles, was Jim noch empfinden konnte, war ungeheure Angst. Er<br />

wollte weiter rennen, wollte noch irgendwas verhindern, aber das Vibrieren war jetzt so stark,<br />

dass er zu Boden gerissen wurde. Ein ohrenbetäubendes Pfeifen war zu hören und Jim schrie!<br />

„KELLY!“<br />

************<br />

************<br />

20) Die DHARMA Initiative<br />

James Lafleur zuckte aus dem Schlaf hoch. Das Telefon auf dem Nachttisch hatte ge-<br />

klingelt. Knurrig griff er über die blonde Frau neben sich im Bett hinweg und meldete sich<br />

„Was?“<br />

- 228 -<br />

Am anderen Ende der Leitung war sein<br />

Freund und Kollege, Jin Kwon. Aufgeregt sagte<br />

dieser:<br />

funden. Du kommst nie im Leben darauf, wen!“<br />

Giftig knurrte Lafleur:<br />

„Jim, du wirst nicht glauben, was ich dir<br />

jetzt sage. Ich habe gerade drei Leute im Wald ge-<br />

„Wenn du nicht willst, dass ich dir die Eier abreiß, solltest du <strong>mich</strong> eine Minute nach-<br />

dem du <strong>mich</strong> aus meinem wohlverdienten Schlaf gerissen hast, nicht Rätsel raten lassen, ver-<br />

dammt.“<br />

Jin lachte.<br />

„Halt dich fest, Mann. Jack, Kate und Hugo!“


Jim fiel der Kiefer herab.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Wiederhol das noch mal.“, stieß er hervor.<br />

„Ja, Jim, wirklich! Jack, Kate und Hugo stehen hier vor mir. Soll ich sie rein bringen?“<br />

Jim überlegte hektisch.<br />

„Auf keinem Fall. Bring sie ins obere Tal, ich hol euch dort ab. Jin! Lasst euch<br />

nirgends sehen, verstanden?“<br />

Lafleur knallte den Hörer auf das altmodische Telefon und starrte einen Moment lang<br />

die Wand vor sich an. Dann sprang er hastig aus dem Bett. Die blonde Frau regte sich. Sie<br />

setzte sich schlaftrunken auf und beobachtete Jim, als dieser sich hektisch anzog.<br />

„Was ist passiert, James?“, fragte sie ruhig.<br />

„Du wirst es nicht glauben, Sweetheart, das war Jin. Er hat gerade Jack, Hurley und<br />

Kate im Wald gefunden! Frag <strong>mich</strong> nicht.“<br />

Er wusste, dass die nächste Frage lauten würde: Wie kann das angehen. Die Blonde<br />

war jetzt hellwach. Fassungslos stieß sie hervor:<br />

an.<br />

sie hier sind.“<br />

„Das gibt es ja nicht! Wie kommen die her? Was wollen die hier?“<br />

Jim schlüpfte in seinen Overall und sah, während er diesen schloss, die hübsche Frau<br />

„Juliet, ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Wir werden es erfahren, sobald<br />

Juliet stand ebenfalls auf. Nackt, wie sie war, trat sie an den blonden, gut aussehenden<br />

jungen Mann heran und griff nach seinen Händen.<br />

„Du willst sie her bringen? Wie stellst du dir das vor?“<br />

„Hör zu, heute kommt das U-Boot, ich werd sie unter die Rekruten mischen. Dabei<br />

brauch ich deine Hilfe. Du musst Papiere für sie erstellen, schaffst du das?“<br />

Juliet überlegte kurz und nickte.<br />

„Das bekomme ich hin. James, wenn das heraus kommt, sind wir in Schwierigkeiten.“<br />

Jim gab der jungen Frau einen Kuss.<br />

„Das kommt nicht raus, vertrau mir. Mach du hier alles fertig, ich hol sie ab.“<br />

Juliet sah ihrem Lebensgefährten nach, als er in den Flur und zur Haustür eilte. Sie<br />

hatte plötzlich ein komisches Gefühl im Bauch. Kurz stand sie noch regungslos da.<br />

Schließlich ging sie ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Zwanzig Minuten später bereits<br />

eilte sie ins Rekrutierungsbüro hinüber. Dort traf sie Doris, die eifrig Akten wälzte.<br />

„Guten Morgen. Kann ich dir helfen?“, fragte Juliet fröhlich.<br />

Doris nickte.<br />

„Das wäre super, guten Morgen. Ich muss hier noch einiges kopieren, wenn du die<br />

Liste und die Anmeldeformulare für die Neuen fertig machen könntest, wäre mir das eine<br />

große Hilfe.“<br />

Juliet nickte.<br />

- 229 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Mach ich gerne, gib mir alles, ich setze <strong>mich</strong> in die Sonne und bereite es vor.“<br />

Fünf Minuten später bereits fälschte Juliet drei Formulare und trug die Namen ein:<br />

Kate Austen, Mechanik, Jack Shephard, Arbeiter, Hugo Reyes, Küche. Nach guten dreißig<br />

Minuten hatte Juliet die Formulare und die Liste mit den Neuzugängen fertig und brachte<br />

alles zurück ins Büro zu Doris, die sich herzlich für die Hilfe bedankte. Jetzt marschierte die<br />

blonde Frau zur Autowerkstatt hinüber und meldete sich zum Dienst.<br />

Jim hastete ins Altkleiderlager und suchte dort hektisch nach einigen Kleidungs-<br />

stücken. Wenn Kate, Jack und Hugo in anderen Sachen als der Zeit entsprechend hier auf-<br />

kreuzten, würde das sofort auffallen. Als er für Kate eine Batik-Bluse und eine weite Schlag-<br />

jeans in einen Kleidersack stopfte, grinste er unwillkürlich. Für Jack fand er auch schnell<br />

etwas, und er hatte großes Glück, auch für Hurleys immensen Körperumfang fand er passable<br />

Sachen. Mit dem Kleidersack in der Hand eilte Jim nun zu seinem Dienstwagen, einem blau-<br />

weißen VW-Bus. Er warf den Sack hinein und gab Gas. Bereits vierzig Minuten später hatte<br />

er die Bucht erreicht, in der er sich mit Jin verabredet hatte. Jims Herz klopfte plötzlich heftig<br />

in seiner Brust. Kate. Er war sich so sicher gewesen, sie nicht mehr zu lieben, aber jetzt, als<br />

ein Wiedersehen nach drei Jahren unmittelbar bevor stand, merkte er schmerzlich, dass er sich<br />

etwas vor gemacht hatte. Mit gemischten Gefühlen hielt er den Bus an und stieg langsam aus.<br />

Vor ihm stand der Bus, mit dem Jin seine morgendliche Runde gemacht hatte. Plötzlich<br />

öffnete sich dessen Hintertür und Jack stieg aus, gefolgt von Hurley. Als letzte verließ Kate<br />

den Wagen. Jack ging auf Jim zu, reichte diesem die Hand und sagte schlicht:<br />

„Sawyer.“<br />

Hurley grinste. Er eilte auf Jim zu und nahm diesen begeistert in den Arm.<br />

„Sawyer! Alter! Gut, dich wiederzusehen.“<br />

„Ich freu <strong>mich</strong> auch, dich zu sehen, Moppelchen.“<br />

Jim versuchte, in der Umarmung Hugos noch Luft zu bekommen und lachte fröhlich,<br />

als dieser ihn absetzte. Nun wandte Jim sich zu Kate herum. Langsam ging diese auf ihn zu.<br />

„Hallo, Sawyer.“<br />

hatte. Und sofort schoss ihm durch den Kopf<br />

- Alter, du hast ein Riesenproblem! -<br />

Und dann hielt er sie das erste Mal seit drei Jahren in<br />

den Armen. Und es war, als wäre es erst einen Tag her, dass<br />

er den Duft ihrer Haare, ihrer Haut gerochen hatte, ihren<br />

schlanken, anschmiegsamen Körper in seinen Armen gehalten<br />

„Kommt mit, ich hab euch was zum Anziehen mitgebracht.“<br />

Jack sah Jim erstaunt an.<br />

„Wozu das? Was habt ihr eigentlich für Overalls an?“<br />

Jim grinste.<br />

- 230 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Nun, Doc, wir sind jetzt in der DHARMA Initiative.“<br />

„Was? Die wurde doch 1992 ...“<br />

Jim unterbrach den Arzt.<br />

„Sundance, wir haben das Jahr 1977. Willkommen im Hippiezeitalter.“<br />

Mit offenem Mund starrten die Drei Jim an. „Ach du Scheiße!“, brachte Hurley<br />

schließlich auf den Punkt, was alle dachten.<br />

„Wie ist das möglich?“, fragte Kate nervös.<br />

„Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Hört zu, die Kurzfassung: Nachdem ihr weg wart,<br />

sind wir hier ne Weile durch die Zeit gezappt, führt zu weit, dass alles zu erklären. Als das<br />

aufhörte, waren wir in 1974. Juliet, Miles, Jin und ich haben uns der DHARMA Initiative<br />

angeschlossen um zu überleben und sind vollwertige Mitglieder. Ich bin Chef des Sicherheits-<br />

teams, Jin und Miles sind mir unterstellt. Wir führen hier ein ziemlich angenehmes Leben.<br />

Euch werden wir als neue Rekruten einführen, heute kommt das U-Boot mit Nachschub.<br />

Kommt schon, wir haben nicht viel Zeit.“<br />

An Jin gewandt erklärte Jim:<br />

„Du machst deine Runde zu Ende. Wiedersehen können wir später feiern.“<br />

Jin nickte.<br />

„Viel Glück.“<br />

Er stieg in sein Auto und fuhr davon.<br />

„Und ihr zieht euch jetzt um, macht schon.“<br />

Jim drückte Jack, Kate und Hugo die mitgebrachten Sachen in die Hand und Kate ver-<br />

zog das Gesicht, als sie die Bluse sah.<br />

„Was denn?“, fragte Jim grinsend. „Wird dir gut stehen, Freckles.“<br />

Kurze Zeit später saßen sie alle vier in Jims Bus.<br />

„Wie willst du uns denn dort rein Schmuggeln?“, fragte Kate.<br />

„Ganz einfach. Juliet hat die Ankunftslisten ein wenig frisiert. Es ist ganz simpel: Ihr<br />

wartet vor dem Rekrutierungsbüro, bis eure Namen aufgerufen werden. Seid freundlich und<br />

benehmt euch, als würdet ihr genau dort sein, wo ihr sein wollt. Ihr werdet willkommen ge-<br />

heißen, bekommt Klamotten und werdet euren Arbeitsdiensten zugeteilt. Dann werdet ihr<br />

Hütten zugewiesen bekommen. Und schon seid ihr Mitglieder der Initiative.“<br />

„Arbeit?“, fragte Jack lang gedehnt.<br />

„Ja, was denkst du denn? Dass ihr kostenlos durchgefüttert werdet?“<br />

Jim grinste still vor sich hin. <strong>Der</strong> Wagen fuhr auf der gut befahrbaren Straße durch den<br />

dichten Wald und Jack fragte:<br />

„Was macht Juliet? Geht es ihr gut?“<br />

Jim nickte.<br />

„Jepp. Sie ist jetzt eine perfekte Automechanikerin. Es gibt nichts, was sie nicht<br />

wieder zum Laufen kriegt.“<br />

- 231 -


Jack seufzte.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Und was passiert, wenn sie dahinter kommen, dass wir nicht dazu gehören?“<br />

Jim wurde ernst.<br />

„Dann bin ich am Arsch und Juliet auch! Also, reißt euch zusammen und macht uns<br />

nicht alles kaputt, kapiert?“<br />

Gerade kamen sie an einem kleinen Hang an und vor ihnen breitete sich das Tal mit<br />

den vielleicht zwanzig Häusern aus. Kate, Hurley und Jack hatten es nur verlassen gesehen<br />

und waren wirklich überrascht, wie wunderschön es hier war. Gepflegte Gärten, die Häuser in<br />

erstklassigem Zustand, spielende Kinder, eine kleine Kirche, etwas, das wie eine Schule aus-<br />

sah, ein kleines Krankenhaus, alles, was man brauchte, war vorhanden. Jim hielt den Wagen<br />

hinter einem der Häuser und forderte die Drei auf:<br />

„Los, raus und mir nach.“<br />

Zwischen den Häusern hindurch dirigierte er die Drei, bis vor ihnen eine größere<br />

Menschenansammlung auftauchte.<br />

angespannt.<br />

„Mischt euch unauffällig unter sie.“, erklärte er leise.<br />

„Was ist, wenn die vom U-Boot merken, dass wir nicht an Bord waren?“, fragte Jack<br />

„Die sind schon wieder weg, mit denen, deren Dienstzeit abgelaufen ist. Ihr seid der<br />

Ersatz. Nun macht schon.“<br />

Jim trieb die Drei raus und beobachtete, wie sie sich unauffällig zu den wartenden<br />

Leuten begaben. Er seufzte und eilte zur Werkstatt hinüber. Er fand Juliet unter einem Ge-<br />

ländewagen.<br />

Nase.<br />

sanft frei.<br />

„Hey, Sweety, ich bin wieder da.“<br />

Juliet schob sich unter dem Wagen hervor und Jim grinste.<br />

„Was?“<br />

Er zog sie an den Händen auf die Beine und wischte ihr mit dem Handrücken über die<br />

„Öl.“, erklärte er grinsend. „Und, hast du es hinbekommen?“<br />

Juliet nickte und sagte leise:<br />

„Natürlich. Es ist alles klar. Doris war ganz dankbar, dass ich ihr geholfen habe.“<br />

Sie sah Jim ernst an.<br />

„Du riskierst unser Leben für sie.“<br />

Jim lächelte.<br />

„Mach dir keine Sorgen, okay, es wird alles gut gehen.“<br />

Er zog Juliet an sich und gab ihr einen Kuss. Kurz ließ sie es zu, dann machte sie sich<br />

„Ich hoffe, du behältst Recht.“<br />

„Klar, hab ich doch immer.“<br />

- 232 -


liebe dich.“<br />

Jim lachte vergnügt.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„So, ich werd mal gucken gehen, ob drüben alles klar ist. Wir sehen uns später. Ich<br />

„Ich liebe dich auch.“<br />

Juliet wandte sich wieder dem Wagen zu, an dem sie gearbeitet hatte. Bevor sie sich<br />

unter das Fahrzeug schob, warf sie Jim einen besorgten Blick hinterher.<br />

Am Rekrutierungsgebäude war gerade der Name Shephard, Jack, aufgerufen worden.<br />

<strong>Der</strong> Arzt betrat das Gebäude und ging zum Empfangstresen hinüber.<br />

„Jack Shephard?“<br />

Jack nickte.<br />

„Willkommen in Dharmaville. Hier hast du deine Arbeitskleidung. Du bist zum ein-<br />

fachen Arbeitsdienst eingeteilt worden. Wenn irgendwelche Fragen offen sind, kannst du dich<br />

jederzeit an deinen Vorarbeiter, an das Rekrutierungsbüro oder an den Chef unserer Sicher-<br />

heit, James Lafleur, wenden. Du wirst in Haus 12 wohnen, das ist das letzte Haus am Ende<br />

des Weges dort hinten, wo auch Schule und Krankenstation sind.“<br />

Jack starrte skeptisch auf die drei Overalls, die man ihm in die Hand gedrückt hatte.<br />

Jack, Workman, stand auf der Brusttasche. Missmutig stapfte der Arzt aus dem Büro und be-<br />

kam gerade noch mit, dass Hurley Name aufgerufen wurde. Draußen vor dem Büro sah Jack<br />

sich um. Dort hinten, da war die Schule. Er marschierte los und fand Haus 12 auf Anhieb.<br />

Erstaunt sah er sich um. Das kleine Haus war sehr nett eingerichtet, es gab eine Küche, zwei<br />

kleine Schlafzimmer, Bad, Wohnraum und eine wohlgefüllte Speisekammer. Jack betrat eines<br />

der Schlafzimmer und legte die Overalls auf das bezogene Bett. Genervt zog er einen der An-<br />

züge an. Als er diesen schloss hörte er jemanden zur Tür herein kommen. Sekunden später<br />

stapfte Hurley an seine Tür.<br />

„Mensch, Alter, wir wohnen zusammen, cool. Ich bin für die Küche eingeteilt worden.<br />

Kate ist gerade drinnen. Mal sehen, was das wird. Wir sollen noch mal raus kommen, wenn<br />

wir uns umgezogen haben, die wollen ein Foto machen von den Neuen.“<br />

nehmen.“<br />

„Na prima, zieh dir mal deinen Strampelanzug an und lass uns den Fototermin wahr-<br />

Zehn Minuten später standen alle Neulinge draußen vor dem Büro in der Sonne. Jim<br />

stand vor ihnen und wartete, bis alle anwesend waren. Grinsend erklärte er:<br />

„So, Leute, schenkt mir mal nen Moment eure Aufmerksamkeit. Es gibt ein paar<br />

Dinge, die ihr wissen müsst. Um unser Dorf herum ist ein Sonarzaun angebracht, der <strong>Angriff</strong>e<br />

verhindert. Diesen Zaun dürft ihr nicht übertreten. Er kann nur mittels eines Codes aus-<br />

geschaltet werden, und diesen Code wissen nur wenige Leute. Ihr habt auch keinen Grund,<br />

euch außerhalb aufzuhalten, denn alles, was ihr braucht,<br />

- 233 -


By<br />

Frauke Feind<br />

gibt‟s hier im Dorf. Im Wald um uns herum leben Eingeborene, die wir Hostiles nennen. Sie<br />

sind uns nicht besonders grün und wenn es auch ne Art Waffenstillstand gibt, vermeiden wir<br />

doch die Konfrontation mit ihnen. Wenn es mal zu Komplikationen kommen sollte, wird ein<br />

Alarm ausgelöst. Alle, die mit Waffen umgehen können, haben sich unmittelbar an der Schule<br />

einzufinden. Alle anderen begeben sich bei Ertönen des Alarms sofort in ihre Häuser und<br />

überlassen alles mir und meinen Leuten. So, und jetzt überlass ich euch den fähigen Händen<br />

von Wayne, der ein nettes Foto von euch machen wird.“<br />

Ein dunkelhaariger Mann um die dreißig trat vor die Rekruten und sagte fröhlich<br />

„Dann rückt mal schön zusammen unter das Schriftband.“<br />

Hinter ihnen wurde ein breites Band in die Höhe gehalten, auf dem: Namaste New<br />

Recruits stand. Als alle eng zusammen gerückt waren erklärte Wayne:<br />

„So, Freunde, ich will ein breites Namaste von euch hören!“<br />

Verlegen sagte die Gruppe laut: „Namaste!“ und Wayne drückte den Auslöser.<br />

************<br />

Kate, Jack und Hurley lebten sich schnell ein. Am zweiten Abend klopfte es bei Jim<br />

und Juliet an der Tür. Juliet ging, um zu öffnen. Vor der Tür stand Jack.<br />

„Hallo, Juliet. Ähm, ich ähm ich wollte eigentlich zu Sawyer, man sagte mir, ich<br />

würde ihn hier finden. Ist er ... hier ... ich meine, bei dir?“<br />

Juliet lächelte.<br />

„Hallo, Jack, lange her, was? Ja, Jim ist hier, wir leben hier zusammen, weißt du.<br />

Komm doch rein. Er ist im Wohnzimmer.“<br />

Jack trat ein und ging zum Wohnraum hinüber. Jim saß auf einem Sofa und las ein<br />

Buch. Er sah auf und ein Grinsen huschte über sein Gesicht.<br />

„Hey, Doc, was kann ich für dich tun?“<br />

Jack blieb etwas unschlüssig stehen. Jim machte keine Anstalten, ihn zum Sitzen auf-<br />

zufordern. So sagte der Arzt schließlich:<br />

„Folgendes. Zusammen mit uns saßen auch Sayid und Sun in der Maschine, mit der<br />

wir her gelangt sind. Sie müssten irgendwo im Dschungel sein. Hast du eine Möglichkeit,<br />

nach ihnen zu suchen?“<br />

Jim sah überrascht zum Arzt auf.<br />

„Was? Captain Arab und Madam Butterfly waren bei euch?“<br />

Jack grinste.<br />

„Hast dich nicht verändert, Sawyer.“<br />

Hinter Jack war Juliets Stimme zu hören.<br />

„Oh, doch, Jack, das hat er. James ist nicht mehr der Gleiche wie vor drei Jahren. Er<br />

hat hier Verantwortung für uns alle übernommen und wird geschätzt und respektiert.“<br />

- 234 -


Jack nickte langsam.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Okay, entschuldige. Also, hast du die Möglichkeit, nach ihnen zu suchen?“<br />

Jim nickte.<br />

„Sicher. Ich mach <strong>mich</strong> morgen früh gleich auf die Socken. Wenn ich einem der<br />

‟Anderen‟ begegne ist das nicht schlimm, wir haben mit Richard eine <strong>Über</strong>einkunft getroffen.<br />

Allerdings, Doc, ich sag es dir ganz ehrlich, ich kann die Beiden, wenn ich sie finde, nicht<br />

ganz so leicht hier einschmuggeln wie euch. Das muss klar sein.“<br />

Jack nickte.<br />

„Verstehe. Aber wenn wir schon mal wüssten, dass sie in Ordnung sind, wäre das eine<br />

Erleichterung.“<br />

Er drehte sich herum und lächelte Juliet an.<br />

„Ich gehe dann mal wieder. Wird sicher ein netter Abend mit Hurley. Gute Nacht.“<br />

Juliet begleitete den Arzt zur Tür und sagte: „Gute Nacht, Jack. Es ist schön, dich<br />

wieder zu sehen.“<br />

Sie sah dem Mann nach, als er zu seiner Hütte hinüber ging. Vor drei Jahren war sie in<br />

ihn verliebt gewesen. Juliet war sich nicht sicher, ob von diesen Gefühlen noch Reste vor-<br />

handen waren. Allerdings war sie sich sicher, dass Jim noch immer tiefe Gefühle für Kate<br />

hegte. Juliet schloss die Tür und seufzte frustriert. Warum hatten sie hier wieder auftauchen<br />

müssen?<br />

Sie setzte sich zu Jim ins Wohnzimmer auf einen Sessel und griff nach einer Strick-<br />

arbeit, die sie vor einigen Tagen angefangen hatte. Ruhig sagte sie:<br />

„Weißt du schon, dass Opal beim nächsten Abtransport dabei ist? Ich überlege, <strong>mich</strong><br />

für den Krankenstationsdienst zu melden.“<br />

Jim sah von seinem Roman auf.<br />

„Das ist ne ausgezeichnete Idee, Blondie. Du würdest mir mit weniger Motorenöl<br />

unter den Fingernägeln noch viel besser gefallen.“<br />

Er erhob sich langsam und setzte sich auf die Lehne des Sessels. Langsam nahm er<br />

Juliet die Strickarbeit aus der Hand und sagte sanft:<br />

„Ich könnte dir natürlich jetzt schon zeigen, wie gut du mir gefällst.“<br />

Er sah sie anzüglich an und Juliet lachte.<br />

„Das würdest du tun?“, fragte sie verliebt.<br />

„Aber hallo!“<br />

Jim stand auf und hob Juliet schwungvoll aus dem Sessel. Er trug sie zum Schlaf-<br />

zimmer hinüber und legte sie dort auf das Bett. Lächelnd ließ er sich neben sie fallen und zog<br />

sie an sich.<br />

„Ich werd dir noch ganz was anderes zeigen, wenn du <strong>mich</strong> lässt.“, sagte er sanft und<br />

ließ seine Hände unter Juliets Bluse rutschen.<br />

- 235 -


Jim.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Da bin ich aber mal gespannt.“, schnurrte die blonde Frau leise und schmiegte sich an<br />

„Wenn du Sun und Sayid finden solltest, was hast du mit ihnen vor?“, fragte Juliet,<br />

während sie Jim das Hemd aufknöpfte.<br />

„Da mach ich mir nen Kopf drüber, wenn es soweit ist.“, erwiderte Jim erregt.<br />

Und streifte Juliet die Bluse über den Kopf.<br />

„Jetzt werd ich da bestimmt nicht drüber nachdenken ...“<br />

************<br />

Am kommenden Morgen saß Jim bereits um 6 Uhr in der Frühe am Steuer seines<br />

Wagens. Er fuhr Wege innerhalb des Zaunes ab, stieg immer wieder aus und stapfte im<br />

Dschungel ein Stück herum, aber er fand keine Spur von Menschen. So entschied er sich,<br />

auch außerhalb des Zaunes zu suchen. Er deaktivierte den Zaun und fuhr langsam und vor-<br />

sichtig auch Straßen ab, die außerhalb des Dharma-Gebietes lagen. Er stieg auch hier immer<br />

wieder aus, um im Gebüsch zu suchen, fand jedoch auch hier niemanden. Mittags beschloss<br />

er, umzukehren und auf einem weiter westlich gelegenen Weg zum Dorf zurück zu fahren. Er<br />

suchte immer wieder mit dem Fernglas die Umgebung ab. Am frühen Nachmittag erreichte er<br />

eine kleine Hochebene, kaum noch drei Meilen vom Dorf entfernt. Noch einmal hielt er an<br />

und sah sich mit dem Fernglas gründlich um. Er wollte das Glas schon absetzen, als er plötz-<br />

lich meinte, am gegenüberliegenden Waldrand etwas im Gras liegen zu sehen. Schnell sprang<br />

er ins Auto und fuhr über die kleine Ebene zu der Stelle, wo er etwas gesehen zu haben<br />

glaubte. Als er näher kam, war er sicher, dass dort jemand lag. Er gab Gas und kam<br />

schlitternd bei der dort liegenden Gestalt an. Jim sprang aus dem Wagen und lief die letzten<br />

Schritte zu dem dunklen Haufen hinüber. Er erschrak. Da lag eine junge Frau im Gras, voll-<br />

kommen verdreckt und über und über blutverschmiert.<br />

„Scheiße!“<br />

Jim fluchte ungehalten. Er hob die Fremde vorsichtig hoch und trug sie im Laufschritt<br />

zum Wagen hinüber. Sanft ließ er sie auf den Boden des VWs gleiten, deckte sie mit einer<br />

Decke zu und sprang wieder hinters Steuer. So schnell er konnte fuhr er zum Zaun, de-<br />

aktivierte diesen wieder und raste weiter ins Dorf. Vor der Krankenstation kam er schlitternd<br />

zum Stehen. Er sprang aus dem Wagen und rief:<br />

„Opal. Schnell, ich hab ne Verletzte im Auto!“<br />

Die Tür zur Krankenstation ging auf und die dunkelhäutige Krankenschwester Opal<br />

Marsh stürzte zu ihm.<br />

„Wer ist das? Eine von denen?“, fragte sie erschrocken.<br />

„Keine Ahnung, ist doch scheißegal, sie ist schwer verletzt und wir müssen ihr helfen.<br />

Ich hol Juliet, du wirst sie brauchen.“<br />

- 236 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Er trug die verletzte junge Frau in das Gebäude und ließ sie auf eines der vier Betten<br />

sinken. Hastig rannte er zurück nach draußen und erreichte Augenblicke später das Haus, dass<br />

er mit Jules bewohnte. Er riss die Tür auf und rief:<br />

„Juliet, bist du da?“<br />

Die blonde Frau antwortete aus der Küche:<br />

„Ja, Honey, ich bin hier, was ...“<br />

Er ließ sie nicht ausreden.<br />

„Schnell, ich hab im Wald ne schwer Verletzte gefunden, wir müssen ihr helfen.“<br />

21) Mein Name ist Kelly<br />

Gemeinsam rannten die Beiden zur Krankenstation hinüber. Als Juliet neben dem Bett<br />

mit der Verletzten stand, seufzte sie entsetzt auf.<br />

„Mein Gott, was ist mit ihr geschehen? Opal, wir müssen sie erst einmal reinigen, ich<br />

kann vor Dreck nicht sehen, welche Verletzungen sie hat.“<br />

Jim sah den beiden Frauen kurz zu und meinte besorgt:<br />

„Ich werd mal Horace informieren, bin gespannt, was er sagt.“<br />

Jim warf noch einen Blick auf die Unbekannte, drehte sich herum und verließ die<br />

Krankenstation. Er marschierte zu Haus 2 hinüber und klopfte. Amy Goodspeed öffnete ihm<br />

die Tür.<br />

ruhigen.“<br />

„Oh, hallo, Jim. Kann ich was für dich tun?“<br />

Jim nickte.<br />

„Hallo, Amy, wie geht‟s dem Baby?“<br />

„Oh, Ethan geht es gut, er hat die halbe Nacht geschrien, ich konnte ihn kaum be-<br />

Jim grinste.<br />

„Liegt Horace in ner Ecke und holt Schlaf nach oder wo kann ich ihn finden?“<br />

Amy sah Jim besorgt an.<br />

„Ist etwas passiert?“ Jim nickte.<br />

„Kann man sagen. Ich hab im Wald ne schwer verletzte junge Frau gefunden.“<br />

Amy machte Oh. Sie deutete vage auf den Wald.<br />

„Er ist am Sonarzaun, da muss einiges neu eingestellt werden.“<br />

Jim erwiderte:<br />

„Okay, werd ich mal zusehen, dass ich Daddy auftreib. Bis dann.“<br />

Er verabschiedete sich und eilte zu seinem Wagen. Zehn Minuten später war er am<br />

Zaun und sah Horace und Phil, ein weiteres Mitglied des Security Teams. Er stieg aus und<br />

ging zu den Beiden hinüber.<br />

- 237 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Mahlzeit. Ist was passiert?“, wurde er begrüßt.<br />

„Hallo, Boss, ja, kann man sagen. Ich hab auf meiner Runde heute ne Verletzte ge-<br />

funden, geht ihr ziemlich mies. Juliet und Opal kümmern sich gerade um sie.“<br />

Horace überlegte. Angespannt fragte er:<br />

„Kann sie eine von den Hostiles sein?“<br />

„Was weiß ich, aussehen tut sie nicht so. Kannst sie ja fragen, falls sie es schafft.“<br />

Horace nickte.<br />

„Das werde ich machen. Okay, erst mal soll Juliet alles für sie tun. Ich mache hier<br />

fertig und komme später in die Krankenstation.“<br />

Jim nickte.<br />

„Gut. Ich mach <strong>mich</strong> wieder auf die Socken. Man sieht sich.“<br />

Er kehrte zu seinem Wagen zurück und fuhr zurück ins Dorf. Ein Blick zur Uhr sagte<br />

ihm, dass ohnehin Feierabend war. So stellte er den Wagen zuhause ab und ging zur Kranken-<br />

station hinüber. Juliet und Opal hatten die Unbekannte gewaschen und kümmerten sich bereits<br />

um ihre zahllosen Wunden.<br />

„Wie geht‟s ihr?“, fragte Jim gespannt.<br />

„Sie ist vollkommen dehydriert und halb verhungert. Die Wunden sehen aus, als wäre<br />

sie über Steine geschleift worden, sie hat eine ziemlich schlimme Platzwunde am Hinterkopf.<br />

Sie muss tagelang im Wald unterwegs gewesen sein, bevor sie endgültig zusammen ge-<br />

brochen ist. Sie hat hohes Fieber, eine schwere Sepsis und ich weiß nicht, ob sie es schaffen<br />

wird. Papiere oder etwas zur Identifikation hat sie nicht bei sich, wir haben ihre Sachen<br />

durchsucht.“<br />

Jim hatte ruhig zugehört. Jetzt sagte er:<br />

„Horace kommt später rein, will sie sich angucken. Ob sie zu den ‟Anderen‟ gehört?“<br />

Juliet zuckte die Schultern.<br />

„Keine Ahnung, obwohl ich eher denke, nicht.“<br />

Sie verband weiter zusammen mit Opal die vielen entzündeten Wunden der jungen<br />

Frau und als sie dies geschafft hatten, legte Juliet einen Venenkatheter und schloss die Ver-<br />

letzte an einen Volumentropf an, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. An Jim gewandt<br />

sagte sie:<br />

„Ich habe ihr unsere stärksten Antibiotika gegeben. Mehr können wir im Augenblick<br />

nicht tun. Ich werde uns jetzt etwas zu essen machen, kommst du mit?“<br />

sagte diese:<br />

Jim hatte die Unbekannte angestarrt und Juliets Worte gar nicht gehört. Noch einmal<br />

„James? Kommst du mit?“<br />

Jim zuckte aus seinen Gedanken hoch.<br />

„Was?“<br />

- 238 -


Juliet lächelte.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich mache Abendbrot, kommst du mit?“<br />

„Nein, geh schon vor, ich warte hier auf Horace. Ich komm nach.“<br />

Juliet nickte.<br />

„Okay.“<br />

Sie gab Jim einen liebevollen Kuss und verließ den Raum. Opal räumte auf und Jim<br />

zog sich einen Stuhl heran, auf den er sich sinken ließ. Einige Zeit saß er so da und sah die<br />

Verletzte gedankenverloren an. Dann hörte er die Tür aufgehen und sah sich um.<br />

„Hey, großer Boss, alles klar am Zaun?“<br />

Horace hatte die Krankenstation betreten.<br />

„Ja, alles wieder in Ordnung. Das ist also deine Unbekannte?“<br />

Jim nickte und schob den Stuhl zur Seite. Horace sah sich die junge Frau genau an.<br />

„Sieht eigentlich nicht aus, als würde sie zur Truppe Alperts gehören.“<br />

Er griff nach der rechten Hand der jungen Frau. Abgesehen von den Abschürfungen<br />

sah die Hand gepflegt aus. Die Nägel waren manikürt und für körperliche Arbeit zu lang und<br />

gepflegt. Ohne Zögern schlug Horace die Bettdecke am Fußende zur Seite und sah sich auch<br />

die Füße der jungen Frau an.<br />

ihm zu.<br />

„Die ist nie barfuß im Dschungel rumgelaufen.“, stellte Jim fest und Horace stimmte<br />

„Demnach können wir davon ausgehen, dass sie keine der Feindlichen ist. Bleibt die<br />

Frage, wer sie ist und wo sie so plötzlich her kommt.“<br />

Jim zuckte die Schultern.<br />

„Wenn sie aufwacht, werden wir es erfahren. Falls sie aufwacht. Ich verdrück <strong>mich</strong><br />

mal, Jules wartet mit dem Abendbrot.“<br />

Er nickte Horace kurz zu und setzte sich in Bewegung, zu seinem eigenen Haus<br />

hinüber zu gehen. Auf halber Strecke lief ihm Kate über den Weg.<br />

Leise begrüßte sie ihn.<br />

„Hallo, Sawyer. Danke für den tollen Job.“<br />

Sie verzog angewidert das Gesicht. Jim grinste.<br />

„Da hab ich nichts mit zu tun, Juliet musste Improvisieren.“<br />

Kate sah Jim an.<br />

„Verstehe. Du bist ... mit ihr zusammen?“<br />

Jim nickte.<br />

„Jepp, seit drei Jahren.“<br />

Kurz zögerte Kate. Leicht ungnädig meinte sie erneut:<br />

„Verstehe.“<br />

Kurz herrschte verlegenes Schweigen. Schließlich sagte Jim:<br />

„Ja, also, ich werd mal, das Abendbrot wartet. Man sieht sich ...“<br />

- 239 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Er ging weiter, wurde aber von Kate aufgehalten.<br />

„Sawyer.“<br />

Jim drehte sich langsam herum.<br />

„Was?“<br />

Kate trat dicht an ihn heran und fragte sehr leise:<br />

„Wie soll es weiter gehen?“<br />

Erstaunt fragte Jim<br />

„Was meinst du?“<br />

Genervt schnaufte Kate.<br />

„Hier. Das alles. Sollen wir jetzt hierbleiben, oder was? Wir haben 1977! Ich will hier<br />

nicht verschimmeln.“<br />

gut.“<br />

Ernst sagte Jim:<br />

„Tja, Freckles, bau dir ne Zeitmaschine und schwirr ab. Wenn du das schaffst, bist du<br />

Er sah sich um und sagte ruhig:<br />

„Das hier ist jetzt unser Zuhause. Hier werd ich nicht gesucht, hier weiß keiner von<br />

meiner Vergangenheit, abgesehen von Juliet, und die hat keine Probleme damit, und hier sieht<br />

<strong>mich</strong> niemand schief an, verstehst du?“<br />

zurück.“<br />

Kate schüttelte den Kopf.<br />

„Das hier ist nicht unser Leben, Sawyer! Wir hatten ein Leben in 2005, dahin will ich<br />

Jim zog die Stirn in Falten.<br />

„Mit Jack?“<br />

Kate nickte.<br />

„Ja, auch mit Jack, aber das ist vorbei.“<br />

„Das tut mir leid. Ist der große Medizinmann doch nicht das Gelbe vom Ei gewesen?“<br />

Kate sah Jim wütend an.<br />

„Doch, aber er hat sich verändert. Er hat angefangen zu Trinken und war<br />

Tablettensüchtig. Nachdem ich bei Cass war, um deinen Gefallen zu erfüllen, ist er aus-<br />

geflippt. Danach haben wir uns getrennt.“<br />

Jim sah Kate an.<br />

„Du hast es gemacht?“ Sie nickte.<br />

„Natürlich.“<br />

„Danke. Hör zu, wir Reden später weiter, ich muss ... Bye.“<br />

Hastig drehte Jim sich herum und eilte nun weiter nachhause.<br />

Juliet erwartete ihn bereits.<br />

„Was wollte sie?“, fragte sie ruhig.<br />

- 240 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Was schon, weg von hier. Sie hofft, H.G.Wells. Wells kommt mit seiner Zeit-<br />

maschine vorbei und schafft sie zurück nach 2005.“<br />

Juliet seufzte.<br />

„Kann ich aus ihrer Sicht sogar verstehen. Was wollen sie überhaupt hier?“<br />

Jim ließ sich am Esstisch auf einen Stuhl sinken und meinte:<br />

„Keine Ahnung, der Doc hat irgendwas gefaselt von uns alle Retten und Schicksal,<br />

frag ihn selber, ich hab keine Lust, mir dieses Locke-Gelaber anzuhören. Ich hoff nur für ihn,<br />

die stiften hier keinen Unfrieden, sonst gibt„s Zunder.“<br />

Dass er dabei an Kate und seine Gefühle für sie dachte, verschwieg er wohlweislich.<br />

„Das hoffe ich auch.“, sagte Juliet sehr ernst.<br />

Sie aßen schweigend, ihren nicht sehr erfreulichen Gedanken nachhängend. Nach dem<br />

Essen meinte Jim:<br />

„Ich werd noch mal ne Runde drehen, okay. Bin bald zurück.“<br />

Er schob den Stuhl zurück und ging zur Tür. Minuten später stand er wieder in der<br />

Krankenstation bei der Unbekannten am Bett. Die junge Frau lag in einem unruhigen Fieber-<br />

schlaf und murmelte ab und zu etwas Unverständliches vor sich hin. <strong>Über</strong>rascht horchte Jim<br />

auf. Ziemlich deutlich hörte er plötzlich, wie sie:<br />

„Jim ...“, nuschelte.<br />

„Na, das ist ja n Ding. Du kennst also auch nen Jim?“<br />

Hinter ihm war leises Lachen zu hören. Opal trat zu ihm und grinste.<br />

„Na, ist ja nicht gerade der seltenste Name der Welt, oder? Es soll doch tatsächlich<br />

noch ein oder zwei Andere geben, die so heißen. Soweit ich <strong>mich</strong> erinnere, steht er an Platz<br />

siebzehn der beliebtesten Namen ...“<br />

kennt.“<br />

Jim sah die Krankenschwester an. Er verzog das Gesicht und machte:<br />

„Harhar. Okay, ich hab also nen Sammelbegriff als Namen, schon kapiert.“<br />

Er grinste, dass seine Grübchen zuckten. Opal lachte.<br />

„So kann man es auch sehen. Ist also kein Wunder, wenn die Kleine auch einen Jim<br />

Opal sah die Verletzte an.<br />

„Sie tut mir leid. So, wie sie aussieht, hat sie einiges durchgemacht. Was, wenn Jim ihr<br />

Freund oder Mann ist und vielleicht auch irgendwo auf der Insel herumliegt?“<br />

Jim nickte.<br />

„Möglich. Ich werd morgen mal losziehen und <strong>mich</strong> umsehen. Vielleicht find ich ja<br />

noch jemanden. Na, ich verzieh <strong>mich</strong>, wenn was ist, hol uns, okay.“<br />

Opal nickte.<br />

„Klar, Jim, mach ich. Gute Nacht.“<br />

„Nacht.“<br />

- 241 -


By<br />

Frauke Feind<br />

************<br />

Zwei Tage vergingen, in denen Jim viel am Bett der jungen Frau saß. Irgendwas zog<br />

ihn immer wieder auf die Krankenstation. Er konnte sich selbst nicht erklären, was ihn immer<br />

wieder hierher zog. Wenn er bei der Unbekannten am Bett saß, hatte er das Gefühl, als ver-<br />

suche sein Hirn, sich an etwas Bestimmtes zu erinnern. Er sah der jungen Frau oft lange ein-<br />

fach nur in das blasse Gesicht, war sich aber absolut sicher, sie nie zuvor gesehen zu haben.<br />

Was auch immer er Erinnern wollte, konnte also definitiv nicht mit der jungen Frau zu-<br />

sammenhängen. Sie hatte immer noch hohes Fieber und flüsterte in wirren Fieberträumen<br />

immer wieder den Namen Jim. Ab und zu griff Sawyer nach ihrer Hand und hielt diese fest.<br />

Meistens beruhigte sich die Verletzte so schnell.<br />

- Wenn ich nur wüsste, was du durchgemacht hast. Deinen Jim such ich, wie Sayid und<br />

Sun. Aber irgendwie seh ich schwarz, Mädchen. Ich kann mir nur erklären, dass du auf nem<br />

Boot oder Schiff hier angekommen bist, zusammen mit diesem Jim, den du so verzweifelt ver-<br />

misst. Ich fürchte, er wird nicht wieder auftauchen. -<br />

Solche und ähnliche Gedanken schwirrten Sawyer durch den Kopf.<br />

Viel Zeit verbrachte er auch damit, nach Sayid und Sun zu suchen und hielt auch<br />

immer Ausschau, ob er irgendwo den geheimnisvollen anderen Jim fand. Doch er entdeckte<br />

keine Spur. Kate sah er kaum, was auch gut war. Viel zu oft für seinen Geschmack drifteten<br />

seine Gedanken zu ihr. Am Nachmittag des dritten Tages, Jim hatte gerade seine Runde im<br />

Dschungel beendet, rief Opal nach ihm.<br />

„Jim, komm schnell, sie scheint aufzuwachen!“<br />

Im Laufschritt rannte Jim hinüber zur Krankenstation und stürzte in den Schlafsaal. Er<br />

zog sich einen Stuhl an das Bett der jungen Frau und griff in einem Reflex nach ihrer rechten<br />

Hand. Sanft sagte er:<br />

„Lady, kommen Sie, versuchen Sie, aufzuwachen. Sie schaffen das.“<br />

Die Kranke murmelte etwas und schlug mühsam die Augen auf. Es dauerte einige<br />

Minuten, bis sie halbwegs klar war. Sie sah Jim an und Tränen traten ihr in die Augen.<br />

Verzweifelt schluchzte sie auf. Jim war vollkommen verwirrt und wusste nicht, was er tun<br />

sollte. Schließlich sagte er beruhigend:<br />

„Sie sind in Sicherheit, Ma‟am, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie sind in<br />

einem Krankenhaus ... sozusagen. Sie werden sich wieder ganz erholen.“<br />

Die junge Frau weinte noch heftiger und Jim war richtig erschrocken.<br />

„Hey, beruhigen Sie sich. Kommen Sie schon, Ihnen passiert hier nichts. Sie werden<br />

wieder. Und Ihren Jim finden wir mit etwas Glück auch.“<br />

Scheinbar war das nicht unbedingt das, was die Unbekannte hatte hören wollen, denn<br />

sie schien keine Veranlassung zu sehen, sich auch nur ansatzweise zu beruhigen. Nervös und<br />

- 242 -


By<br />

Frauke Feind<br />

unsicher sah Jim sich um. Und plötzlich ging draußen der Alarm los. Jim sprang auf und rief:<br />

„Opal, komm her, schnell, sie ist wach. Kümmer dich um sie, ich muss raus!“<br />

sah er nicht.<br />

Schon rannte er los nach draußen. Dass die Verletzte ihm sehnsüchtig nachschaute,<br />

Draußen herrschte hektische Betriebsamkeit. Diejenigen, die mit Waffen umgehen<br />

konnten, rannten zum Schulgebäude, um sich zu bewaffnen. Alle anderen eilten in die Häuser.<br />

Mütter zogen ihre Kinder von den Spielgeräten auf dem Spielplatz weg und zerrten sie zu<br />

ihren Wohnungen. Innerhalb kürzester Zeit war der große Platz zwischen den Häusern ge-<br />

räumt und Jim, Horace, Jin und Miles waren die Einzigen, die abwartend in der Sonne<br />

standen, Gewehre im Anschlag. Hinter Deckungen an den Häusern hockten diejenigen, die<br />

nicht zur Security gehörten, als Rückendeckung. Und dann kam aus dem Gebüsch Phil mit<br />

einem Mann, bei dessen Anblick Jim sich mächtig zusammenreißen musste, um keine Regung<br />

zu zeigen.<br />

„Den Kerl hab ich gefunden, hinten am Zaun. Er war dabei, die Sperre zu passieren.“<br />

Phil trieb seinen Gefangenen vor sich her und dann standen beide vor Horace und<br />

Jim. Jim flehte mit den Augen darum, dass der Gefangene sich nicht verraten möge. Dann<br />

fragte er ruhig:<br />

„Wer bist du?“<br />

Ebenfalls ziemlich gelassen antwortete der Mann:<br />

„Mein Name ist Sayid Jarrah.“<br />

Jim atmete innerlich auf. <strong>Der</strong> Iraker hatte begriffen, um was es ging.<br />

„Wo kommst du her?“<br />

Sayid schwieg. Jim nickte.<br />

„Okay. Sperrt ihn ein.“<br />

Phil nickte eifrig.<br />

„Ja, Boss.“<br />

Er trieb Sayid mit einem Schubs seines Gewehrlaufs weiter, Richtung Schulgebäude.<br />

Hier waren in einem gesicherten Keller vier Zellen unter-<br />

gebracht. In eine dieser Zellen wurde Sayid geführt und<br />

schon schloss sich die Zellentür hinter ihm.<br />

„Du wirst uns schon alles erzählen, was wir wissen<br />

wollen, Meister. Unser Boss ist nicht sehr geduldig. Ich<br />

wünsche dir viel Spaß.“<br />

versuchen.“<br />

Jim unterhielt sich inzwischen mit Horace.<br />

„Vielleicht gehört er zu der jungen Frau. Ich werd mal ne kleine Unterhaltung mit ihm<br />

- 243 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Jim nickte Horace zu und marschierte ebenfalls zum Schulgebäude hinüber. Auf<br />

halbem Weg überlegte er es sich anders und eilte zu seinem Haus. Juliet hatte, wie alle<br />

anderen Waffenkundigen, in Deckung gehockt und die Umgebung gesichert. Jetzt trat sie,<br />

noch mit einem Gewehr in der Hand, auf Jim zu und hauchte:<br />

„Sayid ...“<br />

Jim nickte.<br />

„Hör zu. Die junge Frau ist aufgewacht. Geh zu ihr und versuch, etwas herauszu-<br />

finden. Wir könnten versuchen, sie und Sayid in Zusammenhang zu bringen. Wenn sie klar<br />

genug ist, versuch, ihr das irgendwie begreiflich zu machen.“<br />

Juliet nickte und verschwand im Haus, während Jim nun weiter ging zum Schul-<br />

gebäude. Dabei begegnete er Kate und Jack, die zu ihm eilen wollten. Er warf den Beiden<br />

einen Blick zu, der ganz klar besagte: Jetzt nicht! Geschickt taten sie so, als wären sie auf dem<br />

Weg zu Kates Haus und achteten nicht mehr auf Jim. Dieser eilte weiter und stand Minuten<br />

später alleine im Keller. Da der Raum videoüberwacht wurde, musste er sehr vorsichtig sein<br />

bei dem, was er sagte. Langsam trat er an das Gitter heran und sagte ruhig und doch eindring-<br />

lich:<br />

„Dein Name ist Sayid Jarrah? Ich bin James Lafleur, Chef des Sicherheitsteams.“<br />

Sayid nickte.<br />

„Lafleur ... Wie der Eishockeyspieler?“<br />

Jim sah, dass Sayid sich mächtig zusammenreißen musste, um nicht zu Grinsen. Jim<br />

ging nicht auf die Bemerkung ein. Er sah Sayid ernst an.<br />

„Wir haben feste Regeln hier: Keiner, der nicht zur DHARMA Initiative gehört, darf<br />

sich hier im Dorf aufhalten. Gehörst du zu den ‟Anderen‟?“<br />

Jim hoffte, dass die Ausdrucksweise gegenüber dem hier gebräuchlichen Wort<br />

Hostiles nicht auffiel. Fest erklärte Sayid:<br />

war.<br />

„Nein, ich gehöre zu keinen ‟Anderen‟, wer oder was immer das sein mag.“<br />

Kurz schloss Jim die Augen, um Sayid zu signalisieren, dass die Antwort gut gewesen<br />

Nun kam ein kniffliger Moment, denn Jim musste dem Iraker Worte in den Mund<br />

legen. Er hoffte inständig, dass Horace und Phil, die ihn garantiert beobachteten und zuhörten,<br />

den Schachzug nicht merken würden. Und er betete, dass Sayid schnell kapierte, worauf Jim<br />

hinaus wollte.<br />

„Hast du die Dunkelhaarige gesucht, die ich vor n paar Tagen besinnungslos und<br />

schwer verletzt eingesammelt hab?“<br />

klang.<br />

Sayid reagierte goldrichtig!<br />

„Ihr habt sie gefunden? Wie geht es ihr? Lebt sie?“, fragte er scheinbar aufgeregt.<br />

Bevor Jim antworten konnte, knackte es im Lautsprecher und die Stimme Juliets er-<br />

- 244 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„James, ich brauche dich in der Krankenstation. Kannst du bitte kommen?“<br />

Jim atmete innerlich auf. Er sah Sayid an und sagte ruhig:<br />

„Du hast es gehört, ich werd gebraucht. Ich schick dir jemanden mit Essen vorbei und<br />

wir setzen unsere Unterhaltung später fort.“<br />

Er drehte sich herum und verließ den Keller. Hastig eilte er zur Krankenstation<br />

hinüber. Juliet saß am Bett der jungen Frau, die scheinbar vor Erschöpfung wieder ein-<br />

geschlafen war. Jim trat näher und sah Jules auffordernd an.<br />

„Was ist denn?“, fragte er gelassen.<br />

„Sie war kurz wach. Es geht ihr etwas besser. Sie konnte mir sagen, dass sie sich nicht<br />

daran erinnert, wie sie hierhergekommen ist. Sie wusste nur vage, dass mehrere Leute bei ihr<br />

waren und einer davon war Iraker.“<br />

Jim atmete erneut erleichtert auf. Das lief besser als erwartet. Laut sagte er:<br />

„Hab ich mir gedacht. <strong>Der</strong> Typ hat ziemlich besorgt nach ihr gefragt. Vielleicht kann<br />

er sich ja erinnern, was passiert ist. Vom Himmel werden sie nicht gefallen sein, ich vermute,<br />

dass sie Schiffbruch erlitten haben. Die elenden Klippen haben es ja wirklich in sich. Ich geh<br />

noch mal zu dem Kerl zurück. Bleib du doch hier bei ihr, sie war vorhin so schrecklich auf-<br />

geregt und hat jämmerlich geweint. Vielleicht wacht sie wieder auf und du kannst dich ein<br />

wenig mit ihr unterhalten.“<br />

Juliet nickte.<br />

„Mach ich. Sie muss sich schrecklich fühlen, verletzt, unter Fremden, keine Er-<br />

innerung, was passiert ist. Wenn sie tatsächlich Schiffbruch erlitten haben, kann das schon zu<br />

einem traumatischen Gedächtnisverlust führen. Kümmere du dich um den Mann.“<br />

Jim nickte. Er gab Juliet einen Kuss und flüsterte:<br />

„Ich liebe dich!“<br />

************<br />

Ganz langsam wachte ich auf. Es dauerte eine Weile, bis mein Hirn auch nur ansatz-<br />

weise wieder funktionierte. Kaum tat es das aber, schoss mir auch sofort Jim in den Kopf.<br />

Tränen traten mir in die Augen und ich sah <strong>mich</strong> um. Als ich das erste Mal wach geworden<br />

war, hatte er an meinem Bett gesessen. Es hatte mir fast das Herz zerrissen, dass genau das<br />

passiert war, was wir befürchtet hatten: Er hatte keine Erinnerung an <strong>mich</strong>. Als plötzlich eine<br />

Sirene oder etwas Ähnliches losheulte, verschwand er nach draußen und ich konnte nur<br />

hinterher schauen. Minuten später war Juliet bei mir am Bett erschienen. Ich hatte sie sofort<br />

wieder erkannt. Die unheimliche Begegnung im Wald würde ich nie vergessen. Sie hatte sich<br />

zu mir gesetzt.<br />

„Hallo. Ich bin Juliet Burke. Ich bin Ärztin und habe Sie versorgt. Wie geht es Ihnen?<br />

Wie fühlen Sie sich?“<br />

- 245 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ich sah die blonde, hübsche Frau an und flüsterte schwach:<br />

„Ich ... habe Fieber. Was ist passiert?“<br />

Juliet lächelte.<br />

„Ich hatte gehofft, Sie könnten mir sagen, was geschehen ist. Mein Partner hat Sie ver-<br />

letzt und halb tot im Wald gefunden. Wie sind Sie dort hingekommen?“<br />

Ich wusste es nicht. Wusste es wirklich nicht. Mühsam schüttelte ich den<br />

schmerzenden Kopf.<br />

„Keine Ahnung ...“<br />

Juliet nickte verständnisvoll.<br />

„Waren noch andere Leute bei Ihnen? Sie haben mehrfach den Namen Jim gesagt und<br />

vielleicht können Sie sich noch an andere Begleiter erinnern?“<br />

Irgendetwas an Juliets Frage ließ mein umnebeltes Gehirn aufhorchen. Es schien mir,<br />

als erwarte sie dringend die Antwort ja. Mühsam versuchte ich, <strong>mich</strong> zu konzentrieren, ob-<br />

wohl mir bei der Erwähnung Jims schon wieder Tränen kamen. Langsam nickte ich.<br />

...“<br />

„Ja, es waren ... mehr ... aber ...“<br />

Juliet nickte verständnisvoll.<br />

„Strengen Sie sich nicht zu sehr an. Wir haben heute im Wald einen Iraker gefunden<br />

Ich atmete auf. Soweit konnte ich denken, dass ich spontan sagte:<br />

„Jarrah, Sayid Jarrah ... Ich ... ich kenne ihn ...“<br />

Ich hoffte, die richtige Antwort gegeben zu haben. Juliet sah <strong>mich</strong> allerdings sehr ver-<br />

wirrt an. Sie konnte sich vermutlich nicht erklären, woher ich den Namen kannte. Aber ich<br />

war jetzt am Ende meiner ohnehin nur schwach vorhandenen Kräfte angelangt. Meine Augen<br />

fielen mir zu und ich schlief ein.<br />

************<br />

Juliet sah die junge Frau noch einen Moment skeptisch an. Schließlich stand sie lang-<br />

sam auf und ging zur Schule hinüber, in der Hoffnung, Jim zu finden. Er stand auf der<br />

Veranda der Schule und unterhielt sich mit Horace. Sie nickte dem Anführer kurz zu und<br />

wandte sich an Jim.<br />

„James, die junge Frau kann sich offensichtlich nicht erinnern, was geschehen ist, aber<br />

sie meinte, sich an einen Mann namens Jarrah erinnern zu können, Sayid Jarrah.“<br />

Horace stutzte.<br />

„Dann muss der Typ wirklich zu ihr gehören.“<br />

Er wollte noch etwas sagen, aber im Hintergrund rief Amy nach ihm.<br />

„Schatz, das Essen ist fertig, kommst du bitte.“<br />

Horace zuckte die Schultern.<br />

- 246 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Meine Regierung ruft nach mir. Hat der Gefangene etwas zu essen bekommen?“<br />

Jim nickte.<br />

„Jepp, hab ich veranlasst. Ich werd ihm noch ein wenig auf den Zahn fühlen.“<br />

Juliet meinte:<br />

„Ich setze <strong>mich</strong> noch eine Weile zu der jungen Frau. Falls sie wieder aufwacht, kann<br />

es ja sein, dass sie sich an mehr erinnert.“<br />

Jim sah Juliet dankbar an.<br />

„Das ist süß von dir. Ich komm nachher und hol dich ab.“<br />

Er wollte sich herum drehen und in das Schulgebäude verschwinden, aber Juliet hielt<br />

ihn am Arm fest.<br />

„Warte bitte eine Sekunde.“, sagte sie leise und eindringlich.<br />

Jim blieb stehen.<br />

„Was ist denn?“<br />

Juliet sah sich unauffällig um, aber es war niemand in der Nähe.<br />

„James, woher kennt die junge Frau Sayid?“<br />

Jim stutzte.<br />

„Sie hat den Namen von sich auch genannt?“, fragte er verblüfft.<br />

„Ja, genau das hat sie.“, erwiderte Juliet angespannt.<br />

„Irgendetwas ist seltsam mit ihr.“<br />

Jim überlegte, dann sagte er:<br />

„Okay, darüber werden wir später mehr erfahren, wenn sie sich erholt hat. Jules, hör<br />

zu: Wenn sie wieder wach wird, musst du ihr ne Story mit nem Schiffbruch einreden, alles<br />

andere geht nicht. Ich werd versuchen, Sayid auch in diese Richtung zu bringen.“<br />

Juliet nickte.<br />

„Ja, das ist die einzig gangbare Erklärung. Ich werde es versuchen. Sie scheint schnell<br />

zu reagieren. Vielleicht kommen wir irgendwie mit einem blauen Auge aus der Sache raus.<br />

James?“<br />

Jim sah Juliet an.<br />

„Ja?“<br />

„Ich habe Angst. Angst, dass alles, was wir hier haben, den Bach runter geht.“<br />

Jim hatte dieselbe Angst, sagte aber locker:<br />

„Hey, Buffy, mach dir keine Sorgen, das kriegen wir alles in den Griff.“<br />

Juliet sah ihn ernst an.<br />

„Hoffentlich hast du Recht.“<br />

Sie drehte sich langsam herum und ging wieder zur Krankenstation hinüber.<br />

Jim sah ihr einen Moment nach und machte sich nun wieder auf den Weg in den<br />

Keller. Sayid hörte ihn kommen und erhob sich von der einfachen Pritsche in der kleinen<br />

Zelle. Als Jim vor ihm stand fragte der Iraker scheinbar besorgt:<br />

- 247 -


„Wie geht es ihr?“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Jim verschränkte die Arme vor der Brust.<br />

„Sie kann sich an dich erinnern, Ali. Sie hat deinen Namen bestätigt.“<br />

Kurz huschte Verständnislosigkeit über Sayids Gesicht, doch er war Profi genug, sich<br />

sofort wieder zu fangen.<br />

„Dann wisst ihr komischen Typen ja jetzt, dass ich die Wahrheit gesagt habe.“, meinte<br />

er ruhig und ließ sich wieder auf die Pritsche sinken.<br />

„Scheint so. Sie kann sich nicht erinnern, wie ihr auf die Insel gekommen seid.“<br />

Sayid hatte sich über diese zwangsläufig folgende Frage auch schon den Kopf zer-<br />

brochen und die einzig gangbare Erklärung, die ihm eingefallen war, war ein Schiffbruch. So<br />

sagte er:<br />

„Wir sind mit einem kleinen Kutter zu einer Urlaubsreise aufgebrochen. Es ging in<br />

Tijuana los und sollte bis Honolulu gehen. Irgendwann kamen wir in einen Sturm und die<br />

Bordmechanik fiel aus, irgendwann auch das Radar und der Funk. Wir kämpften tagelang<br />

ums nackte <strong>Über</strong>leben und dann ... Da waren Riffe oder Klippen, wir müssen Leck ge-<br />

schlagen sein. Ich bin am Strand zu mir gekommen und tagelang herum geirrt, hab nach den<br />

anderen Reisenden gesucht.“<br />

Jim gratulierte Sayid im Stillen für seinen Einfallsreichtum und fragte:<br />

„Wie viele wart ihr?“<br />

„Inklusive des Captains und zwei Besatzungsmitgliedern sieben Leute.“<br />

Sayid betete, dass er nicht zu hoch pokerte. Jim signalisierte ihm mit den Augen, dass<br />

das in Ordnung war.<br />

„Wie heißt die junge Frau?“<br />

Er musste diese Frage stellen, und er hoffte, dass Sayid auch jetzt richtig reagieren<br />

würde. Dieser zuckte die Schultern.<br />

„Sie hat sich nicht richtig vorgestellt, meinte nur, wir könnten sie Frisco nennen, weil<br />

sie wohl aus San Francisco kommt.“<br />

Jim atmete auf.<br />

„Wir werden uns überlegen, was mit dir passieren soll. Für diese Nacht wirst du hier<br />

in der Zelle bleiben müssen, Mohamed, tut mir leid. Mach es dir bequem.“<br />

Pritsche aus.<br />

Er nickte Sayid noch einmal zu, verließ den Keller und Sayid streckte sich auf der<br />

Jim beeilte sich, zu Juliet in die Krankenstation zu kommen. Seine Partnerin saß am<br />

Bett der Verletzten und sah auf, als Jim den Raum betrat. <strong>Der</strong> junge Mann zog sich einen<br />

zweiten Stuhl heran und setzte sich zu Juliet.<br />

„Na, ist Jane Doe wieder wach geworden?“<br />

Juliet schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, sie schläft sich gesund. Hast du noch etwas erfahren?“<br />

- 248 -


Jim nickte.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Jepp, die waren auf ner Kreuzfahrt, von Tijuana nach Honolulu. Sind in nem Sturm<br />

vom Kurs abgekommen, hatten Instrumentenausfall und sind auf den Klippen gekentert, auf<br />

denen wir damals wohl auch abgesoffen sind. Waren insgesamt zu siebt. Wer weiß, vielleicht<br />

haben noch mehr überlebt. Ich werd meine Leute noch mal suchen lassen.“<br />

Er sah die junge Frau im Bett an und wieder hatte er ein eigenartiges Gefühl dabei.<br />

„Sie hat sich wohl nicht richtig vorgestellt, Al-Jazeera da unten meint, sie hätte sich Frisco<br />

nennen lassen, weil sie aus Frisco kommt.“<br />

war.<br />

Er zuckte zusammen, als plötzlich schwach die Stimme der jungen Frau zu vernehmen<br />

„Mein Name ist ... Kelly ...“<br />

22) <strong>Der</strong> Schuss<br />

Langsam erholte ich <strong>mich</strong> und kam zu Kräften. Juliet war viel bei mir und versuchte,<br />

sich mit mir zu unterhalten. Ich wusste inzwischen von der Geschichte mit dem Schiffbruch,<br />

blieb aber sicherheitshalber bei meiner Version, <strong>mich</strong> an nichts erinnern zu können. Juliet<br />

bestätigte, dass dieser Gedächtnisverlust auf das Trauma zurückzuführen war, dass der<br />

tagelange Sturm und der Untergang des Kutters ausgelöst hatten. So brauchte ich mir nicht<br />

auch noch etwas auszudenken. Sayid war aus dem Keller geholt und ausgerechnet zu Jack und<br />

Hurley gesteckt worden. Glücklicherweise hatte sogar Hurley schnell reagiert und sich nicht<br />

verraten. <strong>Der</strong> Iraker wurde zum Dienst in der Technik eingeteilt, nachdem er Horace durch<br />

seine umfangreichen Kenntnisse beeindruckt hatte. Ich konnte das Bett schon stundenweise<br />

verlassen und hockte viel auf der kleinen Terrasse der Krankenstation. Dabei hatte ich ge-<br />

merkt, dass ich das Medaillon von Richard noch trug und war ungemein erleichtert. Wann<br />

immer ich Jim sah, und das war verhältnismäßig oft, musste ich mit aller Kraft gegen den<br />

Impuls kämpfen, heulend zu ihm zu rennen, ihn in die Arme zu nehmen und nie wieder loszu-<br />

lassen. Auch wenn ich mir zig Mal sagte, dass er <strong>mich</strong> nicht kannte, tat jede Berührung, die<br />

ich zwischen ihm und Juliet beobachtete, so weh, dass ich hätte schreien können. Jack, Hurley<br />

und Kate kümmerten sich nicht um <strong>mich</strong>, Sayid kam ab und an zu mir hinüber. Immerhin<br />

‟kannten‟ wir uns ja von der Reise. Es wäre stark aufgefallen, wenn er <strong>mich</strong> nicht aufgesucht<br />

hätte. Auch Horace, der hier offensichtlich der Anführer war, besuchte <strong>mich</strong> ab und zu, meist,<br />

um mir noch die eine oder andere Frage zu stellen. Da ich <strong>mich</strong> in der Tat nicht erinnerte, was<br />

sich abgespielt hatte, nachdem ich das Rad endlich bewegt bekommen hatte, konnte ich ihm<br />

mit ruhigem Gewissen sagen, dass ich nicht wusste, wie ich auf die Insel gekommen war.<br />

Schließlich gab er sich zufrieden und ließ <strong>mich</strong> in Ruhe.<br />

- 249 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ich hatte keine Idee, in welchem Zeitraum sich die dramatischen Ereignisse, die <strong>mich</strong><br />

letztlich her geführt hatten, abgespielt hatten. So saß ich da und beobachtete erst einmal meine<br />

neue Umgebung. Juliet versuchte oft, mit mir ins Gespräch zu kommen, aber ich ertrug es<br />

immer weniger, mit ihr zu Reden. Zu sehr war der Gedanke, dass sie bei Jim war und nicht<br />

ich, ein Störfaktor. Es kostete <strong>mich</strong> alle Kraft, überhaupt freundlich zu ihr zu sein, dabei<br />

mochte ich sie. Ihre ruhige, beherrschte Art entsprach ganz meiner Denkweise. Dass ich<br />

Krankenschwester war hatte ich Horace erzählt und so teilte er <strong>mich</strong> schließlich zum Dienst<br />

auf der Krankenstation ein, da Opals Dienstzeit gerade abgelaufen war. Ich übernahm ihre<br />

Wohnung, die sie sich mit einem jungen Mann Namens Wayne teilte. Er versuchte, bei mir zu<br />

landen, gab aber sehr schnell auf. Ungefähr eine Woche nachdem ich meinen Dienst an-<br />

getreten hatte, beobachtete ich zufällig, wie Sayid sich mit einem vielleicht dreizehn Jahre<br />

alten Jungen unterhielt. Aufmerksam behielt ich die Beiden im Auge. <strong>Der</strong> Junge schien Sayid<br />

einige Fragen zu stellen, die dieser bereitwillig beantwortete. Da der Ablauf der Geschehnisse<br />

sich bereits dadurch geändert hatte, dass Sayid nicht hatte aus dem Gefängnis ausbrechen<br />

müssen, konnte es sein, dass es nicht zu dem verheerenden Schuss auf Ben, denn er musste<br />

der Junge sein, kam. Aber sicher war ich mir nicht. Möglich war auch, dass es nur unter<br />

anderen Umständen geschehen würde. Sicher hätte Sayid diese Idee auf jedem Fall, da er Ben<br />

hasste wie kaum etwas anderes auf der Welt.<br />

Dass ich die Beiden in den nächsten Tagen häufiger zusammen sah, machte mir<br />

Sorgen. Bens Vater Roger beobachtete die Beiden ebenfalls mit erheblichem Misstrauen. Er<br />

schnauzte seinen Sohn wiederholt an, dass er sich von dem Fremden fernhalten sollte. Doch<br />

Ben kümmerte sich nicht um die Weisungen und besuchte Sayid weiter, sobald es ihm einmal<br />

möglich war. Da sich im Moment keine Gefahr dabei andeutete, beschloss ich, <strong>mich</strong> erst ein-<br />

mal damit zu beschäftigen, wie ich das Vertrauen Kates, Jacks, Hurleys und besonders Jims<br />

und Juliets erringen konnte. Hurley war kein Problem, ich fragte ihn einfach, ob er Back-<br />

gammon spielte und da ich wusste, dass er das tat, war es kein Problem, <strong>mich</strong> mit ihm anzu-<br />

freunden. Kate und Jack waren da schon ein größeres Problem, zumal ich zugeben musste,<br />

dass ich beide nicht besonders mochte. Das größte Problem aber waren Jim und Juliet, da ich<br />

die blonde Frau am liebsten von der Insel gebeamt hätte. Die Tage vergingen ruhig, ich ging<br />

meiner Arbeit nach und verhielt <strong>mich</strong> möglichst unauffällig. Schließlich, ungefähr zwei<br />

Wochen nach meiner Ankunft in Dharmaville, sortierte ich Medikamente in einen abschließ-<br />

baren Schrank, als plötzlich die Tür schwungvoll aufgestoßen wurde. Miles kam herein und<br />

rief: „Kelly, bist du da?“<br />

Ich eilte nach vorne in den kleinen Empfangsraum und blieb wie angewurzelt stehen.<br />

Miles war nicht alleine. Er hatte Jim bei sich, der sich stöhnend den linken Oberschenkel<br />

hielt. Blut lief an seinem Bein herunter und er wankte. Schnell trat ich zu ihm und legte auf<br />

der anderen Seite meinen Arm um ihn. Zusammen mit Miles schaffte ich ihn in den Be-<br />

handlungsraum und fragte dabei:<br />

- 250 -


Miles erklärte:<br />

„Was ist passiert?“<br />

Jim fluchte ungehalten.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Elende Scheiße! Bin auf der Baustelle an nem losen Metallteil hängen geblieben ...“<br />

„Er hat eine tiefe Schnittwunde und blutet wie ein Schwein.“<br />

Giftig sah Jim den Kollegen an. Wir halfen ihm, sich auf die Behandlungsliege zu<br />

legen. Miles meinte:<br />

Zähnen.<br />

„Ich geh mal Gucken, ob ich Juliet finde.“<br />

Jim schüttelte den Kopf.<br />

„Vergiss es, sie ist heute in der Hydra.“, knurrte er zwischen zusammengebissenen<br />

Ich hatte mir inzwischen eine Schere geschnappt und beugte <strong>mich</strong> über Jims Bein. Er<br />

hatte sich auf die Liege gelegt und atmete schwer vor Schmerzen. Vorsichtig schnitt ich das<br />

Hosenbein ab. Ich half ihm aus den Stiefeln und zog ihm das abgeschnittene Hosenbein aus.<br />

Jetzt sah ich die Wunde. Sie sah übel aus. Schnell griff ich mir Watte und tupfte das Blut weg,<br />

bis ich vernünftig sehen konnte.<br />

„Das muss ich nähen, das ist zu tief.“<br />

Jim versuchte, sich aufzurichten, aber ich fuhr ihn an:<br />

„Bleib liegen!“<br />

Schnell ging ich an den Medikamentenschrank und griff nach einer Einwegspritze. Ich<br />

packte diese aus und zog aus einer kleinen Glasflasche Lidocain in die Spritze.<br />

„Ich werde dir eine örtliche Betäubung geben, dann lassen die Schmerzen nach.“<br />

Schnell und präzise umspritzte ich die klaffende Wunde, was Jim mit einem gequälten<br />

Stöhnen quittierte. Ich wartete einige Augenblicke.<br />

„So, das sollte reichen.“<br />

Ich nahm Nadel und Faden und beugte <strong>mich</strong> konzentriert über das Bein. Miles stand<br />

neben mir und beobachtete interessiert, was ich tat.<br />

„Schalte bitte mal die Lampe an.“, bat ich ihn und er rückte die kleine Operations-<br />

lampe, die über der Behandlungsliege angebracht war, genau über die Wunde und legte den<br />

Schalter um.<br />

Ich tupfte noch einmal Blut fort und begann, die Wunde sorgfältig zu nähen. Jim lag<br />

still, das Lidocain wirkte und nahm ihm weitestgehend die Schmerzen. Ich brauchte zehn<br />

Stiche, bis ich die klaffende Wunde verschlossen hatte. Anschließend reinigte ich den Ober-<br />

schenkel gründlich und legte einen festen Verband an.<br />

„Wann kommt Juliet zurück?“, fragte ich Jim und dieser seufzte.<br />

„Morgen Mittag frühestens.“<br />

Ich nickte genervt.<br />

- 251 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Okay, dann bleibst du über Nacht hier. Miles, du kannst wieder an die Arbeit gehen.“<br />

<strong>Der</strong> junge Mann nickte und grinste Jim an.<br />

„Dann lass dich mal verwöhnen, Lafleur.“<br />

Er verschwand und Jim und ich waren alleine.<br />

„Bleib noch liegen, ich mache eines der Betten fertig.“, erklärte ich und verließ fast<br />

fluchtartig den Behandlungsraum.<br />

Im Schlafsaal bereitete ich ein Bett vor und musste zwangsläufig zu Jim zurückkehren.<br />

„So, Bett ist fertig, komm, ich helfe dir.“<br />

Jim richtete sich auf und schwang die Beine von der Liege. Er stützte sich auf <strong>mich</strong><br />

und so humpelte er in den Nebenraum hinüber. Aufseufzend sank er auf das Bett und ich half<br />

ihm, sich den Overall auszuziehen. Erleichtert machte er es sich bequem. Ich deckte ihn zu<br />

und als er dort in dem Bett lag, konnte ich nicht mehr verhindern, dass mir Tränen in die<br />

Augen schossen. Schnell drehte ich <strong>mich</strong> herum, murmelte etwas von Aufräumen und musste<br />

<strong>mich</strong> beherrschen, um nicht aus dem Saal zu rennen. Ich eilte auf die Toilette und dort brach<br />

ich weinend zusammen. Ich hatte das Gefühl, nicht wieder zurück in den Schlafsaal gehen zu<br />

können. Jim dort verletzt im Bett liegen zu sehen, war der berühmte Tropfen, der mein Fass<br />

zum <strong>Über</strong>laufen gebracht hatte. Die Erinnerung daran, wie ich ihn vor weniger als acht<br />

Wochen zu Großvaters Haus geschafft hatte, halb tot, von nackter Angst erfüllt, war zu über-<br />

wältigend. Wie, um alles in der Welt sollte ich zu ihm zurückgehen, ohne <strong>mich</strong> zu verraten?<br />

Hätte ich wenigstens einen Menschen gehabt, mit dem ich <strong>mich</strong> hätte über alles unterhalten<br />

können. Aber da gab es niemanden.<br />

Irgendwann hatte ich <strong>mich</strong> so weit beruhigt, dass ich den Mut aufbrachte, den Wasch-<br />

raum zu verlassen. Dass meine Augen vom Weinen geschwollen waren, vergaß ich komplett.<br />

Ich griff eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und kehrte damit zu Jim zurück, der mit<br />

zusammengebissenen Zähnen im Bett lag.<br />

„Schmerzen?“, fragte ich leise.<br />

Er knurrte genervt und grummelte:<br />

„Kann man so sagen ...“<br />

Ich nickte.<br />

„Ich werde dir was holen, Moment.“<br />

Ich eilte an den Medikamentenschrank und nahm zwei Schmerztabletten aus einem<br />

Glas. Damit kehrte ich zu Jim zurück und drückte ihm Wasser und Tabletten in die Hand. Er<br />

sah <strong>mich</strong> an und sagte:<br />

„Danke.“<br />

Plötzlich stutzte er. Er hatte meine rot geweinten Augen gesehen. Schnell spülte er die<br />

Tabletten hinunter und schaute <strong>mich</strong> erneut an.<br />

„Was ist denn los? Kann ich was für dich tun?“<br />

- Ja! Dich an <strong>mich</strong> erinnern! -<br />

- 252 -


schrie ich gedanklich. Leise sagte ich:<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Nein, kannst du wirklich nicht, es ist nichts.“<br />

Er zog die Augenbrauen hoch und grinste.<br />

„Ja, so sieht du auch aus, als ob gar nichts wäre. Ist es wegen Jim?“<br />

Ich spürte, dass ich blass wurde.<br />

„Was meinst du?“, fragte ich nervös.<br />

„Du hast im Fieber immer wieder nach ihm gerufen. Ist er dein Freund? War er auch<br />

auf dem Schiff?“<br />

schaute.<br />

„Nein, er ist ... Ich kenne ihn von ... Er ist weg.“<br />

Hastig verließ ich wieder den Saal und wusste, dass Jim mir verblüfft hinterher<br />

Als es dunkel wurde rief ich in der Kantine an, dass man zwei Abendessen zu mir<br />

schicken sollte. Hurley war am Telefon und fragte:<br />

„Ist es für Sawy ... Jim ... ähm ... Lafleur?“<br />

Ich musste unwillkürlich schmunzeln. Hurley war einfach ein Plappermaul, er würde<br />

sicher irgendwann einen Fehler machen. Ich erwiderte:<br />

„Ja, für Lafleur und <strong>mich</strong>. Er bleibt über Nacht hier, also muss ich auch bleiben.“ „Ich<br />

mach euch was fertig und bring es gleich rüber, versprochen.“<br />

Zehn Minuten später kam der junge Mann mit zwei abgedeckten Tellern und drückte<br />

mir diese in die Hand.<br />

„Lasst es euch schmecken. Und sag Sawy... ähm ... Jim meine ich, gute Besserung.“<br />

Ich sah Hurley an und erklärte ruhig:<br />

„Du musst vorsichtiger sein, Hugo.“<br />

„Was? Wie? Ich ... ich muss los.“<br />

Fassungslos fuhr Hurley herum und verschwand. Ich holte tief Luft, trat mir selbst ge-<br />

danklich in den Hintern und ging entschlossen zum Schlafsaal hinüber. Jim sah mir entgegen<br />

und hatte einen sehr eigenartigen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Ich erschrak ein wenig. Nein,<br />

er konnte doch meine Worte nicht gehört haben! Sieden heiß fiel mir ein, dass Jim ein außer-<br />

gewöhnlich gutes Gehör hatte. Mir wurde heiß. Möglichst locker stellte ich die beiden Teller<br />

auf einen Rollwagen und trat an Jims Bett. Wortlos stellte ich das Rückenteil aufrecht, bis er<br />

bequem saß. Jetzt griff ich nach einem Betttisch und platzierte ihn über Jims Beine.<br />

„Geht es so?“<br />

Jim nickte. Er sah <strong>mich</strong> immer noch an und auch, als ich ihm seinen Teller zu Recht<br />

gestellt hatte, beobachtete er <strong>mich</strong> noch genau. Schweigend aßen wir unser Abendbrot.<br />

Als wir fertig waren und ich Jim Teller und Betttisch abgenommen hatte, lehnte er<br />

sich gemütlich zurück und sagte:<br />

- 253 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich kann doch auch zuhause im Bett liegen, du brauchst dir nicht die Nacht für <strong>mich</strong><br />

um die Ohren haun.“<br />

Ich nickte.<br />

„Sicher, und wenn du was brauchst, flitzt du schnell mal los und holst es dir, richtig?“<br />

Er verdrehte die Augen.<br />

„Was soll ich schon brauchen? N gutes Buch, n Bier und das war„s. Oder ne gute<br />

Unterhaltung über etwas, das mir aufgefallen ist.“<br />

Er sah <strong>mich</strong> aufmerksam an und fragte:<br />

„Woher weißt du, wie ich genannt werde? <strong>Der</strong> Name ich hier nicht gefallen.“<br />

Ich spürte, wie mir heiß wurde. Er hatte es also tatsächlich mitbekommen. Warum nur<br />

hatte ich nicht daran gedacht, wie gut er hörte? Hektisch suchte ich nach einer Erklärung.<br />

„Kate hat dich so genannt ... Sawyer.“<br />

„Klar, und warum soll Hurley deswegen vorsichtiger sein?“<br />

In meinem Kopf arbeitete es. Schließlich sagte ich langsam:<br />

„Weißt du, Lafleur, ich ... man sagt mir eine sehr gute Beobachtungsgabe nach. Ich<br />

habe drei Tage lang dort draußen auf der Terrasse herumgesessen und <strong>mich</strong> zu Tode gelang-<br />

weilt. Dabei hatte ich Zeit genug, vieles zu beobachten. Und du weißt so gut wie ich, dass<br />

Sayid und ich uns nicht kennen, das ist genauso sicher wie die Tatsache, dass Juliet, du, Jin,<br />

Kate, Jack, Hurley und Sayid, sowie Miles ... nun, dass ihr euch sehr wohl kennt, und nicht<br />

erst seit ... seit hier bei der DHARMA Initiative.“<br />

Jim sah <strong>mich</strong> an und in seinen Augen funkelte Misstrauen und Besorgnis.<br />

„Wie kommst du darauf?“<br />

Ich atmete tief ein.<br />

„Nun, wie ich bereits sagte, ich habe eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe. Den<br />

Leuten hier ist nicht klar, dass ihr euch kennt. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“<br />

Schnell, viel zu schnell erwiderte Jim:<br />

„Ich mach mir keine Sorgen.“<br />

Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.<br />

„Nein, natürlich nicht. Warum hat Juliet mir dann geradezu in den Mund gelegt, dass<br />

Sayid mit an Bord des Schiffes war, von dem auch ich komme?“<br />

„Das hast du gemerkt?“<br />

Bevor Jim wohl überhaupt klar war, was er sagte, waren ihm diese Worte bereits ent-<br />

wichen. Etwas gestresst schnaufte er.<br />

verraten.“<br />

„Das hat sie nicht.“, versuchte er seinen Worten hektisch die Wirkung zu nehmen.<br />

Ich sah ihn ruhig an, obwohl ich innerlich nicht annähernd so ruhig war.<br />

„Mach dir bitte keine Gedanken darüber, ich werde ganz bestimmt niemandem etwas<br />

Skeptisch zog Jim die Augenbrauen in die Höhe.<br />

- 254 -


„Was auch ...“, meinte er leise.<br />

Genervt verzog er das Gesicht.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Hast du wieder Schmerzen?“, fragte ich besorgt.<br />

Er rieb sich unwillkürlich das Bein und nickte.<br />

„Ja, aber es ist auszuhalten.“<br />

„Möchtest du für die Nacht noch einmal Schmerzmittel haben?“<br />

Jetzt lächelte er.<br />

„Wenn ich noch was kriegen kann?“<br />

Sein Lächeln versetzte mir erneut einen schmerzhaften Stich im Herzen. Alles in mir<br />

schrie danach, ihn in die Arme zu schließen und ihn seine Schmerzen auf andere Weise ver-<br />

gessen zu lassen. Doch stattdessen stand ich auf und holte ihm noch einmal zwei Tabletten,<br />

die ich ihm reichte.<br />

„Hier, damit wirst du besser schlafen.“<br />

Dankbar schluckte er die Pillen und bat:<br />

„Kannst du das Bett runterlassen?“<br />

Sofort sprang ich auf und stellte das Rückenteil wieder waagerecht. Müde sagte Jim:<br />

„Danke für deine Hilfe.“<br />

Ich nickte und erwiderte:<br />

„Dafür bin ich ja da. Du solltest versuchen, zu Schlafen, Morgen wird es dir schon<br />

besser gehen, da bin ich sicher. Wenn etwas ist, ich bin nebenan.“<br />

Er gähnte herzhaft und meinte:<br />

„Werd ich mir merken. Gute Nacht.“<br />

Er drehte sich vorsichtig auf die Seite und ich verließ leise den Saal und schaltete das<br />

Licht aus. Ich räumte im Behandlungszimmer auf, dann schlich ich <strong>mich</strong> in den Schlafsaal<br />

zurück und kontrollierte, ob Jim eingeschlafen war. Seine ruhigen Atemzüge verrieten mir,<br />

dass er tief und fest schlief. Leise zog ich den Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, dichter und<br />

ließ <strong>mich</strong> darauf sinken. Ich sah Jim an und seufzte. Wie sollte ich diese Nähe nur weiter aus-<br />

halten?<br />

************<br />

Am frühen Nachmittag des nächstens Tages kehrte Juliet von der Hydra Station<br />

zurück und eilte sofort zu Jim in die Krankenstation. Ich hatte gerade einen Verbandswechsel<br />

vorgenommen, als sie in den Saal kam.<br />

„Jim. Wie geht es dir?“<br />

Sie eilte zu ihm ans Bett und gab ihm einen liebevollen Kuss. Jim grinste.<br />

„Hey, Blondie. Keine Panik, bin sehr gut versorgt worden. Ist halb so wild.“<br />

Juliet sah <strong>mich</strong> an.<br />

- 255 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Wie wild ist es wirklich?“, fragte sie ruhig.<br />

Ich biss mir auf die Lippe und erklärte:<br />

„Nun, ich musste zehn Stiche machen, aber die Wunde sieht gut aus, trocken, keine<br />

Entzündung, das wird schnell verheilt sein.“<br />

Erleichtert atmete Juliet auf.<br />

„Kelly, ich danke dir sehr. Dann werde ich dich mal von ihm befreien, was?“<br />

Ich nickte.<br />

„Du kannst ihn mitnehmen.“<br />

Juliet half Jim dabei, in den Overall zu steigen und er stand langsam auf. Das verletzte<br />

Bein trug ihn und so humpelte er langsam mit Juliet aus der Krankenstation hinaus. An der<br />

Tür drehte er sich noch einmal herum und sagte:<br />

„Noch mal vielen Dank. Für alles, okay.“<br />

Ich nickte.<br />

„Kein Problem, sagte ich ja schon.“<br />

Ich stand wieder einmal da und konnte den Beiden nur hinterher schauen, wie sie zu<br />

ihrem Haus hinübergingen. Aber etwas Gutes hatte die Verletzung wenigstens gebracht: Ich<br />

war mir ziemlich sicher, dass Jim jetzt ein gewisses Vertrauen zu mir aufbrachte.<br />

************<br />

Sayid bekam immer wieder Besuch von dem jungen Benjamin Linus, der später ein-<br />

mal der gewissenlose, psychopathische und manipulative Anführer der ‟Anderen‟ werden<br />

würde. In dem ehemaligen Angehörigen der republikanischen Garde im Irak reifte ein ver-<br />

hängnisvoller Plan: Er beschloss, Benjamin zu töten! Sayid war sich sicher, damit die Zu-<br />

kunft, in welcher Ben vielen von seinen Freunden und ihm selbst übel mitspielte, zu ver-<br />

ändern und war bereit, dafür die Tötung eines Kindes auf sich zu nehmen. Er hatte in seinem<br />

bisherigen Leben schon so viel Schlimmes getan, hatte gemordet, gefoltert, er war bereit, auch<br />

noch diesen in seinen Augen absolut notwendigen Schritt zu machen. Eine Waffe hatte er<br />

zugeteilt bekommen, da er sehr gut damit umgehen konnte und somit im Notfall zur Ver-<br />

teidigung eingesetzt werden konnte. Er hatte eine 9 mm Smith & Wesson erhalten und über-<br />

legt, wie er es am besten anstellen konnte, den Jungen zu erschießen. Diese Gelegenheit ergab<br />

sich schneller, als Jarrah erwartete hatte. Horace hatte ihm den Auftrag gegeben, zum U-Boot-<br />

Dock zu fahren, da es dort ein Problem mit der Funkanlage gegeben hatte. Sayid setzte sich in<br />

einen der kleinen Geländewagen und machte sich auf den Weg. Er benötigte für die Reparatur<br />

einige Zeit, dann konnte er melden, dass die Anlage wieder einwandfrei funktionierte. Er<br />

machte sich auf den Rückweg zum Dorf. Als er vielleicht noch eine halbe Meile entfernt war,<br />

gab es einen der verhassten, kräftigen Gewitterschauer. Fluchend saß Sayid in dem offenen<br />

Wagen und war binnen weniger Sekunden bis auf die Haut durchnässt. Und dann sah er plötz-<br />

- 256 -


By<br />

Frauke Feind<br />

lich vor sich auf der Straße einen Jungen rennen. Er erkannte, dass es Ben war. Blitzschnell<br />

beschloss Jarrah, die Gelegenheit zu nutzen. Ben hatte ihn ebenfalls entdeckt und kam zum<br />

Wagen gerannt.<br />

„Hallo, Sayid, nimmst du <strong>mich</strong> bitte ...“<br />

Weiter kam der Junge nicht. Plötzlich hatte der Mann, den Ben so bewunderte, eine<br />

Waffe in der Hand, zielte kurz und drückte ohne zu Zögern ab. Mit weit aufgerissenen Augen,<br />

in denen nur <strong>Über</strong>raschung zu erkennen war, brach Ben, von dem Schuss in die Brust ge-<br />

troffen, zusammen. Sayid biss die Zähne zusammen. Er zwang sich, daran zu denken, welches<br />

Leid dieser Junge später als Erwachsener verursachen würde. Er steckte die Waffe weg und<br />

gab Gas.<br />

************<br />

Horace‟ Frau Amy hielt mir ihren Säugling entgegen und ich nahm ihr das Baby<br />

lächelnd ab. Sanft legte ich den kleinen Jungen auf die Babywaage. Ich warf einen Blick auf<br />

die Anzeige und nickte zufrieden.<br />

„Wunderbar, Amy, er hat 200 Gramm zugenommen. Das ist genau richtig.“<br />

Dem Kleinen passte es überhaupt nicht, auf der Waage zu liegen und er schrie laut-<br />

stark seine Empörung hinaus. Lachend nahm ich den Winzling wieder auf den Arm und sofort<br />

beruhigte er sich. Draußen gab es einen heftigen Donnerschlag und das Baby zuckte er-<br />

schrocken zusammen und verzog das Gesicht.<br />

„Keine Angst, Klein Ethan, daran gewöhnst du dich besser.“, sagte ich liebevoll.<br />

Amy lachte.<br />

„Allerdings. Wie ich diese Sommergewitter hasse. Wenn man draußen ist, ist man<br />

immer sofort bis auf die Unterwäsche durchnässt.“<br />

„Ja, grässlich.“, stimmte ich ihr zu.<br />

Ich reichte ihr ihren Sohn und gemeinsam traten wir auf die überdachte Terrasse<br />

hinaus. Langsam beruhigte sich das Unwetter und Amy verabschiedet sich bei mir.<br />

„Ich werd dann mal, bis nächste Woche.“<br />

Sie eilte über die aufgeweichten Wege zu ihrem Haus hinüber. Ich widmete <strong>mich</strong><br />

wieder meiner Arbeit, die ich durch Amys Ankunft hatte unterbrechen müssen. Die Kartei-<br />

karten der Neuzugänge mussten aktualisiert werden. Ich hielt gerade Jacks Karte in der Hand<br />

und starrte sie gedankenverloren an, als draußen einer der VW Busse schlitternd zum Stehen<br />

kam. Alarmiert sprang ich auf. Wenn jemand es so eilig hatte, deutete das darauf hin, dass<br />

etwas geschehen war. Ich eilte zur Tür und dort kam mir Jin entgegen. Er war klatschnass und<br />

trug einen reglosen Körper auf seinen Armen. Geschockt starrte ich ihm entgegen. Ich wusste,<br />

wen er da trug, bevor ich es erkennen konnte. Großer Gott. Sayid hatte es getan!<br />

- 257 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Schnell, bring ihn rein.“, stieß ich ohne nachzudenken hervor.<br />

Dass ich gar nicht fragte, was passiert war, fiel Jin zum Glück nicht auf. <strong>Der</strong> Koreaner<br />

trug den schwer verletzten Jungen in den Behandlungsraum und legte ihn sanft auf die Liege.<br />

Ich beugte <strong>mich</strong> über ihn und bat Jin hastig:<br />

„Lauf schnell und hole Juliet, ich werde sie brauchen.“<br />

Jin nickte und rannte los. Ich zog Ben bereits die nassen Kleidungsstücke aus und eilte<br />

in den Nebenraum, wo ein funkelnagelneues Tropfgestell auf seinen ersten Einsatz wartete.<br />

Aus dem Kühlschrank griff ich mir zwei Beutel Volumenersatz. Damit hetzte ich an den<br />

Schrank und griff mir einen Venenverweilkanüle. Schon stand ich wieder neben der Liege<br />

und legte dem Jungen die Kanüle in den linken Handrücken. Schnell war der erste Beutel<br />

HyperHEAS 1 angeschlossen. Jetzt kam auch schon Juliet in den Behandlungsraum gehetzt, im<br />

Schlepptau Jim. Dieser konnte schon wieder gut laufen. Einmal mehr unterstützte ihn schein-<br />

bar die Insel bei der Heilung.<br />

passiert ist.“<br />

„Was ist ...“<br />

Ich unterbrach ihn und klärte Juliet auf.<br />

„Steckschuss in der Brust, die Kugel muss raus.“<br />

Jim wollte erneut eine Frage stellen, aber ruhig und bestimmt erklärte Juliet:<br />

„Du wirst jetzt verschwinden, James, du kannst uns hier nicht helfen. Frage Jin, was<br />

Kurz wirkte es, als wolle Jim aufbegehren, dann aber drehte er sich wortlos herum und<br />

verschwand nach draußen.<br />

Juliet und ich kümmerten uns um Ben und schnell wurde uns klar, dass wir einen<br />

echten Chirurgen brauchten. Juliet konnte die Kugel nicht entfernen. Und auch ich war damit<br />

überfordert. Hastig erklärte sie:<br />

„Hör zu, Kelly, geh zu Jack. Er ist ...“<br />

Bevor sie zu Ende sprechen konnte, nickte ich bereits.<br />

„Ich weiß.“<br />

Ohne eine Erklärung abzugeben rannte ich los, um Jack zu suchen, auch wenn ich<br />

wusste, dass er seine Hilfe bereits verweigert hatte. Meine Hoffnung war, dass er es diesmal<br />

vielleicht nicht tun würde. Ich fand ihn zusammen mit Kate, Hurley und Miles in seinem<br />

Haus.<br />

„Jack, hört zu, jemand hat auf Ben geschossen, wir brauchen deine Hilfe. Juliet und<br />

ich bekommen die Kugel nicht heraus, das erfordert einen Chirurgen.“<br />

1 hyperosmolare Infusionslösung, die das intravasale Volumen besonders rasch und effektiv er-<br />

höht, da sie den Effekt hyperosmolarer kristalliner mit dem kolloider Volumenexpander<br />

kombinieren. <strong>Der</strong> Volumenersatz soll die Hypovolämie ausgleichen, aber nicht zu einer<br />

nennenswerten Hypervolämie führen<br />

- 258 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Jack hatte mir ruhig zugehört. Scheinbar hatte sich bereits bis hier herum gesprochen,<br />

was geschehen war, denn Jack wirkte nicht überrascht. Er sah <strong>mich</strong> an und erklärte seelen-<br />

ruhig:<br />

„Ich werde nicht helfen.“<br />

Zwar war mir das klar gewesen, aber es so kalt aus Jacks Mund zu hören, der immer-<br />

hin Arzt war und den hippokratischen Eid geleistet hatte, schockierte <strong>mich</strong> doch. Bevor ich<br />

noch etwas sagen konnte, fuhr Kate dazwischen.<br />

plant zu Ende.<br />

„Das kannst du nicht machen, Jack!“<br />

„Doch, dass kann ich. Du weißt, warum.“<br />

Kate schüttelte entsetzt den Kopf.<br />

„Jack, er ist ein Kind.“<br />

Ruhig nickte der Arzt.<br />

„Ja, das ist er. Und wir wissen, was aus ...“<br />

Er sah <strong>mich</strong> an und unterbrach sich. Schließlich führte er seinen Satz anders als ge-<br />

„Du weißt, was passiert, wenn ich <strong>mich</strong> als Arzt oute.“<br />

Er warf mir einen harten Blick zu und ich nickte.<br />

„Das weiß hier keiner?“, tat ich unwissend und Jack erklärte kühl:<br />

„Und dabei muss es auch bleiben.“<br />

Mir kräuselten sich die Nackenhaare.<br />

„Du hast als Arzt geschworen, Menschenleben zu retten.“<br />

Jack sah <strong>mich</strong> überheblich an und erwiderte:<br />

„Das ist mir klar. Ich habe aber meine Gründe. Und jetzt lass <strong>mich</strong> zufrieden.“<br />

Kate sah Jack verwirrt und entsetzt an und sagte betroffen:<br />

„Ich mag den neuen Jack nicht.“<br />

Jack verzog das Gesicht.<br />

„Du mochtest auch den alten Jack nicht.“<br />

Er drehte sich brüsk herum und verließ das Haus. Hurley und Miles sahen sich be-<br />

troffen an, schwiegen aber.<br />

„Er braucht Blut.“, sagte ich jetzt, um das verlegene Schweigen zu brechen.<br />

„Ich muss in den Akten gucken, welche Blutgruppe er hat.“<br />

Ich schickte <strong>mich</strong> an, das Haus ebenfalls zu verlassen, als Kate <strong>mich</strong> zurückhielt.<br />

„Ich bin Universalspenderin. Ich mache das.“<br />

Dankbar sagte ich:<br />

„Das ist nett von dir. Komm mit.“<br />

Zusammen eilten wir zurück zur Krankenstation. Auf der Terrasse standen Jim und<br />

Roger in aufgeregtem Gespräch. Als wir kamen, unterbrachen sie ihre Unterhaltung und Jim<br />

fragte:<br />

- 259 -


„Was ist los?“<br />

Kate antwortete im Vorbeigehen:<br />

„Ich werde Blut spenden.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Hastig folgte sie mir in die Station. Juliet sah erstaunt auf, als wir in den Behandlungs-<br />

raum stürzten. Schnell erklärte ich ihr:<br />

„Jack weigert sich, zu helfen. Er wird nicht kommen. Kate hier ist bereit, Blut zu<br />

spenden, sie ist Universalspenderin.“<br />

Juliet sah <strong>mich</strong> fassungslos an, während ich bereits bei Kate alles für eine Blutent-<br />

nahme fertig machte.<br />

traurig.<br />

„Was? Er weigert sich?“<br />

Ich nickte wütend.<br />

„Ja, er sagte, er habe seine Gründe ...“<br />

Dass ich wusste, welche Gründe Jack vorschob, verschwieg ich wohlweislich.<br />

„Ja, er wird unter keinen Umständen helfen, Bens Leben zu retten.“, meinte Kate<br />

Ich hatte ihr eine Kanüle in die Armvene geschoben und verband diese mit einem<br />

Schlauch, an dessen Ende ein Blutbeutel hing. Als dieser voll war, entfernte ich vorsichtig die<br />

Kanüle und bat Kate:<br />

„Leg dich bitte ein wenig hin und wenn du nachher nachhause gehst, esse etwas und<br />

vor allem musst du viel Trinken.“<br />

Ich reichte Juliet den Beutel und sie bereitete die Bluttransfusion bei Ben vor. Wir<br />

hatten keine Zeit, das Blut erst zu untersuchen, was der normale Weg gewesen wäre. <strong>Der</strong><br />

Junge musste es sofort bekommen. Kate hatte sich auf der zweiten Behandlungsliege aus-<br />

gestreckt und fragte:<br />

„Hat er so eine Chance?“<br />

Juliet fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn. Ruhig sah sie Kate an.<br />

„Nein, eigentlich hat er die nicht. Die Kugel müsste raus, dann bestünde die be-<br />

rechtigte Hoffnung, dass er es schafft. So ... zögern wir das Unvermeidliche nur ein wenig<br />

hinaus.“ Kate verzog angewidert das Gesicht.<br />

„Ich verstehe Jack einfach nicht mehr.“<br />

Juliet warf ihr einen warnenden Blick zu, den ich aus den Augenwinkeln sehr genau<br />

bemerkte. Sie eilte auf die Terrasse, wo Roger nervös wartete. Er fuhr zu ihr herum, als sie<br />

aus der Station trat und fragte sofort:<br />

„Was ist? Wie geht es ihm? Konntest du etwas für ihn tun?“<br />

Juliet sah Roger ruhig an.<br />

„Hör zu, Kelly und ich tun, was in unserer Macht steht. Mir fehlt einiges an Material,<br />

kannst du zum Stab fahren und die Dinge, die ich benötige, dort abholen? Ich werde anrufen<br />

und denen alles durchgeben. Du kannst hier im Augenblick ohnehin nichts tun.“<br />

- 260 -


Roger nickte verzweifelt.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Ja, mach ich. Bitte, Juliet, rette meinen Jungen.“<br />

Juliet sah Roger fest an.<br />

„Ich verspreche dir, dass wir alles tun was wir können.“<br />

<strong>Der</strong> Hausmeister setzte sich in Bewegung, zum Wagenpark, um sich einen Dienst-<br />

wagen zu nehmen. Juliet sah ihm nach. Langsam ging sie in die Station zurück. Kate und ich<br />

sahen ihr entgegen, als sie wieder den Behandlungsraum betraten. Scheinbar dachte die<br />

blonde Frau über etwas nach. Sie sah uns an und meinte langsam:<br />

„‟Sie‟ könnten ihn vielleicht retten.“<br />

Kate und ich verstanden aus unterschiedlichen Gründen sofort, was Juliet meinte.<br />

Kate, weil sie von den ‟Anderen‟ wusste, ich, weil ich wusste, dass Ben zu ihnen geschafft<br />

wurde. Ich musste <strong>mich</strong> natürlich ahnungslos stellen und fragte:<br />

„Welche ‟Sie‟ meinst du?“<br />

„Nun, die Eingeborenen. Sie haben einen ... großartigen Arzt bei sich.“<br />

„Wie soll er denn dort hinkommen?“, fragte ich scheinbar erstaunt.<br />

„Ich werde ihn hinbringen!“, erklärte Kate sofort bestimmt.<br />

Ohne <strong>mich</strong> weiter zu beachten, nickte Juliet.<br />

„Wenn du das machen würdest ...?“<br />

Kate nickte.<br />

„Ja, ich werde es machen. Ich besorge einen Wagen.“<br />

Schnell verließ sie die Station und ich konnte es nicht verhindern, ohne <strong>mich</strong> zu ver-<br />

raten. Da ich immer noch davon ausging, die Zeitschleife durchbrechen zu können, beschloss<br />

ich, es geschehen zu lassen. Wenn ich Erfolg hatte, würde Ben zwar immer noch zu dem<br />

werden, was er später war, hätte aber keinen Einfluss mehr auf das Leben Jims und der<br />

Freunde.<br />

Kate kam bereits mit einem der VW Busse zurück und zusammen verluden wir den<br />

schwer verletzten Jungen. Kate stieg ein und nickte uns noch einmal zu.<br />

„Ich werde es schaffen.“, sagte sie zuversichtlich.<br />

„Beeile dich, er hat nicht mehr viel Zeit.“, sagte Juliet ernst.<br />

Kate startete den Wagen und ich sah Juliet an.<br />

„Was willst du Roger erzählen?“<br />

Sie seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die blonden Haare.<br />

„Das werde ich mir überlegen, wenn es soweit ist. Ich werde Jim suchen, er muss Kate<br />

helfen, sie weiß nicht, wo sie hingehen muss, um die Hostiles zu finden.“<br />

Schon hastete die blonde Frau los, um Jim zu suchen. Dieser war jedoch nicht zuhause<br />

und so beschloss Juliet, Jack aufzusuchen. Sie platzte ohne anzuklopfen in das Haus, dass er<br />

sich mit Hurley und Sayid teilte. Erstaunt hörte die Ärztin Jims Stimme im Wohnzimmer.<br />

- 261 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Du blöder Hund hast ihn gerettet, als er ein erwachsener Psycho war und als unschuldiges<br />

Kind willst du ihn krepieren lassen? Sag mal, hast du sie noch alle?“<br />

zurück.<br />

Aggressiv antwortete Jack:<br />

„Du weißt, warum ich es nicht tue. Ich will uns alle vor ihm bewahren.“<br />

„Ach, ist Dr. Do-right plötzlich Herr über Leben und Tod, oder was?“, knurrte Jim<br />

Und in diesem Moment betrat Juliet den Raum.<br />

„Kann ich dich kurz unter vier Augen sprechen?“, fragte sie Jim, als dieser sich er-<br />

staunt zu ihr herum drehte.<br />

„Hey, du, wie geht‟s Ben?“, fragte Jim gespannt und folgte Juliet nach draußen.<br />

Hastig erklärte sie:<br />

„Bescheiden, ohne Jack können Kelly und ich nichts für ihn tun. Wenn ich versucht<br />

hätte, die Kugel selbst zu entfernen, hätte ich ihn nur schnell umgebracht. James, Kate ver-<br />

sucht, ihn zu Richard zu bringen ...“<br />

„Was? Ist sie komplett verrückt?“<br />

Jim starrte Juliet entgeistert an.<br />

„Es war meine Idee. Nur dort kann er noch gerettet werden, wenn es nicht ohnehin<br />

schon zu spät ist. James, Kate wird Hilfe brauchen, sie kann das nicht alleine.“<br />

Juliet sah Jim an und griff nach dessen Händen.<br />

„Verdammt! Okay, bin schon unterwegs.“<br />

Jim gab Juliet einen Kuss, eilte, so schnell sein Bein es schon zuließ, zu ihrem Haus<br />

hinüber und sprang in seinen Dienstwagen. Er fuhr los. Juliet sah ihm besorgt nach. Ihn aus-<br />

gerechnet zu Kate zu schicken war nicht gerade das, was sie unter einer guten Idee verstand.<br />

Aber eine andere Möglichkeit gab es nicht. Langsam drehte sich die Ärztin herum und betrat<br />

wieder das Haus. Sie fand Jack in der Küche, er hatte sich gerade eine Tasse Kaffee ge-<br />

nommen. Erstaunt sah er auf, als er die blonde Frau eintreten sah.<br />

„Du bist noch hier?“, fragte er sie kühl.<br />

„Ja, Jack, ich bin noch hier. Wie konntest du deine Hilfe Verweigern?“<br />

Jack sah Juliet kalt an und erklärte:<br />

„Juliet, das ist Ben!“<br />

„Nein, Jack, das ist ein dreizehnjähriger Junge, der nichts dafür kann, was sein er-<br />

wachsenes Alter Ego später einmal machen wird. Er ist ein Kind. Ein sterbendes Kind, das<br />

Hilfe brauchte!“<br />

Jack schüttelte den Kopf.<br />

„Es tut mir leid, ich kann dir nicht helfen.“<br />

Juliet nickte kalt.<br />

- 262 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Das brauchst du auch nicht mehr. James und Kate bringen ihn zu Richard. Sie sind<br />

nicht wie du, sie werfen keinem Kind vor, was es später einmal machen wird. Sie machen sich<br />

Sorgen um ihn.“<br />

Jack schüttelte frustriert den Kopf.<br />

„Ich habe mir auch Sorgen gemacht, Juliet. Um euch. Darum bin ich zurück-<br />

gekommen, um euch zu helfen.“<br />

Jetzt war es Juliet, die Jack kalt musterte.<br />

„Wir brauchten keine Hilfe. Wir haben nicht darum gebeten. Uns ging es hervorragend<br />

hier. Seit ihr wieder hier seid, schweben wir erst in Gefahr.“<br />

Jack schnaufte.<br />

„Ihr habt Hilfe gebraucht, sonst hätte man uns nicht so dringend wieder hier benötigt.“<br />

Juliet lachte leise.<br />

23) <strong>Der</strong> Lauf der Dinge<br />

„Jack, du bist nicht zurückgekommen um uns zu helfen, sondern um dir selbst zu<br />

helfen. Du bist ein Wrack. Lass uns in Frieden!“<br />

Sie sah Jack kühl an, drehte sich wortlos herum und verließ das Haus. Jack sah ihr<br />

nach und schüttelte den Kopf. Juliet eilte wieder in die Krankenstation und ich sah ihr ent-<br />

gegen. Ich hatte inzwischen aufgeräumt und hin und her überlegt, was man Roger Linus als<br />

Erklärung liefern konnte, aber mir war ehrlich gesagt auch nicht nur etwas halbwegs Ver-<br />

nünftiges eingefallen. Juliet sank erschöpft auf einen Stuhl und sah <strong>mich</strong> an.<br />

„Hör zu, Kelly, wenn Roger kommt, müssen wir sagen, dass wir nicht wissen, wo Ben<br />

hin verschwunden ist. Ich muss <strong>mich</strong> da auf dich verlassen können. Hilfst du mir?“<br />

Ich nickte.<br />

„Natürlich. Aber wie willst du das machen?“<br />

„Ganz einfach. Du musstest Material besorgen und ich war nur ganz kurz bei Jim, um<br />

ihn zu fragen, ob es schon etwas Neues gibt. Als ich zurückkam, war Ben verschwunden. Es<br />

wird so oder so Ärger geben. Also ist es fast egal, was wir sagen. Wenn ich nur wüsste, wer es<br />

war. Aber James wird es heraus finden, da bin ich ganz sicher.“<br />

Da die ganze Sache anders verlaufen war, war ich selbst nicht so sicher. Fast hoffte<br />

ich, er würde nicht dahinter kommen, was geschehen war. Laut sagte ich:<br />

„Ja, bestimmt wird man den Schuldigen finden.“<br />

Dass Sayid gerade draußen an der Krankenstation vorbei eilte, ließ diese Worte<br />

geradezu prophetisch erscheinen.<br />

************<br />

- 263 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Jim erwischte Kate, als sie ratlos am Sonarzaun stand und nicht wusste, wie es von<br />

hier aus weiter gehen sollte. Sie wirbelte erschrocken herum, als sie ein Auto kommen hörte.<br />

Erleichtert atmete sie auf, als sie sah, dass es Jim war, der aus dem Wagen stieg.<br />

„Sawyer, ich ...“<br />

Jim winkte ab.<br />

„Ich weiß, was du planst. Ich bin hier, um dir zu Helfen.“<br />

Kate nickte.<br />

„Verstehe. Danke.“<br />

Jim sah sie an und schüttelte den Kopf.<br />

„Bedank dich nicht bei mir. Juliet hat <strong>mich</strong> darum gebeten. Ich halt das Ganze für Irr-<br />

sinn. Seit ihr zurück seid geht hier alles den Bach runter. Wir hatten uns hier ein Leben auf-<br />

gebaut. Ein gutes Leben! Mit eurer Ankunft bricht langsam alles zusammen. Was willst du<br />

eigentlich hier? Warum bist du zurückgekommen?“<br />

Er trat an den Zaun und öffnete an einer der Säulen in unteren Bereich eine Klappe.<br />

Schnell tippte er ein paar Zahlen ein und sah Kate auffordernd an.<br />

„Weißt du das nicht?“, fragte die dunkelhaarige Frau ruhig.<br />

„Nein, Freckles, das weiß ich nicht, sonst hätt ich kaum gefragt.“, antwortete Jim ge-<br />

nervt und dirigierte Kate zum Wagen mit dem verletzten Jungen zurück.<br />

Sie stiegen ein und Jim fuhr los, einer der Straßen der DHARMA Initiative folgend.<br />

Im Wagen fuhr Jim fort:<br />

„Du hast es so eilig gehabt, wegzukommen, dass du vermutlich nicht mal zurück ge-<br />

schaut hast ob ich abgesoffen bin oder nicht. Darum wunder ich <strong>mich</strong> ein wenig, dass du<br />

wieder da bist.“<br />

Kate sah stur geradeaus.<br />

„Ich bin zurückgekommen, um Claire zu finden.“, erklärte sie genervt.<br />

Jim warf ihr von der Seite einen Blick zu und nickte langsam.<br />

„War klar.“<br />

„Was war klar?“, wollte Kate wissen.<br />

„Dass du nicht ... Ach, vergiss es. Zu den ‟Anderen‟ ist es noch ne Strecke zu fahren,<br />

sieh doch mal nach Ben.“<br />

Kate nickte und stand auf. Sie turnte nach hinten, wo der Junge sich unruhig auf der<br />

Trage hin und her wälzte. Sie blieb einen Moment neben ihm sitzen und kletterte wieder nach<br />

vorne zu Jim.<br />

„Es geht ihm glaube ich sehr schlecht. Wie lange dauert es noch, bis wir da sind?“<br />

Jim seufzte.<br />

„Wir können nicht ganz bis zu ihnen fahren, ne Weile müssen wir laufen.“, erklärte er.<br />

Er gab etwas mehr Gas. Zwanzig Minuten später etwa hielt er am Waldrand an.<br />

- 264 -


„Da geht‟s lang.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„So, von hier geht‟s zu Fuß weiter.“<br />

Er stieg aus und Kate folgte. Vorsichtig hob Jim den<br />

Jungen aus dem Wagen, dann nickte er in Richtung Nordosten<br />

in den Dschungel.<br />

Nebeneinander marschierten sie los. Eine ganze Weile gingen sie schweigend neben-<br />

einander her. Irgendwann sagte Kate plötzlich:<br />

vertragen.“<br />

„Du weißt ja, ich war bei Cassidy.“<br />

<strong>Über</strong>rascht sah Jim sie an.<br />

„Ich habe deine Tochter gesehen. Sie hat dein Lächeln. Aaron und sie haben sich gut<br />

Jim fragte leise:<br />

„Und, wie geht‟s Cass?“<br />

Kate sah Jim an.<br />

„Es geht ihr gut.“<br />

Sie stockte kurz und fuhr fort:<br />

„Sie meinte, du wärest damals nur aus dem Hubschrauber gesprungen, um mir aus<br />

dem Weg zu gehen. Um zu vermeiden, dass es zu etwas Festem wird.“<br />

Jim lachte sarkastisch.<br />

„Sie denkt das also, was?“<br />

Er schwieg einen Moment und sagte schließlich ruhig:<br />

„Du weißt genau, dass es mit uns nie was Festeres geworden wäre.“<br />

„Warum?“, wollte Kate wissen.<br />

Jim verzog ironisch das Gesicht.<br />

„Warum? Wer hat denn immer kalte Füße gekriegt, wenn es drohte, was Ernsteres zu<br />

werden? Kate, du bist immer im Galopp zurück zu Jack, wenn du das Gefühl hattest, ich<br />

komm dir zu nah.“<br />

Kate schnaufte.<br />

„Du warst nicht bereit.“<br />

„Wir waren es beide nicht. Ich hab <strong>mich</strong> so wenig in ner festen Partnerschaft gesehen<br />

wie du. So wenig, wie ich <strong>mich</strong> als Vater von Clementine gesehen hab. Und nebenbei be-<br />

merkt, es wär nie gut gegangen mit uns.“<br />

Kate sah Jim wieder an und fragte sarkastisch:<br />

„Ach, aber mit Juliet geht es plötzlich?“<br />

Jim nickte.<br />

„Ja, ich muss wohl erwachsen geworden sein in den letzten drei Jahren.“<br />

- 265 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Er wollte noch etwas hinzufügen, als plötzlich aus dem Gebüsch um sie herum fünf<br />

bewaffnete Männer auftauchten. Kate und Sawyer blieben stehen und warteten. Einer der<br />

Männer richtete das Gewehr auf Jim und herrschte ihn an:<br />

Gebiet?“<br />

„Was soll das? Warum brecht ihr die Abmachung? Was wollte ihr hier in unserem<br />

Jim warf Kate einen bedeutsamen Blick zu und sagte ruhig:<br />

„Es geht um den schwerverletzten Jungen hier. Bei uns denkt man, ihr habt ihn an-<br />

geschossen. Also ist es ein Problem, was beide Gruppen betrifft. Wir wollen zu Richard, wir<br />

müssen mit ihm Sprechen, klaro?“<br />

<strong>Der</strong> Anführer der kleinen Gruppe überlegte kurz und nickte.<br />

„Also gut, da lang.“<br />

Er deutete mit dem Gewehr in Richtung Westen und Jim und Kate setzten sich in Be-<br />

wegung. Ungefähr zehn Minuten liefen sie zusammen durch den Dschungel, als plötzlich vor<br />

ihnen Richard aus dem Gebüsch trat. Er warf einen kurzen Blick auf Jim und Kate, dann<br />

schaute er den Jungen in Jims Armen an.<br />

„Das ist Benjamin Linus. Was ist geschehen?“<br />

Jim kniff die Augen kurz zusammen. Er registrierte sehr genau, dass Richard Ben<br />

kannte. Er dachte sich seinen Teil dazu. Ruhig sah er den charismatischen Führer der<br />

‟Anderen‟ an und sagte:<br />

„Jemand hat auf ihn geschossen. Unsere Ärztin kann ihm nicht helfen.“<br />

Richard nickte verstehend.<br />

„Wer ist sie?“<br />

Er sah Kate misstrauisch an.<br />

„Sie gehört zu mir.“, erklärte Jim fest.<br />

„Kannst du ihm helfen? Kannst du sein Leben retten?“, fragte Kate den dunkel-<br />

haarigen Mann gespannt.<br />

Ruhig sagte Richard: „<br />

Wenn ich das mache, wird er nie wieder der Gleiche sein. Er wird seine kindliche Un-<br />

schuld verlieren, wird vergessen, was gewesen ist und für immer einer von uns werden. Seid<br />

ihr sicher, dass ihr das wollt?“<br />

Jim nickte. Ihm wurde in diesem Moment klar, dass erst dieser Schuss Ben zu dem<br />

gemacht hatte, was Sayid mit seiner verzweifelten Tat hatte verhindern wollen. Und hätte<br />

Jack ihn operiert, wäre er auch nicht zu dem Ben geworden, den sie später alle so sehr hassen<br />

würden. Ironie des Schicksals. Trotzdem sagte er ruhig:<br />

„Die Alternative ist, dass er bei uns sterben wird.“<br />

Jetzt trat einer der Männer, derjenige, der die Gruppe angeführt hatte, vor und sagte:<br />

„Du solltest erst mit Ellie reden, bevor du das entscheidest. Außerdem frage ich <strong>mich</strong> ernst-<br />

haft, was Charles dazu sagen wird.“<br />

- 266 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Richard warf dem Mann einen kühlen Blick zu und erwiderte:<br />

„Ich bin keinem der Beiden Rechenschaft schuldig.“<br />

Er nahm Jim den verletzten Jungen vorsichtig aus den Armen, drehte sich um und ver-<br />

schwand, gefolgt von seinen Leuten, im Dschungel. Kate fragte laut:<br />

„Wo bringst du ihn hin?“, aber Jim packte sie am Arm und zog sie mit sich, in die<br />

Richtung, aus der sie gekommen waren.<br />

Dharma.“<br />

„Wir müssen zurück, wenn Roger merkt, dass Ben weg ist, gibt es big trouble in little<br />

Er beeilte sich, zum Wagen zurück zu kommen und knapp fünfundvierzig Minuten<br />

später erreichten sie den Sonarzaun.<br />

„Wenn du die Karre zurück bringst, lasst dich möglichst nicht sehen.“<br />

Kate nickte.<br />

„Ist schon klar. Danke für deine Hilfe, Sawyer.“<br />

Jim sah sie an.<br />

„War das Einzige, was wir tun konnten.“<br />

Er kniete am Sonarzaun nieder und schaltete diesen wieder ein.<br />

************<br />

Ich beobachtete Juliet unauffällig, während wir warteten, dass Roger auftauchen und<br />

nach seinem Sohn würde gucken wollen. Lange dauerte es nicht. Juliet sprang auf und tat so,<br />

als wolle sie gerade hastig die Krankenstation verlassen. Sie wäre fast in Linus hinein gerannt.<br />

„Oh, Roger ... Ich bin auf dem Weg zu Horace. Es ist etwas passiert. Ben ist verschwunden!“<br />

Roger starrte die Ärztin verwirrt an.<br />

„Was? Wie, verschwunden?“<br />

„Er ist weg. Kelly war im Materiallager und ich habe die Station vielleicht fünf<br />

Minuten verlassen, um mit Jim zu Sprechen, ob er schon etwas Neues wüsste, und als ich<br />

zurück kam, war Ben weg. Ich muss Horace informieren.“<br />

Roger flippte aus.<br />

„Wie kann ein schwer verletztes Kind verschwinden? Das gibt es doch gar nicht.<br />

Jemand hat meinen Sohn entführt! Wie konntest du ihn alleine lassen?“<br />

Er rannte neben Juliet her zum Haus der Goodspeeds. Juliet hetzte weiter und erreichte<br />

die Haustür. Heftig klopfte sie und Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Horace starrte<br />

die Ärztin verwirrt an.<br />

„Was ist passiert?“, fragte er alarmiert.<br />

Juliet holte tief Luft.<br />

- 267 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Jemand scheint Ben gekidnappt zu haben, Horace. Ich war nur ganz kurz bei Jim, um<br />

<strong>mich</strong> nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen und als ich zurückkam, war Ben ver-<br />

schwunden.“<br />

Horace starrte Juliet an, als hätte sie ihm gerade erzählt, der Osterhase wäre zum<br />

Kaffee vorbei gekommen.<br />

„Wer entführt denn ein schwer verletztes Kind?“<br />

Und dann sagte Roger etwas, das Juliet eine Gänsehaut über den Rücken jagte.<br />

„Diese Neue, Kate, die hat sich auffallend für Ben interessiert, Horace. Sie hat sich ja<br />

richtig aufgedrängt, ihm Blut zu spenden. Das ist nicht normal, sie kennt meinen Jungen doch<br />

gar nicht. Sie und dieser Iraker, der angeblich Schiffbruch erlitten haben, sie haben sich regel-<br />

recht an Ben ran gemacht. Du musst sie überprüfen. Die sind ein Sicherheitsrisiko, da bin ich<br />

sicher. Mit denen stimmt was nicht, das spüre ich. Und Lafleur hat ne Menge für diese Kate<br />

übrig, das sieht doch ein Blinder.“<br />

************<br />

„Roger hat genau den Punkt getroffen.“<br />

Juliet saß mir gegenüber und fuhr sich nervös mit den Händen durch die langen,<br />

blonden Haare. Sie hatte mir gerade erzählt, was Roger zu Horace gesagt hatte und ich war<br />

schockiert. Roger Linus war nicht gerade ein Genie, aber er hatte mit einer guten Be-<br />

obachtungsgabe, einer gehörigen Portion sogenannter Bauernschläue und der Eingebung eines<br />

Vaters genau die Personen ins Spiel gebracht, die nie und nimmer hätten unter Verdacht ge-<br />

raten dürfen. Kate und Sayid ... Sie waren schon schlimm genug, aber Jim! Er steckte jetzt<br />

ebenfalls mittendrin. Bisher verlief alles so, wie es immer verlaufen war, mit nur gering-<br />

fügigen Abwandlungen. Das konnte nicht sein. Es musste eine Möglichkeit geben, das zu<br />

durchbrechen. „Wir müssen Sayid und Kate warnen und Jim ...“<br />

Juliet sah <strong>mich</strong> überlegend an.<br />

„Ich werde wieder deine Hilfe benötigen. Kelly, das Problem ist, dass ich dich nicht<br />

einschätzen kann. Du verbirgst einiges und du weißt zu viel. Aber ich muss dir einfach Ver-<br />

trauen, denn viele sind es nicht, denen ich vertrauen kann.“<br />

Ich biss mir auf die Lippe und spürte, dass ich blass wurde.<br />

„Woher weißt du so viel?“, fragte Juliet <strong>mich</strong> auch schon rundheraus.<br />

„Wenn ich dir das erklären würde, säßen wir in drei Tagen noch hier.“, sagte ich leise.<br />

„Versuche eine Kurzfassung.“, schlug die blonde Frau vor.<br />

kommt.“<br />

„Selbst das ist schwierig. Ich weiß ... alles, verstehst du? Wer ihr seid, wo ihr her-<br />

„Was weißt du?“<br />

- 268 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Nun, ich weiß vom Absturz der 815, von dem <strong>Über</strong>lebenskampf, wie du dazu ge-<br />

stoßen bist, von Ben, von der Heimkehr Kates, Jacks, Hurley, Sayids und Suns.“<br />

Juliet starrte <strong>mich</strong> misstrauisch an.<br />

„Woher?“<br />

„Von den fünf. Ich habe sie 2007 in LA kennen gelernt und bin mit ihnen zusammen<br />

hierher zurückgekommen.“<br />

„Warum kennen sie dich nicht?“<br />

„Das weiß ich nicht, sie können sich an nichts erinnern. Ich habe keine Ahnung,<br />

womit das zusammen hängt.“<br />

Dem Gesicht der Ärztin war überdeutlich anzusehen, dass sie starke Zweifel hegte.<br />

Das konnte ich ihr nicht verdenken.<br />

„Hör zu, Juliet, ihr habt hier Zeitsprünge auf der Insel gemacht, du weißt, dass es mög-<br />

lich ist, auch Kate, Jack und Hurley sind zusammen mit Sayid aus der Zukunft hierher<br />

zurückgekommen nach 1977. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt helfen kann, aber was ich tun<br />

kann, werde ich machen. Du musst dich entscheiden, ob du mir Vertrauen willst oder nicht.<br />

Ich hätte euch alle schon längst verraten können, wenn ich es gewollt hätte.“<br />

Dass ich auch wusste, was geschehen würde, verschwieg ich lieber, mir schien es<br />

wichtig, dies nicht zu sagen. Oftmals trafen Dinge erst zu, wenn jemand von ihnen wusste und<br />

das Geschehen unbewusst forcierte. Ich hatte bisher nicht aktiv in das Geschehen ein-<br />

gegriffen. Das würde ich erst machen, wenn es wirklich eine Möglichkeit gab, durch mein<br />

direktes Eingreifen etwas zu verhindern oder zu verändern. Ich sah Juliet an, dass sie ver-<br />

unsichert war. Endlich aber nickte sie entschlossen.<br />

„Wenn du all das weißt und es bisher für dich behalten hast, wirst du dies sicher auch<br />

weiterhin machen.“, sagte sie ruhig. „Ich werde dir vertrauen und hoffen, dass ich <strong>mich</strong> nicht<br />

irre. Wir müssen versuchen, Kate und James abzufangen und sie zu warnen. Und auch Sayid<br />

muss gewarnt werden.“<br />

Ich sah aus dem Fenster und stöhnte entsetzt:<br />

„Scheiße! Dafür ist es zu spät.“<br />

************<br />

Draußen fuhr Jim vor und aus Richtung des Fuhrparks kam gerade Kate gelaufen. Und<br />

plötzlich war draußen alles in Aufruhr. Phil eilte auf Kate zu und packte sie hart am Arm.<br />

Juliet und ich waren auf die Terrasse hinaus getreten und beobachteten die Szene. Wir hörten,<br />

wie Phil zu Kate sagte:<br />

„Du wirst zu einer Befragung benötigt. Und bis nicht gewisse Dinge geklärt sind,<br />

stehst du unter Arrest.“<br />

- 269 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Kate versucht, aufzubegehren. Sie machte sich mit einem Ruck von Phil los und fuhr<br />

diesen ärgerlich an:<br />

„Was soll das? Was willst du von mir?“<br />

Jim war inzwischen ausgestiegen und ging eilig zu Phil hinüber.<br />

„Hey! Was soll der Quatsch?“, fuhr er diesen an.<br />

„Das ist kein Quatsch, Boss, es sind ernste Anschuldigungen gegen sie ausgesprochen<br />

worden. Horace will sich mit ihr unterhalten. Und mit diesem Sayid. Ach, und eh ich‟s ver-<br />

gesse, mit dir will er auch reden.“<br />

Jim biss sich auf die Lippe. Er hatte es befürchtet und nun war der Stein ins Rollen ge-<br />

kommen. Vielleicht schaffte er es noch, zu verhindern, dass aus dem Stein eine Lawine<br />

wurde. Er sah sich um. Das halbe Dorf sah inzwischen zu und so sagte er laut:<br />

„Wenn das so ist, lass es uns hinter uns bringen. Du kannst sie aber trotzdem loslassen,<br />

sie wird schon nicht abhaun.“<br />

Genervt ließ Phil daraufhin Kates Arm los und herrschte sie nur an:<br />

„Los, Lady, setzt dich in Bewegung, der Chef will dich sehen.“<br />

Kate verdrehte die Augen und marschierte los, Richtung Haus 2. Jim blieb dicht hinter<br />

Kate und Phil und überlegte hektisch, was er Horace antworten konnte. Viel Zeit, einen Plan<br />

auszuhecken, blieb ihm nicht. Schon hatten sie das Haus erreicht und Phil klopfte.<br />

Horace öffnete die Tür und sagte ernst:<br />

„Oh, da seid ihr ja, kommt rein.“<br />

Er ging vorweg und sie erreichten gemeinsam sein Arbeitszimmer. An Kate und Jim<br />

gewandt sagte der Anführer:<br />

„Setzt euch hin.“<br />

Jim ließ sich scheinbar gelangweilt auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch fallen,<br />

Kate setzte sich zögernd.<br />

„Was ist eigentlich los? Kann mir das mal jemand erklären?“, fragte Jim gedehnt.<br />

Horace nickte.<br />

„Das kann ich, James. Wo hast du den ganzen Morgen gesteckt?“<br />

Jim zog eine Augenbraue in die Höhe.<br />

„Was glaubst du denn? Hab <strong>mich</strong> umgesehen, da, wo Benjamin angeschossen wurde.<br />

Hab nach Spuren gesucht, bin durch den Monsterdschungel gelatscht, hab mir den Arsch auf-<br />

gerissen, um was zu finden.“<br />

Horace sah Jim an.<br />

„Und, hast du etwas gefunden, James?“<br />

Jim schüttelte den Kopf.<br />

„Nix, was auf ne Spur des Schützen hindeutet.“<br />

- 270 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Horace schien sich mit der Erklärung erst einmal zufrieden zu geben. Er sah Kate an.<br />

„Und du? Roger behauptet, du hättest ein auffälliges Interesse für Ben an den Tag gelegt. Du<br />

hast ihm Blut gespendet, wieso?“<br />

Kate sah Horace böse an und sagte giftig:<br />

„Seit wann wird man dafür verhört, wenn man einem sterbenden Kind freiwillige zu<br />

helfen versucht? Ist das bei euch ein Verbrechen? Hätte ich ihn Sterben lassen sollen? So<br />

ignorieren, wie ihr alle hier fröhlich ignoriert habt, wie Benjamin von seinem Vater miss-<br />

handelt wurde? Sein eigener Vater hat ihn immer behandelt wie Müll. <strong>Der</strong> Junge tat mir Leid.<br />

Mein Vater war genauso. Ich wollte nur helfen.“<br />

Phil mischte sich ein.<br />

„Warum gerade ihm? Hier sind noch andere Kinder, warum keines von denen?“<br />

Kate drehte sich zu Phil herum und sagte sarkastisch:<br />

„Bist du so dämlich, oder tust du nur so? Zufällig ist Ben das einzige angeschossene<br />

Kind, das gerade im Sterben liegt. Wie blöde war denn die Frage?“<br />

Jim lachte.<br />

„Da hat sie allerdings Recht. Verdammt, Horace, was ist eigentlich los?“<br />

„Ben wurde entführt. Kelly war im Materiallager und Juliet hat nach dir gesucht, und<br />

als sie wieder zur Krankenstation zurück kam, war Ben weg.“<br />

Jim gelang es ganz hervorragend, einen schockierten Gesichtsausdruck auf sein Ge-<br />

sicht zu zaubern.<br />

„Was? Das gibt es doch nicht! Wer entführt denn ein schwerverletztes Kind?“, fragte<br />

er scheinbar fassungslos.<br />

„Roger hat Kate in Verdacht. Weißt du, wo Sayid ist? Ich werde ihn auch befragen<br />

müssen. Roger hat auch gegen ihn Anschuldigungen erhoben, denen ich nachgehen muss.“<br />

Jim schüttelte den Kopf.<br />

„Hab keine Ahnung, wie sein Dienstplan aussieht, fällt ja wohl nicht in meinem Zu-<br />

ständigkeitsbereich. Wenn ich immer wüsste, wo jeder hier gerade steckt, wär ich verdammt<br />

gut und hätte ne Menge Arbeit weniger.“<br />

bitte zu mir.“<br />

Horace nickte.<br />

„Da hast du allerdings Recht. Ich will, dass du losziehst und ihn suchst. Bringe ihn<br />

Jim seufzte innerlich und stand langsam auf. Kate erhob sich ebenfalls, wurde jedoch<br />

von Horace zurückgerufen.<br />

„Nein, Kate, wir sind noch nicht fertig. Jim, du schwirrst ab. Mach schon.“<br />

Jim konnte nicht anders. Er stand auf und verließ mit sehr gemischten Gefühlen das<br />

Haus der Goodspeeds. Und Kate blieb sitzen, mit nicht weniger gemischten Gefühlen.<br />

„Woher kamst du noch gleich?“, fragte Horace und sah die junge Frau an.<br />

- 271 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Spencer, Iowa.“, erwiderte diese ruhig.<br />

„Richtig, und du wurdest geboren ...?“<br />

Kate sah erstaunt auf.<br />

„Was? Ich bin 28, falls du das wissen willst.“<br />

Horace schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, ich will wissen, wann du geboren wurdest.“<br />

Kate schnaufte.<br />

„13.05.49“, sagte sie ruhig. „Willst du auch noch meine Maße?“<br />

Horace ging auf die Bemerkung nicht ein.<br />

„Wie wurdest du rekrutiert?“<br />

Kate erschrak. Was sollte sie sagen?<br />

„Da war so ein Typ ... Auf dem Arbeitsamt. Er wollte wissen, ob ich nen Job<br />

brauche.“, sagte sie lapidar.<br />

war ruhig.“<br />

„Und wie war die <strong>Über</strong>fahrt?“<br />

Kate erklärte ruhig:<br />

„Wie soll ich das wissen? Die haben uns ja mit Drogen vollgestopft. Ich hoffe mal, sie<br />

Zum Glück hatte Sawyer ihnen gesagt, dass die Leute im U-Boot ein Schlafmittel be-<br />

kamen. Horace sah sie aufmerksam an.<br />

„Hast du es gut vertragen?“<br />

„Was? Eure Droge? Ja, hab ich, bin da nicht so empfindlich.“<br />

Goodspeed schien nachzudenken und Kate fragte sich, ob sie etwas Falsches gesagt<br />

hatte. Minutenlang schwieg der Anführer, dann sagte er langsam:<br />

„Phil, ich möchte, dass du Kate, Hurley und diesen Jack in Haus 12 bringst und dort<br />

unter Arrest stellst, bis die ganze Angelegenheit geklärt ist. Kate, du musst verstehen, ihr seid<br />

die Neuen und wir kennen euch nicht. Wir werden auch alle anderen Neuen genau über-<br />

prüfen. Da hier ein sehr großes Sicherheitsrisiko besteht, möchte ich die ganze Sache<br />

komplett aufklären. Solange bleibt ihr zu eurer eigenen Sicherheit in Hausarrest.“<br />

Er stand auf und damit war das Gespräch beendet. Zehn Minuten später saß Kate<br />

schwer genervt auf dem Sofa im Hause Jacks und Hurleys. Die Beiden wurden gerade von<br />

Miles und Jin herein geführt. Jin zischte ihnen leise zu:<br />

„Verhaltet euch friedlich, das wird sich alles schnell klären ...“<br />

Laut sagte er:<br />

„Ihr bleibt hier, bis wir Sayid gefunden haben und die Angelegenheit klären konnten.“<br />

Zusammen mit Miles verließ er das Haus und ließ die Drei alleine.<br />

************<br />

- 272 -


Jim war kurz zu uns gekommen.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Roger verdächtigt wohl alle, was?“, sagte er leise, als er bei uns stand.<br />

Juliet war zu ihm getreten und umarmte ihn liebevoll.<br />

„Habt ihr es geschafft?“, hauchte sie, während sie einander scheinbar liebkosten.<br />

Ebenso leise erwiderte Jim:<br />

lich:<br />

„Klar, alles gut gegangen. Wie es hier weiter geht weiß ich allerdings nicht.“<br />

Er trat ein wenig zurück, nahm Juliet an den Oberarmen und sagte laut und eindring-<br />

„Baby, das ist nicht deine Schuld! Mach dich nicht verrückt damit. Wer kann denn<br />

Ahnen, dass jemand ein sterbenskrankes Kind entführt. Ich werd noch mal losfahren und<br />

sehen, ob ich den Iraker irgendwo finde. Kelly, hast du ne Ahnung, ob er was mit der Ent-<br />

führung zu tun haben könnte?“<br />

Ich schüttelte den Kopf und erwiderte ebenfalls laut und deutlich:<br />

„James, ich kann <strong>mich</strong> gerade einmal vage daran erinnern, dass er an Bord war. Damit<br />

hat es sich aber auch schon. Ich maße mir nicht an, darüber Urteilen zu können, ob er zu einer<br />

Kindesentführung fähig wäre. Aber, mal ganz ehrlich, wozu sollte er das tun? Hätte er den<br />

Jungen umbringen wollen, hätte er nur zu warten brauchen. Dafür das Risiko einer Ent-<br />

führung auf sich zu nehmen ist idiotisch. Und wer sollte denn wirklich Interesse daran haben,<br />

einen dreizehnjährigen, sterbenden Jungen zu entführen? Vielleicht ... Menschen neigen dazu,<br />

unglaubliche Kräfte zu entwickeln, wenn sie in außergewöhnlichen Situationen stecken. Unter<br />

bestimmten Umständen können sie dann Leistungen erbringen, die jenseits jeder Vor-<br />

stellungskraft liegen. Vielleicht ist Ben alleine verschwunden. Auf ihn wurde geschossen, er<br />

ist vollkommen verängstigt, vielleicht schon im Delirium, möglicherweise hatte er sich ein-<br />

gebildet, dass seine Mörder hierher kommen könnten und hat sich fort geschleppt. Wir sollten<br />

vielleicht einfach gründlich die Umgebung absuchen.“<br />

Juliet griff meine verrückte Idee sofort auf.<br />

„Kelly hat Recht, James, du solltest das wirklich in Erwägung ziehen. Ich habe selbst<br />

oft genug erlebt, wozu Menschen in Extremsituationen fähig sind. Benjamin ist verwirrt, ver-<br />

letzt, voller Angst, es scheint zwar unvorstellbar aber durchaus möglich, dass er alleine ver-<br />

schwunden ist. Suche du nach diesem Sayid, und schicke ein paar Leute los, die die Um-<br />

gebung absuchen.“<br />

kam, zu sich.<br />

Jim sah uns an, dann nickte er.<br />

„Okay, Doc‟s, wenn ihr das für möglich haltet, werd ich n paar Leute losschicken.“<br />

Er verließ die Station und rief draußen Phil, Miles, Jin und Wayne, der gerade vorbei<br />

„Hört mal, es besteht vielleicht die Möglichkeit, dass Ben sich alleine weg geschleppt<br />

hat. Sucht alle gründlich die Umgebung ab, los. Roger soll auch helfen, dann macht er zur<br />

Abwechslung wenigstens mal was Sinnvolles und verdächtigt nicht unschuldige Leute.“<br />

- 273 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Juliet und ich atmeten erleichtert auf, als wir sahen, dass tatsächlich einige Leute außer<br />

denen, die Jim aufgefordert hatte, sich eifrig an der Suche beteiligten. Leise sagte ich:<br />

„Erst mal haben wir die auf eine andere Idee gebracht. Aber da er nicht alleine ab-<br />

gehauen ist, wird das schnell auffliegen.“<br />

abzulenken.“<br />

Juliet nickte.<br />

„Natürlich. Aber vielleicht haben wir es geschafft, den Verdacht von Kate und Sayid<br />

Sie seufzte.<br />

„Ich habe von Anfang an befürchtet, dass das plötzliche Auftauchen der vier nichts<br />

Gutes bringen konnte.“ Sie sah <strong>mich</strong> an und lächelte müde. „Hör mal, du hast uns heute sehr<br />

geholfen, willst du nicht nachher zum Essen zu uns kommen?“<br />

Erschrocken wollte ich den Kopf schütteln, aber mein Mund war schneller.<br />

„Ja, gerne.“<br />

Bevor ich es noch verhindern konnte, hatte ich schon zugesagt. Juliet freute sich.<br />

„Gut, dann gegen 19 Uhr, okay, ich werde mal Feierabend machen, war ein an-<br />

strengender Tag. Du solltest auch nachhause gehen.“<br />

Frustriert nickte ich.<br />

„Hier ist sowieso nichts mehr zu tun. Dann bis später.“<br />

Juliet verschwand und ich schloss die Station ab. Langsam und in Gedanken ver-<br />

sunken ging ich zu meiner Unterkunft hinüber. Dabei wanderte mein Blick unwillkürlich zum<br />

Haus Nummer 12 hinüber. Doch schnell dachte ich an den bevorstehenden Abend. Was hatte<br />

ich mir nur dabei gedacht? Zwei, drei Stunden zu beobachten, wie liebevoll Jim und Juliet<br />

miteinander umgingen. Ich neigte eigentlich nicht zum Masochismus. Müde schloss ich<br />

unsere Haustür auf und stand Minuten später unter der Dusche. Dass draußen inzwischen Jim<br />

zurückkam, mit Sayid, den er nun gefunden hatte, konnte ich nicht ahnen.<br />

Kurz vor 19 Uhr machte ich <strong>mich</strong> auf den Weg und klopfte Augenblicke später an<br />

Jims Tür. Er öffnete mir selbst und bat <strong>mich</strong> herein.<br />

„Schön, dass du gekommen bist. Juliet ist noch nicht ganz fertig, geht aber gleich los.<br />

Sie ist ne tolle Köchin, wird dir schmecken.“<br />

Mein Herz klopfte so stark, als ich Jim so gegenüber stand, dass ich befürchtete, er<br />

müsse es hören können. Eilig sagte ich:<br />

„Na, dann werde ich ihr mal helfen.“, und ließ Jim im Flur stehen.<br />

In der Küche war Juliet dabei, den Tisch zu decken.<br />

„Hallo, kann ich dir noch etwas helfen?“, fragte ich gezwungen fröhlich.<br />

„Klar, wenn du magst, kannst du den Tisch decken, es wird noch ungefähr zehn<br />

Minuten dauern.“<br />

„Mache ich gerne.“<br />

- 274 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Wir unterhielten uns, während ich Teller und Besteck auf den Tisch stellte und sahen<br />

uns erstaunt an, als es an der Tür klopfte. Juliet ging in den Flur und ich konnte hören, wie sie<br />

sagte:<br />

„Nanu, Phil, was ist?“<br />

„Entschuldige die Störung, Juliet, Jack hat <strong>mich</strong> gebeten, ihn zu euch zu bringen, er<br />

will mit dem Boss reden.“<br />

reden.<br />

stehen?“<br />

Buch.“<br />

Juliet antwortete:<br />

„Na, dann komm mal rein, Jack. Jim bringt ihn zurück, kannst abschwirren.“<br />

Das galt offensichtlich Phil. Kurze Zeit später hörte ich die Männer im Wohnzimmer<br />

„Hallo, Doc. Was kann ich für dich tun?“<br />

Jacks Stimme antwortete:<br />

„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht damit, dass wir unter Arrest<br />

Ruhig erklärte Jim:<br />

„Daran arbeite ich, Doc.“<br />

Ironisch antwortete Jack:<br />

„Ach ja? Für <strong>mich</strong> sieht es so aus, als sitzt du gemütlich auf dem Sessel und liest ein<br />

Juliet war in die Küche zurückgekommen. Wir konnten beide Jims leises Lachen<br />

hören. Ruhig gab er zur Antwort:<br />

„Weißt du, Doc, ich hab mal gehört, dass Winston Churchill jeden Abend gelesen hat,<br />

sogar während des Blitzkrieges. Soll ihm geholfen haben, nachzudenken. Das mach ich<br />

genauso. Ich denke nach.“<br />

Seine Stimme wurde kühler.<br />

„Ich weiß, damit kannst du nichts anfangen. Damals, als du der Boss warst, hast du<br />

immer nur reagiert. Du hast nie nachgedacht. Und, unterbrich <strong>mich</strong>, wenn ich was Falsches<br />

sage, aber das hat doch viele Menschen das Leben gekostet.“<br />

Jack erwiderte genervt:<br />

„Ich habe uns immerhin von der Insel herunter geholt.“<br />

Unterkühlt meinte Jim:<br />

„Aber du bist wieder hier, genau da, wo du angefangen hast. Und jetzt hab ich das<br />

Sagen. Also werd ich weiter mein Buch lesen, und ich werd Nachdenken, denn so hab ich<br />

euch schon den Arsch gerettet, und auf dieselbe Art hol ich euch und uns aus dieser ganzen<br />

Scheiße raus. Du brauchst dich um nichts zu kümmern. Geh nachhause, schlaf dich aus und<br />

verhalt dich still. Ist das nicht mal ne Erleichterung? Ach, und noch was, Doc, was zum<br />

Nachdenken für dich. Wenn du dich nicht geweigert hättest, Ben zu operieren, wäre er nicht<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

bei Richard gelandet und dann erst wäre aus ihm nicht das geworden, was er in 30 Jahren ist.<br />

Das, was du so unbedingt verhindern wolltest, tritt jetzt erst durch dich Arsch ein!“<br />

Wir hörten Schritte und gleich darauf, wie die Haustür geöffnet wurde. Offensichtlich<br />

warf Jim Jack regelrecht raus. Er blieb noch solange auf der Terrasse stehen, bis er sicher war,<br />

dass Jack auch wirklich zu seinem Haus hinüber ging, dann schloss er die Tür. Dass ich bei<br />

Juliet in der Küche jedes Wort gehört hatte, schien Jim vergessen zu haben oder es war ihm<br />

schlicht egal.<br />

24) Fluch der bösen Tat<br />

Juliet war das Ganze sichtlich peinlich. Verlegen sagte sie:<br />

„Die Beiden mögen sich nicht sehr.“<br />

Ich nickte.<br />

„Ich weiß. Kann ich verstehen. Ich mag Jack auch nicht wirklich. Und das hat nichts<br />

mit seiner Weigerung uns zu helfen zu tun.“<br />

Juliet seufzte.<br />

„Ich war ziemlich verliebt in Jack ...“<br />

Sie erschrak, schüttelte aber resigniert den Kopf.<br />

„Du weißt das vermutlich sowieso.“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, es ist mir bekannt. Hast du Jim erzählt, dass ich ...“<br />

Juliet schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, habe ich noch nicht. Ich denke, dass sollten wir beim Abendessen machen.“<br />

„Bist du sicher?“, fragte ich nervös.<br />

hinüber.<br />

„Ja, das bin ich. Er sollte es wissen.“<br />

Ergeben nickte ich.<br />

„Gut, wenn du meinst.“<br />

„Wenn du magst, kannst du ihn holen, ich bin fertig.“<br />

Das war zwar das Letzte, was ich wollte, aber ich marschierte in das Wohnzimmer<br />

„Du kannst kommen, Juliet ist fertig, wir können Essen.“, sagte ich angespannt und<br />

verschwand schon wieder Richtung Küche.<br />

Wie ich das überstehen sollte, Jim gegenüber am Tisch zu sitzen, ihm so nah zu sein<br />

und doch nichts sagen zu dürfen, war mir schleierhaft. Schon kam er in die Küche, wieder<br />

fröhlich und entspannt.<br />

„Hey, Schatz, das riecht gut.“, sagte er blendend gelaunt.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Jack ein paar Takte erzählt zu haben, schien seine Laune beflügelt zu haben. Er ließ<br />

sich mir gegenüber auf einen Stuhl sinken und Juliet stellte einen Braten auf den Tisch.<br />

Kartoffeln und Gemüse standen schon bereit. Während wir aßen, herrschte weitgehend<br />

Schweigen, aber als wir die Teller schließlich vom Tisch räumten und Jim uns einen guten<br />

Rotwein eingeschenkt hatte, sagte Juliet ruhig:<br />

„James, wir müssen dir etwas erzählen.“<br />

„Nanu, das hört sich ja dramatisch an. Was habt ihr beiden Ladys denn ausgeheckt?“<br />

Juliet holte tief Luft.<br />

„Kelly weiß alles, James.“<br />

Jims Gesicht wurde ernst.<br />

„Was heißt das, sie weiß alles?“<br />

Ich starrte in mein Weinglas. Leise seufzend erklärte ich:<br />

„Ich weiß, wer ihr seid, wo ihr her kommt, ich weiß von den Zeitsprüngen ...“<br />

Jims Gesicht spiegelte jetzt eindeutig Misstrauen wider. Er kniff die Augen zusammen<br />

und fixierte <strong>mich</strong> scharf.<br />

„Wo kommen wir denn bitte her?“<br />

Ich atmete tief ein.<br />

„Aus der Zukunft. Ihr seid aus dem Jahr 2004 hierher zurück ... versetzt worden, durch<br />

die Zeitsprünge, die Ben ausgelöst hat.“<br />

„Verfluchter Mist. Woher weißt du davon? Wer hat dir davon erzählt?“<br />

Ich sah ihm in die Augen und sagte fest:<br />

„Du selber.“<br />

Jim starrte <strong>mich</strong> an als wäre ich ein Kalb mit zwei Köpfen.<br />

„Was?“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, du selbst hast es mir erzählt. 2007, in LA. Dort haben wir uns kennengelernt.“<br />

Jim lachte etwas unsicher.<br />

„Red keinen Stuss, wenn ich dich kennen würde, wüsste ich es ja wohl.“<br />

Ich schüttelte bedrückt den Kopf.<br />

„Nein, das weißt du nicht. Irgendwas hat eure Erinnerung ausgeschaltet. Nur ich weiß,<br />

dass wir uns in LA getroffen haben.“<br />

Jim schüttelte den Kopf und gab ein leises Lachen von sich.<br />

„Klar. So wird es gewesen sein. Dann erzähl doch mal: Was ist mit uns passiert?“<br />

Ich schwieg einen Moment und überlegte, wo ich beginnen sollte.<br />

„Du warst auf dem Rückweg von Sydney nach LA, wie die Anderen auch, als euer<br />

Flug Oceanic 815 abstürzte. Ihr wart achtundvierzig <strong>Über</strong>lebende und habt euch mühsam auf<br />

der Insel durchgeschlagen. Du brauchtest eine Lesebrille, wurdest von Sayid gefoltert und<br />

unglücklich schwer verletzt, von Tom auf dem Floß angeschossen ... Soll ich weiter machen?“<br />

- 277 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Jim hatte immer fassungsloser gelauscht. Leise sagte ich:<br />

„Hör zu, ich werde euch nicht verraten, du brauchst dir da keine Sorgen zu machen.<br />

Ich will ja selbst nicht auffliegen. Du weißt so gut wie ich, dass weder Sayid noch ich mit<br />

einem Boot hier gekentert sind. Ich werde jetzt gehen und ihr könnt in Ruhe alles Besprechen.<br />

Eins noch, Jim, dass solltest du wissen um Maßnahmen ergreifen zu können. Es war Sayid,<br />

der auf Ben geschossen hat.“<br />

„Was?“<br />

Juliet war entsetzt und Jim nickte langsam.<br />

„Hab ich mir fast gedacht. Er weiß, wer Ben ist und was aus ihm mal wird. Vermutlich<br />

hat er versucht, das zu verhindern. Dieser Vollidiot! Nicht nur, dass er damit Bens Werdegang<br />

erst ausgelöst hat, er hat uns alle damit in Lebensgefahr gebracht.“<br />

tolle Essen.“<br />

Ich erhob <strong>mich</strong> und sagte leise:<br />

„Denkt über alles nach, okay. Wir sehen uns morgen.“<br />

Juliet erhob sich ebenfalls und brachte <strong>mich</strong> zur Tür.<br />

„Weißt du, was weiter passieren wird?“<br />

Ich seufzte.<br />

„Nichts Genaues. Lass uns später darüber reden. Gute Nacht und vielen Dank für das<br />

„Gute Nacht, bis morgen.“<br />

Juliet sah mir nach, als ich langsam zu meinem Haus hinüber ging. Wayne saß im<br />

Wohnzimmer und hatte eine Dose Bier in der Hand. Fröhlich begrüßte er <strong>mich</strong>.<br />

„Hey, meine Mitbewohnerin. Immer wieder ein schöner Anblick. Wie habt ihr das<br />

bloß geschafft, dass euch ein Kind abhandenkommt?“<br />

Ich warf ihm einen genervten Blick zu und erklärte:<br />

„Wenn wir damit gerechnet hätten, dass er spurlos verschwindet, während wir fünf<br />

Minuten abwesend waren, hätten wir ihn selbstverständlich ans Bett gefesselt.“<br />

Lafleur, was?“<br />

„Oh, wir sind aber empfindlich heute Abend.“, grinste Wayne und fragte nun:<br />

„Und, wie war es beim Großmeister unser aller Sicherheit? Schwer genervt, der gute<br />

„Keineswegs. Gute Nacht.“<br />

Ich ließ Wayne einfach sitzen und zog <strong>mich</strong> in mein Zimmer zurück. Ich war ge-<br />

spannt, was die nächsten Tage bringen würden und hatte Angst davor.<br />

************<br />

Am kommenden Morgen war Jim schon früh unterwegs. Er hatte Miles, der Dienst in<br />

der Flamme hatte, per Funk angewiesen, das <strong>Über</strong>wachungsvideo des Sonarzaunes von<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

gestern zu löschen. Jim war klar, dass er und Kate auf den Band zu sehen sein würden. Er<br />

selbst wollte mit Sayid reden. Er wies Phil an, diesen in sein Büro im Schulgebäude zu<br />

bringen und wenig später bereits erschien dieser mit Sayid.<br />

„Du kannst gehen, ich werd mit ihm wohl auch alleine klar kommen. Phil, ihr müsst<br />

noch einmal die Umgebung absuchen, konzentriert euch auf die Abschnitte A1-10, weiter<br />

kann Ben es alleine nie und nimmer geschafft haben. Achtet auf jede noch so kleine Spur,<br />

kapiert!“<br />

Phil nickte genervt.<br />

„Wenn es sein muss. Du glaubst doch selbst nicht an den Quatsch. <strong>Der</strong> Junge war so<br />

gut wie tot, wie soll er da alleine weit gekommen sein?“<br />

Jim sah Phil kalt an.<br />

„Wir sind keine Ärzte, Phil. Was wissen wir, zu was jemand in ner Notlage fähig ist?<br />

Also, schwing deinen Arsch nach draußen und such gefälligst noch einmal gründlich.“<br />

setzen.<br />

Vor sich hin grummelnd verzog der Mann sich und Jim forderte Sayid auf, sich zu<br />

„Hör zu, ich möchte von dir wissen, wo du zum Zeitpunkt, als auf den Jungen ge-<br />

schossen wurde, warst. Und ich möchte wissen, warum du dich mit ihm befasst hast.“<br />

Jim senkte ein wenig den Kopf und sah aus dem Augenwinkel zu der <strong>Über</strong>wachungs-<br />

kamera hoch, die hier angebracht war. Sayid verstand den unauffälligen Blick und sagte<br />

ruhig:<br />

„Ich verstehe, dass ihr das sehr gründlich untersuchen müsst, Lafleur. Das ist ein ge-<br />

meines Verbrechen. Wie kann nur jemand auf ein unschuldiges Kind schießen? Ich war im<br />

Pfeil, die Computeranlage hatte einen unbedeutenden Fehler im System. Von dort bin ich<br />

noch zum Stab gefahren, ich hatte dort vorgestern ein Prüfgerät vergessen. Auf dem Rückweg<br />

bin ich in das Unwetter geraten und habe <strong>mich</strong> beeilt, um nachhause zu kommen. Ich habe<br />

von Ben weder etwas gesehen noch etwas gehört.“<br />

gelassen:<br />

Jim war erneut erstaunt, wie kalt und beherrscht Sayid sein konnte. Er nickte und sagte<br />

„Und warum hast du dich so mit ihm befasst?“<br />

Ebenso gelassen erklärte Sayid:<br />

„Nun, ich habe, scheinbar im Gegensatz zu euch anderen, beobachtet, wie sein Vater<br />

mit dem armen Jungen umgesprungen ist. Er tat mir leid. Er scheint hier kaum Freunde zu<br />

haben, war immer alleine. Und er hat sich für meine Arbeit interessiert. Was sprach dagegen,<br />

freundlich zu ihm zu sein?“<br />

„Gut, das sollte erst mal reichen, ich denk, wir können den Hausarrest vorerst auf-<br />

heben. Du bleibst aber bis auf weiteres hier im Dorf, verstanden?“<br />

Sayid nickte. Entspannt verließ er das Büro.<br />

- 279 -


By<br />

Frauke Feind<br />

************<br />

In der Flamme wollte Miles gerade dabei gehen, das Videoband zu löschen, als plötz-<br />

lich Horace aufgeregt in die Station gestürmt kam.<br />

„Miles, wo ist Lafleur?“<br />

Miles war erschrocken herum gefahren, als Horace so plötzlich in den Raum stürzte.<br />

„Hallo, Boss, was ist denn los?“, stotterte er nervös.<br />

Perle.“<br />

„Wo ist Lafleur?“, wiederholte Goodspeed hektisch seine Frage.<br />

„Nicht hier.“, erwiderte Miles schlau.<br />

„Das sehe ich, du Trottel!“<br />

„Oh, sorry, klar. Er ... Er ist dabei, den Iraker zu verhören. Und dann wollte er zur<br />

„Verfluchter Mist. Okay, Straume, hör genau zu. Ich werde dich jetzt in den Kreis der<br />

Eingeweihten aufnehmen.“<br />

Verständnislos sah Miles den Anführer an.<br />

„Hä?“<br />

„Es geht dabei um einige auserwählte Leute, die über den Swan Bescheid wissen. Das<br />

ist jetzt nicht wichtig. Du wirst sofort zu Punkt 3/34 fahren. Komm mal mit raus.“ Miles<br />

folgte dem Anführer und zusammen traten die beiden Männer nach draußen. Horace ging zu<br />

seinem Wagen und holte etwas Längliches, in schwarzen Stoff eingewickelt, vom Beifahrer-<br />

sitz. Er drückte Miles dieses Paket in die Hand und sagte:<br />

„Du wirst damit zu Punkt 3/34 fahren, es abgeben und dafür etwas anderes erhalten.<br />

Kann ich dir vertrauen, Miles?“<br />

„Absolut, ja. Sag mal, 3/34 ... das liegt auf dem Territorium der Hostiles, richtig?“<br />

„Das ist richtig. Sei also vorsichtig. Und beeil dich.“<br />

Miles nickte. „Bin schon unterwegs.“<br />

Er stieg in seinen Wagen, legte das Paket auf den Beifahrersitz und fuhr los. Und in<br />

der Flamme steckte das <strong>Über</strong>wachungsvideo noch im Rekorder!<br />

Miles fuhr so schnell es die Straße zuließ zu dem angegebenen Punkt. Etwa eine<br />

Stunde später war er da. Langsam fuhr er weiter, als plötzlich vor ihm ein Kollege namens<br />

Radzinsky mit zwei weiteren Männern aus dem Gebüsch trat, Gewehre im Anschlag.<br />

„Was machst du hier?“<br />

Erschrocken bremste Miles den Bus und starrte die Kollegen<br />

durch die Windschutzscheibe entgegen. Radzinsky trat an den<br />

Wagen heran, das Gewehr auf Miles gerichtet, und fragte miss-<br />

trauisch:<br />

- 280 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Hey, ganz ruhig, Kumpel, ich bin für Lafleur hier, der Boss schickt <strong>mich</strong>. Ich soll dir<br />

das hier geben und etwas dafür mitnehmen.“<br />

Sofort entspannte Radzinsky sich und ließ sich das eingewickelte Paket aushändigen.<br />

Er nickte seinen Begleitern zu und Augenblicke später traten die zwei Männer wieder aus<br />

dem Gebüsch, in das sie kurz verschwunden waren. Sie trugen eine Bahre, auf der ein dritter<br />

Mann lag. Auf der Stirn des Arbeiters erkannte Miles etwas, das wie eine Schusswunde aus-<br />

sah.<br />

„Scheiße, was ist passiert?“, fragte Miles nervös.<br />

„Nichts, was dich etwas angehen würde. Es gab einen Unfall, das ist alles. Hilf uns,<br />

ihn in den Leichensack zu stecken.“<br />

Radzinsky wickelte das Paket aus, das Miles ihm übergeben hatte und dieser erkannte,<br />

dass es sich tatsächlich um einen Leichensack handelte. Gemeinsam steckten sie den Toten in<br />

den Sack und verluden ihn anschließend in Miles‟ Dienstwagen.<br />

standen?“<br />

„So, mach dich auf den Rückweg, du bringst ihn ins Sicherheitsbüro zu Horace, ver-<br />

Miles nickte.<br />

„Bin schon weg.“<br />

Er startete den Wagen und drehte vorsichtig um. Eilig fuhr er los. Einen Kilometer<br />

weiter hielt er an und öffnete den Sack. Er sah den Toten an und setzte seine Gabe ein, mit<br />

Toten kommunizieren zu können. Konzentriert lauschte er dem, was der Mann ihm zu sagen<br />

hatte.<br />

************<br />

Kate, Jack und Hurley waren wie Sayid aus dem Hausarrest entlassen worden. Jim<br />

hatte sie eindringlich gewarnt, sich unauffällig zu verhalten und war später zu mir gekommen.<br />

„Morgen. Na, noch nichts los hier, was? Alle gesund?“<br />

„Guten Morgen. Ja, zum Glück ist nichts los. Wie geht es deinem Bein?“<br />

Jim verzog das Gesicht und sagte:<br />

„Null Problemo. Juliet wird morgen die Fäden ziehen. Es ziept nur noch ein wenig.<br />

Ich hab ne gute Heilhaut.“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, das weiß ich ...“<br />

Er sah <strong>mich</strong> an und sagte ruhig:<br />

„Genau darum bin ich hier. Ich möchte mal in Ruhe mit dir Reden, das geht hier aber<br />

nicht. Die Wände haben mir hier zu viele Ohren, du verstehst?“<br />

Ich nickte.<br />

„Hast du Lust, ne kleine Tour mit mir zu machen?“<br />

- 281 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Nein! Die hatte ich ganz bestimmt nicht! Alleine mit Jim unterwegs zu sein war nun<br />

wirklich das Letzte, was ich wollte. Aber dafür würde er sicher kein Verständnis haben, also<br />

nickte ich zögernd.<br />

„Gut, dann werd ich mal mit dir ne Sightseeing Tour machen. Wenn jemand fragt,<br />

sagen wir, wir machen ne Fahrt zur Perle, da haben ein paar Leute ne Erkältung, das zieht als<br />

Ausrede.“<br />

Ich nickte und überlegte laut.<br />

„Ich sollte vielleicht ein paar Medis mitnehmen.“<br />

Schnell packte ich einige Medikamente in eine Tasche und hängte nun ein Schild an<br />

die Tür: Bin bald zurück, in Notfällen bitte an Juliet wenden. Jetzt erst folgte ich Jim zu<br />

seinem VW Bus. Ich setzte <strong>mich</strong> steif auf den Beifahrersitz und Jim fuhr los.<br />

Er sagte bis zum Sonarzaun kein Wort. Erst, als wir diesen passiert hatten, meinte er:<br />

„Ich werd dir mal meine Lieblingsstelle zeigen. Da wird nichts überwacht, das heißt, wir sind<br />

ungestört und können uns unterhalten.“<br />

- Wie schön, ungestört ... -<br />

dachte ich gestresst. Wir fuhren eine ganze Weile schweigend, bevor Jim meinte:<br />

„So, haben‟s gleich geschafft. Ein kleines Stück müssen wir zu Fuß gehen.“<br />

Er fuhr so weit in den Dschungel wie es ging und hielt schließlich an. Ich ahnte plötz-<br />

lich, wo er <strong>mich</strong> hinführen würde, und mir wurde schlecht. Zehn Minuten später bestätigte<br />

sich meine Befürchtung. Wir standen an dem kleinen Teich mit dem Wasserfall. Mein Herz<br />

krampfte sich schmerzhaft zusammen, als ich daran dachte, wie Jim <strong>mich</strong> das erste Mal hier-<br />

her gebracht hatte. Dass er sich auch noch auszog bis auf den Boxershort machte die ganze<br />

Sache nicht leichter für <strong>mich</strong>. Lachend meinte er:<br />

„Was ist, bist du wasserscheu?“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, bin ich, geh du nur.“<br />

Um nichts in der Welt wäre ich hier mit ihm Schwimmen gegangen. Jim zuckte die<br />

Schultern, meinte:<br />

„Dann eben nicht.“, und sprang selbst geschmeidig ins Wasser.<br />

Er drehte ein paar Runden, stieg endlich wieder heraus und setzte sich neben <strong>mich</strong> auf<br />

einen Stein, um sich zu Trocknen.<br />

„So, dann wollen wir mal n bisschen Klartext reden.“<br />

Er sah <strong>mich</strong> auffordernd an.<br />

„Was möchtest du wissen?“, fragte ich unsicher.<br />

Dass er so eng bei mir saß, machte mir schwer zu schaffen. Er hatte keine Ahnung,<br />

was er mir damit antat. Jim lachte ironisch.<br />

„Du hast gesagt, wir hätten uns in LA kennen gelernt, richtig?“<br />

- 282 -


Ich nickte.<br />

„Ja, das ist richtig.“<br />

„Unter welchen Umständen?“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Ich schluckte. Ich konnte und durfte ihm das nicht erzählen. Er war mit Juliet zu-<br />

sammen und ich würde mir eher die Zunge abbeißen, als zu erzählen, wie wir uns kennen<br />

gelernt hatten und dass wir einander liebten. Ich wollte seinem Glück nicht im Wege stehen.<br />

Ich würde ihm nichts verraten. Nicht, solange nicht klar war, wie es hier weiter gehen würde.<br />

„Warum ist das so wichtig für dich? Entweder, du glaubst mir so, oder ich kann dir<br />

sagen, was immer ich will, du wirst mir dann ohnehin nichts glauben.“<br />

„Ich will es einfach wissen.“<br />

Ich sah ihn an und sagte fest:<br />

„Und ich will es dir nicht erzählen.“<br />

Erstaunt weiteten sich seine Augen.<br />

„Was soll das? Warum? Ist es ein Geheimnis?“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Grundsätzlich nicht, aber ich möchte einfach nicht darüber reden. Es hat rein private<br />

Gründe, die dich nichts angehen, okay. Wir haben uns bei Kate und Jack kennen gelernt, dass<br />

muss dir erst einmal reichen. Vielleicht erzähle ich dir irgendwann mehr, jetzt nicht, fertig.“<br />

„Hör zu, wenn du erwartest, dass ich dir vertrauen soll, musst du schon ehrlich zu mir sein.“<br />

Ich nickte.<br />

„Das werde ich, aber wie wir uns kennen gelernt haben, werde ich dir trotzdem nicht<br />

erzählen. Das ist irrelevant für die Situation.“<br />

Giftig sah Jim <strong>mich</strong> an.<br />

„Okay, dann sag mir wenigstens, wie wir her gekommen sind.“<br />

Ich lachte missmutig.<br />

„Na, was denkst du denn, im Flugzeug.“<br />

„Waren noch andere von uns dabei?“<br />

Ich nickte.<br />

„Allerdings. Kate, Jack, Hurley, Sayid, Sun und Jin.“<br />

„Sun auch? Wo ist sie denn?“<br />

Ich zuckte die Schultern.<br />

„Da fragst du <strong>mich</strong> zu viel. Sie war nicht mehr hier, als wir auf der Insel ankamen.“<br />

Ich merkte, dass Jim sehr skeptisch war und verstand jetzt seine Worte, dass er eigentlich<br />

nicht dazu neigte, Fremden zu vertrauen, oder überhaupt jemandem zu vertrauen, besser. Er<br />

war wirklich extrem misstrauisch, kein Vergleich zu dem Jim, den ich schwer verletzt und<br />

verängstigt eingesammelt hatte. Er würde mir nicht wirklich glauben, davon war ich über-<br />

zeugt.<br />

- 283 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Jim, ich merke dass du mir nicht glaubst. Dann glaube mir wenigstens, dass ich euch<br />

nicht verraten werde. Ich weiß von eurem Geheimnis und werde es garantiert niemandem<br />

verraten, das schwöre ich dir. Wir sollten zurück fahren, das Gespräch hier ist sinnlos und es<br />

fällt auf, wenn wir zu lange weg sind.“<br />

Jim nickte.<br />

„Du hast Recht. Ich kann dir einfach nicht wirklich vertrauen, okay. Das ist nichts<br />

Persönliches. Ich denke, du wirst dicht halten und uns nicht verraten, weil dein eigenes<br />

kleines Geheimnis dann auffliegen würde, aber dass wir uns kennen sollen, sorry, das er-<br />

scheint mir zu ... unglaubwürdig.“<br />

oder?“<br />

Er stand auf und schlüpfte in seine Sachen.<br />

„Du erinnerst dich doch aber an die Zeitsprünge, die ihr gemeinsam gemacht habt,<br />

Während er seinen Overall zuknöpfte, nickte er.<br />

„Ja, sicher, war ja komisch genug.“<br />

„Einen solchen Zeitsprung habe ich noch einmal ausgelöst. Und dabei sind eure Er-<br />

innerungen daran, dass wir gemeinsam zurück auf die Insel kamen, irgendwie verloren ge-<br />

gangen.“<br />

„Sagst du. Oder aber du spinnst dir das zu Recht.“<br />

„Wenn ich das täte, woher weiß ich dann so viel?“, fragte ich und sah Jim an.<br />

„Was weiß ich? Vielleicht kennst du Ben als Erwachsenen oder du hast in die Akten<br />

geguckt, oder du hast es irgendwo aufgeschnappt.“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Okay, vergiss es, bring <strong>mich</strong> zurück, ich ...“<br />

Ich stand auf und eilte den Waldweg zurück, den wir gekommen waren. Schnell er-<br />

reichte ich das Auto und Jim folgte Augenblicke später.<br />

Die Rückfahrt verlief schweigend. Ich starrte aus dem Fenster und wusste nicht, wie es<br />

weiter gehen sollte. Jim sagte ebenfalls kein Wort. Zum Glück bemerkte uns niemand, als wir<br />

ins Dorf zurückkamen. Kein Mensch war zu sehen. Ich nickte Jim nur kurz zu und eilte zur<br />

Krankenstation hinüber. Ich schloss auf und war froh, als ich die Tür hinter mir schließen<br />

konnte. Schnell räumte ich die Medikamente in den Schrank zurück und wollte nun die Akten<br />

der letzten Tage aufarbeiten, als plötzlich die Tür aufging. Wayne stand in der Tür und sah<br />

<strong>mich</strong> ernst an.<br />

„Hallo, Kelly, ich soll dich abholen, wir haben in der Schule eine Versammlung.“<br />

„Hallo, Wayne. Sei mir nicht böse, ich habe noch eine Menge zu tun und weder Zeit noch<br />

Lust, an irgendeiner Versammlung ...“<br />

„Tut mir Leid, Kelly, es geht nicht mehr nach Lust oder Zeit. Du hast mit mir zu<br />

kommen, das ist keine Bitte, sondern ein Befehl.“ Ich erschrak. Was war passiert?<br />

Erschrocken sagte ich:<br />

- 284 -


fehl ist.“<br />

Schule folgte.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Oh, das habe ich wohl falsch verstanden. Natürlich komme ich mit, wenn das ein Be-<br />

Ich verließ die Krankenstation und schloss hinter uns ab.<br />

„Was ist denn los? Ist etwas geschehen?“, fragte ich nervös, während ich Wayne zur<br />

„Das kann man sagen, ja. Wirst du gleich erfahren.“, erklärte Wayne kurz angebunden.<br />

Schnell hatten wir die Schule erreicht, die groß genug war, alle Bewohner aufzunehmen. Und<br />

wie ich das sah, waren auch alle anwesend. Vorne, dort, wo sonst die Tafel angebracht war,<br />

saßen Kate und Sayid, beide hatten die Hände scheinbar auf den Rücken gefesselt. Sayid sah<br />

aus, als hätte er sich gegen die Festnahme gewehrt. Kate wirkte verängstigt. Ich wurde eben-<br />

falls nach vorne gebracht und Wayne sagte:<br />

„Setzt dich da hin.“<br />

Ich ließ <strong>mich</strong> auf einen freien Stuhl sinken und zitterte innerlich. Irgendetwas<br />

Gravierendes musste passiert sein. Die Schultür ging auf und ich erschrak jetzt wirklich. Juliet<br />

wurde in den Raum geführt, sie hatte Tränenspuren auf den Wangen und sah blass und ver-<br />

ängstigt aus. Und hinter ihr kamen Radzinsky und Phil, und sie hatten Jim zwischen sich. Und<br />

bei ihm war es nicht zu übersehen: Er hatte sich nach Kräften gewehrt und sah dement-<br />

sprechend aus. Wütend ließ er sich zu uns führen und wurde brutal in einen Stuhl gedrückt.<br />

Seine Handgelenke waren ebenfalls auf dem Rücken gefesselt und er starrte genervt auf den<br />

Boden vor sich. Als nun scheinbar alle anwesend waren stieß Horace zu uns.<br />

„Ihr fragt euch, warum wir euch haben herbringen lassen, nehme ich an. Nun, das<br />

werde ich euch sagen. Miles, das Video.“<br />

Verlegen und sehr betroffen trat Miles in den Raum und hatte ein Videoband in der<br />

Hand. Jin war ebenfalls anwesend, das sah ich erst jetzt. Er hatte ein Gewehr in der Hand und<br />

versuchte krampfhaft, seine Betroffenheit zu verbergen. Miles hatte das Video in einen<br />

Rekorder geschoben und schaltete auf Play. Und Jim wusste offensichtlich genau, was kam,<br />

denn er senkte resigniert den Kopf, den er gehoben hatte, als Horace den Befehl an Miles er-<br />

teilte. Schon flackerte ein Bildschirm, der an Stelle der Tafel angebracht worden war, auf und<br />

zeigte ein sehr deutliches Bild, dass nicht falsch verstanden oder auch nur fehl interpretiert<br />

werden konnte: Jim und Kate, die sich am Sonarzaun trafen, Jim, der den Zaun ausschaltete<br />

und mit dem Wagen, mit dem Kate gekommen war, den verletzten Ben weg fuhren. Beide,<br />

wie sie mit dem Jungen im Auto im Dschungel verschwanden. Entsetzte Stimmen wurden im<br />

Raum laut und Roger Linus brüllte:<br />

„Was habt ihr mit meinem Jungen gemacht, ihr miesen Schweine?“<br />

Es gab einen ziemlichen Aufruhr nach diesen Worten und es dauerte einige Minuten,<br />

bis Horace für Ruhe gesorgt hatte. Dann sagte er:<br />

„Juliet, Kelly, wusstet ihr davon?“<br />

Jim fuhr dazwischen, bevor wir etwas sagen konnten.<br />

- 285 -


„Nein, sie wussten nichts.“<br />

Auch Kate schüttelte den Kopf.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich habe gewartet, bis sie Beide weg waren ...“ sagte sie leise.<br />

„Ist das wahr?“, fragte Horace ruhig.<br />

Jim warf Juliet einen Blick zu, der mehr als deutlich sagte: Bleib dabei! Juliet liefen<br />

Tränen über die Wangen. Sie nickte.<br />

langsam.<br />

„Ja, das ist wahr. Wir hatten keine Ahnung.“<br />

Nun sah Horace Kate an.<br />

„Was habt ihr mit den Jungen gemacht?“<br />

Kate schwieg verzweifelt und Jim erklärte an ihrer Stelle:<br />

„Wir haben ihm das Leben gerettet, verdammt noch mal.“<br />

Horace sah Jim erstaunt an.<br />

„Ihr habt was?“<br />

Jim schnaufte resigniert.<br />

„Wir haben ihm das Leben gerettet.“<br />

<strong>Der</strong> Blick, den der Anführer ihm und Kate zuwarf, verhieß nichts Gutes. Er nickte<br />

„Okay, darauf komme ich später.“<br />

Er wandte sich Sayid zu.<br />

„Nun kommen wir zu dir, Sayid. Du wurdest an dem Tag, als Ben angeschossen<br />

wurde, gesehen.“<br />

arbeitet.“<br />

Sayid blieb gelassen.<br />

„So? Wurde ich das? Ist ja wohl kaum verwunderlich, oder? Immerhin habe ich ge-<br />

Horace nickte.<br />

„Das ist richtig, aber du wurdest nicht beim Arbeiten gesehen, sondern in unmittel-<br />

barer Nähe der Stelle, wo Ben gefunden wurde. Und zwar zu der Zeit, als der Schuss auf Ben<br />

abgegeben wurde.“<br />

Sayid schüttelte stur den Kopf.<br />

„Ich habe Ben an jenem Tag nicht gesehen.“, erklärte er.<br />

„Nun, dann kannst du uns sicher erzählen, wieso eine Kugel in deiner Dienstwaffe<br />

fehlt, nehme ich an?“<br />

Ich hielt die Luft an. Das konnte doch nicht wahr sein! So dumm konnte Sayid doch<br />

nicht gewesen sein.<br />

„Du hast meinen Jungen erschossen!“, tobe Roger los und im Saal ertönte zu-<br />

stimmendes Gemurmel.<br />

Jack, der zusammen mit Hurley ziemlich weit vorne saß, ließ resigniert den Kopf<br />

hängen. Ich wusste, dass er sich etwas in der Art gedacht hatte. Jack war nicht dumm.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Vielleicht waren ihm sogar ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen. Er hatte ja aus<br />

diesem Grunde verweigert, Ben zu operieren. Eine günstige Gelegenheit, durch dessen Tod<br />

die Zukunft gründlich zu verändern. Er hatte klar und deutlich gesagt, dass das, was aus Ben<br />

werden würde, nicht wert war, gerettet zu werden. Hurley selbst starrte Sayid so entsetzt an,<br />

dass niemand auch nur im Geringsten den Verdacht haben würde, er hätte etwas gewusst.<br />

Sayid war merklich zusammen gezuckt. In seinem Gehirn arbeitete es. Konnte das sein? Er<br />

versuchte krampfhaft, sich an den Tag zu erinnern. Sollte er tatsächlich etwas so wichtiges<br />

übersehen haben? Aber es war ohnehin zu spät. Durch sein unwillkürliches Zusammenzucken<br />

hatte er sich schon genug verraten.<br />

„Ich will wissen, ob du es warst.“, fuhr Horace ihn an.<br />

Sayid hob den Kopf, sah dem Anführer in die Augen und sagte ruhig:<br />

„Das wirst du wohl nie erfahren.“<br />

Horace nickte.<br />

„Da magst du Recht haben. Aber das ist auch egal. Ihr drei habt euch schuldig ge-<br />

macht gegen unsere Gemeinschaft, die auf Vertrauen und Zusammenhalt basiert. Ihr kennt die<br />

Regeln. Ich habe keine Wahl: Ihr werdet zum Tode verurteilt. Jeder hier weiß, was auf Ver-<br />

gehen dieser Art steht. Ich bin großzügig und gebe euch Gelegenheit, noch einmal darüber<br />

nachzudenken, was ihr getan habt. In zwei Tagen kommen wir hier wieder zusammen. Dann<br />

werden wir das Urteil vollstrecken. Ihr werdet erschossen. Bringt sie weg.“<br />

25) Todesurteil<br />

Wie ich nachhause kam, wusste ich später nicht mehr zu sagen. In meinem Kopf<br />

hämmerte das Wort ‟erschossen‟ einen brutalen Rhythmus und ich war wie in Trance. Juliet<br />

war weinend zusammen gebrochen, Kate vor Entsetzen wie erstarrt gewesen. Sayid und Jim<br />

hatten das Urteil ruhig und resigniert hingenommen. Man hatte die Drei aus dem Saal ge-<br />

schafft und dieser hatte sich auch schnell geleert. Juliet wurde in Frieden gelassen. Sie war<br />

von Amy nachhause begleitet worden, das hatte ich gesehen. Vollkommen paralysiert vor<br />

Entsetzen hatte ich mein Haus erreicht und war in mein Zimmer gewankt. Dort war ich<br />

weinend auf dem Bett zusammen gebrochen. Ich war fassungslos. Dass sich die ganze Sache<br />

so zuspitzte war neu. Also konnte der Lauf der Dinge doch in gewisser Weise verändert<br />

werden, denn so drastisch war es bisher ja nicht abgelaufen. Ich wusste nicht, was ich tun<br />

sollte. Jim würde in zwei Tagen hingerichtet werden, das war alles, was ich derzeit denken<br />

konnte. Ich spürte, wie mir schlecht wurde und sprang auf. Gerade noch schaffte ich den Weg<br />

ins Bad, dann brach ich vor der Toilette zusammen und übergab <strong>mich</strong> keuchend. Natürlich<br />

musste in dem Moment Wayne nachhause kommen und <strong>mich</strong> finden.<br />

„Hey, geht‟s dir nicht gut?“, fragte er besorgt.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Nein, mir geht es nicht gut, lass <strong>mich</strong> in Ruhe, bitte.“, keuchte ich schwer atmend und<br />

versuchte, auf die Füße zu kommen.<br />

mir auf.<br />

Wayne dachte nicht im Traum daran, <strong>mich</strong> in Ruhe zu lassen. Er trat zu mir und half<br />

„Ja, ist schon hart, dass einer von uns das getan hat. Und Lafleur und Kate ... Was sie<br />

wohl mit dem armen Benjamin gemacht haben.“<br />

Wütend fuhr ich herum.<br />

„Ach, jetzt ist er plötzlich der „arme Benjamin„, was? Als sein lieber Vater den Jungen<br />

psychisch und physisch misshandelt hat war er für euch auch nicht der „arme Benjamin„! Ihr<br />

seid eine elende Bande von verlogenen Heuchlern!“<br />

Wayne zuckte angesichts meiner harten Worte zurück.<br />

„Hey, ist ja gut. Das war Rogers Problem, nicht unseres.“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Verschwinde endlich, lass <strong>mich</strong> in Ruhe. Geh zu deinen Mörderfreunden und sprecht<br />

weiter Todesurteile aus als redet ihr über das Wetter. Ihr habt ja alle einen Schaden im Hirn.“<br />

Ich riss <strong>mich</strong> los und eilte in mein Zimmer zurück. Die Tür knallte hinter mir zu und ich sank<br />

erneut weinend auf das Bett nieder. Lange lag ich schluchzend da, doch schließlich begann<br />

ich <strong>mich</strong> ein wenig zu beruhigen. Wir hatten zwei Tage. Zwei Tage, in denen ich ganz be-<br />

stimmt nicht untätig herumsitzen würde um darauf zu warten, dass man Jim umbrachte. Und<br />

wenn es <strong>mich</strong> selbst das Leben kosten würde, irgendwas würde ich tun, um Jim da raus zu<br />

helfen. Wild entschlossen richtete ich <strong>mich</strong> auf. Ich liebte ihn, und auch, wenn er hier mit<br />

Juliet zusammen war, würde ich nicht zusehen, wie man ihm eine Kugel in den Kopf jagte.<br />

************<br />

Das U-Boot tauchte langsam aus den Tiefen des Ozeans an die Oberfläche. An Bord<br />

befanden sich technische Geräte, Lebensmittel, Material und zwei Männern, die gerade lang-<br />

sam zu sich kamen. Einer davon, Kevin Marsters, war der Kinderarzt der DHARMA<br />

Initiative. Er hatte Landurlaub gehabt und kehrte jetzt zurück. <strong>Der</strong> zweite Mann war sehr<br />

schlank, dunkelhaarig, um die vierzig, mit einem recht ungepflegten Bart und er wurde Joe<br />

genannt. Er sollte den Toten Alvarez ersetzten, den Mann, den Miles bei Radzinsky hatte ab-<br />

holen müssen. Marsters und Joe bekamen einen Kaffee von Glen Bird, dem Captain der<br />

Galaga, gereicht und kurze Zeit später legte das U-Boot bereits am Pala-Pier an. Die beiden<br />

Männer verließen das U-Boot und wurden ins Dorf gebracht. <strong>Der</strong> Arzt wurde freudig zurück<br />

begrüßt, der Arbeiter willkommen geheißen und in die Regeln eingeweiht. Er bekam für<br />

einige Nächte ein Quartier zugewiesen. Später sollte er wie seine Kollegen bei der Swan-<br />

Baustelle wohnen. Nach der Begrüßung sah sich Joe um. Und glaubte seinen Augen nicht zu<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

trauen, als er einen Mann im beigefarbenen Overall sah, der mit einer Harke bewaffnet gegen<br />

das Laub auf dem Rasen zwischen den Häusern vorging. Er kannte diesen Mann! Als dieser<br />

später Feierabend machte, beobachtete Joe genau, in welches Haus der Mann verschwand. Joe<br />

wartete, bis es dunkel geworden war, dann ging er zu dem Haus hinüber. Er klopfte leise an<br />

die Tür und wartete ungeduldig, bis diese geöffnet wurde. <strong>Der</strong> Mann mit den kurzen, dunklen<br />

Haaren öffnete selbst die Tür. Er starrte Joe an und sein Kiefer klappte auf.<br />

„Hallo, Jack.“<br />

„Daniel?“<br />

************<br />

Jim, Kate und Sayid waren in den kleinen Zellentrakt der Schule geschafft worden.<br />

Erst dort hatte man ihnen die Handschellen abgenommen. Drei der vier Zellen waren nun be-<br />

legt. Jim hatte sich auf die Pritsche sinken lassen und schloss müde die Augen. Damit hatte er<br />

wirklich nicht gerechnet. Zum Tode verurteilt! Er lachte verzweifelt auf. Hätte er damals, vor<br />

drei Jahren, nur auf Juliet gehört. Dann wären sie schon seit drei Jahren in Sicherheit ge-<br />

wesen. Er stöhnte frustriert auf. Kates Stimme drang zu ihm, ganz dünn und voller Angst.<br />

„Sawyer?“<br />

Er öffnete die Augen und sah in die Zelle neben sich. Kate sah ihn an, ihre Augen<br />

schwammen in Tränen.<br />

meinen.“<br />

„Das können die doch nicht ernst meinen. Sawyer, sag, dass die das nicht ernst<br />

Jim seufzte.<br />

„Freckles, ich fürchte, die meinen das sogar noch viel ernster. Wir haben feste Regeln.<br />

Und die dulden keine ...“<br />

„Sawyer! Du sprichst hier von unserem Leben.“, fuhr Kate panisch dazwischen.<br />

Jim stemmte sich hoch und trat an das Gitter.<br />

„Komm her.“, sagte er leise.<br />

Kate trat zu ihm und Jim griff durch die Gitterstäbe hindurch nach der jungen Frau.<br />

„Hey, Freckles, noch sind wir nicht tot. Du bist eine Kämpferin. Meine große, weiße Jägerin.<br />

Gib nicht jetzt schon auf.“<br />

Kate sah ihn an und schluchzte sie los.<br />

„Sawyer, ich will nicht erschossen werden.“<br />

Jims Herz krampfte sich zusammen. Er hatte alles mit Kate ertragen, ihre offene Ab-<br />

lehnung, dass sie ihn benutzt hatte, ihre geradezu hündische Ergebenheit an Jack, aber sie hier<br />

in Todesangst weinen zu sehen, war mehr, als Jim ertragen konnte. Er zog sie ans Gitter und<br />

dann die Arme um die junge Frau.<br />

„Hey, Sheena, gib nicht auf, okay, irgendwas wird uns einfallen.“<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Später, Kate hatte sich irgendwann beruhigt, lag Jim auf seiner Pritsche und starrte<br />

durch die herrschende Dunkelheit an die Decke. Er ließ sein Leben Revue passieren und<br />

dachte an die zwei Frauen, die ihm wirklich etwas bedeutet hatten. Kate, die ihn nie so lieben<br />

würde, wie er es sich immer gewünscht hatte, und Juliet, die er nie so lieben könnte, wie sie<br />

es sich wünschte und verdient hätte. Jim war unglaublich dankbar, dass Jules wenigstens aus<br />

dem Schneider war. Sie war stark. Wenn ihm nichts einfiel, sein Leben zu retten, würde Juliet<br />

irgendwie damit fertig werden, da war er sicher. Sie war eine absolute Kämpfernatur. Seine<br />

Gedanken schweiften zu dem verräterischen Video. Er begriff nicht, warum Miles das Band<br />

nicht vernichtet hatte. Er hatte ihm absolut vertraut. Und nun das. Jim wälzte den Gedanken<br />

um und um, kam aber zu keinem Ergebnis. Plötzlich ging die Tür auf und genau dieser Miles<br />

kam herein. Er hatte eine Papiertüte in der Hand und drückte Sayid, der ans Gitter getreten<br />

war, diese in die Hand.<br />

„Hier, euer Abendbrot.“, sagte er laut.<br />

Dann sah er Jim an und flüsterte:<br />

„Horace hat <strong>mich</strong> gestört ... Er hat <strong>mich</strong> weg geschickt, zu 3/34. Ich hab das ver-<br />

dammte Video vergessen.“<br />

Laut sagte er:<br />

„Tut mir leid, Boss. Ich wünschte, ich könnte was für dich tun.“<br />

Er drehte sich herum und verließ ohne ein weiteres Wort den Keller. Und Jim war<br />

irgendwie erleichtert. Zu wissen, dass die ganze Situation aus einer Verkettung unglücklicher<br />

Umstände entstanden war, machte es zwar nicht besser, aber wenigstens wusste Jim jetzt, dass<br />

Miles ihn nicht verraten hatte.<br />

Sie aßen ihre Sandwichs und dann machte Sayid plötzlich den Mund auf. „Hört mal,<br />

es tut mir leid, dass ich euch da mit rein gezogen habe. Das war nicht meine Absicht.“ Jim<br />

stieß ein kurzes, sarkastisches Lachen aus.<br />

„Weißt du, Mohamed, das hilft uns irgendwie auch nicht weiter.“<br />

Sayid nickte.<br />

„Ich weiß das, Sawyer. Aber ich hatte keine Wahl. Ich musste es einfach versuchen.<br />

Nachdem Nadia damals getötet worden war, kam er zu mir und ...“<br />

Jim unterbrach den Iraker.<br />

„Wer zur Hölle ist Nadia?“<br />

Sayids Stimme klang plötzlich, als kämpfe er mit den Tränen, etwas, das Jim und Kate<br />

während all der Zeit nur einmal bei Sayid erlebt hatten, nämlich bei der Beisetzung Shannons.<br />

„Nadia ... Ich habe sie als Junge im Irak kennen gelernt. Wir gingen auf die gleiche Schule.<br />

Sie ist als Erwachsene den Gegnern Saddams beigetreten. Später war sie eine Kriegs-<br />

gefangene und ich hatte als Verhöroffizier der republikanischen Garde den Befehl,<br />

Informationen aus ihr heraus zu bekommen, so sah ich sie wieder. Ich war schon da in sie<br />

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Frauke Feind<br />

verliebt. Ich habe sie nicht gefoltert, sondern ihr zur Flucht verholfen. Ich dachte jahrelang,<br />

sie wäre tot, auf der Flucht umgekommen. Als wir zurückkehrten, habe ich sie wieder ge-<br />

sehen, sie war am Flughafen und hat <strong>mich</strong> in Empfang genommen. Wir heirateten. Kurze Zeit<br />

später wurde sie in LA von einem Wagen überfahren, der Fahrer beging Fahrerflucht. Dann<br />

kam Ben zu mir und erzählte mir, der Fahrer wäre ein Scherge Widmores gewesen. Er er-<br />

klärte mir, dass er die Hintermänner kenne, die für das Attentat verantwortlich waren. Er<br />

überredete <strong>mich</strong>, den Drahtzieher, Ishmael Bakir zu töten und dann noch weitere sechs Leute.<br />

Irgendwann bekam ich raus, dass Ben <strong>mich</strong> nur benutzt hatte, um diese Menschen zu Töten,<br />

weil sie hinter ihm her waren.“<br />

Jim kam diese Situation bekannt vor. Hatte doch sein ‟Freund‟ Hibbs ihn auf ähnliche<br />

Weise damals nach Sydney geschickt, in dem er Jim weis machte, der echte Sawyer würde<br />

dort unter dem Namen Frank Duckett eine Shrimpsbude führen. Jim hatte den Unterlagen, die<br />

Hibbs vorlegte, geglaubt und war nach Sydney geflogen. Er hatte Duckett aufgetrieben und<br />

getötet. Erst, als es zu spät war merkte er, dass er einen Unschuldigen umgebracht hatte, der<br />

Mann hatte mit dem echten Sawyer nicht das Geringste zu tun gehabt. Er war nur ein armes<br />

Schwein gewesen, welches bei Hibbs eine Menge Schulden gehabt hatte. Dieser Mord be-<br />

drückte Jim noch immer schwer, er war sicher, das nie ganz verwinden zu können.<br />

„Dann hat Ben dich eiskalt benutzt, um aufzuräumen, was?“, fragte er Sayid.<br />

„Dieser nickte.<br />

„Ja, er hat <strong>mich</strong> zum Killer gemacht. Ich war sicher, wenn ich ihn hier töte, könnte ich<br />

die Zukunft für uns alle verändern, die Welt wäre ein besserer Ort ohne ihn. Ihr hättet ihn ein-<br />

fach sterben lassen sollen.“<br />

Das war kein Vorwurf, sondern einfach eine Feststellung. Jim schüttelte den Kopf.<br />

„Er ist ein Kind, Sayid, du machst da einen gewaltigen Denkfehler. Mit diesem Ver-<br />

such, Ben zu töten, hast du ihn erst zu dem gemacht, was er wird. Richard hat das ganz klar<br />

gesagt.“ Sayid nickte.<br />

„Ja, weil ihr ihn erst dorthin gebracht habt, wo er zu dem wird, was er später ist. Das<br />

ist mir inzwischen auch klar geworden.“<br />

Aus Kates Zelle kam ein bedrücktes:<br />

„Selbst wenn es so ist, ich konnte nicht still zusehen, wie ein unschuldiges Kind stirbt.<br />

Als Erwachsenen würde ich den Bastard selbst abknallen wie einen tollwütigen Hund, aber so<br />

... Sawyer, meinst du wirklich, wir haben ihn erst zu dem gemacht, was er später ist?“<br />

Jim hatte sich wieder auf seiner Pritsche ausgestreckt. Er hatte den rechten Arm unter<br />

seinen Kopf geschoben und nickte.<br />

„Ich geh davon aus. Richard meinte ja, er würde hinterher nie wieder derselbe sein.<br />

Was sagte er? Ben würde seine Unschuld verlieren. Dannyboy hat immer gesagt, man kann<br />

die Zukunft nicht verändern, nur die Umstände, die zu ihr führen. Vielleicht hat er Recht ge-<br />

habt. Ich weiß es nicht genau, das weiß wohl keiner.“<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

************<br />

Juliet war nach der Versammlung weinend aus dem Schulgebäude gewankt. Sie be-<br />

kam nur unterbewusst mit, das Amy zu ihr trat und sie in den Arm nahm.<br />

„Komm, ich bringe dich nachhause.“, sagte die junge Frau ruhig.<br />

Minuten später saß Juliet auf dem Sofa und schluchzte trostlos vor sich hin. Amy saß<br />

neben ihr und sagte:<br />

„Er hat es sicher gut gemeint, aber du weißt, wie unsere Regeln sind. Wo hat er den<br />

Jungen hingeschafft, Juliet?“<br />

Die blonde Ärztin sah Amy aus verweinten Augen an.<br />

„In Sicherheit. Er wird leben.“<br />

Amy nickte.<br />

„Du willst es mir nicht sagen, gut. Du hast Glück, dass du von Jims Plan nichts<br />

wusstest, sonst ...“<br />

„Du kannst mir glauben, ich würde lieber selbst in der Zelle sitzen, als zusehen zu<br />

müssen, wie ihr James umbringt!“, stieß Juliet wütend hervor.<br />

Boot.“<br />

Amy nickte.<br />

„Auch das kann ich verstehen. Du solltest die Insel verlassen, mit dem nächsten U-<br />

Sie erhob sich und verließ langsam das Haus. Juliet saß lange auf dem Sofa und ver-<br />

suchte, zu begreifen, was heute passiert war. Aber ihre Gedanken drehten sich immer nur um<br />

den einen Punkt: James würde sterben. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie solche<br />

Angst gehabt. Wie sollte sie das nur überstehen? Ihr Gehirn war wie paralysiert, sie sah<br />

keinen Ausweg. Ihn und die Anderen zu befreien war unmöglich, sie wurden zu gut bewacht.<br />

Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte.<br />

************<br />

Ich versuchte am kommenden Morgen, Horace dazu zu überreden, <strong>mich</strong> zu den Ge-<br />

fangenen zu lassen, aber er erklärte mir freundlich:<br />

„Das kann ich dir leider nicht erlauben. Niemand außer der Security darf zu ihnen. Es<br />

tut mir leid. Du solltest froh sein, dass du mit alledem nichts zu tun hast. Sonst würdest du<br />

diesen Mördern und Verrätern Gesellschaft leisten. Ich kann verstehen, dass du uns sicher<br />

auch für Killer hältst, aber was wir hier machen ist zu wichtig, als dass wir es leichtfertig aufs<br />

Spiel setzen dürfen. Wenn du vielleicht auch Lachen wirst, aber diese Insel ist ... etwas Be-<br />

sonderes und ihr Schutz und Nutzen wiegt schwerer als einzelne Menschenleben. Solltest du<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

dich entschließen, bei uns zu bleiben, wirst du es vielleicht irgendwann verstehen. Und jetzt<br />

musst du <strong>mich</strong> bitte Entschuldigen, ich habe zu tun.“<br />

Unglücklich schob ich also wieder ab. <strong>Der</strong> Tag verging wie im Fluge. Es war wie ver-<br />

hext. Wartete man auf schöne Dinge, schien sich die Zeit zäh wie ein Kaugummi zu ziehen,<br />

doch sobald man auf etwas Unangenehmes wartete, hatte die Zeit die Angewohnheit, doppelte<br />

und dreifach so schnell zu vergehen. Ich hatte stundenlang darüber gegrübelt, wie ich Jims<br />

Leben retten konnte, aber die Schule wurde bewacht wie Fort Knox und jeder Versuch, die<br />

Gefangenen gewaltsam zu befreien würde in einem Desaster enden. Juliet schlich ebenfalls<br />

immer wieder draußen herum und schien nach einer Lösung zu suchen. Aber selbst sie wurde<br />

überwacht und jeder ihrer Schritte wurde Horace gemeldet.<br />

Von Jack und Hurley sah ich den ganzen Tag nichts, obwohl ich sicher war, auch Jack<br />

zermarterte sich das Hirn, wie er Kates Leben retten konnte. Doch auch er musste einsehen,<br />

dass ein gewaltsamer Befreiungsversuch zum Scheitern verurteilt war. An die zwölf Security<br />

Leute hielten sich beständig in und um die Schule herum auf und ließen nicht einmal eine<br />

Maus in den Keller dringen. Als der Tag sich dem Ende neigte, geriet ich langsam aber sicher<br />

in Panik. Morgen Vormittag war es soweit. Ich brauchte in dieser Nacht gar nicht an Schlaf<br />

denken. Stundenlang hockte ich auf der Terrasse und sah so, dass auch bei Jack und Hurley<br />

die ganze Nacht das Licht brannte, ebenso bei Juliet. Als es dämmerte, war ich einem Zu-<br />

sammenbruch nahe. Immer wieder überlegte ich, zu Juliet zu gehen, aber ich konnte ihr ja<br />

schlecht sagen, warum ich so aufgelöst war. Sie würde dafür wohl kaum Verständnis auf-<br />

bringen. Ich sah unbewusst einen dunkelhaarigen, bärtigen Mann zu Jacks Haus gehen und<br />

klopfen, speicherte diese Beobachtung jedoch gar nicht, da mein Gehirn viel zu voll war mit<br />

nackter Angst. Die Hinrichtung war für 11 Uhr festgelegt worden. Um halb 10 Uhr war ich<br />

kurz vor einem hysterischen Schreikrampf. Ich war sicher, Jim heute Sterben zu sehen. Ein<br />

Gedanke war mir in den Kopf geschossen, den ich im allerletzten Fall in die Tat umzusetzen<br />

gedachte: In Lagerhaus lag Dynamit, das hatte ich eines Tages gesehen. Sollte es keine<br />

Wende der Dinge mehr geben würde ich mir von dem Dynamit nehmen und das ganze, ver-<br />

dammte Dorf in Fetzen sprengen!<br />

************<br />

Juliet hatte eine schlaflose Nacht verbracht. Die Zeit rannte ihr davon. Immer<br />

panischer wurde die Ärztin und als es am kommenden Morgen auf 10 Uhr zuging, fasste sie<br />

einen verzweifelten Entschluss. Eilig verließ sie das Haus und eilte zu Horace und Amy<br />

hinüber. Hektisch klopfte sie an die Tür und stand gleich darauf Horace gegenüber, der<br />

öffnete.<br />

„Was kann ich für dich tun, Juliet?“, fragte er freundlich.<br />

- 293 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich muss dich sprechen.“, erklärte die blonde Frau nervös.<br />

„Jetzt? In einer Stunde ...“<br />

„Ja, jetzt! Es geht immerhin um Jims Leben, verflucht noch mal! Du bist es mir und<br />

auch ihm mehr als schuldig, mir kurz zuzuhören.“<br />

Juliet war kurz davor, mit dem Fuß aufzustampfen. Horace nickte.<br />

„Da hast du Recht. Okay, komm doch herein.“<br />

Juliet folgte dem Anführer ins Wohnzimmer. Dort angekommen bat Horace:<br />

„Setz dich doch.“<br />

Angespannt und mit den Nerven am Ende ließ Juliet sich auf das Sitzmöbel sinken.<br />

Amy kam mit Ethan im Arm und einer Tasse Kaffee aus der Küche und begrüßte Juliet be-<br />

drückt.<br />

„Guten Morgen. Wie geht es dir?“<br />

Juliet sah die Frau an.<br />

„Beschissen. Darum bin ich hier. Horace, hör zu. Wir haben gelogen. Ich wusste nicht<br />

nur von Bens ... Entführung, ich habe sie sogar vorgeschlagen.“<br />

Horace sah die Ärztin überrascht an.<br />

„Was?“<br />

Juliet nickte.<br />

„Ich habe die Idee gehabt, nachdem ich merkte, dass ich nicht in der Lage war,<br />

Benjamin zu helfen. Ich bin keine Chirurgin, dass weißt du. Er hätte aber einen echten<br />

Chirurgen benötigt und selbst dann wäre es sehr fraglich gewesen, ob wir ihn durch be-<br />

kommen hätten. Ich hatte die Wahl, zuzusehen, wie der Junge stirbt, oder zu versuchen, sein<br />

Leben zu retten. Ich habe Kate gebeten, ihn zu ...“ Sie atmete tief durch. „... ihn zu den<br />

Feinden zu bringen. Jim bat ich, Kate zu helfen, da sie es alleine nie geschafft hätte. Ich habe<br />

Kelly ins Materiallager geschickt und dann haben wir Ben in einen der Busse geschafft. Kate<br />

ist mit ihm losgefahren und ich habe Jim hinterher geschickt. Er hat sie am Zaun eingeholt<br />

und gemeinsam haben sie den Jungen von dort aus zu Richard Alpert geschafft.“<br />

Horace und Amy hatten angespannt zugehört. Jetzt fragte Amy:<br />

„Warum, um Gottes Willen?“<br />

Juliet sah Amy an.<br />

„Hast du nicht zugehört? Er hätte sonst den Tag nicht überlebt, Amy, er wäre in jedem<br />

Fall gestorben. In jedem Falle, verstehst du das? Es ist so, dass ich Richard kenne, woher ist<br />

unwichtig. Er hat Fähigkeiten und Möglichkeiten, von denen ihr nur träumen könnt. Er hat<br />

Benjamin übernommen und dem Jungen geht es inzwischen wieder gut, da bin ich sicher.“<br />

„Woher kennst du den Mann?“<br />

Horace sah Juliet sehr misstrauisch an.<br />

„Das ist unwichtig. Wichtig ist nur, dass ihr James und Kate nicht dafür verantwortlich<br />

machen könnt, was ich angezettelt habe. Ihr dürft sie nicht Töten.“<br />

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Juliet sah Amy verzweifelt an.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Amy, Jim und ich haben dir zwei Mal das Leben gerettet! Kannst du das einfach so<br />

vergessen? Wenn wir nicht gewesen wären, hätten die Feinde dich mitgenommen und getötet<br />

und du wärest ohne James bei Ethans Geburt gestorben, und dein Sohn ebenfalls, denn James<br />

war es, der <strong>mich</strong> anflehte, den Kaiserschnitt bei dir vorzunehmen. Du kannst nicht einfach<br />

dasitzen und ihn diesen Killern überlassen!“<br />

Die Goodspeeds sahen sich an.<br />

„Juliet hat Recht, Horace, wir können das nicht vergessen. Und wenn dieser Alpert<br />

dem Jungen wirklich das Leben gerettet hat, hat Juliet dies in die Wege geleitet. Du musst<br />

etwas unternehmen.“<br />

schießen?“<br />

Horace überlegte.<br />

„Weißt du etwas darüber, warum und ob dieser Sayid Benjamin versucht hat, zu er-<br />

Ruhig erwiderte Juliet:<br />

„Nein, Horace, das musst du mir glauben, ich weiß weder, ob er es wirklich war, noch,<br />

wenn ja, warum er es getan haben könnte, das schwöre ich. Und Kate und James wissen<br />

darüber genauso wenig.“<br />

Horace nickte.<br />

„Ich glaube, du sagst die Wahrheit. Du hast Recht, ich kann das, was Jim für Amy und<br />

<strong>mich</strong> und uns alle hier getan hat, nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Dir ist klar, dass<br />

deine Entscheidung, uns die Wahrheit zu sagen, Konsequenzen für dich haben wird, oder?“<br />

Juliet nickte.<br />

„Selbstverständlich ist mir das klar. Aber ich kann nicht ruhig zusehen, wie James er-<br />

schossen wird, das ist dir doch wohl auch klar. Er wäre ohne <strong>mich</strong> nie auf die Idee ge-<br />

kommen, Ben zu Richard zu schaffen. Er darf nicht für etwas bestraft werden, was ich be-<br />

schlossen habe. Und auch Kate darf das nicht. Hätten wir es nicht getan, wäre jetzt das Grab<br />

eines dreizehnjährigen Kindes auf dem Friedhof und Roger könnte seinen Sohn nur noch dort<br />

besuchen.“<br />

Horace stand auf und lief im Zimmer auf und ab. Juliet saß angespannt und zitternd<br />

auf dem Sofa und beobachtete den Anführer. Schließlich sagte dieser:<br />

„Ich werde Jim begnadigen, aber er wird aus dem Dorf verbannt und wird sehen<br />

müssen, wie er sich alleine durchschlägt. Kate wird ebenfalls begnadigt und mit dem nächsten<br />

regulären U-Boot von der Insel geschafft. Sayids Hinrichtung wird um vierundzwanzig<br />

Stunden verschoben. Und du, Juliet, wirst mit dem U-Boot sofort von der Insel geschafft<br />

werden. Das ist das Einzige, was ich für dich noch tun kann. Und damit kommst du gut weg.<br />

Bis du zum Pier geschafft wirst, stehst du unter Hausarrest. Du wirst Jim nicht wieder sehen,<br />

er wird noch heute fort geschafft werden. Mehr kann ich nicht für dich tun, ohne eine<br />

Meuterei zu riskieren.“<br />

- 295 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Juliet war blass geworden, aber sie sagte mit fester Stimme:<br />

„Ich danke dir, Horace. Das ist mehr, als ich erwartet hatte.“<br />

Sie stand auf und meinte:<br />

„Ich werde zu unserem Haus gehen und es nicht verlassen, bis du jemanden schickst,<br />

der <strong>mich</strong> zum Pier bringt. Ich müsste noch einmal mit Kelly sprechen, sie braucht einige An-<br />

weisungen medizinischer Art.“<br />

Horace nickte.<br />

„Das geht in Ordnung, ich werde sie zu dir bringen lassen.“<br />

Juliet nickte. Sie ging zur Haustür und ihr Herz klopfte wie wild. Jim würde nicht<br />

sterben. Sie hatte es geschafft. Und vielleicht würde sie ihn sogar eines Tages wieder sehen.<br />

Sie liebte ihn viel zu sehr, als dass sie dieses Opfer nicht für ihn gebracht hätte. Selbst wenn<br />

sie ihn nie wieder sehen würde, war das immer noch besser, als ihn tot zu wissen!<br />

************<br />

Die Gefangenen hatten kaum geschlafen. An keinem von ihnen ging die Aussicht, dass<br />

sie in Kürze sterben würden, spurlos vorbei. Sayid ertrug den Gedanken mit der stoischen<br />

Ruhe eines gläubigen Moslems. Er glaubte an ein Leben nach dem Tod und war sicher, von<br />

Allah wohlwollend empfangen zu werden. Er hatte in der Nacht noch am besten geschlafen.<br />

Kate war ununterbrochen unruhig in der Zelle auf und abgelaufen und geriet immer mehr in<br />

Panik. Als es draußen hell wurde, sank sie weinend am Gitter zu Jims Zelle zusammen.<br />

Dieser hatte ebenfalls eine mehr oder weniger schlaflose Nacht hinter sich. Er dachte an<br />

Juliet, an das, was sie heute mit ansehen sollte. Und er sah Kate, die in Todesangst in ihrer<br />

Zelle auf und ab wanderte. Er hatte selbst Angst, weniger vor dem Tod als vielmehr vor dem<br />

Sterben. Sein Herz schlug bei dem Gedanken, in Kürze vor dem Exekutionskommando zu<br />

stehen, bis in den Hals. Er hätte Juliet so gerne noch vieles gesagt, wozu er nun keine Chance<br />

mehr erhalten würde. Als Kate weinend an dem trennenden Gitter zwischen den Zellen zu-<br />

sammen bracht, sprang er von der Pritsche auf und war mit zwei schnellen Schritten bei ihr.<br />

Er wusste nicht, was er sagen sollte, hockte sich nur auf den Boden und zog Kate durch die<br />

Gitterstäbe an sich. Mehr konnte er nicht tun. So saßen sie zusammen, bis die Kellertür auf-<br />

ging und sechs Leute des Sicherheitskommandos in den Raum traten. Jin und Miles waren<br />

nicht dabei, ihnen hatte man es offensichtlich erspart, den Freund zur Hinrichtung zu bringen.<br />

Kate wimmerte entsetzt auf und Jims Herz schien ein paar Schläge zu überspringen, um dann<br />

umso heftiger in seiner Brust weiter zu schlagen. Er hatte nur noch den einen Wunsch: Dass<br />

er die Kraft aufbringen würde, seinen Mördern ruhig und gelassen gegenüber zu treten.<br />

Phil führte die Sicherheitsleute an und trat an die Zellentür zu Jims Zelle.<br />

„Los, hoch mit euch.“, sagte er kalt und Jim erhob sich.<br />

- 296 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Kate stemmte sich schluchzend ebenfalls auf die Beine. Die Hände wurden ihnen<br />

durch die Gitterstäbe hindurch mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Erst jetzt wurden<br />

die Zellen geöffnet. Phil und zwei der Männer nahmen Jim zwischen sich, die anderen drei<br />

blieben bei Kate. Sayid rechnete damit, ebenfalls jeden Moment aus der Zelle geholt zu<br />

werden, aber das geschah nicht. Vermutlich würde er später abgeholt werden.<br />

„Wir sehen uns im nächsten Leben, wenn nicht in diesem.“, sagte er zu Jim und dieser<br />

nickte wortlos.<br />

Widerstandslos ließ er sich aus dem Keller führen. Kate war wie erstarrt vor Angst.<br />

Sie musste fast mitgeschleift werden. Ihre Beine zitterten und Tränen liefen ihr ununter-<br />

brochen über die Wangen. Als sie ins Sonnenlicht traten, schoss Jim der Gedanken durch den<br />

Kopf, dass es das letzte Mal sein würde, dass er die zauberhafte Umgebung hier sehen würde.<br />

Er atmete tief durch und sah zu Kate hinüber. Starr schaute diese geradeaus. Sie war para-<br />

lysiert vor Angst. Sie hatten den Dorfplatz erreicht, wo die Hinrichtung stattfinden würde.<br />

Aber sie wurden weiter geführt. Jims Herz machte erneut einen Satz. Was sollte das werden?<br />

Verwirrt registrierte er, dass sie zum Haus Nummer 2 gebracht wurden. Wollte Horace vor<br />

der Hinrichtung noch einmal mit ihnen reden?<br />

Die Haustür wurde geöffnet und der Anführer trat auf die Terrasse hinaus. Er sah Jim<br />

und Kate an und schwieg eine Weile. Dann sagte er entschlossen:<br />

„Es hat sich eine neue Sachlage ergeben, die <strong>mich</strong> zwingt, das Urteil gegen euch neu<br />

zu überdenken.“<br />

erstaunt an.<br />

Kate sah aus tränenverschleierten Augen zu ihm auf und auch Jim sah den Anführer<br />

„Ich weiß inzwischen, dass ihr Benjamin auf die Bitte Juliets hin weg geschafft habt,<br />

um ihm das <strong>Über</strong>leben zu sichern.“<br />

Jim ließ resigniert den Kopf hängen. Vermutlich würde jeden Moment die Erklärung<br />

kommen, dass auch Juliet sich damit zum Tode verurteilt hatte. Er spürte, wie seine Be-<br />

herrschung abbröckelte und biss sich auf die Lippe. Horace fuhr fort:<br />

„Dass sie mir das gebeichtet hat, hat <strong>mich</strong> in eine Zwangslage gebracht. Jim, du hast<br />

Amy zwei Mal das Leben gerettet, das habe ich nicht vergessen. Das Todesurteil gegen dich<br />

wird aufgehoben. Du hast den Jungen nicht aus eigenem Willen entführt, sondern auf An-<br />

weisung der behandelnden Ärztin. Somit trifft dich nicht die volle Schuld und ich kann dich<br />

dafür nicht hinrichten lassen. Du wirst noch in dieser Stunde für immer aus dem Dorf ver-<br />

bannt. Keiner von uns wird dich jagen oder bedrohen, aber du wirst von jetzt an alleine im<br />

Dschungel leben.“<br />

Jims Verstand registrierte nur langsam, dass er heute nicht sterben würde. Bevor er<br />

noch groß über das Gehörte nachdenken konnte, fuhr Horace bereits fort:<br />

- 297 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Kate, auch du bist durch die Aussage Juliets entlastete. Du hast in besten Glauben<br />

gehandelt, den Jungen damit zu Retten, das du ihn fortbringst. Auch dein Urteil wird auf-<br />

gehoben. Du wirst bis zur Abfahrt des nächsten regulären Shuttles unter Hausarrest gestellt<br />

und später aufs Festland geschafft.“<br />

Kate glaubte, nicht richtig zu hören. Nicht erschossen werden? Ihre Knie fingen be-<br />

denklich an zu zittern.<br />

„Danke!“, sagte sie in brünstig. „Vielen, vielen Dank!“<br />

Jim sah Horace an.<br />

„Was ist mit Juliet? Und was geschieht mit Sayid?“<br />

„Er wird morgen hingerichtet, da unzweifelhaft feststeht, dass er den Schuss auf<br />

Benjamin abgegeben hat.“<br />

Horace ging auf die Frage nach Juliet nicht ein. Jim versuchte es noch einmal.<br />

„Horace, bitte, was geschieht mit Juliet?“<br />

<strong>Der</strong> Anführer sah Jim kalt an.<br />

„Sie wird ihre Strafe erhalten, darauf kannst du dich verlassen.“<br />

Er wandte sich an die Leute des Sicherheitsdienstes.<br />

„Schafft Kate in ihr Haus und bringt Jim aus dem Dorf.“<br />

Horace drehte sich herum und ging ins Haus zurück.<br />

„Du hast es gehört, vorwärts.“, herrschte Phil Jim an und stieß diesen zu einem<br />

parkenden Geländewagen.<br />

her schaute.<br />

machen.<br />

Widerwillig setzte Jim sich in Bewegung. Er sah Kate an, die ihm verzweifelt hinter-<br />

„Mach dir keine Sorgen, Freckles, alles wird gut werden.“, versuchte er ihr Mut zu<br />

Schon hatten sie den Wagen erreicht und Jim musste einzusteigen. Kurz blieb er noch<br />

einmal stehen und ließ seine Blicke verzweifelt schweifen, aber er sah nirgends eine Spur von<br />

Juliet. Hart wurde er in den Rücken gestoßen.<br />

„Los, komm in Wallung, Mr. Lafleur.“, schnauzte Phil ihn an.<br />

Jim warf diesem einen kalten Blick zu und sagte leise:<br />

„Eines Tages begegnen wir uns wieder.“<br />

Er stieg in den Wagen. Jim war klar, dass die Verbannung in den Dschungel im<br />

Grunde auch einem Todesurteil gleich kam. Er machte sich nichts vor: Er war im Dschungel<br />

hilflos. Einzig der Unterschied, dass er sich heute, nach drei Jahren auf der Insel, sehr gut<br />

auskannte, machte das Ganze etwas leichter. Trotzdem wusste er, dass er eine verdammte<br />

Portion Glück brauchen würde, um da draußen zu überleben.<br />

************<br />

- 298 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Nach der schlaflosen Nacht kam der Morgen, an dem Jim sterben sollte. Ich war in-<br />

zwischen an einem Punkt angekommen, an dem mir alles besser erschien, als zusehen zu<br />

müssen, wie Jim starb. Alles! Auch die Vorstellung, selbst zu sterben. Ich erwog ernsthaft,<br />

mir Waffen zu besorgen und zu versuchen, das Gefängnis zu stürmen und zusammen mit Jim<br />

bei dem Versuch zu sterben. Und dann plötzlich sah ich Juliet zum Haus Nummer 2 gehen.<br />

Was hatte sie vor? Ich wäre am liebsten hinüber gelaufen und hätte sie gefragt, was sie vor-<br />

hatte. Aber ich konnte nur abwarten. So hilflos hatte ich <strong>mich</strong> in meinem ganzen Leben noch<br />

nicht gefühlt. Sicher war nur, ich würde nicht zusehen, wie diese Leute Jim erschossen. Eher<br />

würde ich <strong>mich</strong> noch schützend vor ihn stellen und die Kugeln abfangen. Juliet blieb eine<br />

ganze Weile im Haus des Anführers. Als sie endlich wieder heraus kam, wirkte sie ... er-<br />

leichtert. Mein Herz raste. Was hatte sie gemacht? Sie ging zu ihrem Haus und verschwand<br />

dort. Kurze Zeit später kam Wayne zu mir.<br />

„Kelly, du sollst kurz zu Juliet kommen, ich werde dich hinbringen.“<br />

Zitternd folgte ich Wayne und stand Minuten später alleine mit Juliet in der Küche.<br />

„Was ist los?“, fragte ich sie hektisch.<br />

„Ich habe Horace alles gesagt, Jim und Kate werden nicht erschossen. Jim wird in den<br />

Dschungel verbannt, Kate mit der nächsten regulären Lieferung von der Insel geschafft. Ich<br />

selbst werde noch heute fort gebracht. Hör zu, Kelly, Jim ist im Dschungel hilflos, kümmere<br />

dich bitte um ihn, ich vertraue dir. Und du musst noch einiges über ein paar Patienten<br />

wissen.“<br />

Sie klärte <strong>mich</strong> über einige wichtige Dinge auf, dann sagte sie:<br />

„Du gehst besser wieder, du sollst nicht noch nachträglich Ärger bekommen.“<br />

Tränen kullerten ihr über die Wangen.<br />

„Sag Jim bitte, dass ich ihn unendlich liebe und ihn nie vergessen werde. Vielleicht<br />

sehen wir uns irgendwann wieder. Und bitte, hilf ihm.“<br />

Asthma.“<br />

Sie nahm <strong>mich</strong> in die Arme und wir hielten uns einige Augenblicke fest.<br />

„Ich schwöre, dass ich tue, was in meiner Macht liegt.“, erklärte ich fest.<br />

Dann verließ ich das Haus.<br />

Wayne hatte auf <strong>mich</strong> gewartet.<br />

„Alles geklärt?“, fragte er ruhig.<br />

„Ja, ich weiß über die Patienten jetzt genau Bescheid. Zum Beispiel über dich und dein<br />

Wayne wurde rot.<br />

„Hm, sehr schön.“<br />

Er schlenderte neben mir her und plötzlich hatte ich eine Idee. Ich musste einfach<br />

sicher gehen können, dass Juliet wirklich gut an Land ankam.<br />

„Weißt du, wer Juliet zum Pier bringt?“, fragte ich möglichst gleichgültig.<br />

Wayne nickte stolz.<br />

- 299 -


„Jepp, ich.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Oh, das trifft sich gut. Kannst du mir einen großen Gefallen tun?“<br />

Misstrauisch sah der junge Mann <strong>mich</strong> an.<br />

„Was denn?“, fragte er lauernd.<br />

Ich lächelte.<br />

„Mir fehlen zwei meiner Lieblingsbücher. Vielleicht kann Bird sie mir ja besorgen,<br />

wenn er an Land ist. Ich schreibe sie dir schnell auf, geht das in Ordnung?“<br />

Erleichtert nickte Wayne.<br />

„Klar, das ist gar kein Problem. Das macht er öfter, dass er Sachen mitbringt.“<br />

Wir hatten die Krankenstation erreicht und betraten sie zusammen. Schnell schrieb ich<br />

auf einen Zettel: Chirurgische Operationslehre Band 2/1, Operationen an Kopf, Nervensystem<br />

und Wirbelsäule von August Bier, Heinrich Braun und Hermann Kümmell und Anästhesiologie<br />

und Intensivmedizin von P. Frey. Etwas Besseres fiel mir so schnell nicht ein. Ich drückte<br />

Wayne den Zettel in die Hand und sagte:<br />

„Das ist wirklich sehr nett von dir, danke schön.“<br />

„Kein Problem, mach ich gerne. Man sieht sich.“<br />

Er verschwand mit dem Zettel und ich sah ihm nach. Schnell jedoch wurde ich davon<br />

abgelenkt, dass Kate und Jim aus der Schule geschafft wurden.<br />

Kate war kaum fähig, alleine zu gehen und Jim ... Nun, er versuchte, Haltung zu<br />

wahren, aber ich kannte ihn zu gut, um nicht zu bemerken, dass auch er Angst hatte. Man<br />

brachte die Beiden zu Horace und wenn ich auch von meinem Standort nicht verstehen<br />

konnte, was der Anführer sagte, wusste ich es ja schon von Juliet und mein Herz schlug<br />

Purzelbäume vor Freude. Langsam änderte sich die Haltung Jims und Kates und schließlich<br />

wurde Kate fort gebracht zu ihrer Unterkunft. Jim dagegen wurde von Phil ruppig zu einem<br />

Geländewagen gestoßen. Ich schluckte die aufsteigenden Tränen herunter und beobachtete,<br />

wie Jim zu dem Wagen geführt wurde, sich noch einmal bedrückt umschaute und schließlich<br />

nach einem brutalen Stoß in den Rücken einstieg. Schon setzte sich der Wagen in Bewegung.<br />

Radzinsky saß am Steuer, Phil hatte neben Jim auf dem Rücksitz Platz genommen. Langsam<br />

fuhren sie aus dem Dorf, um Jim irgendwo im Dschungel auszusetzen. Aber er lebte. Nun<br />

musste ich versuchen, in Erfahrung zu bringen, was mit Sayid war.<br />

************<br />

26) Die Flucht<br />

Jack glaubte, seinen Augen nicht zu trauen.<br />

„Daniel!“<br />

- 300 -


schüttert.<br />

<strong>Der</strong> bärtige Mann nickte.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Ja, Jack, ich bin es. Kann ich kurz mit dir sprechen?“<br />

Jack war zwar wenig in Stimmung, aber er nickte.<br />

„Ja, natürlich, komm doch herein.“<br />

Daniel folgte dem Arzt und stand nun im Wohnzimmer.<br />

Hurley war nicht anwesend, er war bei Miles. Jack sagte bedrückt:<br />

„Setz dich. Kann ich dir ein Bier anbieten?“<br />

Daniel nickte.<br />

„Gerne, danke.“<br />

Als auch Jack saß und sie anstießen, fragte Daniel:<br />

„Was ist hier eigentlich los?“<br />

In kurzen Worten erklärte Jack, was vorgefallen war. Daniel hörte betroffen zu.<br />

„Wir müssen uns etwas überlegen, die Drei da raus zu holen.“, meinte der Physiker er-<br />

„Würdest du helfen?“, fragte Jack gespannt und Daniel nickte.<br />

„Ja, ich verdanke Sawyer eine ganze Menge. Wenn es eine Möglichkeit gibt, werde<br />

ich dir helfen.“<br />

Jack seufzte erleichtert.<br />

„Vielleicht ergibt sich eine Chance. Aber erzähl doch mal, wie kommst du wieder her?<br />

Wo warst du?“<br />

Daniel nahm einen Schluck Bier und berichtete dann:<br />

„Als wir 74 hier sozusagen hängen blieben, habe ich als Einziger die Galaga benutzt,<br />

um von der Insel zu kommen. Sawyer, Juliet, Miles und Jin entschieden sich schnell, zu<br />

bleiben. Ich habe im DHARMA Hauptquartier in Ann Abor meine Studien bezüglich der<br />

Zeitsprünge und des elektromagnetischen Feldes unter der Insel fortgesetzt. Ich bin dabei zu<br />

einigen interessanten Ergebnissen gekommen. Ich würde dir gerne davon erzählen, aber wir<br />

sollten erst die Sache mit Sayid, Sawyer und Kate hinter uns bringen. Dann aber würde ich dir<br />

gerne eine Theorie darlegen, die ich entwickelt habe.“<br />

Jack seufzte. Doch er nickte.<br />

„Gut, aber die andere Sache hat Vorrang. Wenn das geschafft ist, bin ich gerne bereit,<br />

mir deine Theorie anzuhören.“<br />

Daniel nickte dankbar.<br />

„Gut, dann werde ich dich mal wieder alleine lassen. Wir werden Kate da schon<br />

irgendwie heraus boxen, Jack.“<br />

Doch der kommende Tag zeigte, dass das ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen<br />

sein würde. Jack wurde immer verzweifelter. Er liebte Kate. Wie sollte er zugucken, wenn sie<br />

hingerichtet wurde? Er verbrachte eine unruhige Nacht, in der Hurley bei ihm saß. Und er-<br />

lebte, wie Kelly, am kommenden Morgen die <strong>Über</strong>raschung, die ihn schlagartig aus seiner<br />

- 301 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Verzweiflung riss. Er konnte zwar nicht hören, was Horace sagte, aber dass Kate an-<br />

schließend in ihr Haus gebracht wurde, sprach Bände. Und Jack war auch erleichtert, als er<br />

beobachtete, dass Sawyer offensichtlich auch am Leben gelassen wurde. Man schien ihn nur<br />

aus dem Dorf zu bringen. Hurley und er fielen sich in die Arme.<br />

„Man, Alter, jetzt haben wir uns ein Bier verdient!“<br />

Jack nickte.<br />

„Nicht nur eins. Wenn wir noch erfahren, was mit Sayid ist, können wir vielleicht<br />

wirklich aufatmen.“<br />

Die beiden Männer tranken ihr Bier gemütlich aus. Anschließend gingen sie nach<br />

draußen an ihre jeweiligen Beschäftigungen. Schnell sprach sich die Begnadigung Jims und<br />

Kates im Dorf herum. Einige Bewohner waren offensichtlich froh, dass die Beiden, in diesem<br />

Falle natürlich speziell Jim, nicht hingerichtet wurden. Dass man Jim aus dem Dorf verbannt<br />

hatte, war zwar auch nicht sonderlich angenehm, aber alle Mal besser als jede Alternative.<br />

Jack bekam heraus, dass Kate mit dem nächsten offiziellen Transport von der Insel geschafft<br />

werden sollte. Das war in einigen Wochen. Bis dahin mochte sich noch vieles ergeben. Und<br />

Jack bekam mit, dass Juliet noch heute von der Insel deportiert werden sollte. Betroffen be-<br />

obachtete er, wie sie von dem jungen Security Mann Wayne in ein Auto gesetzt wurde. Die<br />

blonde Ärztin weinte bitterlich, das konnte Jack sehen. Er wäre gerne zu ihr gegangen und<br />

hätte ihr ein paar tröstende Worte gesagt, aber Jack hielt es für sicherer, sich fern zu halten. Er<br />

sah dem abfahrenden Auto nach und Juliet und Sawyer taten ihm unendlich leid.<br />

************<br />

Jim saß neben Phil im Wagen und grübelte darüber nach, wie es mit ihm weiter gehen<br />

würde. Er zog ernsthaft in Erwägung, sich an Richard zu wenden. Soweit war es aber noch<br />

nicht. Phil stieß ihn gerade an und sagte:<br />

„Los, dreh dich um, ich will meine Handschellen wieder haben.“<br />

Jim verdrehte genervt die Augen und drehte Phil den Rücken zu. Er spürte, wie ihm<br />

die Handschellen abgenommen und gegen einen Strick ersetzt wurden. Er grinste.<br />

„Du musst ja mächtig viel Angst vor mir haben.“, sagte er sarkastisch.<br />

„Vor dir bestimmt nicht, Lafleur!“, giftete Phil und zog die Fesseln extra stramm.<br />

Vor ihnen tauchte der Sonarzaun auf und Radzinsky hielt an. Er trat an eine der<br />

Säulen, gab den Code ein und es ging weiter. Eine gute Stunde fuhren sie auf den von der<br />

DHARMA Initiative angelegten Straßen. Plötzlich aber hielt Radzinsky an.<br />

hässig.<br />

„So, Meister, Ende der Tour. Raus aus dem Wagen.“<br />

Jim turnte etwas unbeholfen aus dem Auto und sah Phil auffordernd an. <strong>Der</strong> lachte ge-<br />

- 302 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Sieh zu, wie du klar kommst, du bist doch so ein Held.“, erklärte er und stieg zu<br />

Radzinsky ins Auto zurück.<br />

„Viel Spaß.“, rief er Jim im Wegfahren zu.<br />

„Du dreckiger Schweinehund! Wir sehen uns wieder!“, brüllte Jim wutentbrannt hinter<br />

dem Wagen her.<br />

<strong>Der</strong> war schnell außer Sichtweite und Jim war alleine. Mit auf den Rücken gefesselten<br />

Händen, ohne Waffen und Nahrung stand er mitten im Dschungel, sicher, irgendwo im<br />

dunklen Territorium zu sein.<br />

„Dieser miese Arsch!“, fluchte Jim wütend.<br />

Abgesehen davon, dass in diesem Gebiet das Rauchmonster sehr oft zu sehen und zu<br />

hören war, galt das Gebiet als sehr schwer begehbar und gefährlich.<br />

Hektisch überlegte Jim, was er machen sollte. Vage erinnerte er sich, dass die Black<br />

Rock, dieses uralte Sklavenschiff, hier irgendwo weiter nördlich im Dschungel lag. Mit etwas<br />

Glück fand er dort eine Möglichkeit, wenigstens die Fesseln loszuwerden. Mit dem Mut der<br />

Verzweiflung machte er sich auf den Weg. Langsam und sehr vorsichtig bewegte er sich<br />

durch den Dschungel, immer darauf lauschend, ob er irgendwas von dem Monster hörte. Aber<br />

der Wald um ihn herum blieb ruhig und friedlich. Jim hatte das Gefühl, schon Stunden unter-<br />

wegs zu sein. Die Hilflosigkeit, mit auf den Rücken gefesselten Händen herumzulaufen,<br />

machte ihm mehr zu schaffen als ihm lieb war. Er konnte nicht wie Kate mit einigen<br />

akrobatischen Verrenkungen seine Beine durch die gefesselten Arme bugsieren. Bei jedem<br />

ungewöhnlichen Geräusch zuckte er zusammen, immer bereit, die Flucht zu ergreifen.<br />

Endlich sah er vor sich im dichten Gebüsch etwas Dunkles, Großes auftauchen und wusste<br />

sofort, dass er die Black Rock erreicht hatte. Erleichtert atmete er auf. Dunkel und unheimlich<br />

ragte das alte Sklavenschiff vor ihm auf. Sichernd sah Jim sich um, konnte aber nichts ent-<br />

decken, was auf Gefahr hindeutete. Sehr vorsichtig tastete er sich in den Rumpf des Schiffes<br />

hinein. Er sah sich in der herrschenden Dämmerigkeit gründlich um und schüttelte frustriert<br />

den Kopf. Er konnte aber auch gar nichts entdecken, was ihm irgendwie geholfen hätte, seine<br />

Fesseln loszuwerden. Wenn er doch nur so beweglich gewesen wäre wie Kate. Die schaffte es<br />

spielend, auf den Rücken gefesselte Hände nach vorne zu bekommen. Jim war klar, dass er<br />

das gar nicht erst versuchen brauchte. Immer tiefer drang er in das Schiff vor und plötzlich<br />

war er wie elektrisiert.<br />

Er sah vor sich ein Gerippe am Boden liegen, das noch einen Säbel in der Scheide<br />

stecken hatte. Das Teil war schartig und verrostet, aber immerhin etwas, mit dem Jim es ver-<br />

suchen konnte. Unbeholfen griff er nach der alten Waffe und bekam sie zu fassen. So schnell<br />

es ging, eilte er damit nach draußen ins Sonnenlicht zurück. Er sah sich suchend um und ent-<br />

deckte ein paar Felsen, zu denen er hinüber hastete. Er brachte sich fast um bei dem Versuch,<br />

den Säbel mit dem Griff so fest zwischen die Felsen zu klemmen, dass er Druck auf die<br />

- 303 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Klinge ausüben konnte. Endlich hatte er es geschafft. Klatschnass geschwitzt musste er erst<br />

einmal tief durchatmen. Er kniete sich rückwärts zum Säbel hin und tastete so lange, bis er<br />

eine gute Position gefunden hatte. Langsam fing er an, das Seil über die alte Klinge hin und<br />

her zu schieben. Seine Hände waren taub, die Fesseln saßen sehr stramm. Jim bewegte immer<br />

wieder die Finger, um die Blutzirkulation halbwegs aufrecht zu erhalten und rieb das Seil<br />

wieder und wieder über die Klinge. Phasenweise hatte er das Gefühl, einfach nicht mehr die<br />

Kraft zu haben, weiter zu machen. Seine Handgelenke bluteten, weil er immer wieder gegen<br />

den rostigen, schartigen Stahl kam. Aber endlich, Stunden später, so kam es ihm vor, spürte<br />

er, wie das Seil sich etwas lockerte. Verbissen arbeitete er weiter und schließlich gab es einen<br />

Ruck. Jim spürte unendlich erleichtert, wie das Seil unter einer letzten Kraftanstrengung von<br />

seiner Seite durchriss.<br />

Stöhnend nahm Jim die endlich befreiten Hände nach vorne und rieb sich abwechselnd<br />

die Schultergelenke. Langsam ließen die Schmerzen dort nach und er bewegte vorsichtig die<br />

Arme, um die verspannte Muskulatur zu locken. Nun aber setzte die Durchblutung der Hände<br />

schwungvoll wieder ein und verursachte für einige Minuten so heftiges Kribbeln und<br />

Brennen, dass Jim die Zähne knirschend aufeinander biss. Krampfhaft versuchte er, die Finger<br />

zu bewegen, um den Vorgang zu beschleunigen. Und endlich ließen auch diese Schmerzen<br />

nach. Er betrachtete wehmütig seine Handgelenke. Diese waren an vielen Stellen aufgerissen<br />

und bluteten. Nicht zu ändern. Er überlegte ernsthaft, wie es weiter gehen sollte. Und kam<br />

schnell zu dem Schluss, dass er versuchen würde, zurück zum Dorf zu kommen. Er musste<br />

wissen, was mit Kate und Juliet passierte. Und vielleicht erwischte er Jin und Miles auf einem<br />

Kontrollgang und konnte sich von ihnen helfen lassen. Jim erhob sich und machte sich auf<br />

den Weg. Er blieb im Dschungel, obwohl er auf der Straße besser vorangekommen wäre.<br />

Aber das Letzte, was er wollte, war, einem der Leute aus der DHARMA Initiative zu be-<br />

gegnen. Auf der Wanderung fand er Obst und konnte damit Hunger und auch Durst stillen.<br />

Schließlich war Jim weniger als eine viertel Meile vom Sonarzaun entfernt. Es wurde langsam<br />

dunkel. So machte er für heute Schuss und versuchte, sich aus Laub und Gras ein halbwegs<br />

bequemes Nachtlager zu bauen. Er dachte an Kate und Juliet und daran, wie knapp er heute<br />

dem Tod davon gekommen war. Erst jetzt kam er wirklich dazu, darüber nachzudenken. Er<br />

war schon oft in Lebensgefahr gewesen, aber noch nie hatte er die Hilflosigkeit kennen ge-<br />

lernt, eingesperrt darauf zu warten, dass man ihn aus der Zelle holen würde, um ihn zu töten.<br />

Nachträglich spürte er, wie ihm Schauer über den Körper liefen. Juliet hatte sich für ihn ge-<br />

opfert, hoffentlich musste sie das nicht zu teuer bezahlen.<br />

************<br />

- 304 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Kate war in ihre Unterkunft gebracht worden und ein Wachposten stand vor ihrer Ein-<br />

gangstür. Aus dem Fenster beobachtete sie, dass Juliet im Wagen fort gebracht wurde. Und<br />

sie beobachtete, dass die vielen Posten von der Schule abgezogen wurden. Scheinbar hielt<br />

Horace es nicht mehr für notwendig, das Gebäude durch mehr als zehn Wachleute zu sichern.<br />

Sofort reifte in Kate ein Entschluss. Ihre panische Angst war wie weggeblasen und ihr Ver-<br />

stand konnte seine Tätigkeit wieder aufnehmen. Sie würde Sayid nicht seinem Schicksal über-<br />

lassen, egal, was er auch getan hatte. Er hatte es nicht aus Mordgier gemacht, sondern um sie<br />

alle später vor Ben zu schützen. Er hatte einen falschen Weg gewählt, aber da Kate selbst<br />

schon viele Fehler in ihrem Leben begangen hatte, wollte sie dem Iraker helfen. Sie wartete,<br />

bis es dunkel geworden war. Das Abendessen bekam sie ins Haus geliefert und sofort saß der<br />

Posten wieder vor ihrer Tür.<br />

- Da kannst du hocken, bis du Wurzeln schlägst. -<br />

dachte die junge Frau. Sie räumte in der Küche auf und suchte bei dieser Gelegenheit<br />

nach einem dünnen, metallenen Fleischspieß, den sie schließlich auch fand. Sie versuchte, ob<br />

sie das Metall verbiegen konnte und es klappte. Zufrieden nahm sie das Teil mit ins Schlaf-<br />

zimmer. Sie zog sich aus, schloss die Rollos, schaltete das Licht aus und legte sich ins Bett.<br />

Nun wartete sie. Gegen 1 Uhr nachts erhob Kate sich sehr leise und vorsichtig, schlüpfte in<br />

dunkle Sachen und schlich zum Badezimmer, das nach hinten hinaus lag. Ganz langsam<br />

öffnete sie das kleine Fenster und quetschte sich vorsichtig hindurch. An der Hauswand sank<br />

sie auf die Knie und krabbelte in der tiefen Dunkelheit an der Hauswand weiter, bis sie das<br />

Gebüsch erreichte, welches den großen Spielplatz vom Rest der Häuser abschirmte. Hier<br />

richtete sie sich langsam auf und schlich durch das dichte Gebüsch weiter, bis sie schließlich<br />

die Rückseite der Schule erreicht hatte.<br />

Sie sah sich nach dem Kellerfenster um, dass sie während ihrer Arbeit vor ein paar<br />

Tagen entdeckt hatte und stellte begeistert fest, dass es immer noch einen Spalt offen stand.<br />

Sich noch einmal gründlich umschauend schlich sie zu dem Fenster hinüber. Es war groß<br />

genug, um auch Sayid durchzulassen. Schnell hatte Kate es ganz geöffnet und war erleichtert,<br />

dass die Häuser so gut in Schuss waren, es gab kein Geräusch, als sie das Fenster öffnete. Sie<br />

glitt in die Dunkelheit des Kellers hinein und landete geschmeidig auf dem Boden. Er gab ein<br />

leises Klatschen und Kate erstarrte zur Salzsäule, aber niemand kam, um nachzuschauen. Sie<br />

schlich weiter und erreichte die Tür zu den Zellen. Sehr vorsichtig öffnete Kate diese einen<br />

kleinen Spalt und schielte in den Zellenraum. Niemand war zu sehen, nur Sayid, der in seiner<br />

Zelle auf der Pritsche lag und schlief. Kate überlegte, was sie mit der Kamera machen sollte,<br />

die den Raum überwachte, und entschied sich schließlich dafür, diese einfach ein wenig zu<br />

verdrehen. Sie betete zu Gott, dass nicht gerade in dieser Sekunde jemand auf das Bild<br />

schaute und streckte sich, soweit sie konnte. Mit dem Fleischspieß konnte sie die Kamera<br />

knapp berühren und drehte diese so ganz langsam weiter nach links, bis sie sicher war, dass<br />

Sayids Zelle nicht mehr erfasst wurde. Vorsichtig trat sie an die Zellentür und hatte mit dem<br />

- 305 -


By<br />

Frauke Feind<br />

selbst gebauten Dietrich das simple Schloss schnell aufbekommen. Sayid erwachte bei den<br />

leisen Geräuschen und sah Kate verblüfft an. Doch er reagierte blitzschnell. Er schoss in die<br />

Höhe und schon waren die Beiden aus dem Zellenraum heraus. Kate eilte vorweg, Sayid<br />

folgte ihr stumm. Schon hatten sie das Kellerfenster erreicht und turnten nach draußen. Kate<br />

wies Richtung Nordosten und die Beiden hasteten los. Zehn Minuten später hatte der<br />

Dschungel um das Dorf sie verschluckt. Schweigend rannten sie in der Dunkelheit weiter, bis<br />

sie den Sonarzaun vor sich sahen. „Wir brauchen den Code.“, stieß Kate hektisch hervor.<br />

Plötzlich gab es ein schrilles Alarmsignal, man hatte ihre Flucht also bemerkt. Panisch sah<br />

Kate sich um und dann glaubte sie zu Träumen. Auf der anderen Seite des Zaunes stand wie<br />

aus dem Himmel gefallen Sawyer.<br />

„6, 1, 0, 9, 6, 6! Los, macht schon.“, rief er den Beiden zu.<br />

Kate riss die Klappe am Fuß der Säule vor sich auf und tippte hektisch die Zahlen ein.<br />

„Meinst du nicht, die haben das geändert?“, rief Sayid.<br />

„<strong>Der</strong> deaktiviert nicht, der vermindert nur die Wirkung. Jetzt haltet euch so fest ihr<br />

könnt die Ohren zu und dann nichts wie weg hier.“<br />

Kate holte tief Luft, stopfte sich die Finger so fest es ging in die Ohren und rannte los.<br />

Sayid zögerte ebenfalls keine Sekunde. Und schon standen beide unversehrt draußen bei<br />

Sawyer.<br />

„Wohin?“<br />

Jim rannte vor, in südöstlicher Richtung auf den Dschungel zu und Kate und Sayid<br />

folgten. Keine Sekunde zu früh, denn schon flammten bei den Säulen Suchscheinwerfer auf<br />

und tauchten die Umgebung in ein helles Licht. Und Sekunden später fuhren die ersten<br />

Wagen vor. Die drei Flüchtlinge hetzten durch den Dschungel und schließlich war hinter<br />

ihnen nichts mehr von Verfolgern zu hören. Erschöpft sanken sie zu Boden. Als sie wieder zu<br />

Atem gekommen waren, fragte Jim:<br />

„Wie seid ihr raus gekommen?“<br />

„Sie haben die Wachen abgezogen, nachdem wir raus waren. Ich habe <strong>mich</strong> aus dem<br />

Haus geschlichen, Sayid befreit und weg waren wir.“, erklärte Kate erleichtert.<br />

„Wie soll es weiter gehen?“, fragte Sayid ruhig.<br />

„Ich bleib in der Nähe des Dorfes, ich muss wissen, was mit Juliet ist.“<br />

„Sie haben sie mit einem Auto weg gefahren, keine Ahnung, wohin.“, erklärte Kate.<br />

Jims Augen strahlten die Besorgnis aus, die er empfand.<br />

„Wenn sie ihr was tun, geh ich zu Richard und bitte ihn, mir zu helfen, den ganzen<br />

Laden platt zu machen.“<br />

„Apropos, Richard, können wir nicht bei ihm um Hilfe bitten? Was meinst du,<br />

Sawyer, könnte das klappen?“<br />

Jim zuckte die Schultern.<br />

- 306 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Frag <strong>mich</strong> was Leichteres. Ihr könnt es versuchen. Ich erklär euch, wie ihr hinkommt.<br />

Ich werd versuchen, Juliet ausfindig zu machen.“<br />

Kate sah Jim besorgt an.<br />

„Bist du sicher, dass du das riskieren willst? Wenn sie dich erwischen, bist du diesmal<br />

wirklich fällig.“<br />

Jim nickte.<br />

„Ist mir klar, Sheena. Aber sie hat alles für uns riskiert, das ist das Wenigste, was ich<br />

tun kann. Sie ist nur wegen mir überhaupt hier auf der Insel geblieben.“<br />

Er setzte sich etwas bequemer hin und erklärte ruhig:<br />

„Ihr solltet nicht hier bleiben. Macht euch auf den Weg. Ich beschreib euch, wo ihr<br />

Richard und seine Leute findet. Ob ihr sie um Hilfe bittet, überlass ich euch.“<br />

den Kopf.“<br />

Er sah Kate und Sayid an und diese nickten.<br />

„Okay, Lafleur, lass hören.“, grinste der Iraker.<br />

Jim schmunzelte.<br />

„Was denn? Ich musste damals improvisieren. <strong>Der</strong> Name schoss mir spontan durch<br />

Er sah Sayid an und sagte:<br />

„Hör zu, Ali, ihr haltet euch im Dschungel immer nach Süden. Erinnert ihr euch an<br />

den kleinen Fluss, der aus der großen Höhle raus kam, kurz vor dem Hatch?“<br />

Sayid nickte.<br />

„Ja, ich erinnere <strong>mich</strong> daran.“<br />

„Da müsst ihr euch bemerkbar machen, dann finden die euch schon, keine Sorge. Und<br />

haltet euch von den Straßen weg, die werden nach euch suchen wie verrückt.“<br />

Sayid und Kate nickten.<br />

„Okay, und wie wirst du klar kommen? Schaffst du es, zu überleben, so, wie du im<br />

Wald drauf bist?“<br />

Jim nickte.<br />

„Ich komm schon klar. Haut jetzt lieber ab, hier ist es zu gefährlich. Ich kenn die<br />

Gegend inzwischen wie meine Hosentasche, ich werd klar kommen.“<br />

Arme.<br />

Kate und Sayid erhoben sich. Die junge Frau sah Jim an und nahm ihn spontan in die<br />

„Pass auf dich auf, Sawyer.“<br />

Jim hielt Kate kurz fest, dann ließ er sie widerwillig los.<br />

„Ihr auch.“<br />

Die Beiden nickten und setzen sich in Bewegung. Jim verlor sie schon nach wenigen<br />

Schritten aus den Augen.<br />

- 307 -


By<br />

Frauke Feind<br />

************<br />

Dass Kate und Sayid entkommen waren, war natürlich am Morgen Gesprächsthema<br />

Nummer eins im Dorf. Schon eben nach 6 Uhr waren alle Bewohner auf den Beinen. Die<br />

Security tobte. Dass sie die Flüchtlinge am Zaun nicht erwischt hatten, war demütigend. Und<br />

das Jim ihnen zur Flucht verholfen hatte, in dem er ihnen half, den Zaun zu überwinden,<br />

setzte dem Ganzen die Krone auf. Horace war außer sich.<br />

„Wenn ihr sie nicht wieder heranschafft, reiße ich euch persönlich den Kopf ab! Ist<br />

euch klar, was passiert, wenn sie zu den Hostiles gehen? Wir alle sind dann in Gefahr. Die<br />

Drei haben Informationen, die den Hostiles nie in die Hände fallen dürfen, besonders Jim. Er<br />

ist in fast alles eingeweiht, was hier abläuft. Schafft sie wieder her.“<br />

Ich hatte diesen Anpfiff mit angehört und zitterte einmal mehr um Jim. Wenn sie ihn<br />

erwischten, würde diesmal nichts und niemand ihm mehr helfen können. Hoffentlich war er<br />

bereits bei Richard in Sicherheit. Ich hatte zu Horace gehen wollen, um ihn zu fragen, ob ich<br />

nicht auch alleine zu den Stationen fahren könnte, um Kranke und Verletzte zu versorgen.<br />

Aber bei seiner schlechten Laune verschob ich das lieber. Amy war zusammen mit Ethan und<br />

einem Arbeiter, Jerry, mit der Galaga nach Tahiti gefahren, sonst hätte ich sie auf meine Seite<br />

gezogen. Aber sie war für zwei Wochen fort und ich musste ohne ihre Hilfe den Anführer<br />

davon überzeugen, <strong>mich</strong> alleine losziehen zu lassen. Und dann kam mir der Zufall zu Hilfe.<br />

Die Security war geschlossen unterwegs, um die drei Flüchtlinge zu suchen. Horace stand im<br />

Videoüberwachungsraum und schaltete alle paar Sekunden die Monitore um. Plötzlich kam<br />

eine Meldung von der Perle herein.<br />

„Horace?“<br />

<strong>Der</strong> Anführer meldete sich genervt.<br />

„Ja, was ist?“<br />

Die Stimme aus dem Lautsprecher antwortete:<br />

„Wir haben hier einen Unfall gehabt, einer der Arbeiter ist verletzt, kannst du Kelly<br />

her bringen lassen, es eilt.“<br />

Horace fluchte.<br />

„Verdammter Mist! Alle Sicherheitsleute sind im Dschungel, die Flüchtlinge suchen.<br />

Okay, ich werde sehen, was ich machen kann.“<br />

Er unterbrach das Gespräch und überlegte. Schließlich entschied er sich spontan und<br />

eilte zur Krankenstation hinüber. Ich sah erschrocken von meiner Arbeit auf, als unser An-<br />

führer so plötzlich in die Station stürzte.<br />

„Hör zu, Kelly, es gibt ein Problem in der Perle. Ich muss eine Entscheidung treffen,<br />

und hoffe, dass ich sie nicht wie bei Jim bereuen werden. Ich habe niemanden, der dich fahren<br />

könnte, daher musst du alleine los. Kann ich wenigstens dir vertrauen?“<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Mir tat Horace leid, er war kein schlechter Mensch, aber Jim war mir erheblich<br />

wichtiger. So fiel es mir leicht, todernst zu nicken.<br />

„Horace, du kannst dich auf <strong>mich</strong> verlassen. Ich brauche nur einen ... Plan, oder etwas<br />

Ähnliches. Ich habe ja keine Ahnung, wo ich hin muss.“<br />

Horace nickte.<br />

„Den wirst du bekommen. Pack alles, was du für die Behandlung eines Unfalles<br />

brauchst, zusammen und komm dann in den Videoraum, okay.“<br />

Ich nickte.<br />

„Ich werde <strong>mich</strong> beeilen.“<br />

<strong>Der</strong> Anführer verschwand und ich hätte fast in die Hände geklatscht. Stattdessen aber<br />

packte ich schnell eine Tasche mit Verbandmaterial, Nadeln, Faden, und allem, was ich für<br />

eine Wundversorgung brauchte. Ich schloss die Station ab und eilte im Laufschritt zu Horace<br />

hinüber. Er erwartete <strong>mich</strong> schon und zeigte mir eine Karte, die sehr anschaulich war. Etwas<br />

unsicher sagte ich jedoch:<br />

„Ich warne dich lieber vor, ich habe ein sehr schlechtes Orientierungsvermögen. Sei<br />

bitte nicht sauer, wenn ich <strong>mich</strong> verfahre.“<br />

Horace verzog das Gesicht.<br />

„Solange du überhaupt etwas findest bin ich in der derzeitigen Situation schon zu-<br />

frieden. Und nun mach dich auf den Weg. Nimm einen der VW Busse, die Geländewagen<br />

sind ja alle im Einsatz. Schlüssel stecken. Hier ist der Code für den Zaun.“<br />

Er drückte mir einen Zettel in die Hand. Ich sah mir die Zahlen an und fragte:<br />

„Was ist, wenn ich den Zaun passiert habe? Dann ist er doch deaktiviert, oder? Ist das<br />

nicht gefährlich für uns?“<br />

Horace schüttelte den Kopf.<br />

„Das ist schon in Ordnung. Du musst dir da keine Sorgen machen. Das Sonar geht<br />

nach zwei Minuten selbstständig wieder an. Du musst die Nummer erneut eingeben, wenn du<br />

zurückkommst. Außen an den Säulen sind ebenfalls Tastaturen angebracht.“<br />

„Verstehe. Okay, dann mache ich <strong>mich</strong> auf die Socken. Bis später.“<br />

Ich eilte also zum Fuhrpark hinüber und setzte <strong>mich</strong> in einen der Busse. Ich fuhr los<br />

und hatte binnen Kurzem den Zaun erreicht. Es war ein eigenartiges Gefühl, den Code zu<br />

kennen und den Zaun deaktivieren zu können. Ich holte tief Luft, sah <strong>mich</strong> unauffällig nach<br />

Kameras um und notierte gedanklich, wo ich welche erkennen konnte. Eilig stieg ich wieder<br />

in den Wagen und fuhr los. Die Perle lag eine ganze Ecke weiter südlich und ich beeilte <strong>mich</strong><br />

erst einmal wirklich. Ich kam an einigen Kreuzungen vorbei und hielt jedes Mal einige<br />

Minuten an, tat so, als müsse ich <strong>mich</strong> erst orientieren. Immer wieder entdeckte ich Kameras.<br />

Sollten die Kreuzungen auch überwacht werden, konnte ich durch die kurzen Stopps meine<br />

Ausrede, schlechtes Orientierungsvermögen zu haben, aufrechterhalten. Auf diese Weise<br />

brauchte ich zur Perle gute siebzig Minuten und tat erleichtert, als ich die Station schließlich<br />

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Frauke Feind<br />

gegen 8 Uhr erreichte. Mein Patient war ein junger Mann, der sich beim Baumfällen mit der<br />

Axt verletzt hatte. Ich konnte ihn behandeln und schließlich lag er gut versorgt im Bett.<br />

„Ich werde morgen wieder nach dir sehen. Halte das Bein schön hoch und wenn etwas<br />

sein sollte, gebt uns sofort Bescheid. Das ist keine leichte Verletzung.“<br />

Ein wenig hektisch verabschiedete ich <strong>mich</strong> und machte <strong>mich</strong> auf den Rückweg. Ich<br />

hatte mir die Positionen von <strong>Über</strong>wachungskameras gemerkt und sie auf einer während der<br />

‟Orientierungspausen‟ von mir angefertigten Skizze der Karte eingetragen. Als ich an eine<br />

Stelle kam, die definitiv nicht überwacht wurde, hielt ich an. Hier war weit und breit kein<br />

Mensch zu sehen. Ich stieg aus dem Wagen und ging ein Stück in den Dschungel hinein. Aufs<br />

Geratewohl nach Jim zu suchen war natürlich kein so großartiger Plan, aber da ich nicht<br />

wusste, wo er sich aufhielt, die einzige Hoffnung, die mir blieb. Leise rief ich immer wieder<br />

nach ihm, aber nur Schweigen antwortete mir. So marschierte ich schließlich zum Wagen<br />

zurück und fuhr weiter. Als ich das Dorf gegen halb 12 Uhr wieder erreicht hatte, meldete ich<br />

<strong>mich</strong> bei Horace zurück, der mir auf der Straße in die Arme lief. Und erlebte eine wirklich<br />

böse <strong>Über</strong>raschung! Horace begrüßte <strong>mich</strong> sehr aufgeräumt und guter Dinge.<br />

„Hallo, Kelly, da bist du ja wieder. Und, alles geklappt?“<br />

Ein wenig erstaunt über den Stimmungswandel nickte ich.<br />

„Ja, ich habe <strong>mich</strong> kaum verfahren, konnte den Verletzten behandeln und habe sogar<br />

den Rückweg relativ gut gefunden.“<br />

holt hätte.<br />

Horace nickte zufrieden. Dann aber sagte er etwas, was <strong>mich</strong> fast aus den Schuhen ge-<br />

„So war es ja alles in allem nach dem Desaster der Nacht ein erfolgreicher Vormittag.<br />

Stell dir vor, Phil und Wayne haben Jim erwischt!“<br />

************<br />

27) Gegen jede Chance<br />

Als es dämmerte, wachte Jim aus einem unruhigen Schlaf auf. Solange Zeit in einem<br />

richtigen Bett geschlafen zu haben machte das Nächtigen auf dem Dschungelboden nicht<br />

gerade angenehm. Er brauchte ein paar Minuten, bis er richtig bei sich war. Steif stemmte er<br />

sich auf die Füße und streckte sich. Noch ziemlich tranig setzte er sich in Bewegung, um nach<br />

Mangos oder Papayas Ausschau zu halten. Er hatte Glück und entdeckte schon nach wenigen<br />

Metern einen Mangobaum. Während er auf dem frischen Obst herum kaute, dachte er an die<br />

vergangene Nacht. Er hatte nicht einschlafen können und als das leise Geräusch des im Dorf<br />

ausgelösten Alarms durch den nächtlichen Dschungel zu ihm gedrungen war, hatte er sich<br />

sofort auf den Weg zum Sonarzaun gemacht. Vollkommen überrascht hatte er Kate und Sayid<br />

entdeckt. Jim war ungeheurer erleichtert, dass die Beiden in verhältnismäßiger Sicherheit<br />

- 310 -


By<br />

Frauke Feind<br />

waren. Wenn er jetzt noch herausfinden konnte, was mit Juliet geschehen war, oder sie wohl-<br />

möglich ebenfalls befreien konnte, wäre alles soweit gut. Er stopfte sich das letzte Stück<br />

Mango in den Mund und überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. In nördlicher Richtung<br />

vom Dorf lag der kleine Flusslauf, der im See hinter den Spielplätzen mündete. Von dort<br />

wollte Jim es versuchen. Er setzte sich in Bewegung und umging den Sonarzaun in einem<br />

weiten Bogen. Endlich erreichte er den kleinen Fluss und ging in einem dichten Gebüsch in<br />

Deckung. Er hoffte darauf, dass jemand aus dem Dorf vielleicht zum Bootshaus ging oder das<br />

Gelände aus einem anderen Grund in diese Richtung verlassen würde. Stunde um Stunde saß<br />

Jim still dort im Gebüsch, als er plötzlich Ronnie und Clive, zwei der Arbeiter, sich unter-<br />

haltend den Weg zum Bootshaus entlang kamen. Wie elektrisiert schoss Jim in die Höhe.<br />

Konzentriert beobachtete er, wie die Beiden eine der Säulen mit Schalter erreichten und den<br />

Code eingaben. Sie passierten den Zaun und verschwanden schnell aus Jims Blickfeld. Und<br />

diese Gelegenheit nutzte er aus. Kaum waren sie außer Sichtweite, rannte er bereits los, auf<br />

die Umzäunung zu. Als er die Säulen passierte, zuckte urplötzlich ein heftiger Schmerz durch<br />

seinen Schädel. Er sank stöhnend und sich den Kopf haltend auf die Knie und sein letzter Ge-<br />

danke war<br />

- Das war ne Falle! -<br />

Als er wieder zu sich kam, hatte er das Gefühl, sein Kopf stecke zwischen zwei<br />

Hämmern. Er stöhnte gequält auf und hörte eine wohlbekannte Stimme.<br />

„Was macht der Schädel?“<br />

Frustriert schnaufte Jim und versuchte, sich aufzusetzen. Das ging jedoch nicht, weil<br />

er bereits saß, wie er langsam merkte.<br />

„<strong>Der</strong> tut weh.“<br />

Er sah auf und blickte in das höhnisch grinsende Gesicht Horace‟, der vor ihm stand.<br />

„Man lernt einen Menschen in drei Jahren doch verdammt gut kennen, Jim. Du hättest nicht<br />

so dumm sein sollen, zurückzukehren. Mir war klar, dass du ohne Rücksicht auf deine eigene<br />

Sicherheit hierher kommen würdest, um zu erfahren, was mit Juliet passiert ist. Ich brauchte<br />

nur zu überlegen, von wo du es versuchen würdest.“<br />

Jim stieß ein leises, resigniertes Lachen aus.<br />

„Okay, ich bin dir auf den Leim gegangen. Gratuliere, Hoss. Und wie geht‟s weiter?“<br />

Horace sah Jim in die Augen.<br />

„Du weißt, dass dich dieses Mal nichts und niemand mehr retten wird, oder?“<br />

Jim nickte resigniert.<br />

„Ja, ist mir klar. Warum leb ich noch?“<br />

Horace schmunzelte.<br />

„Na, was denkst du denn? Wir müssen wissen, wo Kate und Sayid sind. Und wir<br />

müssen wissen, ob du bereits bei Richard Alpert gewesen bist. Und last, but not least, würden<br />

wir sehr gerne erfahren, ob nicht vielleicht doch noch andere involviert sind.“<br />

- 311 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Jim spürte, wie sich in seinem Magen eine eisige Faust bildete. Er stieß ein hartes<br />

Lachen aus und sagte kalt:<br />

„Viel Spaß.“<br />

Horace seufzte.<br />

„Willst du es dir nicht leichter machen? Ich kann dir ein schnelles, schmerzloses Ende<br />

versprechen, wenn du uns sagst, was wir wissen müssen.“<br />

Jim sah seinen ehemaligen Anführer ruhig an.<br />

„Wer sagt denn, dass ich auf‟n schnelles Ende steh?“<br />

Horace schüttelte fast mitleidig den Kopf.<br />

„Mach es dir nicht unnütz schwer, Jim. Wir werden sowieso erfahren, was wir wissen<br />

müssen, dass ist dir klar.“<br />

„Viel Spaß.“, wiederholte Jim leise.<br />

Diesmal war es Horace, der resigniert seufzte.<br />

„Du hast es nicht anders gewollt.“<br />

Er verließ kurz den Videoraum, in dem sie sich befanden, und kam kurze Zeit später<br />

ausgerechnet mit Phil und Radzinsky zurück. Jims Herz verkrampfte sich. Er war wahrhaftig<br />

kein Masochist. Und es war ihm klar, dass es verdammt hart werden würde. Er schloss kurz<br />

die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel<br />

- Bitte, lass <strong>mich</strong> durchhalten! -<br />

Phil trat mit einem Grinsen auf den Lippen vor Jim und sagte gehässig:<br />

„So ändern sich die Dinge. Dann wollen wir mal sehen, wie hart du wirklich im<br />

Nehmen bist, Lafleur.“<br />

Jim schwieg. Was hätte er auch sagen sollen. Er wappnete sich gegen das, was<br />

kommen würde und dachte an Kate und Juliet. Und schon kam es. Phil holte aus und schlug<br />

Jim mit aller Kraft die Faust ins Gesicht. Jims Kopf wurde<br />

herum gerissen. Sofort traf ihn ein weiterer Schlag, diesmal<br />

von der anderen Seite. Einige Male drosch Phil so zu und Jim<br />

brauchte alle Beherrschung, um nicht aufzukeuchen.<br />

Schließlich machte der Mann eine Pause und sagte:<br />

„Das können wir fortsetzen, bis dein Kopf Brei ist.“<br />

Jim nickte. Er spuckte Blut auf den Fußboden und sagte sarkastisch:<br />

„Klar, du Schlauberger. Dann kann ich aber garantiert nichts mehr verraten.“<br />

Wütend schlug Phil erneut zu, diesmal auch in den Körper. Jim hustete gequält auf, als<br />

ihm so die Luft aus den Lungen getrieben wurde und fuhr sich mit der Zunge über die auf-<br />

geplatzte Lippe.<br />

„Ist das alles, was du drauf hast?“, fragte er schwer atmend.<br />

Aus schon zu schwellenden Augen sah er Phil müde an. Dieser zitterte vor Hass. Und<br />

schon gingen die Schläge erneut los. Irgendwann traf einer der Hiebe so stark, dass der Stuhl,<br />

- 312 -


By<br />

Frauke Feind<br />

an den Jim gefesselt war, umstürzte. Zwei, drei Mal trat Phil dem hilflos auf der Seite<br />

liegenden Gefangenen kräftig in den Leib, doch schließlich wurde er von Horace unter-<br />

brochen.<br />

„Es reicht. Hebt ihn auf, los doch.“<br />

Phil und Stuart Radzinsky richteten Jim wieder auf. Dieser taumelte inzwischen am<br />

Rande der Besinnungslosigkeit dahin. Vor seinen Augen tanzten blutrote Kreise. Er wünschte<br />

sich, ganz ohnmächtig zu werden, um nichts mehr zu spüren.<br />

************<br />

Zum Glück war ich in den letzten Wochen mehr als daran gewöhnt worden, in einem<br />

ständigen Wechselbad der Gefühle herumgerissen zu werden. So schaffte ich es auch diesmal,<br />

halbwegs Haltung zu bewahren. <strong>Über</strong>rascht machte ich:<br />

ich aber.“<br />

„Oh!“ Dann lachte ich verkrampft. „Das erklärt deinen Sinneswandel. Da gratuliere<br />

Meine Knie zitterten bedenklich und ich hatte Angst, dass Horace es bemerken würde.<br />

Daher fuhr ich hastig fort:<br />

„Ich mache <strong>mich</strong> mal wieder an die Arbeit. Annie wollte noch vorbei kommen um<br />

sich ihre Medizin abzuholen.“<br />

Ich nickte Horace zu und eilte fast fluchtartig weiter Richtung Krankenstation. Ich<br />

schaffte es, die Tür hinter mir leise zu schließen, obwohl ich sie liebend gerne zugeschmissen<br />

hätte. Hastig warf ich die Tasche auf den Tisch und eilte in den Waschraum. Hier endlich<br />

konnte ich <strong>mich</strong> gehen lassen. Ich sank weinend auf die Knie und hockte dort mehrere<br />

Minuten lang wie erstarrt, heftig schluchzend. Sie hatten ihn also erwischt. Und diesmal<br />

würde nur noch ein Wunder verhindern können, dass sie ihn endgültig umbrachten. Bevor es<br />

aber so weit sein würde, das war mir klar, würden sie alles versuchen, aus Jim Informationen<br />

heraus zu holen. Und wie das aussehen würde, war mir ebenfalls mehr als klar!<br />

Irgendwann fing ich <strong>mich</strong> ein wenig und stand auf. Ich schaufelte mir solange kaltes<br />

Wasser ins Gesicht, bis ich nicht mehr total verheult aussah. Dann biss ich die Zähne zu-<br />

sammen und kehrte in den Behandlungsraum zurück. Keine Minute zu früh, denn kurz darauf<br />

kam Annie zur Tür herein. Fröhlich begrüßte sie <strong>mich</strong>.<br />

„Hallo, Kelly, da bist du ja wieder. Und, wie war dein erster unbewachter Ausflug?“<br />

„Das hat sich also herum gesprochen?“, fragte ich, <strong>mich</strong> zu einem Lächeln zwingend.<br />

wieder da.“<br />

„Klar, hier spricht sich alles schnell herum. Die Galaga ist zum Beispiel auch schon<br />

Ich sah überrascht auf.<br />

„Oh, wirklich? Das ist gut, ich habe bei Bird zwei Bücher bestellt.“<br />

- 313 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ich trat an den Schrank, in dem wir die Medikamente verwahrten und schloss diesen<br />

auf. Ich gab Annie die Medizin, die sie für ihre schwere Allergie benötigte und erklärte:<br />

„Du nimmst sie weiterhin genau nach Vorschrift und kommst in drei Tagen bitte<br />

wieder zu mir, damit wir besprechen können, ob es so wirkt, wie wir es uns wünschen, okay.“<br />

Das junge Mädchen nickte.<br />

„Alles klar. Dann sehen wir uns Freitag. Bye.“<br />

Vergnügt schwirrte sie ab. Und ich stand da und war in Gedanken sofort wieder bei<br />

Jim. Ich beschloss, für heute Schluss zu machen, wenn etwas sein sollte, würde man <strong>mich</strong><br />

ohnehin von zuhause abholen. Es war kurz vor 14 Uhr und hier lag im Moment nichts<br />

Aktuelles mehr an. Am Nachmittag wollte Jeanette Lewis mit ihrer Tochter vorbei kommen,<br />

solange konnte ich aber auch zuhause bleiben. So setzte ich <strong>mich</strong> in Bewegung und<br />

marschierte zu meiner Unterkunft. Allerdings stellte ich schnell fest, dass das auch nicht die<br />

beste Idee gewesen war, denn hier hatte ich noch mehr Zeit, ständig daran zu denken, wie es<br />

Jim wohl gerade gehen mochte. Um <strong>mich</strong> wenigstens ein bisschen abzulenken machte ich<br />

<strong>mich</strong> daran, einen Schokoladenkuchen zu Backen. Wirklich helfen tat das jedoch auch nicht,<br />

denn ich konnte auch dabei die Gedanken schweifen lassen. So einfach, wie Kate es geschafft<br />

hatte, Sayid aus der Zelle zu befreien, würde es nicht mehr werden. Ich machte mir nichts vor.<br />

Die Chancen, Jim zu helfen, lagen nahe null.<br />

Fast wären mir wieder die Tränen gekommen. Zum Glück klopfte es in diesem<br />

Moment an die Tür. Ich sah auf die Küchenuhr. Eben nach 15 Uhr. Wer mochte das sein? Ich<br />

ging, um zu öffnen. Vor der Tür stand der Captain der Galaga. Bird hatte meine Bitte erfüllt.<br />

Kaum hatte das U-Boot wieder angelegt, hatte er sich auf den Weg zu mir gemacht und<br />

brachte mir nun die beiden von mir erbetenen Bücher. <strong>Der</strong> arme Kerl hatte keine Ahnung,<br />

dass diese nur ein Vorwand gewesen waren. Ich bat ihn herein.<br />

„Das ist wirklich süß von dir, Glen, vielen, vielen Dank. Die habe ich wirklich<br />

schmerzlich vermisst. Ich habe vorhin einen Schokoladenkuchen gebacken, kann ich <strong>mich</strong> mit<br />

einer Tasse Kaffee und einem Stück davon bei dir bedanken?“<br />

Bird nickte erfreut.<br />

„Gerne.“<br />

Ich bat ihn ins Wohnzimmer.<br />

„Setze dich doch schon mal, der Kaffee ist gleich durch.“<br />

Während Bird sich auf das Sofa fallen ließ, eilte ich in die Küche und schenkte ihm<br />

einen Becher Kaffee ein. Ich schnitt ein großes Stück Schokokuchen ab und legte es auf einen<br />

Teller. Aus dem Küchenschrank griff ich meine Geldbörse und trug alles zu Bird zurück.<br />

„Hier, lass es dir schmecken und nochmals vielen Dank. Wie viel Geld bekommst du von<br />

mir?“ <strong>Der</strong> Captain sah <strong>mich</strong> an.<br />

„Danke, Kelly, hab ich aber wirklich gerne gemacht. Zusammen $ 38,50“<br />

Ich setzte <strong>mich</strong> ihm gegenüber, gab ihm das Geld und fragte locker:<br />

- 314 -


„Und, wie war die <strong>Über</strong>fahrt?“<br />

Er grinste.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Hör bloß auf. Ethan hat die ganze Zeit gebrüllt wie am Spieß, Amy wusste gar nicht,<br />

wie sie ihn beruhigen sollte. Jerry hat gekotzt, der Kerl kann das U-Boot absolut nicht ver-<br />

tragen und Juliet hat die ganze Zeit geflennt.“<br />

Ich brauchte meine Betroffenheit nicht verbergen, da ja schließlich jeder wusste, dass<br />

ich <strong>mich</strong> mit Jules gut verstanden hatte.<br />

„Oh, das tut mir so leid. Sie und Lafleur ... Hat sie gesagt, was sie vorhat?“<br />

Bird schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, sie ist ausgestiegen und ... naja, weg war sie. Sie weiß, dass sie nie wieder auf<br />

die Insel zurückkommen wird.“<br />

Mir tat Juliet wirklich leid, gleichzeitig war ich erleichtert, dass sie lebte. Sie würde<br />

nicht auf der Insel sterben. Das war immerhin schon mal eine deutliche Änderung im Ablauf<br />

der Geschehnisse. Ich unterhielt <strong>mich</strong> noch eine Weile mit dem Captain des U-Bootes, doch<br />

schließlich verabschiedete er sich und ich brachte ihn zur Tür. Gedankenverloren räumte ich<br />

auf. Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, Jim irgendwie Bescheid zu geben, dass Juliet in<br />

Sicherheit war. Ich machte mir schreckliche Sorgen um ihn. Er würde niemals verraten, wo<br />

Kate und Sayid hin verschwunden waren. Ich hatte ihn fast zwei Tage nicht gesehen und hatte<br />

nur noch Angst. Horace war kein brutaler Mensch, Phil und Radzinsky dafür umso mehr. Ich<br />

war nicht sicher, wie weit sie gehen würden, um Informationen zu erhalten. Ich sollte es aber<br />

schneller erfahren als ich vermutete hatte. Als ich am frühen Nachmittag in der Kranken-<br />

station wie abgesprochen den Verband am Knie der kleinen Charlotte wechselte, kam Casey<br />

in den Raum.<br />

gut aus.“<br />

„Hallo, Jeanette, hallo Charlotte, na, wie geht es deinem Knie?“<br />

Quietsch vergnügt antwortete das rothaarige kleine Mädchen:<br />

„Kelly hat mir geholfen, ich war ganz tapfer.“<br />

Ich lachte.<br />

„Ja, Süße, das warst du. Und du brauchst auch nicht wiederkommen, dein Knie sieht<br />

An Jeanette gewandt erklärte ich:<br />

„Lass den Verband noch ein, zwei Tage drauf, dann kann er ab. Und du, junge Frau,<br />

bist beim nächsten Mal am Klettergerüst vorsichtiger, verstanden?“<br />

sah Casey an.<br />

Charlotte kicherte.<br />

„Ja, das verspreche ich. Danke, Kelly.“<br />

Jeanette bedankte sich ebenfalls und verschwand mit ihrer Tochter nach draußen. Ich<br />

„Was kann ich denn für dich tun? Auch ein aufgeschlagenes Knie?“<br />

Die junge Frau schüttelte ernst den Kopf.<br />

- 315 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Nein, Kelly, wohl eher nicht. Horace schickt <strong>mich</strong>, du sollst in den Videoraum<br />

kommen. Und du sollst Verbandszeug und so mitbringen.“<br />

Mir wurde schlecht. So gleichgültig wie möglich sagte ich aber:<br />

„Klar, bin schon fast da.“<br />

Fünf Minuten später stand ich vor der Tür des <strong>Über</strong>wachungsraumes und hatte Angst,<br />

zu Klopfen. Ich wusste nicht, ob ich so viel Beherrschung aufbringen würde, mir nichts an-<br />

merken zu lassen. Zögernd klopfte ich schließlich doch an die Tür. Horace‟ Stimme<br />

antwortete:<br />

„Ja, wer ist da?“<br />

„Ich bin es, Kelly.“<br />

Die Tür wurde geöffnet und unser Anführer bat <strong>mich</strong> herein.<br />

„Kümmere dich um Jim, okay?“, bat Horace verlegen.<br />

Ich trat in den Raum und sah Phil und Radzinsky an der Wand gelehnt stehen und kalt<br />

auf Jim herunter blicken, der an einen Stuhl gefesselt vor ihnen saß. Sein Gesicht sah fast<br />

ebenso schlimm aus wie bei unserer ersten Begegnung, die mir Jahre her zu sein schien.<br />

Entsetzt keuchte ich:<br />

Wilden!“<br />

„Was habt ihr mit ihm gemacht? Seid ihr denn wahnsinnig? Wir sind doch keine<br />

Giftig fuhr Phil <strong>mich</strong> an:<br />

„Halt die Klappe und kümmer dich um den Helden. Wie wir einen Verräter behandeln<br />

geht dich einen feuchten Dreck an.“<br />

Hasserfüllt sah ich Phil an.<br />

„Du bist ein widerlicher Dreckskerl, weißt du das? Kannst dich nur an Wehrlosen ver-<br />

greifen, du schleimige, feige Ratte. Sonst bist du vor Jim auf dem Bauch gerutscht!“<br />

Phil wollte auf <strong>mich</strong> losgehen, aber Horace trat entschlossen dazwischen.<br />

„Halt dich zurück, Phil, sonst werfe ich dich raus, hast du das verstanden? Kelly hat<br />

absolut Recht.“<br />

Ich warf Phil noch einen geringschätzigen Blick zu und trat mit wild klopfendem<br />

Herzen zu Jim. Er sah <strong>mich</strong> aus verquollenen Augen an und versuchte ein Grinsen.<br />

„Hallo, Dr. Quinn ... Schön, dich zu sehen ...“<br />

Ich schüttelte schockiert den Kopf.<br />

„Was seid ihr nur für Menschen ...“<br />

Ich warf einen hasserfüllten Blick zu Radzinsky und Phil hinüber. Angewidert sah ich<br />

Horace an. Kalt erklärte ich:<br />

„Ich brauche Wasser.“<br />

Horace nickte.<br />

„Warte, ich hole dir eine Schüssel.“<br />

- 316 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Eilig verließ er den Raum und kam kurze Zeit<br />

später mit einer großen Porzellanschüssel voll warmem Wasser zurück. Ich zog mir einen<br />

zweiten Stuhl heran und setzte <strong>mich</strong> vor Jim hin.<br />

„Dann lass <strong>mich</strong> mal sehen, du Held.“, sagte ich liebevoll.<br />

Jim hob mühsam den Kopf und ich begann sanft, ihm das viele Blut fort zu Waschen.<br />

Er hielt still, zuckte nur hin und wieder zusammen.<br />

„Kannst du dich vielleicht mal beeilen?“, knurrte Phil genervt.<br />

Ich ignorierte ihn vollständig. Stattdessen sagte ich besorgt zu Jim:<br />

„Warum sagst du ihnen nicht einfach, was sie wissen wollen?“<br />

Er lachte kurz schmerzerfüllt und sarkastisch auf.<br />

„Weil ich diese miesen Wichser gerne ärger ...“<br />

Phil wollte wutentbrannt auf ihn losgehen, aber als er <strong>mich</strong> dafür an der Schulter<br />

packte und vom Stuhl hoch zerren wollte, hakte bei mir etwas aus. Ich kam blitzschnell auf<br />

die Füße, drehte <strong>mich</strong> herum und trat dem widerlichen Mann mit aller Kraft zwischen die<br />

Beine. Aufquiekend beugte er sich unwillkürlich nach vorne und ich riss mein Knie hoch. Er<br />

wurde voll im Gesicht getroffen und brach jappsend und blutend zusammen. Horace und<br />

Radzinsky sahen <strong>mich</strong> einigermaßen überrascht an. Das hatten sie mir wohl nicht zugetraut.<br />

Und Jim lachte.<br />

„Gratuliere, Sheena!“, sagte er zufrieden, obwohl ihm garantiert alles weh tat.<br />

Ich achtete gar nicht mehr auf die beiden Männer hinter mir, sondern warf Horace<br />

einen fragenden Blick zu.<br />

werden?“<br />

„Darf ich vielleicht meine Arbeit machen, ohne von der kleinen Ratte belästigt zu<br />

Horace nickte.<br />

„Ja, darfst du.“<br />

Ich widmete <strong>mich</strong> wieder Jims Gesicht und reinigte es zu Ende. Dass er mir dabei in<br />

die Augen schaute, in denen ich sehr wohl Schmerz, Angst und Resignation lesen konnte,<br />

machte es mir nicht gerade einfacher. Ich arbeitete eine Weile konzentriert, doch endlich war<br />

er versorgt so gut es möglich war.<br />

verbittert.<br />

„Und, geht es hier weiter? Soll ich das Verbandmaterial gleich hier lassen?“, fragte ich<br />

Horace schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, wir schaffen ihn zu Oldham, der wird schon aus ihm raus bekommen, wo<br />

Austen und Jarrah sind. Danke, Kelly. Es tut mir leid, du wirst uns für Monster halten, aber<br />

wir kämpfen hier ums <strong>Über</strong>leben, wenn die Beiden zu den Hostiles sind, ist das eine ernste<br />

Bedrohung für unserer aller Sicherheit.“<br />

Ich nickte.<br />

„Klar, und das gibt euch das Recht, einen wehrlosen Menschen zu schlagen ...“<br />

- 317 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ich schüttelte den Kopf. Wütend griff ich nach meinen Sachen, sah Phil an, der lang-<br />

sam wieder auf die Beine kam, und erklärte kalt:<br />

„Wenn du abartiger Bastard noch einmal Hand an <strong>mich</strong> legst, schneide ich dir die Eier<br />

ab und trete nicht nur nach ihnen. Hast du das kapiert?“<br />

Hasserfüllt stieß Phil hervor:<br />

„Das werden wir noch sehen ...“<br />

Jim knurrte:<br />

„Wenn du sie auch nur schief ansiehst, bring ich dich um ...“<br />

Horace beendete die Debatte, indem er <strong>mich</strong> regelrecht raus warf.<br />

„Du bist hier fertig, geh wieder an deine Arbeit.“<br />

Ich verließ den Raum und stand Minuten später vor Hütte 14. Ohne zu Zögern riss ich<br />

die Tür auf und rief:<br />

los?“<br />

„Miles?“<br />

Erstaunt kam der junge Mann in den Flur geeilt.<br />

„Ist was passiert?“<br />

Ich trat ein und fragte leise:<br />

„Wer ist Oldham?“<br />

Miles sah <strong>mich</strong> verwirrt an.<br />

„Warum willst du das wissen?“, fragte er sichtlich bestürzt.<br />

Ich erklärte genervt:<br />

„Verdammt noch mal, sag es mir einfach!“<br />

„Jaja, ist ja schon gut. Er ist ... der Verhörspezialist der Initiative. Was ist eigentlich<br />

Ich war blass geworden.<br />

„Oh, Gott.“<br />

Jetzt wurde Miles ungeduldig.<br />

„Kannst du mir vielleicht mal sagen, was los ist?“<br />

Entsetzt stotterte ich:<br />

„Sie wollen Jim zu diesem Oldham schaffen.“<br />

Miles erschrak.<br />

„Scheiße! Na, da wird er bald alles verraten, so viel ist sicher. Wir sollten schon mal<br />

Koffer packen, denn dann wird es hier sehr lustig werden.“<br />

Ich überlegte hektisch.<br />

„Wo finde ich ihn?“<br />

Miles schüttelte den Kopf.<br />

„Den findest du alleine nicht. Was hast du denn bitteschön vor?“<br />

Ich sah Miles an und entschied <strong>mich</strong> spontan, ihm die Wahrheit zu sagen.<br />

„Ich werde Jim da raus holen.“<br />

- 318 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Bist du irre? Dass kannst du vergessen.“<br />

„Nein, weder bin ich irre noch kann ich das vergessen. Du wirst <strong>mich</strong> da hin bringen.“<br />

Miles schüttelte den Kopf.<br />

„Die werden uns alle umbringen.“<br />

Ich trat an den jungen Mann heran und packte ihn an den Schultern.<br />

„Hör mir mal genau zu: Jim hat das alles hier für Juliet, Daniel, Jin und dich möglich<br />

gemacht, als ihr 74 hier als letzte <strong>Über</strong>lebende von Oceanic 815 und der Kahana durch die<br />

Gegend gewankt seid. Ohne ihn hätte euch die DHARMA Initiative vermutlich wieder raus<br />

geworfen oder gleich getötet. Also bist du ihm verdammt noch mal schuldig, ihn aus der<br />

Klemme zu holen.“<br />

Fassungslos starrte Miles <strong>mich</strong> an.<br />

„Woher weißt du das?“, fragte er besorgt.<br />

„Das tut nichts zur Sache. Du wirst jetzt Waffen besorgen und zwar 9 mm und Ge-<br />

wehre und dann wirst du <strong>mich</strong> zu Oldham schaffen!“<br />

Miles sah <strong>mich</strong> sehr skeptisch an.<br />

„Wenn das rauskommt, sind wir fällig.“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, das sind wir wohl. Und wenn wir uns nicht beeilen und Oldham Jim zum Reden<br />

bringt, sind wir ebenfalls fällig. Aber wenn wir den Kopf in den Sand stecken und nichts tun,<br />

ist Jim fällig. Das kann ich nicht zulassen!“<br />

Fragend sah Miles <strong>mich</strong> an.<br />

„Warum tust du das? Was hast du mit Lafleur zu schaffen? Ihr kennt euch kaum.“<br />

„Ich habe weder Zeit noch Lust, dir das alles genau zu erklären, aber Jim und ich<br />

kennen uns nicht nur, wir sind ... zusammen. Und jetzt sieh zu, dass du die Waffen ranschaffst<br />

und bringe gleich einen Wagen mit. Los.“<br />

Ich seufzte.<br />

Miles war immer noch nicht bereit, in die Gänge zu kommen.<br />

„Wie, ihr seid zusammen? Bist du ... Ich meine, du bist keine Schiffbrüchige, richtig?”<br />

„Ist das jetzt wirklich wichtig? Jim soll zu einem brutalen Folterer geschafft werden,<br />

verdammt noch mal! Und sie haben ihn bereits übel zusammen geschlagen.“<br />

fahren, oder?“<br />

„Wenn ich schon meinen Arsch riskieren soll, habe ich wohl das Recht, etwas zu er-<br />

Verzweifelt über so viel Sturheit erklärte ich:<br />

„Jim und ich kommen aus 2007, auch, wenn du ihn erst seit der Insel kennst. Das ist<br />

eine sehr lange, komplizierte Geschichte. Du weißt von den Zeitreisen, also wirst du es<br />

glauben müssen: Wir sind zusammen auf die Insel zurückgekehrt, um ein schreckliches Un-<br />

glück zu verhindern, dass euch alle in eine endlose Zeitschleife versetzt hat. Wir sind zurück-<br />

- 319 -


By<br />

Frauke Feind<br />

gekommen, um diese Schleife zu durchbrechen. Bislang haben wir nur verhindern können,<br />

dass Juliet stirbt. Aber ich werde nicht aufgeben, verstehst du?“<br />

„Warum können wir uns dann nicht an dich erinnern?“, wollte Miles wissen.<br />

„Weil ich bisher nicht dabei war, verstehst du? Ich bin eine neue Variable. Du musst<br />

mir einfach glauben. Wenn sich Zeit und Gelegenheit ergibt, werde ich dir gerne alles er-<br />

klären, jetzt müssen wir uns erst einmal um Jim kümmern.“<br />

Penetrant misstrauisch fragte Miles jedoch nach:<br />

„Und Jim weiß auch nichts davon, dass ihr ... zusammen seid?“<br />

Ich wurde immer ungeduldiger.<br />

„Nein, irgendetwas verhindert, dass ihr euch daran erinnern könnt. Ab einen Zeitpunkt<br />

in nicht mehr allzu ferner Zukunft werdet ihr in dieser Zeitschleife gefangen und erlebt alles<br />

wieder und wieder, ohne euch erinnern zu können. Es hängt mit den Zeitreisen zusammen,<br />

vermutlich auch mit den Entscheidungen, die ihr trefft. Vielleicht muss sich gar nicht viel<br />

ändern, um den Lauf der Dinge zu unterbrechen. Aber wenn wir nicht bald los kommen, wird<br />

Jim seine Entscheidung, Kate zu helfen, bitter bereuen.“<br />

Endlich nickte Miles.<br />

28) Oldham<br />

„Gut, ich helfe dir. Aber wir werden Jin suchen, er muss dabei sein. Ich glaube, er ist<br />

heute bei der Flamme. Oldham ist gefährlich und Phil und Radzinsky werden garantiert dabei<br />

sein.“<br />

Willen.“<br />

„Oh Gott, dann such ihn. Ich warte am Bootshaus auf euch. Beeilt euch um Gottes<br />

Miles nickte.<br />

„Jaja, ich bin ja schon unterwegs.“<br />

- 320 -


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Frauke Feind<br />

Er drängte <strong>mich</strong> aus dem Haus und ging ruhig zu seinem Geländewagen hinüber.<br />

Fröhlich winkte er mir noch einmal zu, warf den Motor an und fuhr in aller Ruhe die Straße<br />

entlang aus dem Dorf hinaus. Ich musste <strong>mich</strong> zusammenreißen, um nicht hysterisch zu<br />

schreien. Langsam marschierte ich zur Krankenstation zurück und grüßte Leute, die ich traf,<br />

freundlich. In der Station stopfte ich ein wenig Verbandsmaterial, Wasser, antiseptische<br />

Lösung und Pflaster in meinen kleinen Rucksack, verließ die Station wieder und ging gemüt-<br />

lich zu meinem Haus. Wayne war zum Glück nicht anwesend und so konnte ich mir Jeans und<br />

Bluse anziehen, ohne dumme Fragen zu beantworten, warum ich keinen Dienst hatte. Als ich<br />

<strong>mich</strong> umgezogen hatte, verließ ich das Haus durch die Hintertür, sah <strong>mich</strong> um und schlug<br />

<strong>mich</strong> durch die Büsche zum Teich mit dem kleinen Bootshaus durch. Meine Geduld wurde<br />

auf eine harte Probe gestellt, denn es dauerte eine ganze Weile, bis ich endlich Miles‟ Wagen<br />

kommen sah. Jin saß auf dem Beifahrersitz und sah <strong>mich</strong> fragend an.<br />

„Stimmt es, was Miles erzählt hat?“<br />

Ich nickte, stieg ein und ließ <strong>mich</strong> auf die Rückbank sinken.<br />

„Ja, und wenn wir uns jetzt vielleicht beeilen könnten, Jim ist schon viel zu lange bei<br />

diesem Oldham. Die haben inzwischen zwei Stunden Vorsprung. Wer weiß, was sie ihm<br />

schon angetan haben.“<br />

Mir liefen Tränen über die Wangen.<br />

„Wir fahren ne gute halbe Stunde.“, erklärte Miles und gab endlich Gas.<br />

************<br />

Jim saß angespannt in dem VW Bus. Phil hatte ihn unsanft hinein gestoßen und seine<br />

Hände mit Handschellen an den Haltegriff auf der der Tür abgewandten Sitzseite befestigt.<br />

An Flucht war somit nicht zu denken. Jim hatte Oldham selbst noch nicht in Aktion erlebt,<br />

kannte aber die Geschichten, die über den brutalen Mann erzählt wurden. Je näher sie ihrem<br />

Ziel kamen, desto nervöser wurde der blonde junge Mann. Er war wild entschlossen, nichts zu<br />

verraten, wusste aber nicht, wie lange er würde durchhalten können. Krampfhaft bemühte er<br />

sich, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Er hätte sonst was dafür gegeben, zu er-<br />

fahren, was mit Juliet passiert war. Er machte sich extreme Sorgen um die Ärztin. Sie hatte<br />

alles riskiert, um ihn zu schützen. So, wie er jetzt alles Riskieren würde, um Kate zu schützen.<br />

Sayid war ihm scheißegal. Für ihn alleine hätte Jim dass alles nicht auf sich genommen. Aber<br />

Kate war bei dem Iraker. Und Kate würde er niemals verraten.<br />

an und sagte:<br />

„Wir sind gleich da, freust du dich?“<br />

Phils Stimme riss Jim aus den Gedanken. Er sah seinen ehemaligen Untergebenen kalt<br />

„Leck <strong>mich</strong>. Wie geht‟s deinen Eiern? Klingeln sie noch?“<br />

Phil packte Jim wütend in den Haaren und riss seinen Kopf zurück.<br />

- 321 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Dir wird das freche Maul gleich gestopft werden, Lafleur. Du hast uns die längste<br />

Zeit verarscht.“<br />

Er gab Jims Kopf einen kräftigen Stoß. Grinsend meinte er:<br />

„Mal sehen, wie lange du hier den Helden geben kannst.“<br />

Gerade hielt der Wagen und Radzinsky sagte:<br />

„Wir sind da.“<br />

Er drückte kurz auf die Hupe und Augenblicke später kam ein älterer, grauhaariger,<br />

ziemlich ungepflegter Mann aus einem Gebüsch vor ihnen auf die Straße. Radzinsky stieg aus<br />

und begrüßte den Mann.<br />

„Da bist du ja. Dein Kunde ist ziemlich stur, ich hoffe, du kriegst das hin.“<br />

<strong>Der</strong> Mann, es musste sich wohl um Oldham handeln, grinste.<br />

„Bei mir singen noch alle, mach dir keine Sorgen.“<br />

Er trat an den Bus heran und sah Phil an, der inzwischen Jims Fesseln gelöst hatte.<br />

„Na, dann schafft ihn mal in mein Lager.“<br />

Kalt musterte er Jim.<br />

„<strong>Der</strong> ehemalige Boss der Security. Wer hätte das erwartet? Da kann man mal wieder<br />

sehen: Je höher man steigt, desto tiefer kann man fallen. Mein Junge, du solltest es dir besser<br />

noch mal überlegen.“, sagte er ruhig.<br />

Jim schwieg verbissen. Phil schloss die Handschellen auf Jims Rücken und nun<br />

packten er und Radzinsky den blonden Mann an den Oberarmen und stießen ihn so vorwärts.<br />

Ungefähr zehn Minuten ging es durch den Wald, dann erreichten sie eine Lichtung, auf der<br />

eine kleine Hütte stand. Gleichgültig erklärte Oldham:<br />

„Fesselt ihn an die Säule, Stricke liegen da.“<br />

Er selbst ging in die Hütte und Sekunden später war aus einem versteckten Laut-<br />

sprecher klassische Musik zu hören. Jim lief ein Schauer über den Körper. Er wurde zu der<br />

Steinsäule geschafft, die Handschellen wurden ihm abgenommen und Phil stieß ihn hart mit<br />

dem Rücken gegen die Säule. Hilflos musste Jim sich gefallen lassen, dass seine Arme um die<br />

Säule herum gelegt und mit einem Strick fest zusammen gebunden wurden. Einen weiteren<br />

Strick schlang Phil um Jims Fußgelenke. Bewegungsunfähig stand er da. Sein Herz raste.<br />

Gerade kam Oldham aus der Hütte und trat langsam vor Jim hin.<br />

„Wie sieht es aus, mein Freund, hast du dir noch einmal durch den Kopf gehen lassen,<br />

was gesünder für dich wäre?“<br />

Jim schüttelte mit dem Mut der puren Verzweiflung den Kopf.<br />

„Du kannst <strong>mich</strong> mal.“<br />

Oldham nickte.<br />

„Okay. Dann hör mir genau zu. Es läuft folgendermaßen. Ich werde dich eine Stunde<br />

lang behandeln. Danach bekommst du die Gelegenheit, dich zu meinen Fragen zu äußern.<br />

- 322 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Solltest du dich immer noch entscheiden, nicht zu reden, kommt die nächste Stunde Be-<br />

handlung. Dazwischen wirst du keine Chance haben, es doch auszuspucken, hast du das ver-<br />

standen?“<br />

nickte.<br />

Jim hörte entsetzt zu. Er schloss kurz verzweifelt die Augen, atmete tief durch und<br />

„Fang schon an, du blöder Wichser.“, stieß er hervor und Oldham grinste.<br />

„Gut, es ist deine Entscheidung.“<br />

An Radzinsky und Phil gewandt sagte er:<br />

„Stopft ihm das Maul.“<br />

Hilflos musste Jim sich gefallen lassen, einen Schaumstoffball, vielleicht doppelt so<br />

groß wie ein Tischtennisball, in den Mund gestopft zu bekommen. Innerhalb von wenigen<br />

Augenblicken saugte dieser Ball sämtlichen Speichel auf und verursachte heftigen Würgereiz.<br />

Hastig atmete Jim durch die Nase. Alles in ihm krampfte sich zusammen. Jetzt hatte er keine<br />

Chance mehr, durch Reden dem zu entrinnen, was nun kommen würde.<br />

Oldham trat mit einem Messer in der Hand zu ihm und Jim verkrampfte sich vor<br />

Angst. Aus geweiteten Augen starrte er panisch auf das Messer. Aber der Mann schlitzte ihm<br />

nur in aller Ruhe das T-Shirt auf, bis er Jim dieses mit einem Ruck vom Körper reißen konnte.<br />

Geradezu sanft ließ er seine Finger über Jims Brust gleiten, was alleine schon reichte, um<br />

diesem eine Gänsehaut des Ekels über den Körper zu jagen.<br />

„Weißt du, wie weh Stromschläge hier tun?“, fragte Oldham und zog einen Taser aus<br />

der Tasche, wie Jim ihn von seiner Gefangenschaft bei den ‟Anderen‟ her kannte.<br />

Er konnte nicht mehr verhindern, dass er zu Zittern begann. Oldham schaltete den<br />

Taser ein und drückte Jim diesen kalt lächelnd auf die Brust. Hätte der Ball es nicht ver-<br />

hindert, Jim hätte gebrüllt vor Schmerzen. Zu wissen, dass er das eine Stunde lang ertragen<br />

musste, war grausam. Wieder und wieder drückte Oldham den Taser an verschiedenen Stellen<br />

und in wohl dosierten Abständen an Jims Oberkörper. Hilflos zuckend hing dieser in den<br />

Fesseln. Phil und Radzinsky sahen ungerührt zu. Und im Hintergrund erklang unwirklich die<br />

wunderschöne klassische Musik. Irgendwann hatte Jim das Gefühl, es keinen weiteren Strom-<br />

schlag lang auszuhalten. Hätte er keinen Knebel im Mund gehabt, er hätte vermutlich alles<br />

hinaus geschrien was er wusste. Tränen, die ihm der Schmerz unkontrolliert in die Augen<br />

trieb, vermischen sich auf seinem Gesicht mit Schweiß. Er wünschte nur noch, dass die<br />

Stunde bald zu Ende war und fragte sich verzweifelt, wie er eine weitere Stunde überstehen<br />

sollte. Wieder traf ihn ein Schlag, diesmal an der linken Seite und der Schmerz zuckte durch<br />

seinen ganzen Körper. Vor seinen Augen tanzten bunter Kreise und Jim hoffte verzweifelt,<br />

die Besinnung zu verlieren.<br />

Es dauerte einige Minuten, bis er merkte, dass keine weiteren Stromschläge mehr<br />

kamen. Fast hätte er aufgeschluchzt vor Erleichterung. Zu wissen, dass die Qual eine volle<br />

- 323 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Stunde dauern würde, egal, ob er zu Reden bereit war oder nicht, machte das Ganze noch un-<br />

erträglicher. Jim zitterte am ganzen Leib. Wie durch Watte bekam er mit, dass Phil ihm den<br />

Schaumstoffball aus dem Mund zog. Er hörte die Stimme Oldhams.<br />

„Na, mein Junge, wie war deine erste Stunde?“<br />

Jim war nicht fähig, irgendeine Antwort zu geben. Sein Mund war ausgetrocknet, er<br />

keuchte nach Luft und kämpfte verzweifelt dagegen an, hysterisch alles herauszubrüllen, was<br />

diese Schweine wissen wollten. Als er sich ganz allmählich etwas gefangen hatte keuchte er<br />

hasserfüllt:<br />

„Ich bring dich um, du miese Sau ...“<br />

Oldham lachte leise.<br />

„Oh, dazu wirst du keine Gelegenheit mehr haben, wenn ich mit dir fertig bin, fürchte<br />

ich. Ich habe die Erlaubnis, dich zu Entsorgen, weißt du.“<br />

Er wandte sich an Phil und Radzinsky.<br />

„Ihr könnt ins Dorf zurück, ich brauche euch hier nicht mehr. Sobald er geredet hat,<br />

werde ich euch informieren.“<br />

Widerspruchslos setzten sich die Männer in Bewegung und verschwanden. Jim hatte<br />

die Gelegenheit genutzt, wieder etwas zu Atem zu kommen. Er zitterte immer noch, und hatte<br />

Angst vor der zweiten Runde, aber er war wild entschlossen, kein Wort zu sagen. Oldham sah<br />

ihn an.<br />

Kopf.<br />

„Und, wie sieht es aus? Bereit zu reden?“<br />

Vollkommen verzweifelt, nichts desto weniger aber entschlossen schüttelte Jim den<br />

„Du bist dümmer als ich dachte, mein Junge.“, grinste Oldham gehässig. „Du kannst<br />

dir deinen Tod erheblich erleichtern, wenn du redest.“<br />

Jim sah den Kerl aus rotgeränderten, von den eingesteckten Schlägen an-<br />

geschwollenen Augen an.<br />

„Fick dich.“<br />

Oldham lachte erneut leise.<br />

„Du weißt nicht, auf was du dich einlässt, mein Junge. Warum willst du es dir un-<br />

bedingt so schwer machen? Sind deine Freunde das wirklich wert? Würden sie das Gleiche<br />

auch für dich auf sich nehmen?“<br />

Damit traf der Kerl einen wunden Punkt. Jim wusste es nicht. Aber es war ihm auch<br />

egal. Er presste die Lippen fest zusammen und bemühte sich, den Folterer zu übersehen.<br />

Dieser nickte zufrieden.<br />

läuten.“<br />

„Okay, du willst nicht, kann ich verstehen. Dann wollen wir mal Stunde zwei ein-<br />

Er verschwand kurz in seiner Hütte und große Scheinwerfer erleuchteten die in-<br />

zwischen fast im Dunkeln liegende Lichtung. Jim presste verbissen die Lippen zusammen, um<br />

- 324 -


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Frauke Feind<br />

nicht wieder mit dem Knebel beglückt zu werden, aber er hatte keine Chance, sich dagegen zu<br />

wehren. Ein einziger fester Griff an seinen Kiefer und er musste den Mund öffnen. Gnadenlos<br />

stopfte Oldham ihm den Ball wieder in den Mund. Er zog eine kleine Zange aus der Hosen-<br />

tasche und trat hinter die Säule. Leise die Melodie aus dem Lautsprecher mit pfeifend griff er<br />

nach Jims kleinem Finger der linken Hand. Panisch spürte der Gefesselte, wie die Zange an<br />

seinem Fingernagel angesetzt wurde. Und schon begann Oldham zu ziehen. Hatte Jim vorher<br />

schon gedacht, es gäbe kaum noch eine Steigerung zu den Stromschlägen wurde er schnell<br />

eines Besseren belehrt. Verglichen zu den Schmerzen, die das Nagelziehen mit sich brachte,<br />

erschienen ihm die Stromschläge geradezu harmlos! Gepeinigte Laute drangen dumpf durch<br />

den Knebel und Jim wand sich gequält in den Fesseln. Oldham ließ sich Zeit und Jim liefen<br />

Tränen über das leichenblasse Gesicht.<br />

Als der Verhörspezialist es schließlich geschafft hatte, trat er grinsend vor Jim und<br />

hielt diesem den ausgerissenen Nagel vor das Gesicht.<br />

„Das war Nummer eins. Neun haben wir noch nach, dass schaffe ich in einer Stunde.<br />

Du hättest es dir lieber doch vorher überlegen sollen.“<br />

Er ließ den Nagel fallen und mit panisch geweiteten Augen beobachtete Jim, wie der<br />

Kerl wieder hinter ihn trat. Hysterisch zerrte er an den Fesseln und wusste doch, dass er keine<br />

Chance hatte. Er spürte die Zange an dem kleinen Finger der rechten Hand und wimmerte<br />

verzweifelt auf. <strong>Der</strong> Schmerz schien noch schlimmer zu sein als beim ersten Nagel. Hätte er<br />

doch wenigstens Erleichterung daraus schöpfen können, seine Schmerzen hinaus zu brüllen.<br />

Doch der Knebel verhinderte nachhaltig, dass mehr als dumpfe, leise Geräusche von dem Ge-<br />

folterten zu hören waren. Als Jim glaubte, es keine Sekunde länger mehr auszuhalten ohne zu<br />

sterben geschah es. Urplötzlich gab es einen lauten Knall, der Jim heftig zusammenzucken<br />

ließ. <strong>Der</strong> Schmerz ließ nach und Oldham sackte neben ihm zu Boden, ein rotes Loch in der<br />

Stirn! Fassungslos starrte Jim auf den Folterer hinab und sein Blick fuhr herum auf die<br />

Büsche hionter ihm. Seine Augen weiteten sich in unermesslichem Staunen, als plötzlich<br />

Kelly auf die Lichtung trat, ein Gewehr im Anschlag. Hinter ihr erschienen Jin und Miles,<br />

ebenfalls Gewehre in der Hand. Als Jim das realisierte, schluchzte er vor Erleichterung auf.<br />

Die beiden Freunde sicherten wachsam die Umgebung und Kelly trat schnell an die Säule und<br />

befreite Jim erst einmal von dem Knebel. Sie wollte gerade hinter die Säule treten, um die<br />

Fesseln zu lösen, als in der Nähe lautes Brüllen und metallisches Rasseln zu hören war.<br />

Entsetzt keuchte Jim:<br />

„Haut ab! Weg! Verschwindet!“<br />

Kelly sah Jin und Miles an und rief:<br />

„Bringt euch in Sicherheit, los doch.“<br />

Die Beiden rührten sich nicht und Kelly schrie noch einmal:<br />

„Verschwindet!“<br />

- 325 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Zögernd nur setzten sich die Männer in Bewegung. Schließlich wurden sie schneller<br />

und rannten in den Dschungel. Jim keuchte entsetzt:<br />

„Hau auch ab, Kelly, los! Wir müssen hier nicht beide krepieren!“<br />

Die junge Frau schüttelte den Kopf und blieb direkt vor ihm stehen, so dicht, dass er<br />

ihren Körper spürte. Und schon kam das, was sie als Monster bezeichneten, mit der Gewalt<br />

einer Dampflok aus den Büschen vor ihnen auf sie zu gewalzt. Jim schrie!<br />

************<br />

Ich hatte das Gefühl, die Fahrt dauere ewig. Langsam dämmerte es. Endlich stoppte<br />

Miles den Wagen in einem lichten Gebüsch und erklärte:<br />

„Von hier gehen wir zu Fuß.“<br />

Wir sprangen aus dem Auto und griffen uns die Gewehre. Miles ging voran. Er sagte:<br />

„Wir müssen leise sein, okay. Wir wollen sie schließlich überraschen.“<br />

Vorsichtig schlichen wir also durch den Dschungel. Plötzlich hörten wir vor uns in<br />

einiger Entfernung laute klassische Musik. Jin und Miles schwärmten zu den Seiten aus, ich<br />

schlich geradeaus weiter. Und dann sah ich vor mir eine Holzhütte auftauchen. Noch vor-<br />

sichtiger pirschte ich weiter und konnte schließlich um die Hütte herum schauen. Was ich zu<br />

Sehen bekam trieb mir sofort Tränen des Entsetzens in die Augen. Ein grauhaariger Mann trat<br />

gerade vor Jim hin, der an eine Steinsäule gefesselt hilflos dastand. <strong>Der</strong> Typ hielt ihm eine<br />

Zange vor die Nase und erklärte:<br />

„Das war Nummer eins. Neun haben wir noch nach, dass schaffe ich in einer Stunde.<br />

Du hättest es dir lieber doch vorher überlegen sollen.“<br />

Da die kleine Lichtung von hellen Scheinwerfern erhellt wurde, konnte ich selbst auf<br />

die Entfernung die panische Angst und Verzweiflung in Jims Augen erkennen. <strong>Der</strong> Typ ließ<br />

den ausgerissenen Nagel fallen und trat wieder hinter die Säule. Sekunden später begann Jim<br />

sich zu Winden vor Schmerzen. Grinsend schaute Oldham hinter der Säule hervor, um die<br />

Qualen seines hilflosen Opfers besser mit zu bekommen. Etwas in mir machte klick und ich<br />

riss ohne Zögern das Gewehr hoch. Kurz zielte ich, dann drückte ich ab und wusste, ich hatte<br />

den Typen direkt in den Kopf getroffen. Jim zuckte heftig zusammen, als sein Quälgeist<br />

plötzlich neben ihm zusammen brach. Sein Blick flackerte zu mir hinüber und ich sah Un-<br />

glauben und eine unermessliche Erleichterung in ihm.<br />

Schnell rannte ich zu Jim hinüber. Rechts und links kamen auch Jin und Miles aus<br />

dem Gebüsch gestolpert. Sie sicherten die Umgebung, während ich Jim den grässlichen<br />

Knebel, den man ihm in den Mund gestopft hatte, entfernte. Er keuchte vor Schmerzen und<br />

klapperte mit den Zähnen. Ich wollte hinter die Säule treten,<br />

um Jim zu befreien, als hinter uns im Dschungel plötzlich ein<br />

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Frauke Feind<br />

vertrautes, lautes Brüllen und Rasseln zu vernehmen war. Jim begann sofort zu brüllen, dass<br />

wir verschwinden sollten. Ich konnte ihm nur zustimmen und schrie Miles und Jin zu, dass sie<br />

sich in Sicherheit bringen sollten. Nach kurzem Zögern taten sie es. Jim keuchte noch einmal<br />

panisch:<br />

„Hau auch ab, Kelly, los! Wir müssen hier nicht beide krepieren!“<br />

Ruhig schüttelte ich den Kopf und stellte <strong>mich</strong> schützend vor ihn. Und schon stürmte<br />

das Rauchwesen auf die Lichtung und baute sich in Sekundenschnelle turmhoch vor mir auf.<br />

Es senkte sich langsam auf uns herab und Jim schrie entsetzt auf. Ich konnte spüren, wie er<br />

unwillkürlich an seinen Fesseln zerrte, obwohl er genau wusste, dass ihm das nicht helfen<br />

würde. Ich stand still da, eng an Jim gedrückt, und sah dem Rauch entgegen. Leise sagte ich:<br />

„Du wirst ihm nichts tun.“<br />

Ich konnte regelrecht spüren, wie der Rauch in meine Gedanken eindrang und <strong>mich</strong><br />

höhnisch zu fragen schien, warum er Jim nicht hier und jetzt zerreißen sollte. Verzweifelt<br />

sagte ich noch einmal:<br />

„Du hast mir nichts getan, du wirst auch ihm nichts tun!“<br />

Hinter mir war Jim still geworden. Ich wagte nicht, <strong>mich</strong> zu ihm herum zu drehen,<br />

spürte aber seinen rasenden Herzschlag an meinem Rücken und wusste so zumindest, dass er<br />

noch am Leben war. Und plötzlich ritt <strong>mich</strong> der Teufel. Laut und deutlich sagte ich:<br />

„Du wirst ihm jetzt augenblicklich seine Erinnerung wieder geben!“<br />

Ich war mir von einer Sekunde zur Anderen absolut sicher, dass dieses Etwas in<br />

direktem Zusammenhang mit den Gedächtnisverlusten stand.<br />

„Du willst etwas von uns. Also tue es!“<br />

Es hatte den Anschein, als würde der Rauch richtiggehend die Luft anhalten. Plötzlich<br />

brüllte das Wesen vor Wut ohrenbetäubend auf. Ich sah entsetzt, wie es sich auf Jim herab<br />

senkte, der wieder schrie, nun eindeutig vor Schmerzen. Panisch wirbelte ich herum. Hatte ich<br />

<strong>mich</strong> so geirrt? <strong>Der</strong> Rauch waberte um Jims Kopf herum und diesem schoss Blut aus der<br />

Nase. Dann verstummte er plötzlich und sackte in den Fesseln zusammen. Und im selben<br />

Moment brüllte der Rauch noch einmal auf, fuhr herum und verschwand so schnell, wie er<br />

gekommen war.<br />

Ich zögerte keine Sekunde mehr, sondern zog ein Messer aus dem Gürtel, das Miles<br />

mir zusätzlich zu den Waffen in die Hand gedrückt hatte und bückte <strong>mich</strong>. Mit einem<br />

schnellen Schnitt trennte ich das Seil, das Jims Beine an die Säule fesselte, durch. Nun beugte<br />

ich <strong>mich</strong> vor, stemmte meine rechte Schulter in Jims Körper und säbelte mit ausgestrecktem<br />

Arm auch das Seil an seinen Händen mühsam durch. Jim sackte in sich zusammen und ich<br />

ließ ihn so vorsichtig es mir möglich war zu Boden sinken. Hastig riss ich mir den Rucksack<br />

von den Schultern und setzte <strong>mich</strong> auf den Boden. Ich richtete Jim halb auf und lehnte ihn so<br />

an <strong>mich</strong>. Mit zitternden Fingern fummelte ich den Rucksack auf und zog Verbandsmull aus<br />

ihm heraus. Diesen presste ich fest an Jims heftig blutende Nase. Hinter mir hörte ich<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Rascheln im Gebüsch und kurze Zeit später traten Jin und Miles verstört auf die Lichtung.<br />

Neben uns blieben sie stehen.<br />

„Was ist passiert?“, keuchte Miles entsetzt.<br />

„<strong>Der</strong> Rauch hat Jim angegriffen.“, erklärte ich kurz angebunden.<br />

Jetzt zu erklären, was los gewesen war, führte zu weit.<br />

„Könnt ihr den Wagen her holen? Wir müssen ihn hier schnellstens weg schaffen.“<br />

Ich wollte die Beiden einfach eine Weile los werden. Jin nickte.<br />

„Natürlich.“<br />

Schon rannten sie los in den Dschungel. Ich wandte <strong>mich</strong> wieder Jim zu, der immer<br />

noch heftig aus der Nase blutete. Er kam langsam wieder zu sich und ich hatte Angst. Angst<br />

davor, was der Rauch verursacht hatte. Ich hielt Jim fest in meinen Armen, als er stöhnend in<br />

die Höhe schießen wollte.<br />

„Psst, bleib ganz ruhig liegen, Jim. Es ist vorbei.“, sagte ich liebevoll.<br />

Er stöhnte erneut auf und griff sich an den Kopf.<br />

„Mein Schädel ...“<br />

Mit einer Hand angelte ich nach der Wasserflasche in meinem Rucksack und fischte<br />

ein weiteres Stück Verbandmull hervor. Dieses tränkte ich mit Wasser und legte es Jim auf<br />

die Stirn.<br />

Er hustete gequält, da ihm vermutlich Blut den Rachen hinunter lief und versuchte<br />

wieder, sich aufzurichten. Ich hielt ihn sanft fest und wiederholte leise:<br />

„Du musst liegen bleiben, Jim, du hast sehr heftiges Nasenbluten. Dir passiert nichts<br />

mehr, okay, Oldham ist tot. <strong>Der</strong> Rauch ist weg. Du bist in Sicherheit.“<br />

Ganz langsam und vorsichtig öffnete er die Augen. Ich hatte das Gefühl, die Blutung<br />

aus seiner Nase wurde weniger und atmete erleichtert auf. Mit einem Ächzen schloss Jim die<br />

Augen wieder, scheinbar verursachte das helle Scheinwerferlicht Explosionen in seinem<br />

malträtierten Schädel. Aber ich spürte, dass er sich langsam entspannte. Als er nach einigen<br />

Minuten die Augen erneut öffnete, gelang es ihm besser, sie offen zu halten. Und jetzt war ich<br />

auch sicher, dass die Blutung nachließ. Jim sah zu mir auf und sein Blick traf auf mein Ge-<br />

sicht. Plötzlich sagte er leise und vollkommen verwirrt:<br />

„Kelly ...“<br />

In einem Tonfall, der keine Fragen mehr offen ließ. Vor Freude und Erleichterung<br />

kullerten mir Tränen über die Wangen. Jim starrte <strong>mich</strong> fassungslos an. Mühsam fragte er:<br />

„Wieso ... kann ich <strong>mich</strong> plötzlich wieder ... erinnern ...“<br />

Er war noch zu verwirrt, um überhaupt etwas zu begreifen. Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Später, okay, erhole dich erst mal.“<br />

Das Nasenbluten hatte ganz aufgehört, aber ich ließ Jim nicht los. Zu schön war es, ihn<br />

nach so langer Zeit wieder im Arm zu halten. Wäre um uns herum die Insel explodiert, in<br />

diesem Augenblick wäre ich glücklich gestorben!<br />

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Frauke Feind<br />

Jim rührte sich nicht, auch er schien das Gefühl, von mir gehalten zu werden sehr zu<br />

genießen. Schließlich aber richtete er sich langsam auf. Sein Gesicht verzog sich vor<br />

Schmerzen und er ächzte:<br />

„Ich hab ne Birne als hätt ich drei Tage durchgesoffen.“<br />

Ich lachte unter Tränen.<br />

„Hast du nicht, keine Sorge.“<br />

Er sah <strong>mich</strong> an und endlich schien es in seinem Hirn wirklich klick zu machen. Noch<br />

einmal stieß er:<br />

„Kelly ...“, hervor und dann riss er <strong>mich</strong> an sich, so heftig und unerwartet, dass ich<br />

richtig erschrak.<br />

Er hielt <strong>mich</strong> fest und ich umklammerte ihn, als wäre er das Einzige, was <strong>mich</strong> von<br />

einem Sturz in den Tod abhalten würde. Sanft drückte er meinen Kopf ein wenig von sich<br />

weg und seine Lippen küssten meine Augen, meine Wangen, meine Lippen. Wieder und<br />

wieder, sanft und zärtlich, küsste er <strong>mich</strong>. Und ich heulte wie ein Schlosshund. Aber schließ-<br />

lich beruhigte ich <strong>mich</strong> und konnte seine zärtlichen Küssen endlich erwidern. Wir lösten uns<br />

erst von einander, als ein Auto durch das Gebüsch rechts von uns brach. Erschrocken zuckten<br />

wir im Gleichtakt herum, ich riss das achtlos hingeworfene Gewehr hoch, aber es waren nur<br />

Jin und Miles, die wieder zu uns stießen. Als sie uns eng umschlungen am Boden hocken<br />

sahen, weiteten sich ihre Augen verblüfft. Ich stemmte <strong>mich</strong> auf die Füße und zog Jim vor-<br />

sichtig ebenfalls hoch. Schnell bückte ich <strong>mich</strong> und sammelte Gewehr, Rucksack und Wasser<br />

auf.<br />

„Lasst uns hier verschwinden. Wenn Oldham nichts von sich hören lässt, kommen be-<br />

stimmt bald welche von der Initiative nach dem Rechten gucken.“, sagte ich besorgt.<br />

Arm in Arm traten Jim und ich an den Wagen heran und ließen uns auf die Rückbank<br />

sinken. Jin, der am Steuer saß, fragte:<br />

er:<br />

„Wohin?“<br />

Jim hatte sich an <strong>mich</strong> gelehnt und die Augen geschlossen. Vollkommen erledigt sagte<br />

„Zur Caldera ... Da werden sie uns nicht suchen.“<br />

Miles nickte Jin zu.<br />

„Lafleur hat Recht. Los.“<br />

Als der Wagen sich in Bewegung setzte, bat ich Jim:<br />

„Zeig mal deine Hand, Schatz, ich muss deine Finger verbinden. Das blutet zu stark.“<br />

Müde machte Jim sich gerade und hielt mir seine Linke hin. Sein kleiner Finger blutete noch<br />

immer heftig, die Fingerspitzen waren eine gut durchblutete Region. Ich biss mir auf die<br />

Lippe und musste gegen den Hass ankämpfen, der in mir hoch kam. Ich fischte Verbands-<br />

material aus dem Rucksack und reinigte die kleine Wunde gründlich, was Jim erneut Schweiß<br />

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Frauke Feind<br />

aus den Poren trieb. Er stöhnte leise auf. Schnell legte ich eine Schicht Verbandsmull auf und<br />

umwickelte seinen Finger mit Binde. Erleichtert atmete Jim auf und ich bat ihn: „Die andere<br />

Hand auch, okay.“ Zitterig vor Erschöpfung hielt Jim mir also auch die andere Hand hin und<br />

ich sah sofort, dass ich den Nagel ganz würde entfernen müssen. Voller Mitleid sah ich Jim an<br />

und dieser nickte ergeben. Er verstand, was der Blick bedeutete. Unendlich müde schloss er<br />

resigniert die Augen.<br />

„Miles, habt ihr eine Zange bei euch?“, wandte ich <strong>mich</strong> an die Freunde.<br />

Jin nickte.<br />

„Ich habe, Moment.“<br />

Er griff in seine Hosentasche und fischte ein Leatherman heraus, das er mir reichte.<br />

„Kannst du kurz anhalten?“, bat ich ihn und der Koreaner stoppt den Wagen.<br />

anschaute.<br />

Miles und Jin schauten angestrengt aus dem Fenster, während Jim <strong>mich</strong> verzweifelt<br />

„Es tut mir so leid, aber der ist schon zu weit raus, das können wir nicht so lassen.“<br />

Ergeben seufzte Jim und lehnte sich zurück. Er schloss die Augen. Ich öffnete das Multitool<br />

und klappte die kleine Zange auf. Sanft griff ich nach Jims heftig zitternder Hand und setzte<br />

die Zange an dem schon halb ausgerissenen Fingernagel an. Ich schloss selbst kurz die<br />

Augen, dann begann ich entschlossen, so schnell es ging zu ziehen. Jim wimmerte und<br />

keuchte auf vor Schmerzen, seine Linke klammerte sich unwillkürlich an mir fest. Seine<br />

Zähne knirschten aufeinander. Schnell jedoch hatte er es hinter sich. Fix und fertig sackte er<br />

in sich zusammen. Ich legte nun auch hier einen festen Verband an und wir fuhren weiter. Als<br />

ich fertig war, rückte ich ganz an die Tür und zog Jim in eine liegende Position. Sein Kopf<br />

kam auf meinem Schoss zur Ruhe und trotz allem war ich einfach glücklich, ihn wieder zu<br />

haben.<br />

************<br />

29) Daniels Plan<br />

Im Dorf herrschte Aufruhr. Dass jemand Jim befreit hatte, sprach sich wie ein Lauf-<br />

feuer herum. Als Oldham sich nicht gemeldet hatte, waren Radzinsky und Phil zu seiner Be-<br />

hausung zurück gefahren und hatten den Folterer erschossen aufgefunden. Lafleur war ver-<br />

schwunden. Und schnell stellte sich heraus, dass nicht nur Lafleur, sondern auch Kelly, Miles<br />

und Jin verschwunden waren. Miles und Jin waren keine allzu große <strong>Über</strong>raschung, immerhin<br />

waren sie und Lafleur fest befreundet. Aber Kellys Verschwinden warf Fragen auf. Horace<br />

vermutete:<br />

„Sie werden sie gewaltsam gezwungen haben, mit zu kommen.“<br />

Phil widersprach heftig.<br />

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Frauke Feind<br />

„Niemals, die kleine Bitch ist doch verschossen in unseren Helden! Die wird garantiert<br />

mit fliegenden Haaren zu ihm geeilt sein.“<br />

Hasserfüllt fasste Phil sich bei dem Gedanken an Kelly unwillkürlich zwischen die<br />

Beine. Horace überlegte.<br />

„Du könntest Recht haben, sie war ... Verdammter Mist! Wenn die alle zu Alpert sind,<br />

müssen wir uns auf einen <strong>Angriff</strong> vorbereiten. Ich will jeden Mann und jede Frau in Bereit-<br />

schaft haben, verstanden? Informiert die Stationen. Ausgangsverbot für alle, die nicht zur<br />

Security gehören. Bird soll die Galaga startklar machen, wir brauchen dringend Ersatz für<br />

Kelly und Juliet. Und stellt die Suche ein, dass bringt nichts mehr, die haben einen Wagen, sie<br />

werden über alle Berge sein und wenn jemand auf der Insel nicht gefunden werden will, der<br />

sich hier so gut auskennt wie Jim, Miles und Jin, wird er auch nicht gefunden.“<br />

Jack und Hurley hatten die ganze Aufregung ungemein erleichtert beobachtet. Zu<br />

wissen, dass die Freunde in Sicherheit waren, war ein gutes Gefühl. Die Beiden verhielten<br />

sich unauffällig und gingen ihrer Arbeit nach. Drei Tage verstrichen auf diese Weise. Am<br />

Abend des dritten Tages erschien erneut Daniel bei den Beiden am Haus.<br />

„Hallo, Jack. Hast du einen Moment Zeit?“, fragte er und Jack nickte.<br />

„Ich habe schon auf deinen Besuch gewartet.“<br />

Er bat Daniel herein und sie setzten sich zu Hurley ins Wohnzimmer.<br />

„Hallo, Hugo.“<br />

Hurley nickte Daniel zu.<br />

„Dan.“<br />

Daniel sah Jack und Hugo an. Nervös sagte er:<br />

„Ich bin hier, um euch etwas zu erzählen. Ich habe die letzten drei Jahre in Ann Abor<br />

verbracht. Ich habe versucht, mehr über die Zeitsprünge und die elektromagnetische Energie<br />

der Insel herauszufinden. Die Zeitreisen werden durch diese erst möglich. Ich bin zur Arbeit<br />

am Swan eingeteilt worden und dort finden derzeit unter Aufsicht Stuart Radzinskys<br />

Bohrungen zu dieser Energiequelle statt. Ich bin sicher, dass diese Bohrungen und das Auf-<br />

spüren der Energie zu einem Unfall führen werden, der die DHARMA Initiative zwingt, die<br />

Swan Station umzubauen und mit dem Mechanismus auszustatten, der später unter Anderem<br />

von Desmond bedient wird, um weitere Ausbrüche der elektromagnetischen Energie zu ver-<br />

hindern.“ Hurley unterbrach Daniel.<br />

„Du meinst das Eintippen der Zahlen?“<br />

Dan nickte.<br />

„Genau das. Und erst das führt zu dem Absturz eurer Maschine.“<br />

Er machte eine kleine Pause, um seine Worte sacken zu lassen. Aufgeregt fuhr er fort:<br />

„Während unserer Zeitsprünge hier auf der Insel sind wir unter Anderem in 1954 ge-<br />

landet. Wir wurden von den ‟Anderen‟ gefangen und meine Mutter führte <strong>mich</strong> zu einer von<br />

US Militärs zurückgelassenen Wasserstoff-Bombe. Sie verlangten von mir, dass ich diese<br />

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Frauke Feind<br />

entschärfen sollte. Die Bombe war jedoch beschädigt und radioaktives Material drang nach<br />

außen. Ich empfahl, diese Bombe tief in der Erde zu deponieren und einzubetonieren. Da die<br />

Insel 2007 noch existiert, werden sie sich wohl an meinen Rat gehalten haben. Nun zu<br />

meinem Plan. Wenn es uns gelingen würde, die Bombe, oder vielmehr den Zünder der Bombe<br />

zum Swan zu schaffen und in das Bohrloch zu versenken, sollte die Explosion im Stande sein,<br />

die Energiequelle zu zerstören und alle aus dem noch erfolgenden Unfall resultierenden Er-<br />

eignisse zu verhindern.“<br />

************<br />

Jim lag mit dem Kopf auf meinem Schoss und war eingeschlafen vor Erschöpfung. Ich<br />

ließ meine Finger immer wieder sanft durch seine Haare gleiten und hielt ihn mit der anderen<br />

Hand fest. Gegen Mitternacht sagte Jin:<br />

„Wir sind gleich da. Wir sollten Jim wecken, er muss uns sagen, wo er hin wollte.“<br />

Miles schüttelte den Kopf.<br />

„Lass ihn schlafen, er hat es sich verdient. Fahr nach links, da gibt es irgendwann<br />

einen Durchgang in die Caldera hinein. Jim hat ihn mir mal gezeigt. Er liegt versteckt und Jim<br />

hat ihn nur zufällig entdeckt, als er die Gegend kontrolliert hat. In der DHARMA Initiative<br />

weiß keiner von dem Durchgang. Jim hat es in weiser Voraussicht niemandem erzählt. Wir<br />

sollten dort sicher sein.“<br />

Jin nickte.<br />

„Gut, dann bring uns da hin.“<br />

Er fuhr wieder an und knappe zwanzig Minuten später sagte Miles:<br />

„Halt, hier muss es sein. Dort vorne, siehst du?“<br />

Er deutete auf ein dichtes Gebüsch.<br />

„Dahinter ist es.“<br />

Jin hielt den Wagen an und Miles stapfte im Licht der Scheinwerfer zu dem Gebüsch<br />

herüber. Er bog es in der Mitte auseinander und ein Durchgang, breit genug für den kleinen<br />

Geländewagen, tat sich auf. Vorsichtig steuerte Jin den Wagen hindurch und auf der anderen<br />

Seite konnten wir schließlich im Schutz einiger Felsen anhalten. Miles folgte uns und sagte:<br />

„So, jetzt kannst du ihn wecken, Kelly.“<br />

Er und Jin machten sich an der kleinen Ladeluke des Geländewagens zu schaffen und<br />

ich beugte <strong>mich</strong> über Jim. Zärtlich streichelte ich ihm über das zerschlagene Gesicht. Dabei<br />

flüsterte ich:<br />

„Jim, wach auf, Honey, wir sind da.“<br />

Jim zuckte zusammen und fuhr erschrocken hoch.<br />

„Was?“<br />

Ich beruhigte ihn.<br />

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Frauke Feind<br />

„Keine Aufregung, wir sind im Krater. Komm, draußen ist es bequemer für dich.“<br />

Mühsam rappelte Jim sich auf. Steif turnte er aus dem Wagen und ich folgte ihm. Leicht<br />

schwankend stand Jim da und sah abwesend in den Dschungel. Jin und Miles hatten in-<br />

zwischen Schlafsäcke und Decken aus dem winzigen Ladefach gezogen und diese auf dem<br />

Boden ausgebreitet. Ich zog Jim sanft zu einem der Schlafsäcke und sagte liebevoll:<br />

„Komm, leg dich hin, du brauchst unbedingt Ruhe.“<br />

Langsam ließ er sich zu Boden sinken und streckte sich stöhnend auf einem der<br />

Schlafsäcke aus. Er sah <strong>mich</strong> an und ich nickte. Ich schob den zweiten Schlafsack eng an ihn<br />

heran und legte <strong>mich</strong> neben ihn. Wir stopften uns eine zusammengerollte Decke als Kissen<br />

unter die Köpfe, breiteten eine weitere Decke über uns und dann rollte Jim sich zu mir herum.<br />

Er kuschelte sich so eng es ging an <strong>mich</strong> und war Sekunden später bereits wieder ein-<br />

geschlafen.<br />

Wir verbrachten eine halbwegs bequeme Nacht und wachten erst auf, als es schon hell<br />

war. Jim rührte sich nicht, er schlief wie ein Toter. Ich machte <strong>mich</strong> sehr vorsichtig von ihm<br />

los und stand auf. Jin reichte mir eine Wasserflasche und ich nahm einen tiefen Schluck.<br />

Unsere Blicke wanderten wie abgesprochen zu Jim hinüber und Miles sagte hasserfüllt:<br />

„Was sind das nur für Schweine! Und bei so was haben wir drei Jahre lang gelebt.<br />

Was haben sie ihm nur angetan.“<br />

Meine Augen füllten sich mit Tränen. Jetzt, im hellen Licht der Sonne, sah man die<br />

Misshandlungsspuren in Jims Gesicht und die Spuren von Tritten und Schlägen sowie die<br />

Brandmarken von dem Taser überall auf seinem Oberkörper mit grausamer Deutlichkeit.<br />

„Wir werden ein paar Tage hier bleiben müssen, bis er wieder einigermaßen fit ist.“, meinte<br />

Jin.<br />

Ich nickte.<br />

aufzutreiben?“<br />

„Zwei, drei Tage bestimmt. Würdet ihr wohl versuchen, etwas zu Essen und Wasser<br />

Miles und Jin nickten.<br />

„Hatten wir ohnehin vor.“, erklärte Miles.<br />

Sie ließen mir Waffen, Wasser und die Tasche mit dem Verbandsmaterial da und<br />

machten sich mit dem Wagen auf den Weg.<br />

Als sie verschwunden waren, kniete ich <strong>mich</strong> neben Jim und seufzte. Er hatte sich auf<br />

den Rücken gerollt und von der Decke frei gestrampelt, es war warm genug. Ich legte ihm<br />

sanft eine Hand auf die Stirn und atmete erleichtert auf. Sie war nicht heiß, also hatte er wohl<br />

kein Fieber. Allerdings zuckte er unter meiner Berührung zusammen und fuhr mit einem<br />

keuchenden Aufschrei in die Höhe. Panisch sah er sich um. Schließlich fiel sein Blick auf<br />

<strong>mich</strong> und er seufzte erleichtert auf. Langsam ließ er sich wieder in die Waagerechte sinken<br />

und stöhnte leise.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Oh, man, mir tut alles weh. Diese elenden Schweine.“<br />

Er hielt mir seine Rechte hin und ich griff vorsichtig danach. Lange sah er <strong>mich</strong><br />

schweigend an. Leise meinte er endlich:<br />

„Ich kapier das alles nicht. Was ... Ich meine, du bist schon solange im Dorf gewesen,<br />

warum hab ich <strong>mich</strong> nicht an dich erinnert? Und Jack, Kate, Hurley, Sayid ... Die auch nicht.“<br />

Ich strich ihm zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn und sagte:<br />

„Du solltest dich erst mal ausruhen, du hast es bitter nötig. <strong>Über</strong> all das können wir<br />

später reden, wenn es dir besser geht.“<br />

Gedankenverloren schaute er <strong>mich</strong> an und nickte.<br />

„Ist wohl besser, ich schnall sowieso nichts im Moment.“<br />

Er lag einige Minuten still, doch plötzlich schoss er hoch.<br />

„Was ist mit Juliet?“, fragte er erschrocken.<br />

Ich lächelte.<br />

„Keine Sorge, sie ist in Sicherheit. Sie haben sie nach Tahiti geschafft. Sie hat dort die<br />

Galaga verlassen und ...“<br />

sein!“<br />

„Sie ist weg von der Insel?“, hakte Jim nach.<br />

„Ja, Schatz, das ist sie. Sie ist in Sicherheit und wird leben.“<br />

„Gott, ich danke dir.“, seufzte Jim unendlich erleichtert.<br />

Betroffen sah er <strong>mich</strong> an.<br />

„Du hast dich erinnert, richtig?“<br />

Ich nickte.<br />

zu können ...“<br />

„Kelly ... Das muss ... Verfluchte Scheiße, dass muss die Hölle für dich gewesen<br />

Ich nickte langsam.<br />

„Das war es, ja. Dich Tag für Tag zu sehen, dir so nahe zu sein und doch nicht zu dir<br />

„Darum hast du im Fieber immer wieder Jim gesagt. Ich versteh nicht, wieso ich das<br />

nicht kapiert hab.“<br />

gelöscht.“<br />

Bestürzt sah er <strong>mich</strong> an.<br />

„Kelly, ich ...“<br />

Ich legte ihm zärtlich einen Finger auf die geschwollenen Lippen.<br />

„Psst, vergiss es. Das ist nicht deine Schuld.“, sagte ich liebevoll.<br />

„Es fühlt sich aber genauso an!“, stieß Jim heftig hervor.<br />

Unglücklich sah er <strong>mich</strong> an.<br />

„Nein, da kannst du nichts für, ihr alle nicht. Etwas hat euch die Erinnerung aus-<br />

Zögernd erwiderte er:<br />

„<strong>Der</strong> Rauch ...“<br />

- 334 -


Ich nickte.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Dieses Ding hat zumindest etwas damit zu tun.“<br />

Egal, wie kaputt er auch war, fing er doch an, zu überlegen.<br />

„Das Letzte, an das ich <strong>mich</strong> erinnere, bevor wir in der DHARMA Initiative waren,<br />

ist, dass du ... verschwunden warst. Dass du allein los bist, in die Höhle, zu dem verdammten<br />

Rad. Ich hab es viel zu spät gemerkt, bin dir nach. Aber ich hab dich nicht mehr eingeholt. Ich<br />

hab nur noch ein grelles Licht gesehen und dann ...“<br />

Er fasste sich an die Stirn und seufzte gequält.<br />

„Dann waren wir im Dorf.“<br />

Ich nickte. Im Kopf hallte mir Jims verzweifelter Schrei nach.<br />

„Ja, ich bin im Dschungel aufgewacht, tagelang herum geirrt und irgendwann zu-<br />

sammen gebrochen. Da hast du <strong>mich</strong> dann gefunden.“<br />

Jims Griff an meiner Hand wurde fester und er sagte leise:<br />

„Als mir klar wurde, dass ich es nicht mehr schaffen würde, dich aufzuhalten, dachte<br />

ich, ich dreh durch.“<br />

Er übte sanften Zug auf meinen Arm aus und ich ließ <strong>mich</strong> nur zu gerne neben ihn<br />

ziehen. Ganz sanft und vorsichtig küsste ich seine geschwollenen Lippen, aber er zog <strong>mich</strong><br />

fester an sich und nahm keine Rücksicht darauf, dass ihm vermutlich alles wehtat. Wir<br />

konnten uns minutenlang nicht von einander lösen.<br />

Schließlich fielen Jim aber die Augen wieder zu und ich kuschelte <strong>mich</strong> eng an ihn.<br />

Nach einigen Minuten verrieten mir seine ruhigen Atemzüge, dass er wieder eingeschlafen<br />

war. Ich überlegte ernsthaft, <strong>mich</strong> ein wenig umzusehen, aber das hätte bedeutet, Jim alleine<br />

zu lassen und dazu war ich nicht fähig. Schon <strong>mich</strong> vorsichtig aus seinen Armen zu lösen<br />

forderte mir alle Selbstüberwindung ab, derer ich im Augenblick fähig war. Langsam stand<br />

ich auf und überlegte, was ich tun konnte, während er schlief. Und ich dachte daran, wie es<br />

weiter gehen sollte. <strong>Der</strong> Zeitablauf war anders als sonst, aber irgendwann musste es zu dem<br />

Ereignis kommen, dass wir verhindern sollten. Dass Daniel inzwischen wieder eingetroffen<br />

war, hatte ich nicht mit bekommen. So wusste ich nichts davon, dass er und Jack bereits dabei<br />

waren, Pläne zu Schmieden. Vielleicht war es das Beste, zu Richard und seinen Leuten zu<br />

gehen, denn dort würde Daniel über kurz oder lang auftauchen müssen. Wollte er den Zünder<br />

der Bombe haben, musste er dort erscheinen. Ob Kate und Sayid bei den ‟Anderen‟ an-<br />

gekommen waren, wussten wir auch nicht. Es war durchaus möglich, dass sie sich dagegen<br />

entschieden hatten und irgendwo im Wald campierten. Immerhin waren sie in die Gescheh-<br />

nisse ebenfalls voll involviert. Wenn die Erinnerungen bei ihnen nicht auch irgendwie<br />

zurückkehrten, hatten Jim und ich das zusätzliche Problem, sie davon überzeugen zu müssen,<br />

von ihrem Plan abzulassen. Alles in allem keine schönen Aussichten für die nahe Zukunft.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Jim schlief eine ganze Weile, was ich sehr begrüßte. Jin und Miles kamen gegen Mit-<br />

tag zurück und hatten jede Menge Früchte und Wasser bei sich. Jim wachte auf, als sie in<br />

unser provisorisches Camp gefahren kamen. Mühsam kam er auf die Beine. Auf seinem<br />

gesamten Oberkörper zeichneten sich neben Blutergüssen durch die eingesteckten Schläge<br />

deutlich kleine Brandmale ab, die von dem Taser herrührten, mit dem Oldham ihn gefoltert<br />

hatte. Ich spürte erneut Wellen von Hass in mir und war dankbar dafür, dass ich den Drecks-<br />

kerl hatte töten können. Jim spürte meinen Blick und sagte:<br />

„Halb so wild, das ist schon vergessen.“<br />

Er sah Jin und Miles ernst an und sagte mit belegter Stimme:<br />

„Ich hab noch keine Gelegenheit gehabt, euch vernünftig dafür zu danken, dass ihr mir<br />

geholfen habt. Ihr habt dafür beide euer Leben im Dorf aufgegeben. Dank. Danke, dass ihr<br />

<strong>mich</strong> da raus geholt habt.“<br />

Verlegen grinste Miles.<br />

„Na, Kelly hätte <strong>mich</strong> kastriert wenn ich nein gesagt hätte.“<br />

Ich grinste.<br />

„In kleine Streifen hätte ich dich geschnitten.“, sagte ich überzeugt.<br />

Jin schüttelte den Kopf.<br />

„Das war doch selbstverständlich. Wir konnten ja sonst nicht viel machen.“<br />

Wir setzten uns auf den Boden und ich fragte Jim:<br />

„Wie fühlst du dich?“<br />

Er lachte sarkastisch.<br />

„Na, wie schon. Als wäre ich stundenlang gefoltert worden?“<br />

Er sah mein Erschrecken und meinte beruhigend:<br />

„Mach dir keine Sorgen, es geht schon besser. Die Finger tun weh, aber alles andere<br />

ist soweit in Ordnung.“<br />

Wir machten zwei Tage Pause im Krater, Tage, in denen Jim sich schnell erholte. Jin<br />

und Miles ließen uns viel alleine, sie untersuchten die Caldera gründlich, kontrollierten die<br />

Umgebung und gaben Jim und mir Gelegenheit, alleine zu sein. Zeit, die wir dringend<br />

brauchten und Zeit, die wir nutzten. Viel reden taten wir nicht. Es reichte uns einfach, zu-<br />

sammen zu sein. Den ersten Tag verbrachte Jim überwiegend in der Waagerechten, am späten<br />

Vormittag des zweiten Tages zog er <strong>mich</strong> mit sich, tiefer in die Caldera hinein. Er zeigte mir<br />

eine Stelle, von der aus man die ganze riesige Senke überblicken konnte. Es war ein traumhaft<br />

schöner Anblick. Ich drängte <strong>mich</strong> eng an seinen Körper und sagte leise:<br />

beinhalten?“<br />

„Wie kann etwas so wunderschönes nur gleichzeitig etwas so Grausames und Brutales<br />

Jim zuckte die Schultern.<br />

- 336 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich glaub, gut und böse liegen immer so eng nebeneinander, es ist nur nicht überall so<br />

offensichtlich zu spüren. Komm, ich zeig dir noch was.“<br />

Er zog <strong>mich</strong> mit sich und vielleicht eine Stunde später, in der wir beständig dem Rand<br />

des Kessels talwärts gefolgt waren, lag plötzlich ein kleiner See vor uns. Ich sagte über-<br />

wältigt:<br />

„Bist du ein Wasserdetektor oder wieso findest du hier immer die schönsten Seen?“<br />

Jim lachte. Das erste Mal überhaupt, seit wir ihn befreit hatten. Er zog <strong>mich</strong> an sich,<br />

sah mir ins Gesicht und sagte todernst:<br />

„Ich bin gerne sauber, weißt du, darum finde ich jede Bademöglichkeit.“<br />

Ganz langsam fing er an, meine Bluse aufzuknöpfen und streifte sie mir schließlich<br />

über die Schultern. Lächelnd griff er um <strong>mich</strong> herum und fummelte am Verschluss meines<br />

BHs herum, bis er auch diesen geöffnet hatte. Sekunden später lag er neben der Bluse im<br />

Gras. Jims Hände glitten streichelnd über meinen Oberkörper und ich wagte nicht, <strong>mich</strong> zu<br />

rühren, aus Angst, er würde aufhören. Meine eigenen Hände glitten über seinen Rücken,<br />

spürten seine warme, weiche Haut, die Gänsehaut, die sich auf ihr unter meinen Händen<br />

bildete. Ich ließ meine Hände nach vorne gleiten und öffnete langsam Jims Jeans. Als ich es<br />

geschafft hatte, streifte ich diese über seine Hüften nach unten. Bei dieser Gelegenheit ver-<br />

schwand auch gleich sein Boxershort. Offensichtlich hielt Jim dies für eine gute Idee, denn er<br />

machte mit meiner Jeans das Gleiche. Umständlich befreiten wir uns selbst nun noch von<br />

unseren Schuhen und Strümpfen. Dann nahm Jim <strong>mich</strong> an der Hand und zog <strong>mich</strong> Richtung<br />

Wasser.<br />

<strong>Der</strong> See war erstaunlich kalt und ich zuckte zusammen, als das Wasser Sekunden<br />

später über mir zusammen schlug. Lachend und zähneklappernd kam ich wieder an die Ober-<br />

fläche. Jim tauchte neben mir auf und schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht. Die<br />

Schwellungen gingen langsam zurück und durch das Wasser lösten sich nun Verkrustungen,<br />

die sich über den Platz- und Schürfwunden gebildet hatten. Ich schwamm zu ihm und schlang<br />

meine Arme seufzend um seinen Hals. Wir küssten uns und unsere Hände strichen über<br />

unsere Körper, rieben Schmutz, Schweiß und alles fort, was uns belastete. So kam es mir<br />

jedenfalls vor. Als ich vor Kälte anfing zu zittern, zog Jim <strong>mich</strong> zurück zum Ufer. Er nahm<br />

<strong>mich</strong> auf den Arm und trug <strong>mich</strong> auf den Grasstreifen, der den See umgab. Vorsichtig ließ er<br />

sich mit mir auf den Boden sinken und plötzlich lagen wir eng umschlungen da, küssten uns<br />

wie Ertrinkende. Fast schien es, als würde uns erst jetzt bewusst, dass wir einander wieder<br />

hatten. Ich seufzte:<br />

„Gott, ich habe dich so sehr vermisst ...“<br />

Jims Gesichtsausdruck wurde traurig und er sagte leise:<br />

„Ich hab ein derart schlechtes Gewissen ...“<br />

Ich verschloss ihm die Lippen mit einem weiteren Kuss und sagte ärgerlich:<br />

- 337 -


stehst du?“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Nun hör schon auf damit, dir die Schuld zu geben. Du kannst nichts dafür, Jim, ver-<br />

Um ihm klar zu machen, dass ich ihm keinen Vorwurf machte, ließ ich meine Lippen<br />

langsam an seinem nassen Körper herab gleiten. Ich spielte kurz mit seinen Brustwarzen und<br />

rutschte tiefer und tiefer. Jim lag still da und hielt die Luft an, als ich schließlich das Ziel<br />

seiner Wünsche erreicht hatte. Erregt stöhnte er auf. Ich ließ meine Zunge sanfte Kreise<br />

ziehen und Jim wand sich im Gras. Zwischen meinen Beinen pulsierte die Erregung und<br />

schließlich ließ ich <strong>mich</strong> langsam und sinnlich auf ihn gleiten. Jim bäumte sich mir entgegen<br />

und keuchte. Unsere Bewegungen wurden schneller und kurz vor dem Höhepunkt ließ ich<br />

<strong>mich</strong> nach vorne auf seinen Körper sinken. Für einen Moment waren wir im Himmel, ver-<br />

gaßen, wo wir wirklich waren, was bereits geschehen war, und vor allem, was noch ge-<br />

schehen würde. Wir hatten bisher so wenig Gelegenheit gehabt, uns unsere Liebe zueinander<br />

auch körperlich zu zeigen und wie es aussah, würde es auch in Zukunft auf gestohlene<br />

Momente hinauslaufen.<br />

Später lagen wir halb aufeinander im Gras und genossen die Nähe des Anderen. Ich<br />

beugte <strong>mich</strong> ein wenig über Jim, küsste zart seine geschlossenen Augen, seine Wangen, seine<br />

Lippen und flüsterte:<br />

„Du ahnst nicht, wie sehr ich dich liebe. Ich würde ohne zu Zögern für dich sterben.“<br />

Jim öffnete die Augen und ich sah, dass sie feucht schimmerten.<br />

„Das würde ich für dich auch. Ich hab nur ein schlechtes Gewissen wegen Jules.“<br />

Das konnte ich sogar verstehen. Sie hatte mir unendlich leid getan, wusste ich doch<br />

nur zu genau, wie sie sich gefühlt haben musste, als man sie brutal von Jim weg riss. Ich<br />

seufzte.<br />

„Jim, das kann ich verstehen, wirklich. Ich mag sie sehr. Auch, wenn ich sie ab und zu<br />

zum Mond gewünscht habe. Du hast keine Vorstellung, wie schwer es war, euch zu be-<br />

obachten.“<br />

Ich konnte jetzt darüber lachen.<br />

„Sie muss durch die Hölle gegangen sein. Aber Juliet ist eine ungemein starke Persön-<br />

lichkeit, sie wird es schaffen.“<br />

Jim nickte langsam.<br />

„Ich denke auch. Ich bin ein schrecklicher Mensch, aber ich bin einfach nur unendlich<br />

dankbar, dass ich dich wieder hab. Weder Juliet noch Kate noch irgendwer sonst kann dich<br />

ersetzen. Ich werd dich nie wieder weg lassen.“<br />

Ich blieb noch einen Moment an ihn geschmiegt liegen. Schließlich erklärte ich:<br />

„Ich würde gerne die Verbände von deinen Fingern entfernen. So etwas heilt am<br />

besten an der Luft. Jetzt sind sie nass und durchgeweicht, ich sollte sie gut abbekommen.“<br />

„Okay, Doc, dann mal los.“, meinte Jim und hielt mir liegend seine Rechte hin.<br />

- 338 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ich wickelte den nassen Verband ab und merkte, dass Jim sich verkrampfte. Zu frisch<br />

war die Erinnerung an den Schmerz noch, als dass er ganz locker hätte bleiben können.<br />

„Ich bin ganz vorsichtig, das verspreche ich dir.“, sagte ich beruhigend.<br />

Er lachte etwas verkniffen.<br />

„Versprochen?“<br />

„Absolut.“<br />

Ganz vorsichtig hob ich die Wundauflage an. Ich hatte Recht gehabt, sie war durch-<br />

weicht und hatte die Kruste, die sich über der kleinen Wunde gebildete hatte, ebenfalls auf-<br />

geweicht. Ganz langsam und behutsam entfernte ich die Auflage und Jim atmete unwillkür-<br />

lich erleichtert auf, als sie ganz herunter war. Nun machte ich gleich an der anderen Hand<br />

weiter. Hier ziepte es ein wenig, einige Fasern lösten sich nicht sofort. Aber schließlich war<br />

auch der Verband ganz ab. Ich sah mir die Finger an und nickte zufrieden.<br />

„Es wird noch einige Tage wehtun, aber dann wird die Haut verhärten und unempfind-<br />

lich werden.“, erklärte ich.<br />

„Du bist der Doc, Doc.“, schmunzelte Jim und zog <strong>mich</strong> wieder an sich.<br />

************<br />

Jack und Hurley sahen Daniel bestürzt an.<br />

„Und du meinst, das funktioniert, Alter?“, fragte Hugo unsicher.<br />

Faraday nickte.<br />

„Ja, davon bin ich überzeugt.“<br />

Jack sah skeptisch aus.<br />

„Du meinst also, dann würde der Absturz nie stattfinden? Wir würden planmäßig in<br />

LA landen? Ist das richtig.“<br />

„Ja, Jack, genauso wird es laufen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Ihr würdet in<br />

LA ankommen und nichts von alledem hier würde geschehen.“<br />

geschehen?“<br />

Jack nickte langsam.<br />

„Gut, gehen wir aber mal davon aus, dass es nicht so funktioniert. Was würde dann<br />

Daniel seufzte.<br />

„Im schlimmsten Falle würde die Energie frei gesetzt und wir wären da, wo wir jetzt<br />

sind. Aber meinen Berechnungen nach muss es funktionieren. Davon bin ich wirklich über-<br />

zeugt, sonst würde ich eine so gefährliche Idee nicht vorschlagen.“<br />

Jack überlegte. Langsam sagte er:<br />

„Die Bombe ist bei den ‟Anderen‟, sie ist versteckt, vergraben, wie auch immer. Wie<br />

willst du an sie heran kommen?“<br />

Entschlossen erwiderte Daniel:<br />

- 339 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich werde zu Richard gehen und ihn zwingen, mir die Bombe auszuhändigen.<br />

Vielleicht kann ich ihm klar machen, wofür ich sie benötige. Er ist intelligent, kein Killer wie<br />

Ben später sein wird. Meine Mutter ist bei ihm, sie müsste jetzt fast vierzig sein. Wenn er es<br />

nicht freiwillig macht, werde ich ihn mit Waffengewalt zwingen.“<br />

Hurley und Jack sahen Daniel besorgt an.<br />

„Das Ganze ist ein Himmelfahrtskommando. Du hast keine Ahnung, was wirklich<br />

passiert, wenn die Bombe im Bohrloch der elektromagnetischen Energie gezündet wird. Es<br />

kann genauso gut sein, dass es uns alle zerfetzt. Möglich ist auch, dass Richards Leute uns<br />

einfach zusammen schießen. Oder die Leute der DHARMA Initiative auf der Baustelle dies<br />

übernehmen. Alles in allem sind unsere Chancen, es zu überleben, sehr gering, so sehe ich das<br />

jedenfalls. Aber ... ich denke, ich werde dir trotzdem helfen.“<br />

Daniel atmete erleichtert auf.<br />

„Du hast die richtige Entscheidung getroffen, Jack, du wirst sehen, mein Plan wird<br />

funktionieren. Ich werde zur Baustelle zurück gehen und beobachten, wie weit die Bohrung<br />

ist. Ich schätze, in drei Tagen ist der Bohrkopf genau über der Quelle, das wäre der perfekte<br />

Zeitpunkt. Wenn du es schaffst, bis dahin zum Swan zu kommen, gehen wir gemeinsam zu<br />

Richard, holen den Sprengkopf, kehren damit zur Baustelle zurück und vernichten die Energie<br />

für immer.“<br />

Er sah Jack an und dieser nickte.<br />

„Hugo, bist du dabei?“, fragte der Arzt.<br />

Hurley sah immer noch sehr bestürzt aus, doch er nickte.<br />

„Wenn wir dadurch aus dieser ganzen Scheiße hier ein für alle Mal raus kommen, auf<br />

jedem Fall, Alter.“<br />

Faraday sagte:<br />

„Gut, es wäre wichtig, dass ihr Waffen mitbringt. Schafft ihr das?“<br />

Jack nickte entschlossen.<br />

„Ja, wir werden es irgendwie schaffen, verlass dich auf uns. Wir sehen uns in drei<br />

Tagen am Swan.“<br />

************<br />

30) Aufarbeitung<br />

Miles und Jin saßen uns gegenüber und lauschten immer verwirrter unserer<br />

Geschichte. Jim und ich hatten uns entschlossen, ihnen vorbehaltlos alles zu erzählen.<br />

Fassungslos hörten sie zu und besonders Jin war erschüttert.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Sun ist ganz sicher nicht mit euch in 1969 gelandet, und ich auch nicht?“<br />

Ich nickte.<br />

„Richtig, und auch Hurley war nicht bei uns. Wir waren lange genug bei Richard,<br />

wäret ihr auch dort gelandet, ihr wäret entdeckt worden.“<br />

Jim stimmte mir zu.<br />

„Hör mal, Jin-Bo, mach dir keine Sorgen um deine Lotusblüte, ihr seid zumindest da<br />

zusammen geblieben, so viel ist sicher. Wir sollten uns lieber Gedanken machen, wie wir das<br />

mit der Bombe verhindern können.“<br />

Miles nickte.<br />

„Okay, alles kapieren werden wir sowieso nicht. Ich denke, wir sollten uns aufteilen.<br />

Jin und ich werden die Baustelle überwachen, Kelly und du, ihr solltet zu Alpert gehen und<br />

dort auf Faraday und Jack warten. Vielleicht findet ihr Kate und Sayid auf die Weise auch und<br />

könnt sie überzeugen, nicht zu helfen.“<br />

Jim nickte.<br />

„Und vielleicht können wir auch verhindern, dass Ellie ihren eigenen Sohn über den<br />

Haufen schießt. Gut, dann lasst es uns in <strong>Angriff</strong> nehmen.“<br />

Wir brachen unser kleines Camp also ab und machten uns mit dem Geländewagen auf<br />

den Weg zur Swan Station. Schließlich sagte Jim:<br />

„Hier könnt ihr uns rauswerfen. Passt auf euch auf.“<br />

Jin hielt den Wagen an und Jim und ich stiegen aus. Als wir den Wagen nachsahen,<br />

der weiter fuhr, schoss mir unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf, dass Jim und ich wirk-<br />

lich das allererste Mal, seit wir zusammen waren, vollkommen alleine waren. Jim sah <strong>mich</strong> in<br />

diesem Moment an und zog <strong>mich</strong> an sich. Leise und liebevoll sagte er:<br />

„Weißt du was, Dr. Quinn? Ich hab dich das erste Mal seit LA ganz für <strong>mich</strong> alleine.“<br />

Ich lachte. Er hatte also genau den gleichen Gedanken gehabt wie ich. Und wenn wir auch in<br />

permanenter Lebensgefahr und in einer vollkommen irren Situation steckten, war das doch ein<br />

absolutes Highlight für uns!<br />

Ich schlang ihm die Arme um den Hals und sagte:<br />

„Genau das Gleiche habe ich auch gerade gedacht. Wir sind furchtbar. Wir stecken in<br />

der Hölle und denken nur an den Himmel.“<br />

Jim grinste, dass seine Grübchen zuckten.<br />

„Hey, das ist ja wohl unser gutes Recht. Das haben wir uns mehr als verdient. Wir<br />

bleiben heut Nacht hier im Wald und ich werd dir den Himmel auf Erden bescheren, was<br />

hältst du davon?“<br />

Ich sah <strong>mich</strong> um. Still und unheimlich lag der Urwald vor uns wie eine grüne Mauer.<br />

Irgendwo steckte das Rauchmonster, die Schergen der DHARMA Initiative suchten uns ver-<br />

mutlich wie die berühmte Stecknadel im Heuhaufen, um uns alle umzubringen, wir bereiteten<br />

uns darauf vor, die Explosion eine H-Bombe zu verhindern und waren auf dem Weg zu<br />

- 341 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Leuten, die uns auch nicht gerade mit offenen Armen empfangen würden, und doch war ich<br />

einfach nur glücklich. Grinsend sagte ich:<br />

„Na, ich kann es kaum erwarten.“<br />

Wir setzten uns in Bewegung und marschierten lange durch den Dschungel, immer<br />

genau unsere Umgebung in den Augen behaltend. Dann lauschte Jim plötzlich und zog <strong>mich</strong><br />

schließlich eilig vorwärts. Und schon lag der kleine See mit dem Wasserfall vor uns in der<br />

Abendsonne.<br />

„Aha, mein Wasserdetektor schlägt wieder zu.“, schmunzelte ich.<br />

Jim sah <strong>mich</strong> todernst an. <strong>Über</strong>zeugend erklärte er:<br />

„Vor dem Sex ist Baden doch was sehr Angenehmes.“<br />

Ich tat erstaunt.<br />

„Sex? Hier? Du spinnst wohl.“<br />

Anzüglich grinsend zog er <strong>mich</strong> mit sich zu der Stelle, wo wir uns das allererste Mal<br />

überhaupt geliebt hatten. Und schon machte er kurzen Prozess. Es war erstaunlich, wie<br />

schnell er sich und <strong>mich</strong> aus den Kleidungsstücken gefummelt hatte.<br />

„Komm schon, letztes Mal wolltest du nicht mit mir Baden. Heute wirst du dich nicht<br />

Sträuben, oder?“<br />

Ich ließ meine Blicke über seine nackten Körper gleiten und war erneut verzückt von<br />

dem Anblick. Entschieden schüttelte ich den Kopf.<br />

„Nein, ganz bestimmt nicht.“<br />

Minuten später schwammen wir nebeneinander auf den Wasserfall zu und ließen dort<br />

das herabfallende Wasser auf unsere Köpfe prasseln. Es war ein herrliches Gefühl. Sauber<br />

und kühl regnete es auf uns nieder und wir blieben einige Minuten, wo wir waren. Schließlich<br />

schwammen wir langsam zum Ufer zurück. Kurz rubbelten wir uns gegenseitig ab, einfach<br />

nur mit den Händen, stiegen aus dem Wasser heraus und ließen uns auf eine der beiden<br />

Decken sinken, die wir mitgenommen hatten. Jim streckte sich gemütlich aus und ich be-<br />

trachtete seinen Körper. Deutlich waren noch die Spuren der Misshandlung zu sehen. Blaue<br />

Flecke, Blutergüsse und die Brandmarken des Tasers sprangen mir regelrecht in die Augen.<br />

Meinem Gesicht war wohl anzusehen, was ich dachte, denn Jim sagte ruhig:<br />

„Baby, das ist vorbei, dank dir, okay.“<br />

Mir schossen Tränen in die Augen und ich flüsterte verzweifelt:<br />

„Wenn wir nicht solange gebraucht hätten, hätte ich dir das ersparen können ...“<br />

Jim sah <strong>mich</strong> ruhig an.<br />

„Hey, Schwester Hathaway, du hast den Dreckskerl getötet, was besseres hättest du<br />

noch machen können? Du hast mir so vieles erspart.“<br />

„Aber ich habe es nicht geschafft, zu verhindern, dass er ... dass er ... Er hat dir so<br />

schrecklich wehgetan.“<br />

- 342 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Es war, als würde das Wissen, dass Oldham Jim gefoltert hatte, erst jetzt wirklich in<br />

mein Hirn vordringen. Verzweifelt schluchzte ich los und Jim setzte sich erschrocken auf, zog<br />

<strong>mich</strong> an sich.<br />

„Du musstest so leiden ...“, wimmerte ich vollkommen aufgelöst.<br />

Jim war angesichts meines plötzlichen Ausbruchs ein wenig hilflos. Er hielt <strong>mich</strong> fest<br />

an sich gedrückt und streichelte mir zärtlich über den zuckenden Rücken. All das, was ich in<br />

den letzten Wochen angesammelt hatte, brach plötzlich mit Macht aus mir heraus. Die Vor-<br />

stellung, dass Jim dort an der Säule gefesselt vor Schmerzen geschrien hatte, oder besser ge-<br />

schrien hätte, wäre er nicht durch den Knebel stumm gemacht worden, warf <strong>mich</strong> nun voll-<br />

kommen um. Zitternd und schluchzend klammerte ich <strong>mich</strong> an ihn. Er versuchte sehr besorgt,<br />

<strong>mich</strong> irgendwie zu beruhigen, aber gegen meinen Ausbruch hatte er keine Chance. Diese<br />

ständigen Wechselbäder der letzten Tage, mal unendliche Erleichterung, sofort wieder ab-<br />

gelöst von hoffnungsloser Verzweiflung, die beständige Angst um Jim, all das musste<br />

irgendwann hervor brechen. Hilflos schluchzend hing ich an ihm und es dauerte eine Ewig-<br />

keit, bis ich <strong>mich</strong> auch nur halbwegs beruhigt hatte. Immer wieder zuckte das Bild von Jim,<br />

sich windend vor Schmerzen, an die Steinsäule gefesselt, hilflos, wehrlos, hoffnungslos, ver-<br />

zweifelt, durch meinen Kopf. Ich hatte es in den letzten Tagen erfolgreich verdrängt, zu groß<br />

war die Freude darüber, dass Jims Erinnerung wieder aktiviert worden war, gewesen. Doch<br />

jetzt brach es durch und malträtierte <strong>mich</strong> höhnisch. Irgendwann hatte ich schlicht nicht mehr<br />

die Kraft, weiter zu weinen. Vollkommen ausgelaugt hing ich in Jims Armen und zitterte wie<br />

Espenlaub. Er angelte mit einer Hand nach der zweiten Decke und zog diese um uns. So ließ<br />

er sich langsam in die Waagerechte sinken und zog <strong>mich</strong> mit sich. Ich wickelte Arme und<br />

Beine um ihn, hätte ich gekonnt, ich hätte ihn in <strong>mich</strong> aufgesaugt.<br />

sehen ...“<br />

Sanft fragte Jim <strong>mich</strong>:<br />

„Na, geht‟s wieder?“<br />

Leise wimmerte ich:<br />

„Nicht wirklich. Du machst dir überhaupt keine Vorstellung, wie es war, dich so zu<br />

Ich hatte meinen Kopf auf seine Brust gelegt und konnte hören, wie sein Herzschlag<br />

sich beschleunigte.<br />

„Kann ich schon, wenn ich‟s mir anders herum vorstell ...“, sagte er leise und zog<br />

<strong>mich</strong> ebenfalls noch enger an sich.<br />

„Aber der Mistkerl ist in den ewigen Jagdgründen, er wird weder mir noch dir noch<br />

irgendwem mehr was tun, Sheena.“<br />

„Es ging viel zu schnell!“, stieß ich hasserfüllt hervor. „Ich hätte ihn nur verletzen<br />

sollen und langsam und qualvoll töten.“<br />

- 343 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Nie hätte ich mir zugetraut, so abgrundtiefen Hass für einen Menschen zu empfinden.<br />

Jim gab ein leises Lachen von sich.<br />

„Ich hab nen schlechten Einfluss auf dich, hab ich den Eindruck. Solche Gedanken<br />

solltest du nicht haben.“<br />

Er zuckte zusammen, weil er gegen den kleinen Finger seiner linken Hand gekommen<br />

war und schimpfte:<br />

„Verflucht noch mal, hast Recht, der Kerl ist wirklich zu schnell gestorben.“<br />

Ich kämpfte immer noch mit meinen überschäumenden Emotionen und merkte, dass<br />

mir schon wieder Tränen in die Augen schossen.<br />

„Wäre ich schneller bei dir gewesen ...“<br />

Jim unterbrach <strong>mich</strong> ärgerlich.<br />

„Nun mach mal nen Punkt. Ich brauch bald ne Strichliste, damit ich mir merken kann,<br />

wie oft du mir schon den Arsch gerettet hast. Wenn du Miles nicht in den Hintern getreten<br />

hättest, dich zu fahren, hätt ich jetzt keinen einzigen Fingernagel mehr. <strong>Der</strong> Kerl hätte <strong>mich</strong><br />

vermutlich in Streifen geschnitten.“<br />

Ich spürte Jim zittern und komischerweise gab mir das Kraft.<br />

„Du hast Recht, Babe, er ist tot, er kann dir nichts mehr tun.“, sagte ich beruhigend.<br />

Jim schwieg eine Weile, dann spürte ich, wie er tief einatmete. Er hatte sich bisher<br />

ebenfalls noch nicht zu dem geäußert, was er empfunden hatte. Jetzt kam es auch beim ihm an<br />

die Oberfläche.<br />

„Als sie <strong>mich</strong> im Videoraum zusammengeschlagen haben dachte ich, wenn ich durch-<br />

halte würd vielleicht noch n Wunder geschehen. Dich da zu sehen war fast eins. Die Genug-<br />

tuung, dabei zu sein, als du Phil die Eier weggetreten hast, war es wert, zu Brei geschlagen zu<br />

werden. Als Horace dich raus warf und ich wusste, dass sie <strong>mich</strong> nun zu Oldham schaffen ...“<br />

Er schluckte schwer.<br />

„Ich hab den Arsch nie kennengelernt, aber jede Menge Geschichten über ihn gehört.<br />

Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst hatte: Vor den Schmerzen oder davor, nicht durchzu-<br />

halten. Wenn der verdammte Knebel nicht gewesen wäre, Kelly, ich hätte schon während der<br />

ersten Runde alles hinaus gebrüllt, was sie wissen wollten. Er hat mir vorher genau be-<br />

schrieben wie er arbeitet. Ne Stunde Foltern, dann die Möglichkeit, zu reden, wenn nicht, die<br />

nächste Stunde, ohne zwischendurch aufgeben zu können.“<br />

helfen.<br />

Ich stöhnte entsetzt auf.<br />

„Das ist ... unmenschlich.“<br />

Ich fühlte Jims Herz wie wild schlagen und hätte alles getan, ihm darüber hinweg zu<br />

„Als er mir den ersten Nagel raus riss, dachte ich ... Verdammt, das hat so wehgetan.<br />

Ohne den Knebel ...“<br />

Er schwieg erschüttert.<br />

- 344 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ich hob den Kopf von seiner Brust und sah ihn an.<br />

„Wir müssen das beide irgendwie verarbeiten. Das wird nicht leicht, aber wenn wir<br />

uns gegenseitig helfen, schaffen wir das.“, sagte ich leise.<br />

Ich gab ihm einen zärtlichen Kuss. Jims Rechte rutschte in meine Haare und er hielt<br />

meinen Kopf fest. Unsere Lippen saugten sich aneinander fest, ich spürte seine Zunge erst<br />

sanft, dann leidenschaftlicher mit meiner spielen und seufzte auf. Jim rollte sich mit mir im<br />

Arm langsam herum, bis er halb auf mir zu Liegen kam. Sein linkes Bein rutschte wie ver-<br />

sehentlich zwischen meine Oberschenkel. So, wie uns unsere Emotionen zuvor überrollt<br />

hatten, wurden wir jetzt von Leidenschaft überrollt. Wir hielten uns nicht mehr mit Vorspielen<br />

auf, sondern liebten uns stürmisch und leidenschaftlich. Alles, was sich in den vergangenen<br />

Wochen in uns angesammelt hatte, brach wie eine Eruption aus uns heraus. Wir brauchten die<br />

Nähe, die körperliche Nähe, und hatten nach dem Orgasmus das Gefühl, vollkommen aus-<br />

gelaugt zu sein. Lösen konnten wir uns nicht von einander und so schliefen wir schließlich<br />

eng umschlungen ein.<br />

Und genauso eng umschlungen wachten wir am kommenden Morgen auch auf. Jims<br />

Gesicht war meinem so nah, dass ich seinen Atem spüren konnte.<br />

„Guten Morgen ...“, sagte er leise und gab mir einen Kuss.<br />

„Guten Morgen. Gott, ich habe geschlafen wie eine Tote.“<br />

Jim grinste.<br />

„Ich auch. Naja, nach dem ... Ausbruch.“<br />

Ich seufzte.<br />

„Ja, nach dem Ausbruch. War wohl nötig. Ich hoffe, ich muss nie wieder sehen, wie<br />

jemand dir so was antut. Was wollen wir jetzt machen? Richard suchen?“<br />

Jim nickte.<br />

„Ja, lass es uns bei ihnen versuchen. Jin und Miles werden schon lange die Baustelle<br />

im Auge behalten. Und wir beiden Hübschen sollten auch mal langsam in Gange kommen.<br />

Sonst verpassen wir das Beste.“<br />

Ich stöhnte genervt.<br />

„Das tun wir sowieso.“<br />

Meine Hand streichelte sanft über Jims Bauch und ich spürte ihn zusammenzucken.<br />

„Sollten wir jemals zur Normalität zurück kommen, bleiben wir einen Monat im Bett.“<br />

Po.<br />

rutschen.<br />

Jim rollte sich ein wenig weiter zu mir herum und grinste.<br />

„Willst du <strong>mich</strong> verführen?“, fragte er sanft und seine Rechte verirrte sich auf meinen<br />

„Wie kommst du auf so eine Idee?“, fragte ich lächelnd und ließ meine Hand tiefer<br />

Er atmete scharf ein und sagte gepresst:<br />

- 345 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Weiß auch nicht, wie ich darauf komm ...“<br />

Er stöhnte leise auf, als meine Hand ihn sanft streichelte.<br />

„So wird das aber mal gar nichts mit dem in Gange kommen.“<br />

„Findest du?“, fragte ich harmlos.<br />

„Du scheinst mir gerade ziemlich in die Gänge zu kommen ...“<br />

Er wollte etwas erwidern, aber das Wort blieb ihm im Halse stecken, als meine Be-<br />

rührung etwas fester wurde. Er schloss die Augen und seufzte erregt. Nun aber glitt seine<br />

Hand an meinen Schoss, und schon war ich es, die scharf einatmen musste. Wir brachten uns<br />

gegenseitig immer mehr in Stimmung und holten ausgiebig nach, was wir am Abend sträflich<br />

vernachlässigt hatten. Schließlich konnte Jim sich nicht mehr zurückhalten und rollte vor-<br />

sichtig auf <strong>mich</strong>. Als er langsam in <strong>mich</strong> glitt, keuchte ich vor Erregung auf und schlang<br />

meine Beine um ihn. Als seine Bewegungen schneller und fordernder wurden, stieß ich<br />

hervor:<br />

„Ich liebe dich so sehr ...“<br />

Dann verschlug es mir endgültig die Sprache.<br />

Eine Stunde später kämpften wir uns durch den Dschungel. Jim führte <strong>mich</strong> in nord-<br />

westlicher Richtung durch den dichten Wald, bis wir am frühen Nachmittag eine kleine baum-<br />

lose Ebene erreichten. Hier legten wir eine Pause ein und aßen unterwegs gesammelte<br />

Mangos. Jim zerrte ein wenig ungeduldig an dem Hemd herum, das er jetzt trug. Es gehörte<br />

Miles und war Jim zu eng. Genervt meinte er:<br />

„<strong>Der</strong> Schweinehund hätte mir mein T-Shirt ja auch einfach ausziehen können. Musst<br />

er es denn zerschneiden?“<br />

„Sei doch froh, dass Miles dir das Hemd gegeben hat. Sonst müsstest du mit freiem<br />

Oberkörper herumlaufen.“<br />

Meine Augen hingen an Jims Körper und ich fügte leise hinzu:<br />

„Obwohl ich da auch nichts gegen hätte.“<br />

Jetzt grinste er.<br />

„Lüstling. Da wär ich doch eher dafür, dass du oben ohne herumläufst.“<br />

Ich kicherte.<br />

„Aber <strong>mich</strong> nennst du Lüstling.“<br />

„Man tut, was man kann.“<br />

Jim grinste frech und streckte sich gemütlich im warmen Gras aus. Ich legte <strong>mich</strong><br />

neben ihn und nutzte die günstige Gelegenheit, <strong>mich</strong> an ihn zu kuscheln. Mein Kopf lag auf<br />

seiner rechten Schulter und mein rechter Arm über seinem Körper.<br />

„Es könnte hier so schön sein ...“, seufzte ich leise.<br />

Eine Weile lagen wir schweigend nebeneinander, dann sagte Jim:<br />

- 346 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Was war eigentlich zum Schluss los? Ich krieg das nicht mehr ganz auf die Reihe.<br />

Smokey ... Hab ich das richtig mitbekommen, dass du ... Hast du dem Rauch wirklich gesagt,<br />

er soll <strong>mich</strong> ... nicht killen?“<br />

Ich erschrak ein wenig über diese unerwartete Frage. Kurz prustete ich angespannt.<br />

„Es hatte mir nichts getan, also dachte ich irgendwie, ich sei ... vielleicht wichtig für das<br />

Ding. Aber dass ich das gesagt habe, entsprang mehr der Angst um dich als einer vernünftigen<br />

<strong>Über</strong>legung.“<br />

Jim seufzte.<br />

„Hat ja scheinbar gewirkt. Als es ... als es so auf <strong>mich</strong> losging, hab ich gedacht, okay,<br />

Sawyer, verabschiede dich von deinem Arsch.“<br />

Ich konnte spüren, wie ein Zittern durch seinen Körper huschte.<br />

„Woher wusstest du eigentlich, dass es meine Erinnerung auffrischen konnte?“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Das wusste ich nicht. Ich ... Ich habe dir mal gesagt, dass ich dazu neige, <strong>mich</strong> ganz<br />

auf mein Bauchgefühl zu verlassen. Und das hat mir einfach in dem Moment gesagt, versuch<br />

es. Ich habe dem Rauch gesagt, es soll deine Erinnerung wiederherstellen und es hat ge-<br />

klappt.“<br />

Jetzt zitterte Jim richtig.<br />

„Es war, als krieche dieses Ding in mein Hirn hinein und ... Es hat da drinne irgend-<br />

was gemacht, Kelly. Es fühlte sich an, als wäre außer mir noch jemand da oben am Denken.<br />

Es hat zwar geholfen, aber das Gefühl war schrecklich. Ich weiß nicht, als ob jemand in dir<br />

drinnen die Kontrolle über dich übernimmt. Ich konnte nichts machen, als zu hoffen, dass es<br />

mein Hirn nicht zu Grütze verarbeitet. So hat sich‟s nämlich angefühlt.“<br />

Er atmete tief durch.<br />

„Ich hab es langsam wirklich satt, ständig vollkommen hilflos jemandem ausgeliefert<br />

zu sein. Wenn man sich wehren kann, ist der schlimmste Schmerz nicht annähernd so<br />

schlimm wie der Schmerz, den man wehrlos über sich ergehen lassen muss. Ich würde lieber<br />

gegen nen Grizzly kämpfen als noch mal irgendwo gefesselt herumzustehen und alles er-<br />

tragen zu müssen, was irgend so ein Bastard mit mir anstellt.“<br />

Die letzten Worte stieß er schwer atmend hervor. Er seufzte und sagte ruhiger:<br />

„Tut mir leid, ich will dir nicht die Ohren voll jammern.“<br />

Ich strich sanft mit den Fingern über seine Brust und sagte:<br />

„Das tust du nicht. Ich bin froh, dass du darüber Reden kannst. Ich kann mir vor-<br />

stellen, welch schreckliches Gefühl das sein muss. So ähnlich ging es mir ja auch. Ich sah,<br />

was mit dir passierte und konnte es nicht verhindern. Ich hätte sonst was dafür gegeben, dir<br />

helfen zu können. Als Horace verkündete, dass Kate, Sayid und du hingerichtet werden<br />

sollten, dachte ich, es zerreißt <strong>mich</strong>. Eher hätte ich den ganzen Laden in die Luft gejagt, als<br />

das zuzulassen.“<br />

- 347 -


Jim lachte leise.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Das klingt, als ob du das ernst meinst.“<br />

„Und wie! Ich hätte niemals dabei zugeguckt, wie sie dich erschießen. Ich hätte mir<br />

Dynamit aus dem Lager geholt und das ganze verdammte Dorf in Fetzen gesprengt. Inklusive<br />

aller Bewohner.“<br />

Darüber nachgedacht hatte ich wirklich. Ich wusste, dass im Materiallager Dynamit<br />

vorrätig war. Als letzten Ausweg hätte ich es versucht.<br />

„Was bist du nur für eine Frau?“, sagte Jim leise und verliebt. „Du hast für <strong>mich</strong> ge-<br />

tötet und alles riskiert. Ich weiß nicht, womit ich dich und auch Juliet verdient hab.“<br />

Ich stemmte <strong>mich</strong> ein wenig hoch und sah ihm ins Gesicht.<br />

„Da fragst du noch? Du bist ein wunderbarer Mensch, egal, was du mal getan hast. Du<br />

warst bereit, dich selbst zu opfern, um anderen zu helfen. Du gibst einer Frau genau das, was<br />

sie sich wünscht: Geborgenheit, genügend Freiraum, Liebe, Zärtlichkeit ...“ Ich spürte, dass<br />

ich rot wurde „... und bist ein ... wundervoller Liebhaber ...“<br />

Verlegen verstummte ich und registrierte fast erleichtert, dass auch Jim zart rot anlief.<br />

„Hey, nun mach aber mal nen Punkt.“, sagte er verschämt.<br />

Ich lachte immer noch ein wenig verlegen und sagte:<br />

„Das stimmt aber. Punkt für Punkt. Punkt.“<br />

Ich sah ihm ins Gesicht und ließ meine Augen an seinem Körper herunter wandern.<br />

„Ach, und bevor ist es vergesse: Du sieht umwerfend aus.“<br />

steckend.<br />

Todernst meinte Jim „Das stimmt.“<br />

Ich war einige Sekunden wirklich verblüfft, dann kicherte ich los.<br />

„Schön, ich habe noch vergessen zu erwähnen, wie bescheiden du bist.“<br />

Und jetzt lachte auch Jim fröhlich, endlich einmal wieder. Befreit, vergnügt, an-<br />

************<br />

31) Vorbereitungen<br />

Als Jin und Miles Kelly und Jim abgesetzt hatten, fuhren sie weiter Richtung Swan<br />

Baustelle. Eine Weile herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern, dann meinte<br />

Miles:<br />

„Schwer vorzustellen, was die Beiden erzählt haben, oder?“<br />

Jin warf dem Freund einen kurzen Blick zu.<br />

„Als ich damals aufwachte, nach der Explosion der Kahana, umgeben von Franzosen,<br />

und die schwangere junge Frau mir erzählte, sie sei Danielle<br />

- 348 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Rousseau, dachte ich, ich hätte bei der Explosion den Verstand verloren. Und als sie alle am<br />

Tempel nach dem <strong>Angriff</strong> des Monsters plötzlich von einer Sekunde zur Anderen ver-<br />

schwunden waren, als hätten sie sich aufgelöst, hab ich das als Bestätigung gesehen.“<br />

Er dachte daran zurück, wie der junge Franzose Montand von dem Rauch angegriffen<br />

worden war. <strong>Der</strong> Rauch wollte den jungen Mann in ein Loch am Boden der Außenwand der<br />

Tempelruine zerren. Jin schüttelte sich bei der Erinnerung. Sie hatten Montand verzweifelt<br />

festgehalten, als der Rauch sich wie eine Schlange um dessen linke Schulter geschlungen<br />

hatte. Im nächsten Moment war dem armen Mann der Arm abgerissen. Und Sekunden danach<br />

war der nächste Zeitsprung erfolgt, die Franzosen verschwunden und Jin mit dem inzwischen<br />

mumifizierten Arm alleine gewesen.<br />

„Wir haben es alle erlebt, die Zeitsprünge waren real.“<br />

Miles nickte.<br />

„Sicher, klar waren sie real. Aber wir erinnern uns an alles, warum nicht daran, dass<br />

wir in einer Zeitschleife stecken und das alles wieder und wieder erleben?“<br />

Jin zuckte die Schultern.<br />

„Was fragst du auf einer Insel, auf der man in der Zeit herumreisen kann und auf der<br />

ein Monster aus Rauch lebt, nach Gründen für einen Gedächtnisverlust?“, fragte er<br />

sarkastisch.<br />

Miles stutzte.<br />

„Hm, da hast du auch wieder Recht. Okay, nehmen wir also mal an, es stimmt alles,<br />

was Jim und Kelly erzählt haben. Wie, um alles in der Welt, sollen wir Daniel, Hurley, Sayid,<br />

Kate und Jack von der Story überzeugen? Jack ist selbstherrlich, stur und verbohrt, Dan stur<br />

und blasiert, Sayid stur und hasserfüllt, Hurley stur und dumm, Kate stur und Jack hörig ...<br />

Klasse Aussichten, doch, wirklich.“<br />

Jin steuerte den Wagen von der Straße herunter in ein sehr dichtes Gebüsch.<br />

„Von hier müssen wir laufen.“<br />

Die beiden Männer stiegen aus und griffen sich die Waffen, die sie bei sich hatten,<br />

alles, was noch an Wasser und Lebensmitteln da war und die Decken, die auf dem Rücksitz<br />

lagen.<br />

„Dann wollen wir mal.“, sagte Miles genervt.<br />

Sie arbeiteten sich schweigend durch den Dschungel, bis sie schließlich die Baustelle<br />

erreichten. Sehr vorsichtig suchten sie sich einen Standpunkt, der sie sicher vor Blicken von<br />

unten verbarg und der ihnen gleichzeitig erlaubte, die in einer Senke unter ihnen liegende<br />

Baustelle detailliert zu überblicken. Dort unter ihnen herrschte rege Betriebsamkeit und der<br />

Bohrer war im Einsatz. Von eventuellen Angreifern war nicht das Geringste zu sehen.<br />

„Dann wollen wir es uns mal gemütlich machen.“, meinte Miles und streckte sich<br />

bäuchlings am Boden aus. „Von hier können wir wirklich alles sehr gut übersehen. Da sollten<br />

keine Probleme auftreten, uns wird nichts entgehen.“<br />

- 349 -


Jin nickte.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Denke ich auch. Ob Sawyer und Kelly schon bei Alpert sind?“<br />

Miles überlegte.<br />

„Rein zeitlich sollten sie es geschafft haben, aber vielleicht brauchen sie auch einfach<br />

ein wenig Zeit für sich. Dass war ja alles ziemlich hart für beide. Wenn ich mir vorstelle, wie<br />

das für Kelly gewesen sein muss ... Man, sie ist ... wirklich eine starke Persönlichkeit. Und sie<br />

kann schießen wie der Teufel! Hast du gesehen, dass sie Oldham die Kugel direkt in den Kopf<br />

gejagt hat? <strong>Der</strong> wusste nicht mal, warum er starb, so präzise hat sie getroffen. Wenn es zu<br />

einem Schusswechsel kommt, kann sie glatt als Scharfschützin helfen.“<br />

Jin nickte.<br />

„Ja, sie ist großartig, kaum zu glauben. Und sie war eiskalt, als sie abgedrückt hat,<br />

keine Sekunde gezögert. Sie muss Sawyer wirklich sehr lieben.“<br />

Jin verstummte und dachte traurig an Sun. Wo sie jetzt wohl war? Ob es ihr gut ging?<br />

Sein Kind war geboren und Sun hatte die ganze Zeit gedacht, er, Jin wäre tot. Aber er würde<br />

sie ja offensichtlich wiedersehen, wenn er zusammen mit seiner Frau in LA gewesen war. Das<br />

Wissen half Jin, mit der derzeitigen Trennung klar zu kommen, obwohl ihm Sun jede einzelne<br />

Minute fehlte.<br />

Als es dunkel wurde, kehrte unter ihnen in der Senke Ruhe ein. Jin schlief die erste<br />

Nachhälfte, dann weckte er Miles und dieser übernahm die zweite Hälfte der Nacht. Doch es<br />

geschah nichts. Am kommenden Morgen übernahm Jin erneut die Wache, während Miles sich<br />

in einem sehr großen Bogen einmal um die Baustelle herum schlich. Er sah sich sehr gründ-<br />

lich alles an, aber er entdeckte keine Spur von irgendeinem Menschen. Als er wieder bei Jin<br />

ankam, sagte er:<br />

„Nichts zu sehen gewesen. Das kann unter schlechtesten Umständen noch Tage<br />

dauern, bis sich was tut. Wird eine langweilige Zeit werden.“<br />

Jin nickte.<br />

„Ja, aber das, was zwangsläufig kommen muss wird umso weniger langweilig, da bin<br />

ich sicher. Was sollen wir machen, wenn die sich nicht überzeugen lassen? Hast du da schon<br />

mal drüber nachgedacht? Wir können doch nicht auf die Freunde schießen!“<br />

Miles seufzte.<br />

„Das wird nicht ganz einfach werden, da hast du Recht, aber mir wird es vermutlich<br />

im schlimmsten Fall leichter möglich sein als dir. Ich hab ja nicht die Zeit mit ihnen verbracht<br />

wie du. Und wenn es darum geht, uns aus dieser Scheiße herauszuholen, werde ich nicht<br />

lange Zögern.“<br />

Jin sah den Kollegen an.<br />

„Du hast nicht die moralischen Vorbehalte, die ich zwangsläufig habe. Ich habe mit<br />

Jack und Kate viele Monate in einer Extremsituation verbracht. Ich weiß nicht, ob ich im<br />

Stande sein werde, auf sie zu schießen.“<br />

- 350 -


By<br />

Frauke Feind<br />

************<br />

Jack hatte eine Harke in der Hand und nahm damit Laub um das Schulgebäude herum<br />

zusammen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er dabei einige Sicherheitsleute, die aufmerk-<br />

sam durch das kleine Dorf patrouillierten. Er seufzte genervt. Seit das alles hier ins Rollen<br />

gekommen war, war die <strong>Über</strong>wachung sehr viel intensiver als vor den Ereignissen. Wie sollte<br />

er es nur schaffen, unbemerkt in das Gebäude hinein zu gelangen, Waffen zu organisieren und<br />

auch noch mit diesen das Gebäude wieder zu verlassen? Jack dachte an Kate, Sawyer, Sayid,<br />

Kelly. Wo sie wohl stecken mochten? Ob sie überhaupt noch am Leben waren? Waren es<br />

wirklich Miles und Jin gewesen, die Sawyer zur Flucht verholfen hatten? Und hatten sie Kelly<br />

wirklich gezwungen, mitzugehen, oder war es so wie einige vermuteten, dass Kelly Sawyer<br />

liebte und so freiwillig mitgegangen war? Jack fluchte tonlos. So vieles war nicht sicher.<br />

Warum nahm er an, dass ausgerechnet Daniels Plan sicher sein würde? Hurley hatte Zweifel,<br />

war aber bereit, zu helfen, wie es in seiner Macht lag. Gerade, als Jack an Hurley dachte, kam<br />

dieser mit einem VW Bus den Weg hochgefahren. Er hielt in der Mitte des Dorfes an und<br />

stieg aus dem Wagen.<br />

„Hey, Leute! Ich hab ne <strong>Über</strong>raschung für euch! Kommt mal her. Ich dachte mir, wo<br />

ihr so gut für unsere Sicherheit sorgt, habt ihr euch mal was Besonderes verdient.“<br />

Die Wachen traten langsam und ziemlich verblüfft an den VW Bus heran. Hurley<br />

öffnete die Schiebetür und stieg in den Wagen. Die Wachen traten alle, ohne Ausnahme, zu<br />

ihm und da Hurley so geparkt hatte, dass er quasi die Sicht auf das Schulgebäude verwehrte,<br />

ging Jack in diesem Moment ein Licht auf. Hurley versuchte, die Wachen abzulenken. Ein<br />

blitzschneller, sichernder Blick zeigte dem Arzt, dass wirklich alle Wachleute am Wagen<br />

standen und Jack nutzte die einmalige Gelegenheit sofort aus. Er sah niemand anderen auf<br />

dem Dorfplatz und eilte ohne zu Zögern los.<br />

Er betrat das Schulgebäude, sah sich nach Kameras um und umging die, die er ent-<br />

deckte, geschickt. Schon hatte er den Raum erreicht, in dem die Waffen aufbewahrt wurden.<br />

Er trug schon seit dem Gespräch mit Dan immer seine Schlüssel mit sich. So konnte er schnell<br />

den Raum und gleich darauf den Waffenschrank öffnen. Hektisch griff er sich zwei Gewehre<br />

und drei 9 mm Glock aus dem Schrank. Schnell noch Munition, dann war er schon wieder aus<br />

dem Raum hinaus. Er eilte mit den Waffen zu einem der hinteren Fenster und öffnete dieses.<br />

Sichernd schaute er sich um, aber niemand war zu sehen. Hastig warf er die Waffen aus dem<br />

Fenster in ein nahes Gebüsch, schloss das Fenster und stand zwei Minuten später bereits<br />

wieder draußen vor dem Gebäude und harkte weiter. Hurley war noch damit beschäftigt, die<br />

Wachen mit Sandwiches und Kuchen zu versorgen. Und Jack atmete auf. So wie es aussah<br />

- 351 -


By<br />

Frauke Feind<br />

hatte niemand seine kleine Exkursion in die Schule bemerkt. Jack gratulierte Hurley im<br />

Stillen für die großartige Idee.<br />

Etwa eine halbe Stunde später war er mit dem Harken fertig. Hurley war nach einem<br />

freundlichen Nicken in seine Richtung wieder verschwunden, die Wachen an ihre Plätze<br />

zurückgekehrt. Jack ging zum Materiallager und holte eine Schubkarre. Damit ging er zu den<br />

Laubhaufen, die er zusammen gekratzt hatte, zurück. Leise pfeifend kehrte er das Laub auf<br />

und füllte nach und nach die Schubkarre damit. Nun schob er diese immer noch vergnügt<br />

pfeifend Richtung Abfallhaufen. Er kehrte hier und da noch ein wenig Laub zusammen und<br />

gelangte so unauffällig hinter die Schule. Schnell sah er sich um und konnte nirgends<br />

jemanden entdecken. Jack ging zu dem Gebüsch hinüber, in das er die Waffen geworfen hatte<br />

und Sekunden später lagen diese unter dem Laub verborgen in der Schubkarre. Diese war<br />

vielleicht zu zwei Dritteln gefüllt und Jack schob sie weiter, hinter die Wohnhäuser. Als er so<br />

Haus 12 erreichte, schaute der Arzt sich erneut um, hatte jedoch wieder Glück, niemand war<br />

zu sehen. Schnell schob Jack die Waffen durch ein offenes Fenster in das Haus hinein und<br />

machte seine Arbeit weiter, als wäre nichts gewesen. Gegen 16 Uhr machte er Feierabend und<br />

auch Hurley kam gerade nachhause.<br />

„Hey, Alter, wie war dein Tag?“<br />

Jack nickte.<br />

Hurley sofort:<br />

lenken.“<br />

„Wenn man Laubharken mag, war er sicher gut. Und deiner?“<br />

Zusammen, sich unterhaltend, betraten die beiden Männer ihr Haus und hier fragte<br />

„Hast du es geschafft, Alter? Ich dachte mir, ich versuch mal, unsere Deputys abzu-<br />

Jack grinste.<br />

„Das war eine großartige Idee, Hurley. Ich weiß nicht, wie ich es sonst geschafft hätte.<br />

Die passen auf wie Teufel. Wenn wir nun noch unbemerkt aus dem Dorf kommen, haben wir<br />

es schon fast geschafft.“<br />

„Hast du mal darüber nachgedacht, wie wir durch den Zaun kommen sollen?“, wollte<br />

Hurley besorgt wissen.<br />

Jack schüttelte den Kopf.<br />

„Nicht wirklich. Aber Dan meinte, wenn wir uns dort auf die Lauer legen, am Sonar-<br />

zaun, würde über kurz oder lang schon jemand nach draußen Fahren und so haben wir eine<br />

Chance, ebenfalls zu verschwinden.“<br />

Die Beiden waren ins Wohnzimmer getreten und staunten nicht schlecht, als sie dort<br />

Daniel sitzen sahen.<br />

„Oder wir benutzen den Code.“<br />

Jack und Hugo starrten Dan an.<br />

- 352 -


aten.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Woher weißt du den Code? Bist du schon lange hier?“<br />

„Ich warten schon eine gute Stunde auf euch. Und den Code hat mir Dr. Chang ver-<br />

Hurley riss die Augen auf.<br />

„Miles Dad? Warum?“<br />

Er ließ sich schwer auf das Sofa fallen und Jack setzte sich zu ihm. Plötzlich sprang er<br />

noch einmal auf.<br />

„Warte eine Minute, ich werde die Waffen mal vorsichtshalber verstecken.“<br />

Er eilte in das kleine Abstellzimmer, in das er die Waffen hatte fallen lassen und trug<br />

diese in sein Schlafzimmer, wo er sie unter der Bettdecke verbarg. Nun eilte er ins Wohn-<br />

zimmer zurück.<br />

„So, erzähl. Wer ist dieser Chang?“<br />

Hurley hatte in der Zwischenzeit drei Dosen Bier geholt und die Männer tranken einen<br />

Schluck. Hektisch begann Dan zu reden.<br />

„Dr. Pierre Chang ist Astrophysiker und leitet zusammen mit Stuart Radzinsky das<br />

Swan Projekt. Er ist der Vater von Miles. Ich habe ihn heute Morgen gesprochen. Ich habe<br />

ihm vieles erzählt und er hat mir geglaubt. Er weiß um die ungeheuren Kräfte, die unter dem<br />

Swan ruhen. Noch ruhen! Die Bohrungen gehen nämlich gut voran. Es wird nicht mehr lange<br />

dauern, wir müssen uns beeilen. Chang wird veranlassen, dass alle Frauen und Kinder von der<br />

Insel evakuiert werden. Er hat selbst schon seine Bedenken zu den Bohrungen geäußert und<br />

wollte diese abbrechen lassen, aber Radzinsky ist wie besessen davon. Wir haben wirklich nur<br />

noch wenig Zeit, wir müssen unbedingt noch heute hier weg kommen.“ Er sah Hugo an.<br />

„Kannst du uns ein wenig Proviant zusammenstellen? Und wir bräuchten Taschenlampen, im<br />

Dunkeln durch den Dschungel zu stapfen ist gefährlich. Und vielleicht auch Messer, man<br />

weiß ja nie, wofür man sie einmal benötigt.“<br />

Hurley nickte.<br />

„Klar, Mann, das krieg ich hin. Wenn wir Laufen schaffen wir das aber nicht bis<br />

Morgen. Das ist wohl eine ganz schöne Strecke.“<br />

Dan nickte.<br />

„Ich weiß. Wir werden einen Wagen stehlen müssen. Ich hatte gehofft, Jack, dass du<br />

mir dabei hilfst.“<br />

Jack kam das Ganze immer mehr wie ein Himmelfahrtskommando vor, aber er nickte.<br />

„Wir treffen uns hinter Haus 4. Roger ist total besoffen und er hat sogar noch eine Flasche<br />

Scotch bei sich gehabt, als er vorhin nachhause ist, der würde nicht mal mit bekommen, wenn<br />

eine Herde Elefanten hinter seinem Haus eine Party feiern würde. Hugo, beeil dich ein wenig<br />

und nimm nicht zu viel mit. Wir werden trotzdem noch eine ganze Strecke zu Fuß gehen<br />

müssen.“<br />

Hurley nickte.<br />

- 353 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Klar, Alter, ich mach das schon. Holt ihr lieber einen Wagen.“<br />

Er erhob sich und verließ das Haus. Jack und Dan warteten eine Weile, erst dann<br />

folgten sie Hugo und schlenderte, die Bierdosen in der Hand, scheinbar gelangweilt über den<br />

Dorfplatz zum Fuhrpark hinüber. Hier war kein Mensch zu sehen. In der inzwischen<br />

herrschenden Dämmerung näherten sie sich einem der Jeeps. Schnell sahen sie sich noch<br />

einmal um, stiegen in den Wagen und starteten diesen. Hinter den Häusern entlang fuhren sie<br />

zu Haus 12 zurück und Jack eilte in sein Schlafzimmer, um die Waffen und die Munition zu<br />

holen. Zusammen machten sie sich, wieder hinter den Häusern entlang, auf, Hurley einzu-<br />

sammeln. Dieser wartete schon auf sie und warf zwei große Rucksäcke auf die Rückbank,<br />

bevor er selbst dazu stieg.<br />

„Los, verschwinden wir hier.“, sagte er und machte es sich bequem.<br />

Jack fuhr los. Zuerst hatten sie Glück, niemand schien sie zu bemerken. Doch als sie<br />

das Dorf verlassen hatten, verließ sie auch ihr Glück. Mitten auf der Straße standen vier<br />

Wachleute der DHARMA Initiative, Waffen in den Händen, und grinsten im Licht der<br />

Scheinwerfen Jack an.<br />

„Sieh an, sieh an, unser Hausmeister noch so spät unterwegs? Noch dazu mit unserem<br />

Sternekoch? Was sollen wir denn davon halten? Auf der Suche nach euren lieben Freunden?“<br />

************<br />

Wir wanderten schon seit gut drei Stunden durch den Wald. Langsam wurde es<br />

dämmerig und das Vorankommen schwieriger. Jim fluchte ungehalten vor sich hin, als er im<br />

Dunkeln eine Baumwurzel übersah und fast gestürzt wäre.<br />

„Verdammter Mist, ich hasse den elenden Wald!“<br />

„Dann solltest du hier nicht herum latschen und unsere Grenze überschreiten.“, sagte<br />

plötzlich eine kalte Stimme im Gebüsch vor uns.<br />

Nicht nur meine Hand, auch Jims zuckte sofort an die Waffen, die wir im Hosenbund<br />

auf dem Rücken stecken hatten. Jim hatte allerdings damit gerechnet, dass wir über kurz oder<br />

lang den Leuten Richards in die Arme laufen würden, und so sagte er beherrscht:<br />

„Wir kommen in Frieden, Old Shatterhand. Macht keinen Stress. Wir müssen dringend<br />

mit Richard sprechen. Es ist wirklich wichtig!“<br />

Vor uns traten vier bewaffnete Männer aus dem Gebüsch. Einer von ihnen musterte<br />

Jim und sagte sarkastisch:<br />

„Sieh an, Winnetou. Kann es sein, dass ihr Dharmaisten in letzter Zeit erheblich mehr<br />

mit unserem als mit eurem eigenen Boss sprecht?“<br />

Jim grinste.<br />

- 354 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Liegt vielleicht daran, dass euer Boss mehr Grips hat als unserer. Aber wir sind keine<br />

Dharmaisten, nicht mehr. Könnten wir jetzt ... Vielleicht sagt euch das Wort wichtig nicht so<br />

viel, aber es geht um Leben und Tod, und das ist kein hohler Spruch.“<br />

<strong>Der</strong> Wortführer der vier Männer war auch jetzt noch nicht bereit, uns weiter zu führen.<br />

Er musterte <strong>mich</strong> und grinste.<br />

züglich.<br />

„Du wechselst deine Begleiterinnen häufiger als deine Kleidung, was?“, fragte er an-<br />

Jim grinste zurück.<br />

„Nur kein Neid. Ich würd <strong>mich</strong> ja gerne weiter mit dir darüber unterhalten, wie du<br />

mehr Erfolg bei Frauen haben kannst, aber ...“ Er machte eine kurze Pause, dann sagte er:<br />

„Unsere Ex-Kollegen sind dabei, eure schöne Insel in Fetzen zu sprengen. Könnten wir<br />

vielleicht mal in die Gänge kommen? Richard wird einen Hinweis von uns, die Insel davor zu<br />

retten, für immer von der Bildfläche zu verschwinden, sicher sehr zu schätzen wissen,<br />

Freunde.“<br />

<strong>Der</strong> Mann sah uns giftig an und meinte im Befehlston:<br />

„Gut, ich will mal nicht so sein, ihr kommt mit. Richard hat an dir ja scheinbar einen<br />

Narren gefressen, also vorwärts.“<br />

Wir wurden in die Mitte genommen und regelrecht abgeführt. Man nahm uns die<br />

Waffen ab und trieb uns vorwärts. Nervös ließen wir uns<br />

durch den nächtlichen Dschungel führen. Jim hatte nach<br />

meiner Hand gegriffen und drückte diese sanft, wie, um <strong>mich</strong><br />

zu beruhigen. Schon nach kurzer Zeit tauchten vor uns<br />

flackernde Lichter auf. Und dann betrat ich nach acht Jahren,<br />

eigentlich aber nur ein paar Wochen, erneut das Lager Richard Alperts. Nur, dass es heute an<br />

einer ganz anderen Stelle der Insel untergebracht war. Angesichts dessen, was uns hier beim<br />

ersten gemeinsamen Besuch angetan worden war, konnte ich <strong>mich</strong> eines komischen Gefühls<br />

nicht erwehren. Ich klammerte <strong>mich</strong> an Jims Hand und wir traten zwischen die Zelte und<br />

Hütten. Und schon kam Richard aus einem der Zelte getreten und musterte uns skeptisch. <strong>Der</strong><br />

Mann, der uns im Dschungel aufgelesen hatte, sagte sarkastisch:<br />

„Er war der Meinung, du freust dich über seinen Besuch. Außerdem faselt er was<br />

davon, dass der Insel eine Gefahr droht.“<br />

Richard sah Jim an und sagte ernst: „Du bist ja neuerdings sehr anhänglich. Ich habe<br />

das Kind für euch gerettet, was willst du jetzt wieder von uns?“<br />

Jim spannte sich, das konnte ich an seiner Hand überdeutlich spüren.<br />

„Wir sind gekommen, um dir etwas zu erzählen. Allerdings würd ich das gern in etwas<br />

intimerer Atmosphäre machen, wenn es dir Recht ist.“<br />

Richards Gesicht verzog sich zu einem leicht ironischen Grinsen. Er zog die Augen-<br />

brauen in die Höhe und lachte kurz.<br />

- 355 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich mag dich. Du bist selbstbewusst und kaltschnäuzig. Eigenschaften, die ich an<br />

einem Menschen zu schätzen weiß. Ich werde ein weiteres Mal großzügig sein und deiner<br />

Bitte entsprechen. Treibe es aber nicht zu weit, Lafleur, das könnte schnell sehr gefährlich für<br />

dich werden.“<br />

Miles gähnte gelangweilt.<br />

************<br />

„Man, wir spielen uns hier die Eier rund. Wann passiert denn endlich was? Ich lang-<br />

weile <strong>mich</strong> zu Tode.“<br />

Jin hatte es sich auf einem Schlafsack gemütlich gemacht und beobachtete mit einem<br />

Fernglas die große Baustelle unter ihnen. Gelassen antwortete er dem Freund und Kollegen:<br />

„Ich denke, du wirst dich schnell genug nicht mehr langweilen. Die kommen gut<br />

voran da unten, irgendwann wird schon etwas passieren.“<br />

Miles schnaufte.<br />

„Ob Daniel Jack schon überzeugt hat, ihm zu helfen?“<br />

Jin zuckte die Schultern.<br />

„Woher soll ich das wissen? Wir müssen wohl davon ausgehen.“<br />

Miles knurrte total genervt irgendetwas, das Jin nicht verstehen konnte. <strong>Der</strong> Koreaner<br />

behielt weiter die Baustelle im Auge und sagte:<br />

„Da kommt dein Vater, Miles. Er streitet wieder mit Radzinsky herum. Scheinbar will<br />

er ihn noch einmal dazu überreden, die Bohrungen abzubrechen.“<br />

Unten auf der Baustelle stritten Radzinsky und Chang tatsächlich heftig. Was genau<br />

gesagt wurde, konnten die heimlichen Zeugen des Streits nicht verstehen, aber der Gestik der<br />

Kontrahenten war eindeutig zu entnehmen, dass es keine freundliche Unterhaltung war. Als es<br />

in der Debatte immer hitziger zuging, wehten Wortfetzen zu den heimlichen Beobachtern<br />

hinauf. Chang schrie wütend:<br />

„Egal, was du sagst, ich habe jedenfalls veranlasst, dass alle Frauen und Kinder von<br />

der Insel evakuiert werden.“<br />

Radzinsky keifte zurück:<br />

„Du bist paranoid. Gar nichts wird passieren! Du machst dich lächerlich, Chang.“<br />

Miles schnaufte vor Wut.<br />

„<strong>Der</strong> Dreckskerl soll aufhören, meinen Vater anzuschreien! Wie konnten wir so ein<br />

Arschloch nur als Kollegen tolerieren?“<br />

Jin zuckte die Schultern.<br />

„Er dreht erst so durch, seit die Energiequelle gefunden wurde. Und Phil ... Er ist ein<br />

Arschkriecher, solange Jim am Ruder war, ist er ihm hinten rein gekrochen, jetzt hat er Ober-<br />

wasser und nutzt das aus.“<br />

- 356 -


Miles nickte.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Ja, so sieht es aus. Ich glaube, wenn Kelly die beiden Idioten vor die Flinte kriegt,<br />

sieht es schlecht für die aus. Nach dem, was die Jim angetan haben wird Kelly nicht lange<br />

zögern.“<br />

Jin nickte.<br />

„Davon gehe ich auch aus. Es wird so oder so zum Kampf kommen, freiwillig werden<br />

die nicht zulassen, dass Jack daher kommt und eine Bombe in ihr Bohrloch wirft.“<br />

Miles nickte geistesabwesend. Er hatte seinen Blick wieder auf die Baustelle gerichtet,<br />

wo sein Vater Radzinsky jetzt einfach stehen ließ. Dieser sah dem Astrophysiker nach und<br />

tippte sich an die Stirn. Er sagte etwas zu einem der Arbeiter und beide Männer lachten. Miles<br />

juckte es in den Fingern, seine Waffe zu heben und auf Radzinsky anzulegen, aber er be-<br />

herrschte sich. Er beobachtete, wie Chang in seinen Wagen stieg und die Baustelle verließ.<br />

Und dort ging die Bohrung weiter.<br />

************<br />

Jack starrte die Männer vor ihnen auf der Straße geschockt an und ein leises Ächzen<br />

entfuhr ihm unwillkürlich. Hurley, der auf der Rückbank saß, keuchte vor Schreck auf. Und<br />

Daniel hielt die Luft an. <strong>Über</strong> eine Ausrede brauchten sie nicht nachzudenken, das war ihnen<br />

klar. Die Wachen nahmen an, dass sie auf der Suche nach den Geflohenen waren. Zum Glück<br />

ahnten sie nicht, was wirklich der Plan war. Sonst hätten sie vermutlich keine Zeit mehr damit<br />

vergeudet, den Wagen zu stoppen, sondern hätten gleich wild drauf los geballert. Jack be-<br />

wegte sehr langsam und vorsichtig die Rechte vom Lenkrad weg auf seinen rechten Ober-<br />

schenkel zu. Er hatte sich eine 9 mm unter diesen geklemmt, um im Notfall schnell an die<br />

Waffe zu kommen. Um die Kerle vor sich abzulenken, sagte er laut:<br />

„Wir dachten, wir könnten euch vielleicht bei der Suche unterstützen.“<br />

Ihm war durchaus klar, dass die Wachen ihm nicht glauben würden, aber darauf kam<br />

es auch gar nicht an. Wichtig war nur, dass sie auf das hörten, was er sagte, und weniger auf<br />

das achteten, was er tat. Hurley plapperte aufgeregt los:<br />

„Und ich wollte zur Perle, hab das Frühstück für die dabei. Ist was ganz besonderes,<br />

darum muss es ...“<br />

Weiter kam er nicht, denn Jack hatte seine Waffe erreicht und seine Hand schloss sich<br />

fest um den Griff der Glock. Und nun ging alles sehr schnell.<br />

Jack riss die Waffe hoch und fing an, wahllos auf die Wachen zu feuern. Daniel<br />

reagierte schnell und riss seine eigene Waffe ebenfalls in die Höhe, um Jack zu unterstützen.<br />

- 357 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Hurley ging mit einem erschrockenen Quieken in Deckung. Die Wachen spritzten aus-<br />

einander und gaben auf diese Weise unfreiwillig den Weg frei. Jack nutzte die Chance.<br />

Rücksichtslos gab er Vollgas und jagte den Wagen hüpfend und schlitternd die Straße ent-<br />

lang. Hinter ihnen kamen die Wachleute aus der Deckung und feuerten wild hinter dem sich<br />

rasch entfernenden Auto hinterher. Dan zuckte zusammen und fasste sich keuchend an den<br />

Hals. Eine Kugel hatte ihn gestreift.<br />

„Alles in Ordnung?“, stieß Jack hastig hervor.<br />

Dan nickte nervös.<br />

„Ja, nur ein Streifschuss. Wir müssten gleich den Zaun erreichen. Das muss blitz-<br />

schnell gehen!“<br />

Jack nickte verbissen.<br />

„Hoffentlich stimmen die Zahlen noch, sonst sind wir am Arsch. Noch mal werden die<br />

nicht erst Fragen, sondern gleich schießen.“<br />

Er fuhr immer noch mit hoher Geschwindigkeit und schließlich tauchten in der<br />

Dunkelheit vor ihnen die Säulen des Sonarzaunes auf. So schnell es ging sprang Daniel aus<br />

dem Fahrzeug, hetzte zu einer der Säulen und riss die Klappe auf, die die Tastatur verbarg.<br />

Hektisch tippte er die Zahlen ein und im selben Monet ertönte der Alarm und Scheinwerfen<br />

erleuchteten plötzlich die Umgebung. Dan saß bereits wieder im Wagen und sah Jack an.<br />

Dieser prustete angespannt, dann sagte er entschlossen:<br />

„Okay, hoffen wir, dass sie noch richtig war.“<br />

Er atmete noch einmal tief durch und gab Gas!<br />

************<br />

Richards Worte jagten mir einen Schauer über den Rücken. Wir hatten den Mann als<br />

harten Anführer seiner Leute kennen gelernt und mir war klar, dass wir ihn schnell würden<br />

überzeugen müssen, sonst würden wir in ernste Schwierigkeiten geraten. Richard schien noch<br />

zu überlegen, dann nickte er entschlossen.<br />

„Gut, ihr sollt eure Chance haben, kommt mit.“<br />

Er führte uns zu einem der Zelte hinüber, hielt uns die Plane auf und sagte:<br />

„Bitte.“<br />

Wir betraten das Zelt und Richard deutete auf einen Tisch, um den vier Stühle verteilt<br />

standen. Angespannt ließen wir aus auf diese sinken. Richard setzte sich uns gegenüber und<br />

ich dachte<br />

- Das hatten wir doch schon mal! -<br />

Wie ein Déjà-vu kam mir die Situation vor. Auffordernd sah der charismatische Mann<br />

uns an. Ich griff nach dem Medaillon, dass ich die ganze Zeit um den Hals getragen hatte und<br />

zog es hervor. Jim sah <strong>mich</strong> fragend an. Und Richards Augen weiteten sich!<br />

- 358 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Wo hast du das her?“, fragte er misstrauisch und kalt.<br />

Ich atmete tief durch und erklärte:<br />

„Du hast es mir bei unserer letzten Begegnung gegeben. Als Beweis, dass wir uns<br />

kennen, für den Fall, dass du dich nicht mehr daran erinnerst. Mach es auf.“<br />

Ich drückte Richard das Schmuckstück in die Hand und erntete einen vollkommen<br />

verständnislosen Blick von Jim. Richard nahm das Medaillon in die Hand und öffnete es lang-<br />

sam. In dem Schmuckstück lag ein zusammengefalteter Zettel, den Alpert jetzt heraus nahm.<br />

Er entfaltete das Papier und starrte fassungslos auf den kleinen Zettel. Ich, Richard Alpert, über-<br />

gebe 1971 diese kurze Notiz an Kelly Reardon als Beweis, dass wir uns kennen.<br />

Minutenlang schwieg er. Endlich sagte er ruhig:<br />

„Ich darf wohl annehmen, dass du diese Kelly Reardon bist.“<br />

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Ich nickte.<br />

„Du sagtest zu mir, ich soll dich folgendes fragen: Quid cubitus umbrae statuae?“<br />

Richard antwortete spontan:<br />

„Ille qui nos omnes servabit.“<br />

Ich fragte <strong>mich</strong>, was das für eine Frage und Antwort war. Bedrückt antwortete ich:<br />

„Man kann nur hoffen, dass der Beschützer seinen Job gut macht.“<br />

Erstaunt fragte Richard:<br />

„Du kannst Latein?“<br />

Ich nickte verwirrt.<br />

„Ja, ich habe acht Semester Medizin studiert und Latein war bereits in der Highschool<br />

mein Wahlfach. Aber das ist jetzt unwichtig. Du erinnerst dich also nicht an unsere Be-<br />

gegnung?“<br />

Richard schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, das tue ich nicht. Aber ich glaube meinen eigenen Worten und daher gehe ich<br />

einfach davon aus, dass wir uns in der Tat kennen. 1971 ... Wo wart ihr denn die letzten sechs<br />

Jahre?“<br />

Jim, der uns ziemlich verwirrt zugehört hatte, erklärte:<br />

„Wir waren vor nicht mal vier Wochen bei euch, aber das ist im Augenblick neben-<br />

sächlich, okay? Richard, das alles zu erklären beansprucht Stunden, die wir nicht haben. In<br />

Kürze werden hier einige Leute aufschlagen und von euch die Herausgabe der Wasserstoff-<br />

bombe, die die US Army freundlicherweise hier gelassen hat, fordern. Sie wollen damit ...“<br />

Mehr verwirrt als misstrauisch unterbrach Richard:<br />

„Woher wisst ihr von der Bombe?“<br />

Ich seufzte.<br />

„Auch das fällt unter die Kategorie dauert zu lange. Wir wissen es eben. Was ihr nicht<br />

wisst ist folgendes: Einer der Männer, die kommen werden, ist Daniel Faraday, ein Physiker.<br />

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Frauke Feind<br />

Richard, du musst mir das jetzt einfach glauben, er ist Ellies Sohn, den ich vor nicht einmal<br />

vier Wochen hier bei euch auf die Welt geholt habe. Sie war unter einem Trägerbalken ein-<br />

geklemmt, zusammen mit Steve, dem wir das Bein abnehmen mussten.“<br />

Richard starrte <strong>mich</strong> und Jim abwechselnd an, als wären wir vom Mond.<br />

„Woher wisst ihr das alles? Und wie kann Daniel hier auftauchen und nach einer<br />

Bombe fragen? Er ist sechs Jahre alt!“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, wenn er her kommt, ist er erwachsen. Richard, er kommt, wie wir, aus der Zu-<br />

kunft. Ellie wird ihn erschießen, weil Daniel dich mit einer Waffe bedroht. Das muss un-<br />

bedingt verhindert werden.“<br />

Richard prustete angespannt. Langsam sagte er:<br />

„Gut, gehen wir mal davon aus, dass alles stimmt was ihr sagt. Dann erklärt mir<br />

wenigstens, was er mit der Bombe will.“<br />

Ich sah den charismatischen geistigen Führer der Hostiles an. Krampfhaft überlegte<br />

ich, wie ich ihm klar machen konnte, um was es ging, ohne allzu viel Zeit zu vertun. Jim kam<br />

mir jedoch zuvor. Er sagte sarkastisch:<br />

„Er will mit der Bombe etwas Schlimmes verhindern, macht es damit aber unbewusst<br />

nur noch viel schlimmer. Mal was ganz anderes: Ihr habt nicht zufällig die hübsche, dunkel-<br />

haarige Frau, die <strong>mich</strong> neulich begleitet hat, und ihren jetzigen Begleiter, nen Iraker, gesehen?<br />

Sie wollten eigentlich zu euch.“<br />

Richard schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, abgesehen von dir und Kelly haben wir seit deinem letzten Besuch keine<br />

Fremden gesehen.“<br />

Er wollte noch etwas hinzu fügen, doch plötzlich herrschte Aufruhr im Camp. Leute<br />

brüllten, rannten durcheinander und schrien nach Ellie, Richard und Charles. Und dann fielen<br />

Schüsse!<br />

32) Die Bombe<br />

Jack hielt die Luft an. Unmittelbar vor dem Zaun kniff er die Augen zusammen und<br />

betete. Nichts geschah! Unglaublich erleichtert riss der Chirurg die Augen wieder auf. Er<br />

konnte es kaum fassen: Die Sonaranlage hatte ihre Gehirne nicht zu dampfendem Brei ge-<br />

macht. Vor ihm und seinen Begleitern lag die Straße, frei und unbewacht. Jack gab noch mehr<br />

Gas und der Wagen machte regelrecht einen Satz nach vorne.<br />

„Wo müssen wir lang?“, fragte er Daniel aufgeregt.<br />

„Ich hab keine Ahnung, wo wir sind und wo der verdammte Swan ist.“<br />

Daniel hielt sich ein Taschentuch an die Halsverletzung und deutete nach Süden.<br />

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Frauke Feind<br />

„Wir müssen bis zur Ebene und dann südlich, bis wir den Fluss erreichen. Dort ist eine<br />

Kreuzung, da müssen wir Richtung Westen abbiegen. Die Straße zum Swan führt durch die<br />

Berge.“<br />

Jack nickte. Er lenkte den Wagen an einigen kleinen Gabelungen vorbei aus den<br />

Bergen hinaus und erreichte nach kurzer Zeit die große Ebene zwischen den beiden die Insel<br />

beherrschenden Bergketten. Hier gingen unbefestigte, doch gut ausgebaute Straßen in ver-<br />

schiedene Richtungen ab. Doch Jack hielt sich an Daniels Angaben und fuhr nach Süden.<br />

Hurley rührte sich erstmals seit der Schießerei und beugte sich nach vorne.<br />

„Alter! Die haben irgendwie gewusst, dass wir abhauen wollen.“, stieß er hervor.<br />

Daniel schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, das denke ich nicht. Ich vermute, Horace hat nur die Sicherheitsvorkehrungen<br />

verstärkt. Er wird im Augenblick alle Straßen und Wege, die aus Dharmaville herausführen,<br />

überwachen lassen. Ich habe das nicht bedacht, das war ein Fehler.“<br />

Eine Weile schwiegen die drei Männer. Dann fragte Hurley:<br />

„Ich will ja nicht nerven, aber hast du mal daran gedacht, dass ... Naja, dass der Ein-<br />

satz der Bombe vielleicht erst der Auslöser für ... für dieses Lichtdings ist, dass unser Flug-<br />

zeug zum Absturz bringt?“<br />

den Kopf.<br />

Jack sah im Rückspiegel Hurleys Gesicht und war überrascht. Aber Daniel schüttelte<br />

„Das kann nicht sein. Es ist ohne uns zu diesem Ereignis gekommen, dass beweist<br />

unser aller Anwesenheit hier. Wir können es verhindern, da bin ich ganz sicher!“<br />

Hurley überlegte.<br />

„Weißt du denn auch, wo wir die Anderen finden?“<br />

Daniel nickte.<br />

„Ja, Hugo, ziemlich genau. Sie haben westlich des Swan ihr Lager. Wenn wir am<br />

Fluss angekommen sind, wirst du mit dem Wagen weiter fahren zum Swan, Jack und ich<br />

werden uns zu Fuß auf den Weg zu Richard und seinen Leuten machen.“<br />

Jack sah Daniel erstaunt an.<br />

„Warum fahren wir nicht? Das geht doch erheblich schneller.“<br />

Dan nickte.<br />

„Grundsätzlich würde es das, aber das Gelände ist zu unwegsam. Wir kommen dort<br />

nur zu Fuß vorwärts. Hugo, du musst sehr aufmerksam sein, wenn du dich der Baustelle<br />

näherst. Es kann sein, dass die dort schon über unsere Flucht informiert sind. Wir können<br />

sogar davon ausgehen. Es ist möglich, dass sie uns am Swan erwarten. Oder jedenfalls sehr<br />

viel aufmerksamer sind als üblich.“<br />

Hurley sah unglücklich aus der Wäsche.<br />

„Was ist mit Kelly und Sawyer und Jin und Miles? Und mit Kate und Sayid?“<br />

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Frauke Feind<br />

************<br />

„Bist du sicher, dass wir noch die richtige Richtung drauf haben?“<br />

Kate war stehen geblieben und trank einen Schluck Wasser aus einer Plastikflasche,<br />

die sie bei ihrer Flucht aus Dharmaville mitgenommen und unterwegs wo immer möglich<br />

aufgefüllt hatte. Es war drückend warm und irgendwie schien etwas in der Luft zu liegen.<br />

Etwas Unangenehmes. Sayid ließ sich das Wasser geben und trank ebenfalls einen Schluck.<br />

Er sah sich um. Links von ihnen ging es relativ steil bergan.<br />

Fluss sein.“<br />

uns schon ...“<br />

„Ich bin sicher, dass dort etwas weiter westlich die Höhle liegt. Dann müsste dort der<br />

Er deutete nach Osten.<br />

„Sawyer meinte, wir sollten uns in dieser Gegend bemerkbar machen, dann würden sie<br />

Er zuckte zusammen und zischte Kate zu:<br />

„Runter!“<br />

Es hätte dieses Hinweises nicht bedurft, denn auch Kate hatte sich nähernde Schritte<br />

gehört. Angespannt hockten die Beiden hinter einem Dickicht und warteten. Und glaubten<br />

ihren Augen nicht zu trauen!<br />

hinüber.<br />

entgegen.<br />

„Jack!“<br />

Kate schoss hinter dem Busch hervor und eilte zu den beiden Neuankömmlingen<br />

„Kate! Sayid! Wo kommt ihr denn her?“<br />

Jack war herumgewirbelt und starrte vollkommen fassungslos den beiden Freunden<br />

„Was macht ihr hier?“, fragte Sayid ein wenig misstrauisch und starrte Daniel an. „Wo<br />

kommt der denn plötzlich her?“<br />

Jack hatte Kate kurz umarmt, jetzt prustete er angespannt.<br />

„Daniel ist zurück auf die Insel gekommen, um zu versuchen, den Vorfall, der unser<br />

Flugzeug zum Absturz brachte, zu verhindern. Er glaubt, eine Möglichkeit gefunden zu<br />

haben. Daniel, erkläre doch selber, was wir vorhaben.“<br />

Dan seufzte.<br />

„Hört zu. Am Swan, der Station, die ihr später Hatch nennt, werden derzeit Bohrungen<br />

durchgeführt, um eine unvorstellbar große Magnetenergiequelle, die sich unterhalb der<br />

Station befindet, zu Erschließen. Meine Recherchen und Forschungen in den letzten drei<br />

Jahren haben mir eindeutig gezeigt, dass das Freisetzen dieser unglaublichen Energie der Vor-<br />

fall ist, der eure Maschine in 2004 zum Absturz bringt. Nachdem ihr von der Insel ver-<br />

schwunden wart, sind Sawyer, Juliet, Miles, Charlotte und ich eine Weile durch die Zeit ge-<br />

- 362 -


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Frauke Feind<br />

zappt. Ausgelöst wurden die Zeitsprünge durch die Betätigung einer Vorrichtung, die vermut-<br />

lich ebenfalls durch diese Energie genährt wird. Ben war es, der die Vorrichtung in Gange<br />

setzte. Er gelangte auf diese Weise von der Insel herunter. Die wahllosen Zeitsprünge, die<br />

damit einsetzten, wurden dadurch ausgelöst, dass sich die Vorrichtung bei der Betätigung<br />

durch Ben irgendwie verhakte. Erst, als Locke die Vorrichtung erneut betätigte, um die Insel<br />

ebenfalls zu verlassen, nämlich, um euch zu überreden, wieder hierher zurück zu kommen,<br />

löste sich die Vorrichtung aus ihrer Verhakung und die Zeitsprünge hörten auf. Wir saßen<br />

aber nun in 1974 fest. Sawyer, Juliet, Miles und Jin, der inzwischen zu uns gestoßen war, be-<br />

schlossen, auf der Insel zu bleiben, ich selbst verließ sie aber mit dem U-Boot und hielt <strong>mich</strong><br />

die letzten Jahre im DHARMA Hauptquartier in Ann Arbor auf. Dort habe ich die Energie<br />

und ihre Folgen genau studiert. Auf einem unserer Zeitsprünge landeten wir damals in 1954.<br />

Wir gerieten in die Gefangenschaft Richard Alperts und seiner Leute. Er war überzeugt, dass<br />

wir ein <strong>Über</strong>bleibsel einer Einheit US Soldaten waren. Diese hatte die Insel irgendwie ge-<br />

funden und waren von den Anderen getötet worden. Sie hatten jedoch eine Wasserstoffbombe<br />

zurückgelassen.“<br />

Daniel machte eine Pause und ließ die Worte, die er schnell hervor gesprudelt hatte,<br />

erst einmal sacken.<br />

„Wasserstoffbombe?“, fragte Sayid ungläubig.<br />

„Zeitsprünge?“ Kate sah fassungslos von Jack zu Daniel. „Das würde dann wohl auch<br />

erklären, warum wir in 1977 gelandet sind.“<br />

Dan nickte.<br />

„Ja, das ist nur durch die Möglichkeit der Zeitsprünge hier zu erklären. Okay, Richard<br />

wollte von uns, dass wir die Bombe entschärfen. Das war jedoch nicht möglich, da die<br />

Außenhülle leck geschlagen war. Ich riet ihnen, die Bombe unter einer dicken Schicht Beton<br />

zu vergraben. Scheinbar hielten sie sich an meinen Vorschlag.“<br />

„Wie kommst du darauf?“, fragte Sayid langsam.<br />

„Weil die Insel noch existiert.“, meinte Jack lakonisch.<br />

Sayid nickte.<br />

„Du hast Recht. Und wie ...?“<br />

Er sah Dan auffordernd an.<br />

„Wir entkamen, da es zu einem erneuten Zeitsprung kam. Diese Bombe nun ... Sie ist<br />

noch immer auf der Insel und ich bin überzeugt, wenn es mir gelingt, den Zünder in das Bohr-<br />

loch zu werfen, ist es mir möglich, das Ereignis, das zum Absturz führte, und damit alles, was<br />

seither geschah, zu verhindern.“<br />

Sprachlos starrten sowohl Kate als auch Sayid den Physiker an.<br />

„Wie das?“, wollte Sayid wissen.<br />

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Frauke Feind<br />

„Nun, ganz einfach, Sayid. Indem die Explosion die Energiequelle ein für alle Mal<br />

zerstört!“, erklärte Jack ruhig. „Wir würden dann nicht auf die Insel stürzen, sondern sicher in<br />

LA landen.“<br />

Kate starrte kopfschüttelnd auf den Waldboden.<br />

„Wenn wir nicht abstürzen, werde ich in LA ... Ich werde ins Gefängnis gesteckt.“<br />

Ihre Stimme klang dünn und verängstigt. „Die werden <strong>mich</strong> wegen Mordes anklagen.“<br />

Jack sah ebenfalls zu Boden. Sayid überlegte. Alles, was seit dem Absturz mit ihm ge-<br />

schehen war, war die Hölle gewesen. Er hatte die Frau verloren, die er mehr geliebt hatte als<br />

irgendein anderes menschliches Wesen. Er war zum Killer für einen psychopathischen Irren<br />

geworden. Sayid seufzte leise. Ruhig sagte er:<br />

„Kate, alles, was uns auch in LA erwarten mag, scheint mit deutlich besser zu sein, als<br />

das, was wir hier und nach der Insel erleben mussten. Denke doch nur einmal daran, dass du<br />

dich von Aaron trennen musstest. All das wird dann möglicherweise nicht geschehen.“<br />

Eifrig nickte Daniel.<br />

„Nicht nur möglicherweise, es wird nicht geschehen.“<br />

Kate seufzte unglücklich.<br />

„Ihr alle habt es leicht.“, stieß sie heftig hervor. „Ihr wandert nicht in den Knast, kaum,<br />

dass ihr in LA gelandet seid. Mars wird dann leben und es wird ihm ein persönliches Ver-<br />

gnügen sein, <strong>mich</strong> einzusperren. <strong>Der</strong> Mann hasst <strong>mich</strong>. Ich werde ... Ich habe gemordet. Ich<br />

werde lebenslänglich kriegen.“<br />

Sie geriet richtig in Panik. Jack trat zu ihr und zog sie an sich.<br />

„Kate, du bringst ein unglaubliches Opfer, aber ...“<br />

Abwehrend schüttelte Kate den Kopf.<br />

„Nein! Was ihr da von mir verlangt ist zu viel. Ich ... bevor ich für den Rest meines<br />

Lebens eingesperrt im Gefängnis sitze, bleibe ich lieber auf dieser verhexten Insel. Dass könnt<br />

ihr nicht ernsthaft von mir verlangen!“<br />

************<br />

Ich duckte <strong>mich</strong> unwillkürlich und spürte, wie Jim <strong>mich</strong> an der Hand packte und mit<br />

sich in Deckung hinter einem Schrank zog.<br />

was los war.“<br />

„Was ist da los? Ist das schon Daniel?“, keuchte ich erschrocken.<br />

Draußen wurde es bereits wieder ruhig.<br />

„Falscher Alarm?“<br />

Jim sah Richard fragend an. Dieser schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, irgendetwas muss gewesen sein. Bleibt ihr hier, ich werde mal nachschauen,<br />

- 364 -


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Frauke Feind<br />

Richard verschwand nach draußen und wir waren alleine. Jim zog <strong>mich</strong> an sich und<br />

hielt <strong>mich</strong> in seinen Armen. Schon nach wenigen Minuten erschien Richard wieder im Zelt.<br />

Und Jim und ich rissen die Augen weit auf, als wir sahen, wen er bei sich hatte.<br />

wirrt.<br />

Sayid?“<br />

hervor:<br />

„Kate! Hurley! Wo kommt ihr denn so plötzlich her?“, fragte Jim vollkommen ver-<br />

Richard nickte langsam.<br />

„Er gehört zu euch?“, fragte er und deutete auf Hurley.<br />

„Ja, er ... Das ist Hugo, Hugo Reyes. Er saß damals mit im Flugzeug. Was ist ... Wo ist<br />

Kate hatte erleichtert aufgeatmet, als sie Jim und <strong>mich</strong> erkannt hatte. Jetzt sprudelte sie<br />

„Sayid ist bei Jack und Daniel Faraday. Er will ihnen bei einem irrsinnigen Plan<br />

helfen. Sawyer, weißt du was von einer Wasserstoffbombe?“<br />

Jim nickte.<br />

„Ja, ich weiß auch, was Starsky und Hutch vorhaben. Sie wollen die Energiequelle<br />

unter dem Hatch wegpusten.“<br />

Jetzt war es an Kate und Hurley, Jim vollkommen verwirrt anzustarren.<br />

„Woher weißt du ...?“<br />

Jim schüttelte ungeduldig den Kopf.<br />

„Scheißegal, woher ich es weiß, ich weiß es eben. Das dürfen sie nicht machen. Die<br />

Idioten lösen damit ne Katastrophe aus!“<br />

Skeptisch kniff Kate ein Auge leicht zusammen.<br />

„Eine Katastrophe? Was für eine Katastrophe denn?“<br />

Jim fuhr sich mit der Rechten durchs Haar.<br />

„Hör zu, Freckles, wenn ich jetzt anfange, das alles zu erklären, hocken wir Ostern<br />

noch hier. Vertrau mir einfach ein einziges verdammtes Mal und glaub mir, wenn ich sag,<br />

dass es n Desaster gibt, wenn die Schwachköpfe das schaffen, was sie vorhaben!“<br />

Eindringlich waren seine Worte gewesen und überzeugend. Hurley hatte Jim aufmerk-<br />

sam zugehört. Jetzt meinte er:<br />

„Daniel sagt, wenn er schafft, was er will, würden wir nicht Abstürzen und alles, was<br />

dann passiert, würde nicht passieren. Sawyer, Charlie würde nicht sterben. Und Boone und<br />

Shannon und alle auch nicht.“<br />

Er sah Jim mit einem merkwürdigen Blick an und irgendwo tief in mir schrillte eine<br />

Alarmglocke los. Jim schüttelte energisch den Kopf.<br />

„Vergiss es. Dass ist Blödsinn. Er kann es nicht verhindern, glaub mir!“<br />

Hurley war neben <strong>mich</strong> getreten und sah bedrückt zu Boden. Und dann ging alles so<br />

blitzschnell, dass keiner von uns mehr reagieren konnte. Hurley, dem wir am wenigsten etwas<br />

Böses zugetraut hätten, bewegte sich plötzlich mit einer Geschwindigkeit, die niemand bei<br />

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Frauke Feind<br />

ihm vermutet hätte. Er packte <strong>mich</strong> und eine Sekunde später hing ich bereits hilflos in seinem<br />

festen Griff, ein Messer, das er von irgendwo her gezaubert hatte an meiner Kehle. Kate hatte<br />

genauso schnell reagiert und hielt plötzlich ebenfalls ein Messer in der Hand, dass sie ohne zu<br />

Zögern Richard an die Kehle setzte, an den sie unauffällig heran getreten war. Jim stand wie<br />

gelähmt da und starrte Hugo an. Wir hörten ein reißendes Geräusch hinter uns. Die Zeltplane<br />

wurde aufgeschlitzt und niemand geringeres als Jack, Sayid und Daniel traten durch einen<br />

Schlitz hindurch hastig in das Zelt. Jack richtete eine Waffe auf Jim und sagte ruhig:<br />

„So sieht man sich wieder, Sawyer. Jetzt hast du kein Buch, in dem du zur Ent-<br />

spannung lesen kannst, um eine Entscheidung zu treffen.“<br />

************<br />

„Kate, ich schwöre dir, dass ich alles Menschenmögliche tun werde, um dich aus dem<br />

Gefängnis zu holen. Ich werde den besten Anwalt besorgen, ich werde dich da raus holen. Du<br />

weißt, dass ich dich über alles Liebe. Was gewesen ist tut mir unglaublich leid, aber ich kann<br />

es nicht mehr ändern oder rückgängig machen. Aber ich kann dafür sorgen, dass wir eine neue<br />

Chance bekommen werden. Eine neue Chance für eine neue, gemeinsame Zukunft, Kate.“<br />

Kate sah Jack an.<br />

„Wer sagt dir denn, dass wir uns erinnern werden? Die Chancen, dass wir uns gar<br />

nicht kennen sind doch viel größer.“<br />

Unglücklich und fast panisch starrte Kate Jack an. Daniel schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, Kate, die Möglichkeit, dass wir uns nicht erinnern werden ist minimal. Jack hat<br />

Recht, ihr könnt einen Neuanfang schaffen. Du hast ihm immer vertraut, tue dies noch ein<br />

einziges Mal und wir werden dieses ganze Chaos ein für alle Mal beseitigen.“<br />

Kate wollte etwas antworten, aber in diesem Moment knackte es hinter ihnen im<br />

Dschungel. Alarmiert fuhren die Vier herum und richteten ihre Waffen in das Gebüsch, aus<br />

dem das Geräusch zu ihnen drang. Plötzlich ertönte eine mehr als bekannte Stimme.<br />

„Hey, Leute, ballert <strong>mich</strong> nicht über den Haufen.“<br />

„Hurley?“<br />

gestapft kam.<br />

Ungläubig starrte Jack in das Gebüsch, aus dem Augenblicke später tatsächlich Hurley<br />

„Was machst du hier? Du solltest ...“<br />

Hurley unterbrach Jack.<br />

„Hör zu, Alter, das kannst du vergessen. Die Baustelle ist bewacht wie Fort Knox! Da<br />

komm ich nicht ran, vergiss es. Ich kann euch hier helfen.“<br />

Er ließ sich schwer atmend auf einen umgestürzten Baum in der Nähe sinken und<br />

wischte sich Schweiß von der Stirn. Jack zuckte die Schultern und wandte sich wieder Kate<br />

zu.<br />

- 366 -


„Wie sieht es aus, Kate, bist du dabei?“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Mehrere Minuten grübelte Kate herum, dann nickte sie langsam.<br />

„Ich weiß nicht, ob ich einen riesigen Fehler mache, aber, ja, ich bin dabei.“ Resigniert<br />

sah sie Jack an. „Wie wollen wir vorgehen?“<br />

Bombe.“<br />

„Wir müssen zu Richard und die Bombe holen, beziehungsweise den Zünder der<br />

„Die passen auf wie Teufel, da kommt laut Sawyer nicht mal eine Maus unbemerkt ins<br />

Camp.“, stieß Kate hervor.<br />

„Dann müssen wir ihnen eine Ablenkung bieten, die ihre Aufmerksamkeit so auf sich<br />

ziehen wird, dass sie weitere Aktionen nicht oder jedenfalls zu spät mitbekommen.“, erklärte<br />

Daniel hastig. „Uns läuft die Zeit davon. Wir müssen schnell entscheiden, was wir tun.“<br />

Sayid hatte die ganze Zeit kein Wort gesagt. Jetzt fragte er ruhig:<br />

„Kate, Hurley, ich habe eine Idee, dabei kommt es aber sehr auf euch an. Traut ihr<br />

euch zu, in Richards Lager zu gehen und ihn als Geisel zu nehmen?“<br />

Kate sah Hurley an. Blass, aber entschlossen nickte dieser.<br />

„Alter, ich schaff alles, wenn ich dafür meinen Arsch endlich von dieser scheiß Insel<br />

weg gebeamt kriege.“<br />

Auch Kate nickte.<br />

„Ja, wie stellst du es dir vor?“<br />

Sayid erklärte langsam:<br />

„Ihr werdet ins Lager gehen, oder euch bringen lassen und Richard von unserem Plan<br />

erzählen. Es muss euch gelingen, die so abzulenken, dass sie nicht bemerken, dass wir uns<br />

anschleichen. Ihr müsst Richard in eure Gewalt bringen, Kate, für ihn werden seine Leute<br />

alles tun. Wir drei werden uns an seine Unterkunft heranschleichen und euch zu Hilfe<br />

kommen. Kriegt ihr Beide das hin?“<br />

Energisch nickte Kate und auch Hurley nickte, wenn auch lange nicht so überzeugt.<br />

„Hurley, du wirst Kate aktiv unterstützen müssen.“, sagte Jack eindringlich.<br />

„Ja, Alter, das ist mir klar. Ich krieg das hin!“<br />

„Woher wisst ihr, welche Unterkunft Richards ist?“, fragte Kate jetzt.<br />

„Wir werden euch beobachten und sehen, wo man euch hin bringt. Lass dass nur<br />

meine Sorge sein.“, erklärte Sayid beherrscht.<br />

Kate nickte.<br />

„Okay, Hurley, alles klar bei dir?“<br />

<strong>Der</strong> junge Mann nickte nervös.<br />

„Wie wollen wir an die Baustelle heran kommen, wenn wir es geschafft haben, den<br />

Zünder der Bombe zu bekommen? Wenn sie so gut bewacht wird, wie Hurley sagt ...“<br />

Kate ließ die Worte in der Luft hängen.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es soweit ist. Wir könnten beispielsweise<br />

Richard mitnehmen und als Ablenkung zur Baustelle hinunter bringen. Wenn die DHARMA<br />

Leute den Anführer ihrer Gegner in die Hand bekommen, sind sie möglicherweise genügend<br />

abgelenkt, nicht mit zu bekommen, dass sich einer von uns dem Bohrloch nähert. Aber<br />

darüber können wir uns Gedanken machen, wenn wir dort sind. Zur Not schießen wir uns den<br />

Weg frei.“, erklärte Sayid hart. „Ich würde alles riskieren, um dieser ganzen Hölle zu ent-<br />

kommen.“<br />

hatten.<br />

Er wirkte so hart und entschlossen, wie Kate, Hurley und Jack ihn noch nie erlebt<br />

„Selbst, wenn ich dabei sterbe, ist das noch besser als alles, was seit dem Absturz ge-<br />

schehen ist. Wir werden so viele Leben retten.“<br />

Kate ließ sich von Sayids leidenschaftlichen Worten mitreißen.<br />

„Du hast Recht, wenn es eine Chance gibt, all das ungeschehen zu machen, müssen<br />

wir sie ergreifen.“<br />

Zögernd meldete sich Daniel zu Wort.<br />

„Vielleicht wird es einfacher als wir denken. Wenn die beim Swan in die Energie-<br />

tasche Bohren, werden sie vermutlich ganz andere Probleme haben, als auf unerlaubte Ein-<br />

dringlinge zu achten, die Dharmabekleidung tragen.“<br />

Jack nickte.<br />

„So sehe ich das auch. Gut ...“<br />

Er griff an seinen Gürtel, wo er eine Scheide mit einem Messer befestigt hatte, bevor<br />

er zusammen mit Dan und Hugo Dharmaville verlassen hatte. Er löste diese und drückte sie<br />

Kate in die Hand. Dan hatte ebenfalls ein Messer mitgehen lassen und drückte dieses Hurley<br />

in die Hand, der es angewidert entgegen nahm.<br />

„Damit müsst ihr auskommen. Wenn es euch gelingen würde, eine blonde Frau, sie<br />

müsste um die vierzig sein und ist neben Richard die Anführerin der Anderen, ebenfalls in<br />

eure Gewalt zu bekommen, wäre das großartig. Sie heißt Ellie.“<br />

Kate nickte.<br />

„Wir werden sehen.“, sagte sie entschlossen und verbarg das Messer in ihrem Hosen-<br />

bund unter dem T-Shirt.<br />

Nun sah sie Hurley an.<br />

„Alles klar bei dir?“<br />

Ergeben nickte dieser.<br />

„Ja. Wo müssen wir hin?“<br />

„Wir gehen noch ein Stück zusammen, dann werdet ihr direkt in das Lager<br />

marschieren, während wir die Unruhe, die dabei entstehen wird, ausnutzen werden, uns anzu-<br />

schleichen. Viel Glück.“<br />

- 368 -


By<br />

Frauke Feind<br />

************<br />

Ich hing wie paralysiert in Hurleys Arm und spürte das Messer an meiner Kehle.<br />

Hurley wirkte unglaublich entschlossen und ich hatte im Augenblick nur Angst. Richard stand<br />

relativ ruhig in Kates Griff und fragte:<br />

„Wie soll es weiter gehen?“<br />

Daniel trat zu dem charismatischen Anführer hinüber und erklärte angespannt:<br />

„Du wirst jetzt Ellie rufen, Richard. Wenn ihr tut, was wir verlangen, wird niemandem<br />

etwas geschehen. Wir sind nicht hier, um irgendeinen Menschen zu verletzen. Rufe sie jetzt.“<br />

Jim stand angespannt da und sah Hurley an.<br />

„Wenn du ihr etwas tust, schwöre ich, werde ich dich umbringen!“<br />

Hugo zuckte zusammen aber Jack erklärte ruhig:<br />

„Wir sind nicht hier, um irgendwem etwas zu tun, Sawyer. Wir wollen nur die Bombe<br />

und dann werden wir uns alle retten.“<br />

sein.“<br />

Jim bewegte sich ein wenig und Jack lachte leise.<br />

„Vergiss es, Sawyer, okay, ich werde nicht zögern zu schießen, das muss dir klar<br />

Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken.<br />

„Bitte, Jim, versuche nichts. <strong>Der</strong> Schwachkopf ist verrückt genug, dich über den<br />

Haufen zu schießen, um seinen sinnlosen und katastrophalen Plan in die Tat umzusetzen.“<br />

Giftig stieß Kate hervor:<br />

„Er ist kein Schwachkopf. Er wird uns alle retten.“<br />

Sarkastisch erklärte Jim:<br />

„Ja, so wie er uns schon mal gerettet hat, was?“<br />

„Er hat uns hier weg geschafft.“, stieß Hurley erregt hervor.<br />

„Klar, Moppelchen, und wohin dich das gebracht hat sieht man ja. Du stehst hier und<br />

hältst einer Unschuldigen ein Messer an den Hals. <strong>Der</strong> große Doc versucht hier den lieben<br />

Gott zu spielen und ihr Idioten folgt ihm wie die Lemminge. Er wird uns alle ...“<br />

„Halt dein Maul, Sawyer. Deine Zeit ist vorbei. Jetzt wird wieder getan was ich sage.<br />

Du verschwendest deinen Atem. Du wirst mir in absehbarer Zeit dankbar sein, dass ver-<br />

spreche ich dir.“<br />

Während unserer Debatte war Richard, von Sayid mit einer Waffe bedroht, an den<br />

Zelteingang getreten und zögerte deutlich, zu tun, was von ihm verlangt wurde.<br />

„Mach schon, wenn du zögerst, machst du alles nur noch schlimmer.“, erklärte Sayid<br />

ruhig und gab Alpert einen Stoß mit der Waffe.<br />

Richard atmete tief ein, dann rief er:<br />

„Ellie, kannst du bitte mal kurz zu mir kommen?“<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Eine schlanke, gut aussehende Frau um die vierzig, die ein kleines Stück entfernt mit<br />

zwei jungen Männern sprach, drehte sich zu Richard herum und setzte sich in Bewegung.<br />

„Was gibt es?“, fragte sie und erstarrte.<br />

Sie sah plötzlich einen schlanken, bärtigen Mann hinter Richard, der in einer ein-<br />

deutigen Geste eine Waffe auf sie richtete.<br />

„Was ...?“<br />

„Bleib ganz ruhig und komm ins Zelt.“, sagte Daniel angespannt.<br />

Die Frau hatte sich verändert, aber Dan erkannte trotzdem sofort die junge Frau<br />

wieder, die ihn 1954 zur Bombe geführt hatte.<br />

fragend an.<br />

„Mach keinen Ärger, dann wird niemandem etwas passieren.“<br />

Zögernd trat die Frau näher. Schließlich stand sie bei uns im Zelt und sah Richard<br />

„Sie wollen, dass wir sie zur Bombe führen. Wenn wir tun, was sie verlangen wird<br />

keinem etwas geschehen.“, erklärte Richard ruhig.<br />

Kate sah sich im Zelt um und sah in einer Ecke ein paar Stricke liegen. Sie griff sich<br />

diese und trat damit an Richard heran.<br />

„Leg die Hände auf den Rücken, mach schon.“<br />

Innerhalb kürzester Zeit hatte sie Jim, Richard, Ellie und mir die Hände auf den<br />

Rücken gefesselt. Jetzt verschwand endlich das Messer von meinem Hals und Jim atmete er-<br />

leichtert auf. Er warf mir einen liebevollen Blick zu und nickte aufmunternd.<br />

„Noch ist es nicht zu spät, Baby.“, sagte er leise.<br />

Ich nickte ebenfalls, wenig überzeugt.<br />

„Wie geht es weiter?“, fragte Richard langsam.<br />

„Wir werden uns zusammen auf den Weg zur Bombe machen, ganz einfach. Wenn<br />

eure Leute Zicken machen, werden sie einen ihrer Anführer verlieren. Wenn ihr tut, was wir<br />

verlangen, werden wir euch unverletzt gehen lassen. So einfach ist das.“<br />

Sayid sah Richard an und deutete mit einem Nicken auf den Zeltausgang.<br />

Von vier Waffen bedroht traten Ellie und Alpert vor das Zelt. Sofort wurden die ersten<br />

Anwesenden aufmerksam. Doch bevor es zu einer Eskalation kommen konnte, erklärte<br />

Richard laut und unmissverständlich:<br />

„Bleibt alle ganz ruhig! Es nützt keinem, wenn es hier zu einem Blutbad kommt. Wir<br />

werden tun, was man von uns verlangt und niemandem wird etwas geschehen. Ihr bleibt alle<br />

hier im Lager, das ist ein Befehl. Tim, Charles, ihr sorgt dafür, dass keiner uns folgt.“<br />

Ich sah zu den beiden Männern hinüber und erkannte in Tim meinen Großvater. Neben<br />

ihm stand ein junger Mann, den ich sofort als meinen Vater identifizierte. Er musste dreiund-<br />

zwanzig Jahre alt sein. Warum mir ausgerechnet dieser Gedanke durch den Kopf schoss war<br />

mir unverständlich. Ich war bereits geboren, irgendwo hier lag ich in einer Kinderwiege und<br />

stand gleichzeitig an den Händen gefesselt neben Jim, von Waffen bedroht. Ich konnte ein<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

hysterisches Kichern nicht unterdrücken. Diese ganze Situation war derart irrational, dass es<br />

meinen Verstand zu Sprengen drohte. Doch als Jack Jim mit seiner Waffe einen harten Stoß<br />

in den Rücken verpasste und ihn anherrschte:<br />

Lage zurück.<br />

„Setz dich in Bewegung, Sawyer.“, kehrte mein Versand augenblicklich zur aktuellen<br />

„Ich hasse dich, Jack. Wenn du Jim etwas tust, werde ich dich umbringen!“<br />

Jim lächelte mir zu.<br />

„Er wird mir nichts tun, Baby, keine Bange.“<br />

Richards Leute waren aufgesprungen, hatten zu ihren Waffen gegriffen und einen<br />

Moment war es in der Schwebe, ob es doch zu einem Kampf kommen würde. Angespannt<br />

standen wir alle da und warteten. Sayid presste Richard zur Unterstützung seiner Worte den<br />

Waffenlauf an die Schläfe. Ohne mit der Wimper zu zucken sagte Richard noch einmal:<br />

„Macht euch keine Sorgen um uns, es wird uns nichts geschehen. Bleibt ruhig, dann<br />

sind Ellie und ich in Kürze wieder unversehrt bei euch. Tim, ich verlasse <strong>mich</strong> auf euch.“<br />

Und endlich nickte mein Großvater energisch.<br />

„Das kannst du, Richard, wir werden auf eure Rückkehr hier warten. Sollte euch<br />

jedoch etwas zustoßen, wird keiner von euch überleben.“<br />

Diese Worte galten Jack, Kate, Daniel, Hurley und Sayid. Unbeeindruckt sahen diese<br />

kurz zu den Anwesenden hinüber. Dann setzten sie sich, und damit auch uns Gefangene in<br />

Bewegung. Immer von mindestens zwei Waffen bedroht führten Richard und Ellie uns aus<br />

dem Camp in den Dschungel. Schweigend marschierten wir unter den wachsamen Augen<br />

Sayids und Jacks auf einem kleinen Pfad in nördlicher Richtung aus dem Lager. Knappe zwei<br />

Stunden wurden wir durch den Wald geführt, Stunden, in denen kaum gesprochen wurde.<br />

Alle schwiegen angespannt, jeder beobachtete aus anderen Gründen sehr gründlich die Um-<br />

gebung. Jim versuchte zwischendurch, Jack zu überzeugen, dass sein Plan nicht funktionieren<br />

würde. Er sagte:<br />

könnte?“<br />

„Hör mal, Jacko, hast du dir mal überlegt, dass eure scheiß Bombe alles erst auslösen<br />

Jack gab Jim einen harten Schubs in den Rücken und erklärte giftig:<br />

„Halt den Mund, Sawyer. Du hast keine Ahnung, wovon du redest. Du weißt ja nicht,<br />

was wir alle durchgemacht haben.“<br />

„Ach, weiß ich nicht, Doc? Schon vergessen? Ich hab euren Arsch gerettet und bin auf<br />

der Insel geblieben, damit ihr abzitternd konntet. Ich hab hier auch nicht gerade das Paradies<br />

auf Erden gehabt, kannst du mir glauben. Trotzdem ist es Irrsinn, was ihr vorhabt.“<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

33) Auf Leben und Tod<br />

Daniel hatte zugehört und sagte in seiner üblich hektischen Art: „Nein, nein, das ist es<br />

nicht. Sawyer, du musst uns vertrauen. Wir werden euch alle endgültig aus dieser misslichen<br />

Lage befreien. Ich habe in Ann Arbor Zeit genug gehabt, <strong>mich</strong> mit den Zeitsprüngen und der<br />

Energie zu beschäftigen. Wenn unser Plan gelingt, werdet ihr nie auf der Insel abstürzen. Das<br />

musst du mir glauben. Ihr werdet all diesen Horror nie erleben.“<br />

Jim lachte leise.<br />

„Du willst nur verhindern, dass dein Rotschopf hier abkratzt.“, erklärte er ironisch.<br />

„Wir anderen sind dir scheißegal, Einstein.“<br />

Kurz zuckte Dan zusammen, als Jim ihn so offen mit seiner Vermutung konfrontierte.<br />

„Natürlich ist das auch eine wichtige Option in meinem Plan, das streite ich gar nicht<br />

ab. Wenn ich sie damit vor den Sterben bewahren kann, ist das doch nicht verkehrt. Du<br />

würdest für Kelly auch alles versuchen.“<br />

Jack machte der Diskussion ein Ende.<br />

„Seid still, alle beide. Wir werden alle vom Gelingen unseres Plans profitieren. Wir<br />

werden uns alle im Flugzeug wieder finden und niemand wird sterben.“<br />

Jim schüttelte frustriert den Kopf.<br />

„Ich wusste, dass du stur und dämlich bist, Doc, aber dass du so stur und so dämlich<br />

bist ist selbst mir neu.“<br />

Wütend stieß Jack Jim den Waffenlauf in die Nierengegend.<br />

„Halt jetzt deinen Rand, sonst werde ich dich knebeln, Sawyer, das schwöre ich dir.“<br />

Jim war zusammen gezuckt und ich sagte resigniert:<br />

„Lass es, Schatz, du wirst sie nicht überzeugen. Gegen Dummheit ist kein Kraut ge-<br />

wachsen. Was musst du für eine traurige Kindheit gehabt haben, Jack, dass du jetzt hier deine<br />

erzwungene Macht derart ausnutzen musst. Du tust mir leid.“ Jack zuckte unter meinen<br />

Worten zusammen und irgendwie tat mir das gut. Ich konnte nur noch hoffen, dass es uns<br />

später gelingen würde, den Plan an der Baustelle zu vereiteln. Sie ahnten nichts von Jin und<br />

Miles, das war unser Vorteil. Und immerhin lebte Daniel noch. Ein wichtiger Punkt auf<br />

unserer Liste. Obwohl ich langsam anfing <strong>mich</strong> zu fragen, ob das nicht zu unserem Nachteil<br />

gereichte.<br />

Vor uns blieben Ellie und Richard stehen. Ein Höhleneingang war in ein paar Schritten<br />

Entfernung vor uns aufgetaucht.<br />

„Dort müssen wir rein.“, sagte Richard ruhig.<br />

„Dann los.“, erklärte Sayid und gab Richard einen sanften Stoß.<br />

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Frauke Feind<br />

Ellie und der Anführer setzten sich wieder in Bewegung und betraten die Höhle. „Dort<br />

in der Ecke liegen Fackeln.“, erklärte die Frau und deutete mit einem Nicken in eine Ecke der<br />

kleinen Höhle.<br />

Kate eilte in die angewiesene Richtung und kam mit fünf Fackeln in der Hand zurück.<br />

Sie wurden entzündet, dann trat Sayid mit einer Fackel in der Hand zu Richard.<br />

„Wir gehen voran.“ erklärte er kalt.<br />

Die Höhle verjüngte sich, je tiefer wir eindrangen, bis sie schließlich nur noch ein<br />

schmaler Gang war, der stetig abwärts führte. Misstrauisch fragte Daniel:<br />

„Wie wollt ihr denn bitte hier die Bombe hinein bekommen haben?“<br />

Ellie drehte sich zu ihm herum.<br />

„Stell dich nicht dümmer an als du bist! Natürlich nicht auf diesem Wege! Wir haben<br />

sie auf einem anderen Weg hier herunter geschafft und dann haben wir die Höhle von oben<br />

verschlossen, wie du es uns damals geraten hast. Wie kommt es eigentlich, dass du kaum älter<br />

aussiehst?“<br />

Daniel gab keine Antwort. Er schwieg verbissen und wir folgten alle dem Pfad in den<br />

Berg hinein. Schließlich standen wir vor einer gemauerten Wand.<br />

„Dahinter ist eine weitere Höhle, in der die Bombe nun schon seit dreiundzwanzig<br />

Jahren sicher verwahrt ist.“, erklärte Richard ruhig. „Dort vorne liegt ein schwerer Vorschlag-<br />

hammer, damit könnt ihr die Mauer einschlagen.“<br />

Hurley sah sich um und entdeckte den Hammer.<br />

„Hier ist er.“, erklärte er und hob das Werkzeug auf.<br />

Sayid löste Richards Fesseln und sagte kalt lächelnd: „Bitte, tob dich aus.“ Richard<br />

griff nach dem Hammer und trat langsam an die Wand heran. Gute dreißig Minuten schlug er<br />

mit aller Kraft auf die Mauer ein. Schließlich war er so fertig, dass er den Hammer nicht mehr<br />

in die Höhe bekam. Er hatte es geschafft, fünf Steine zu lösen. Jack schüttelte genervt den<br />

Kopf. Er machte nun Jims Hände los und nickte in Richtung Wand.<br />

„Na los, du Held, weiter machen.“<br />

Hasserfüllt sah Jim den Arzt an. Wortlos griff er nach dem Hammer und trat an die<br />

Wand heran. Sein Hass half ihm bei der schweren Arbeit und nach vielleicht fünfundvierzig<br />

Minuten hatte er das Loch so weit vergrößert, dass wir uns hindurch zwängen konnten.<br />

Vollkommen erschöpft sank Jim auf der anderen Seite erst einmal auf die Knie. Schweiß lief<br />

ihm in Strömen über das Gesicht und er keuchte nach Luft.<br />

„Verdammt, ich hätte doch nicht Rauchen sollen ...“, stieß er atemlos hervor.<br />

Sayid und Daniel waren mit Fackeln in der Hand in die kleinere Höhle vorgedrungen.<br />

Und jetzt konnten wir alle die Bombe sehen. Sie hing in einem Holzgestell sicher verwahrt.<br />

Die Zeit hatte ihre Außenhülle an vielen Stellen rosten lassen, aber wie Daniel mit einem<br />

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Frauke Feind<br />

schnellen, prüfenden Blick feststellte, hatte sich der Riss nicht vergrößert. Er nickte dem<br />

Iraker zu und dieser sagte:<br />

„Okay. Hier ist sie. Schnell, das Werkzeug.“<br />

Er ließ sich von Dan dessen Rucksack geben und entnahm diesem einige Werkzeuge,<br />

Schraubendreher, Zange, Maulschlüssel. Er trat an die große Wasserstoffbombe heran und<br />

löste eine Abdeckung an der Spitze der Bombe. Sehr vorsichtig und langsam. Nun machte er<br />

sich daran, den Zünder auszubauen. Er arbeitete konzentriert und weiterhin langsam und vor-<br />

sichtig. Nach einiger Zeit sagte er angespannt:<br />

„Ich hab ihn! Gib mir bitte den Rucksack.“<br />

Dan reichte dem Iraker den Rucksack und dieser legte den ausgebauten Zünder vor-<br />

sichtig in diesen hinein.<br />

zu erklären.“<br />

„So, das war es. Jetzt schnell zum Swan. Du wirst so nett sein, uns den kürzesten Weg<br />

Er sah Richard auffordernd an. Ich war neben Jim zu Boden gesunken und hatte an-<br />

gespannt zugeschaut, als Sayid sich bemühte, den Zünder aus der Bombe zu entfernen.<br />

Verzweifelt sah ich Jim an, der wieder zu Atem gekommen war und sah ein giftiges Funkeln<br />

in seinen Augen. Er lächelte mir beruhigend zu.<br />

„Alles wird gut, Sheena, vertrau darauf.“<br />

Leider konnte ich die Zuversicht derzeit nicht teilen. Ich frage <strong>mich</strong> im Gegenteil, ob<br />

Jim und mir ein ruhiges Zusammenleben aus irgendeinem Grunde von einer höheren Macht<br />

nicht gegönnt wurde.<br />

Wenn es uns doch noch gelang, Jack an der Baustelle aufzuhalten, war die Chance,<br />

dort im Kampf getötet zu werden, sehr groß. Wenn es uns nicht mehr gelingen würde, ihn<br />

aufzuhalten, würde der verfluchte Kreislauf von vorne losgehen und es war mehr als fraglich,<br />

ob Jim und ich eine zweite Chance erhalten würden. Wie ich es auch drehte und wendete, für<br />

ein friedliches Leben zu zweit, irgendwo auf dieser Welt, sah es im Moment für Jim und <strong>mich</strong><br />

nicht gut aus. Ich konnte nicht mehr verhindern, dass mir Tränen über die Wangen kullerten.<br />

Jim sah dies und rückte ohne auf Hurley und Kate, die uns scharf im Auge behielten, zu<br />

achten, dicht an <strong>mich</strong> heran. Er zog <strong>mich</strong> an sich und sagte leise:<br />

„Wir werden es schaffen, Babe. Mach dir keinen Kopf. Schlauer als Jack bin ich alle<br />

mal und du erst Recht. Wir schaffen das.“<br />

Schluchzend ließ ich <strong>mich</strong> gegen ihn fallen. Wir wurden jedoch von Jack und Sayid<br />

unterbrochen, die wieder zu uns traten.<br />

„Tut mir leid, aber ihr werdet eine Weile hier bleiben müssen, bis wir an der Baustelle<br />

sind. Kelly, ich weiß, dass du <strong>mich</strong> hasst. Du und Sawyer, ihr werdet euch vermutlich nie<br />

kennen lernen. Aber wir alle bringen Opfer, um endlich aus dieser Geschichte heraus zu<br />

kommen. Sieh es mal von der Seite: Wenn ihr euch nie kennen lernt, werdet ihr euch hinter-<br />

- 374 -


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Frauke Feind<br />

her auch nicht vermissen.“ Er sah uns an und nickte. „Los, hoch mit dir, ich muss dich leider<br />

wieder fesseln.“<br />

Jim warf dem Arzt einen mörderischen Blick zu, stand aber auf. Widerwillig und<br />

zitternd vor unterdrückter Wut ließ er sich die Hände wieder auf den Rücken fesseln. Dann<br />

hatte er sich wieder zu setzen. Mit weiteren Stricken, die Kate eingesteckt hatte, wurden wir<br />

aneinander gefesselt. Mit Richard und Ellie verfuhren die Anderen genauso. Jack sah uns<br />

noch einmal an.<br />

„Tut mir leid.“, sagte er und erklärte an die Anderen gewandt: „Wir machen uns auf<br />

den Weg. Wenn alles geklappt hat, werdet ihr bei euren Leuten, du im Flieger und du, Kelly<br />

zuhause landen.“<br />

Er drehte sich ohne ein weiteres Wort herum und stieg aus dem Loch in der Mauer,<br />

gefolgt von Daniel und Sayid. Hurley sah Sawyer unglücklich an.<br />

„Man, Alter, es tut mir echt so leid, aber wir müssen endlich aus dieser ganzen<br />

Scheiße raus. Wir sehen uns im Flieger. Kelly, es ...“<br />

Jim unterbrach Hurley hart.<br />

„Verpiss dich, Jabba, und häng dich wieder an Jacks Rockzipfel. Und nimm Jacks<br />

Hundedame mit.“<br />

gewidert.<br />

Er warf Kate einen derart abfälligen Blick zu, dass diese wütend schnaufte:<br />

„Du wirst Jack auch noch auf Knien danken.“<br />

„Es reicht doch, wenn ihr dem großen Doktor in den Arsch kriecht.“, sagte ich an-<br />

Kate sah aus, als überlege sie, mir eine Ohrfeige zu verpassen. Schließlich jedoch<br />

zuckte sie nur die Schultern und sagte:<br />

„Komm, Hurley, es hat keinen Sinn, die werden nie begreifen, was Jack für sie tut.“<br />

Sie drehte sich um und folgte zusammen mit Hurley Jack und den anderen.<br />

Als wir alleine waren fragte Jim:<br />

„Was nun, Cochise?“<br />

Er sah Richard an.<br />

„Wir müssen hier raus. Wir haben nur noch eine Chance, Jack und Daniel an der Bau-<br />

stelle aufzuhalten!“, stieß ich nervös hervor.<br />

„Ja, eine andere Option gibt es nun leider nicht mehr. Irgendwie muss es uns gelingen,<br />

die Fesseln los zu werden.“<br />

Entnervt stieß Jim hervor:<br />

„Kate versteht was davon, verdammt noch mal. Das rührt sich nicht einen Millimeter.“<br />

Ich spürte, wie er an den Fesseln zog und zerrte, aber da rührte sich wirklich nichts.<br />

„Könnt ihr euch hochstemmen?“<br />

Richard sah fragend zu Jim und mir hinüber.<br />

- 375 -


„Wir können es versuchen.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Die nächsten Minuten kämpften Jim und ich, wie ein paar Meter entfernt Richard und<br />

Ellie, darum, uns auf die Beine zu stemmen. Endlich hatten wir es geschafft. Wir konnten es<br />

kaum glauben. Mühsam stolperten wir zu unseren Leidensgenossen hinüber und halfen<br />

diesen, ebenfalls auf die Beine zu kommen.<br />

„Wir müssen irgendetwas finden, womit wir die Fesseln durchtrennen können. Seht<br />

euch um.“, stieß Richard etwas atemlos hervor.<br />

Schwerfällig schleppten wir uns alle durch die kleine Höhle, in der Hoffnung, etwas<br />

zu finden, dass uns helfen konnte, die verfluchten Fesseln loszuwerden. Irgendwann gaben<br />

wir verzweifelt auf. Nichts Scharfkantiges war zu finden. Ich bat Jim:<br />

„Halt mal eine Weile ganz still, okay.“<br />

Ich hatte gemerkt, dass ich ein Stück des Strickes, der unsere Handfesseln verband,<br />

mit fast affenartigen Verrenkungen erreichen konnte. Ich fummelte, bis ich das Gefühl hatte,<br />

mir würden jeden Moment die Finger abfallen, doch irgendwann hatte ich es tatsächlich ge-<br />

schafft. <strong>Der</strong> Strick, der uns verband, löste sich und wir waren zumindest schon einmal frei<br />

von einander.<br />

Ich ließ <strong>mich</strong> vorsichtig zu Boden sinken und keuchte wütend:<br />

„Was Kate schafft, schaffe ich auch!“<br />

Genervt versuchte ich, meine Beine durch die gefesselten Arme zu bekommen.<br />

Schweißgebadet kämpfte ich verbissen und wurde dabei von Jim unterstützt, so gut es ihm<br />

möglich war. Er drückte und schob mit und plötzlich war ich durch. Ich hatte zwar das Ge-<br />

fühl, mir die Wirbelsäule gebrochen und beide Arme ausgekugelt zu haben, aber ich hatte es<br />

geschafft. Als ich wieder zu Atem gekommen war, war es nun ein Leichtes, die Fesseln, die<br />

Jims Hände einschnürten, zu lösen. Sekunden später war auch ich frei und wir nahmen uns die<br />

Zeit, uns kurz fest in die Arme zu nehmen. Dann eilten wir zu Richard und Ellie hinüber und<br />

befreiten diese nun ebenfalls. Hastig erklärte Richard:<br />

„Wir werden euch zu Hilfe kommen, das betrifft uns alle hier. Vorne in der Höhle<br />

haben wir ein paar Waffen für den Notfall versteckt, die werdet ihr mit euch nehmen. Beeilt<br />

euch, zur Baustelle zu kommen. Wir werden ins Lager zurückkehren und unsere Leute holen.<br />

Solange müsst ihr alleine klar kommen.“<br />

Schon stiegen wir durch das Loch in der Mauer und hetzten den Weg zurück zur<br />

Höhle. Im Dunkeln, ohne Fackeln, dauerte dies natürlich eine Weile. Endlich aber tauchte vor<br />

uns Lichtschein auf und wir schafften die letzten Meter im Laufschritt. Wir standen wieder in<br />

der großen Höhle und Richard eilte in eine entlegene Ecke. Gleich darauf kam er mit zwei<br />

Springfield M1 sowie zwei Walther PPK und Munition zurück. Er sah <strong>mich</strong> an.<br />

„Kannst du ...“<br />

Jim unterbrach Richard.<br />

- 376 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Sie schießt besser als wir beide zusammen.“, grinste er, prüfte mit geübtem Griff die<br />

Walther und steckte diese hinten in seinen Hosenbund.<br />

Erschrocken stellte ich fest, dass ich inzwischen schon genauso selbstverständlich<br />

nach den Waffen griff und diese prüfte. Was machte die Insel nur aus uns?<br />

Gemeinsam traten wir vor die Höhle. Ellie erklärte eilig:<br />

„Wenn ihr euch von hier aus genau südlich haltet, werdet ihr nach ungefähr zwei<br />

Meilen auf die Baustelle stoßen. Ihr müsst auf jedem Fall erst alleine klar kommen, denn es<br />

wird einige Zeit in Anspruch nehmen, unsere Leute zu überzeugen.“<br />

aussieht.“<br />

zurück.<br />

Richard nickte.<br />

„Ellie hat Recht. Ihr solltet euch beeilen, wir wissen nicht, wie der Plan eurer Freunde<br />

Die Beiden drehten sich herum und wollten los eilen, aber ich hielt sie noch einmal<br />

„Ellie, warte bitte eine Sekunde. Was ich dir jetzt sage, wird dir irre vorkommen, aber<br />

bitte, du musst mir einfach glauben, okay. Daniel, der Mann mit dem Bart, er ist ... Ellie, er ist<br />

dein Sohn, als erwachsener Mann.“<br />

Komischerweise nickte Ellie nur langsam.<br />

„Ja, ich ... weiß das irgendwie. Woher weißt du es?“<br />

„Lass dir das von Richard erklären. Er weiß Bescheid über uns. Beeilt euch, bitte.“<br />

Wir trennten uns und hasteten in verschiedene Richtungen davon.<br />

„Was denkst du, wie viel Zeit haben wir noch? Haben wir überhaupt noch Zeit?“,<br />

fragte ich Jim, während wir voran eilten. Er sah <strong>mich</strong> an. Ernst und besorgt. „Die haben nen<br />

ziemlichen Vorsprung. Wenn die DHARMA Leute sie nicht aufgehalten haben ... Ich weiß es<br />

nicht, ganz ehrlich.“<br />

„Das könnte bedeuten, dass von einer Sekunde zur anderen alles vorbei ist.“, keuchte<br />

ich erschrocken.<br />

Jim nickte langsam.<br />

„Du hast Recht, ja. Aber das wird nicht passieren, Baby. Das wird nicht passieren!“<br />

Das klang mehr wie ein Gebet, als wie eine bestehende Tatsache.<br />

Irgendetwas tat sich auf der Baustelle.<br />

************<br />

„Siehst du, da ist Radzinsky und ... was geht da vor?“, fragte Miles nervös.<br />

Er deutete in die Baustelle hinunter, wo plötz-<br />

lich am Bohrturm hektische Unruhe entstand. Stimmen<br />

drangen zu Jin und Miles hinauf, aufgeregte Stimmen.<br />

- 377 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Abschalten! Schaltet den verdammten Bohrer ab!“<br />

„Geht nicht. Das elende Mistding wird regelrecht angezogen, verdammte Scheiße!“,<br />

brüllte einer der Arbeiter.<br />

Miles konnte beobachten, wie sein Vater zu dem Arbeiter hinüber rannte, um diesem<br />

beim Abschalten des Bohrers zu helfen.<br />

„Ich habe es dir gesagt. Ich habe dich gewarnt, du verbohrtet Extremist!“, hörte er die<br />

Stimme Changs durch den entstehenden Lärm hindurch schreien.<br />

„Halt dein dummes Maul, hilf lieber, den verdammten Bohrer abzuschalten!“, brüllte<br />

Radzinsky den Wissenschaftler an.<br />

Mit inzwischen sechs Helfern versuchten sie, die Bohrung zu unterbrechen, doch<br />

selbst, als der Strom endlich gekappt worden war, drehte sich der Bohrer weiter. Und um die<br />

Verwirrung zu Komplettieren hallten aus dem Gebüsch oberhalb der Baustelle plötzlich<br />

Schüsse.<br />

„Das müssen Jack und Daniel sein. Verfluchter Mist, jetzt geht es los. Wo stecken<br />

Lafleur und Kelly denn bloß?“, keuchte Miles geschockt.<br />

Und wäre fast kopfüber in die Grube gefallen, als plötzlich hinter ihm die Genannten<br />

aus dem Gebüsch traten!<br />

************<br />

Wir hetzten weiter und nach einer guten halben Stunde, in der wir uns durch dichtes<br />

Unterholz und Büsche gekämpft hatten, hörten wir vor uns plötzlich leisen, aber beim<br />

Vorwärtshasten stetig lauter werdenden Krach.<br />

„Das muss die Baustelle sein.“, schnaufte Jim und wischte sich Schweiß aus der Stirn.<br />

Einige Minuten gönnten wir uns, durchzuatmen, dann schlichen wir, bedeutend vor-<br />

sichtiger jetzt, weiter. Was auf der Baustelle geschrien wurde konnten wir nicht verstehen,<br />

aber wir konnten uns denken, was vorging.<br />

„Vermutlich hat sich der Bohrer festgefressen und sie kriegen das Scheißding nicht<br />

ausgeschaltet.“, meinte Jim, als wir geduckt näher an den Krach heran schlichen.<br />

Plötzlich hörten wir vor uns eine Stimme.<br />

„Das müssen Jack und Daniel sein. Verfluchter Mist, jetzt geht es los. Wo stecken<br />

Lafleur und Kelly denn bloß?“<br />

Grinsend traten wir aus dem Gebüsch hervor und Miles wäre vor Schreck fast<br />

vorwärts in die Baugrube gefallen.<br />

Dschungel.<br />

„Himmel, Lafleur, willst du <strong>mich</strong> umbringen?“, keuchte er zitternd.<br />

Jim wollte etwas erwidern, doch in dem Moment schallten wieder Schüsse durch den<br />

„Wo stecken die?“, fragte Jin angespannt.<br />

- 378 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Krampfhaft bemühten wir uns alle vier, gegenüber am Rande der Baustelle etwas zu<br />

entdecken. Plötzlich stieß Miles hervor:<br />

„Da. Da ist Kate! Verdammt, was tut ...“<br />

„Sie hilft Jack, ebenso wie Hurley.“, schnaufte ich wütend.<br />

„Woher ...?“<br />

„Sie haben uns bei Richard überwältigt und ihn und Ellie gezwungen, sie zu der ver-<br />

dammten Bombe zu bringen.“, giftete Jim. „Wenn ich Jack erwische, drehe ich ihm diesmal<br />

den Hals um.“<br />

In diesem Moment gab es auf der Baustelle unter uns ein lautes Krachen und ein Teil<br />

des Bohrturmes verbog sich leicht. Dadurch wurde die Steuerkonsole, an der sich Pierre<br />

Chang immer noch zu schaffen machte, zusammen gedrückt wie ein Kartenhaus. Chang wich<br />

erschrocken zurück und griff, ohne überhaupt hinzuschauen, nach einem Stahlgeländer, dass<br />

die Bohrgrube umschloss. Er bekam nicht mit, dass in diesem Moment ein Stück Gestänge<br />

aus dem Bohrturm abbrach und sich auf das Geländer senkte. Wir konnten nichts mehr tun,<br />

nur entsetzt zuschauen, wie Changs Hand von dem schweren Metallteil eingeklemmt wurde.<br />

Miles keuchte entsetzt auf.<br />

Unter uns brach das absolute Chaos aus. Immer mehr Metallteile fingen wie von<br />

Geisterhand geworfen an, auf das Bohrloch zuzufliegen. Immer stärker wurde der<br />

magnetische Sog.<br />

„Sie müssen die Energietasche getroffen haben.“, rief Jin geschockt.<br />

„Das ist es, was du erzählt hast ... So ist Juliet ums Leben gekommen. Mein Gott!“<br />

Jin starrte von morbider Faszination gepackt hinunter in die Baustelle, wo sich auch<br />

große Eisenteile selbstständig machten. Sich dort unten zu bewegen war nun lebensgefährlich,<br />

denn überall flog Eisen herum, wie Schrapnellgeschosse. Und dann glaubte ich meinen Augen<br />

nicht zu trauen. In mitten des Chaos und der immer wieder aufklingenden Schüsse sah ich<br />

Miles, der zu seinem Vater hinüber rannte!<br />

„Scheiße, was macht der Idiot da?“<br />

Jim starrte fassungslos auf seinen Freund hinunter.<br />

„Wir müssen ihm helfen.“, keuchte Jin erschrocken und ohne ein weiteres Wort<br />

hasteten wir ebenfalls in die Baugrube hinunter.<br />

Und die gleiche Idee schien auch Jack und Co. zu kommen, denn diese kamen jetzt<br />

ebenfalls aus dem Dickicht uns gegenüber gestürzt. Doch noch waren die Leute der<br />

DHARMA Initiative nicht geschlagen. Wenn auch um uns herum die Hölle ausgebrochen zu<br />

sein schien, waren die Typen doch gewillt, ihre Entdeckung mit allen Mitteln zu verteidigen.<br />

Ich sah Phil, Radzinsky, Paul, der nach Jims Verhaftung der Leader der Security geworden<br />

war, viele Arbeiter, die mir unbekannt waren, alle bewaffnet und willig, die Baustelle zu ver-<br />

teidigen bis aufs Blut. Und sie schossen sowohl auf uns als auch auf die neuen Angreifer.<br />

Hurley konnte ich nirgends entdecken, aber Kate, Jack, Daniel und Sayid versuchten, näher an<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

das Bohrloch heran zu kommen. Sie wurden durch den vehementen Widerstand, der ihnen<br />

entgegen schlug allerdings genauso in alle Richtungen zerstreut wie wir. Wir mussten nicht<br />

nur vor den herumfliegenden Metallteilen Deckung suchen, sondern auch vor Revolver- und<br />

Gewehrkugeln, die uns um die Ohren flogen!<br />

Ich sah aus den Augenwinkeln, dass Jim hinter einem Werkzeugschrank Deckung<br />

suchte. Jin hatte sich bereits hinter ein paar Fässern in Sicherheit gebracht. Kate und Sayid<br />

duckten sich hinter einen Jeep, er auf der Baustelle herum stand. Ich sah, dass Miles seinen<br />

Vater erreicht hatte und sich, die Kugeln, die herum schwirrten ignorierend, bemühte, dessen<br />

eingequetschte Hand zu befreien. Er versuchte verzweifelt, das Stahlrohr, das auf die Hand<br />

drückte, irgendwie wenigstens soweit zu lüften, dass Chang seine Hand heraus ziehen konnte.<br />

Ich hetzte geduckt näher und stand schnell neben den beiden Männern.<br />

„Hilf mir, ich schaff es nicht allein.“, keuchte Miles hektisch und duckte sich blitz-<br />

schnell, als irgendein metallisches Werkzeug wie ein Geschoss auf ihn zukam und im Bohr-<br />

loch verschwand.<br />

Ich richtete <strong>mich</strong> ein wenig auf und zusammen mit Miles gelang es tatsächlich, das<br />

Geländer wenigstens einige Zentimeter anzuheben, sodass Chang seine Hand heraus ziehen<br />

konnte. Wimmernd vor Schmerzen presste er diese in seine rechte Achselhöhle und ließ sich<br />

von Miles zu Boden ziehen. Ich sah <strong>mich</strong> um, griff nach meinem Gewehr, das am Gurt über<br />

meine Schulter hing und riss es in die Höhe. Hinter uns schoss jemand auf Miles und ich<br />

wirbelte herum. Am Rande der Baugrube stand ein Arbeiter und zielte erneut auf uns. Ich war<br />

schneller, zielte kurz und drückte ab. <strong>Der</strong> Arbeiter sackte getroffen zusammen.<br />

Ich schaute zu Jim hinüber, der ebenfalls um sich schoss. Jedoch musste ich meine<br />

Aufmerksamkeit Kate und Sayid widmen, die sich schießend vorwärts bewegten. Kate sah<br />

<strong>mich</strong> und schüttelte genervt den Kopf. Jack und Daniel konnte ich im Augenblick nirgends<br />

ausmachen. Dafür sah ich plötzlich Phil, der, das Gewehr im Anschlag, unmittelbar hinter Jim<br />

auftauchte. Er schrie diesen an:<br />

„Na, Lafleur, hat sich ausgeführt. Du kannst in der Hölle weiter den Boss spielen.“<br />

Er legte an und Jim, der erschrocken herumgewirbelt war, hockte hilflos da und<br />

konnte nichts mehr zu seiner Verteidigung unternehmen. Bevor ich mein Gewehr in Anschlag<br />

bringen konnte krachte es hinter Phil plötzlich laut. Jims Augen weiteten sich erschrocken<br />

und Phil vergaß, dass er eigentlich hatte Schießen wollen. Er wirbelte erschrocken herum und<br />

starrte wie gelähmt auf ein Baugerüst, das sich unter dem zunehmenden Sog der Magnetkraft<br />

gerade in seine Bestandteile auflöste. Er wollte noch in Deckung gehen, aber es war zu spät.<br />

Wie Speere schossen einzelne Stahlstangen aus dem Gerüst heraus und unmittelbar bevor sie<br />

Phil durchbohrten wandte ich den Kopf ab. Jim selbst widmete Phil keine Aufmerksamkeit<br />

mehr. Er warf sein scheinbar leer geschossenes Gewehr achtlos zur Seite und sah sich nach<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

einer neuen Deckung, näher am Bohrloch, um. Er hastete los. Und plötzlich sprang Jack<br />

hinter einem aufgeschütteten Sandhaufen hervor, die Waffe in der Hand, und zielte auf Jim.<br />

den Rücken.<br />

...“<br />

„Geh mir aus dem Weg, Sawyer. Ich will dich nicht erschießen müssen!“<br />

Ich konnte in all dem Chaos Jims Antwort hören. Sie jagte mir eine Gänsehaut über<br />

„Das wirst du müssen, Doc, denn freiwillig lass ich dich nicht an das verdammte Loch<br />

Ich sah, wie Jack langsam den Finger um den Abzug krümmte. In mitten des Chaos<br />

standen sich die beiden Männer, die wohl von Anfang an Rivalen gewesen waren, gegenüber.<br />

Jim sah Jack ruhig an und schüttelte resigniert den Kopf. Er wollte seine eigene Waffe hoch-<br />

reißen, doch soweit kam er nicht. Plötzlich schrie Kate, die wie ich die beiden Männer be-<br />

obachtet hatte, laut:<br />

„Nein! Sawyer, nicht.“<br />

Sie zielte auf Jim und drückte ab. Entsetzt schrie ich selbst auf.<br />

„Nein!“<br />

Ich sah Jim zusammenzucken, doch er blieb auf den Beinen. Nur die Waffe fiel ihm<br />

aus der plötzlich nutzlos gewordenen Hand. Kate hatte ihm am Oberarm einen Streifschuss<br />

verpasst. Wutschnaubend ließ Jim sich zu Boden fallen lassen, um mit der anderen Hand nach<br />

der Waffe zu greifen. Jack schüttelte verzweifelt den Kopf und brüllte:<br />

„Lass es!“<br />

Doch Jim grinste nur und bekam die Walther zu fassen. Er wollte sie hochreißen, doch<br />

nun schien Jack genug zu haben. Ich beobachtete entsetzt, wie er den Abzug langsam durch-<br />

zog und zögerte keine Sekunde. Zielen und abdrücken war eins und ich atmete erleichtert auf,<br />

als ich sah, dass Jack seinen Schuss, von meiner Kugel in den Oberschenkel getroffen, verriss<br />

und aufstöhnend zu Boden ging. Jetzt war es an Kate, entsetzt aufzuschreien.<br />

„Jack!“<br />

Sie rannte geduckt im Zickzack los und erreichte Jack in Rekordzeit. Jim hockte am<br />

Boden, die Walther in der rechten Hand haltend. Ich hetzte ebenfalls geduckt zu ihm hinüber<br />

und zusammen rissen wir, mit einem hasserfüllten Blick von Kate bedacht, den Rucksack von<br />

Jacks Schultern. Wir öffneten diesen hastig, sicher, den Zünder der Bombe endlich in den<br />

Händen zu halten. Atemlos sahen wir in den Rucksack hinein, schon <strong>Über</strong>legungen an-<br />

stellend, wie wir den Zünder hier weg schaffen konnten. Was wir jedoch sahen, riss uns fast<br />

von den Beinen. Statt des Zünders entdeckten wir einen kleinen, vermoderten, dicken Ast in<br />

dem Rucksack und als wir beide gleichzeitig die Köpfe hoch rissen und Jack anschauten,<br />

sahen wir ein zwar schmerzgequältes, nichts desto weniger aber zufriedenes Grinsen auf<br />

seinem und auch Kates Gesicht.<br />

„Tja, mal verliert man, mal gewinnen die Anderen.“, erklärte Jack höhnisch.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Irgendwie hatte ich das Gefühl, die Geräusche um uns herum nur noch gedämpft<br />

wahrzunehmen. Auch das Geschehen selbst schien sich plötzlich gedämpft, wie in Zeitlupe<br />

abzuspielen. Gerade neigte sich der Bohrturm wie in einer<br />

Verbeugung in das Bohrloch hinein. Das Gestänge zer-<br />

knitterte, wie man ein Blatt Papier zerknüllen würde.<br />

Fasziniert beobachteten wir zu viert, dass sich das Stahlrohr<br />

dem Loch entgegen drehte. Auch die sehr schweren<br />

metallischen Teile wie Schränke mit Werkzeug, Fässer samt Inhalt und die herumstehenden<br />

Fahrzeuge wurden inzwischen knirschend und zitternd von der ungeheuren Magnetenergie<br />

angezogen. Erst langsam, dann immer schneller werdend zuckten sie auf das unheimliche<br />

Loch zu. Jim und ich sahen uns an und wussten nicht mehr weiter. Wo war der verdammte<br />

Zünder? Uns war schlagartig klar geworden, dass Jack uns gelinkt hatte. Dieser hockte am<br />

Boden und presste verzweifelt seine Hand auf die stark blutende Oberschenkelwunde. Ein<br />

Blick genügte mir, um sicher zu sein, seine Oberschenkelarterie getroffen zu haben.<br />

Gleichgültig kam mir der Gedanke, dass der Arzt, der Jim hatte erschießen wollen, hier ver-<br />

bluten würde. Kate bemühte sich verzweifelt, die Blutung zu stoppen. Sie sah <strong>mich</strong> an und<br />

schrie über den Lärm, der selbstverständlich noch ungebrochen um uns herum tobte:<br />

„Du musst ihm helfen.“<br />

Ich beachtete sie gar nicht. Ich starrte wie Jim hektisch umher, in der Hoffnung,<br />

Daniel oder Sayid zu entdecken. Nur einer von ihnen konnte die verfluchte Zündvorrichtung<br />

bei sich haben. Wir waren so damit beschäftigt, nach den beiden Männern zu suchen, dass wir<br />

nicht mitbekamen, dass sich von rechts jemand an uns heran schlich. Als wir es merkten, war<br />

es zu spät. Radzinsky stand grinsend neben uns, Jack und Kate keines Blickes würdigend, und<br />

zielte auf <strong>mich</strong>.<br />

„Hab ich doch gewusst, dass du dämliche Bitch mit fliegenden Haaren zu Lafleur ge-<br />

rannt bist. Jetzt seid ihr beide fällig.“<br />

Jim wurde leichenblass, als er sah, das Radzinsky ohne auch nur eine Sekunde zu<br />

zögern den Abzug betätigen wollte. Er keuchte entsetzt:<br />

der Schuss.<br />

„Nein! Kelly ...“<br />

Ich schoss die Augen, wollte nicht sehen, wie Radzinsky abdrückte. Und schon knallte<br />

Ich wartete auf den Schmerz des Einschlages, doch der erfolgte nicht. Stattdessen<br />

fühlte ich <strong>mich</strong> von Armen gepackt und umarmt. Ich öffnete langsam die Augen und sah Jims<br />

Gesicht, das panisch zu mir herunter schaute. Seine Arme waren es, die um <strong>mich</strong> geschlungen<br />

waren. Zitternd hielt er <strong>mich</strong> fest und flüsterte:<br />

„Alles ist gut, Baby, er ist tot.“<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Ich bekam nur unterbewusst mit, dass die Schüsse um uns herum langsam ver-<br />

stummten. Am ganzen Leib zitternd sah ich <strong>mich</strong> um und erblickte Jin einige Schritte ent-<br />

fernt, das Gewehr noch im Anschlag, zu uns herüber schauen. Als er sah, dass mir nichts ge-<br />

schehen war, hob er die Rechte und zeigte uns den Daumen zum Zeichen, dass alles in<br />

Ordnung war. Plötzlich bemerkte ich ein Aufleuchten in Kates Augen, die das Bohrloch im<br />

Blick behalten hatte, während sie gleichzeitig versuchte, die Schusswunde an Jacks Bein ab-<br />

zudrücken. Und da wusste ich, dass etwas geschah. Ich folgte ihrem Blick und erkannte<br />

Sayid, der, ein Bündel in der Hand, neben dem Bohrloch stand und sich anschickte, das, was<br />

er in dem Bündel eingewickelt hatte, auszupacken. Hastig schlug er den Stoff zur Seite und<br />

hielt den Zünder in der Hand. Jin, der meinem Blick gefolgt war, riss das Gewehr hoch und<br />

zielte auf Sayid, aber er konnte es nicht. Er konnte nicht auf den Iraker schießen. Zu viel<br />

hatten sie gemeinsam durchgemacht, als dass er ihn jetzt kaltblütig hätte über den Haufen<br />

schießen können.<br />

Ich hatte diese moralischen Bedenken nicht. Es musste unbedingt verhindert werden,<br />

dass es Sayid gelang, den Zünder ins Loch zu werfen! Noch immer wurden vereinzelte<br />

Gegenstände auf das Loch zugesaugt und Sayid musste höllisch aufpassen, nicht getroffen zu<br />

werden. Er hielt den Zünder in der Hand und wollte sich über das Loch beugen. Ich reagierte<br />

wie ferngesteuert. Blitzschnell bückte ich <strong>mich</strong>, riss Jacks Gewehr, das neben ihm am Boden<br />

lag, an <strong>mich</strong> und zielte. Kalt drückte ich ab. Sayid wurde von der Wucht des Einschlages<br />

herum gerissen und der Zünder fiel auf den Boden neben dem Loch. Jack und Kate schrien<br />

gleichzeitig wütend und entsetzt auf. Wir warteten mit angehaltenem Atem, aber Sayid<br />

tauchte nicht wieder auf, scheinbar hatte mein Treffer ihn gründlich außer Gefecht gesetzt.<br />

Irgendwo am Rande der Baustelle hörte ich einen wütenden und verzweifelten Aufschrei. Ich<br />

fuhr zu dem Schrei herum. Daniel Faraday stolperte hinter einem Sandhaufen hervor und<br />

wollte auf das Bohrloch zulaufen. Doch so weit kam er nicht mehr. Von einer Sekunde zur<br />

Anderen schien die Welt unter zu gehen. Unter unseren Füßen setzte ein derart heftiges<br />

Vibrieren ein, dass es Jim und <strong>mich</strong> von den Füßen riss. Panisch klammerte ich <strong>mich</strong> an ihn.<br />

Aus dem Bohrloch ertönte ein Heulen und Pfeifen, das in den Ohren so schmerzte, dass ich<br />

schrie. Unerwartet schoss eine Art Lichtstrahl in den blauen Himmel über uns, der so grell<br />

war, dass wir alle den Blick abwenden mussten. Ich wusste, dass ich schrie vor Angst, hörte<br />

jedoch durch das unglaubliche Pfeifen meine Stimme überhaupt nicht. Ich spürte Jims Arme<br />

um <strong>mich</strong>, so fest, dass mir fast die Luft weg blieb und klammerte <strong>mich</strong> genauso fest an ihn.<br />

Was auch immer gerade geschah, es würde uns nicht trennen! Das Heulen und Pfeifen wurde<br />

noch lauter und plötzlich gab es einen Lichtblitz, der alles voran Gegangene dunkel er-<br />

scheinen ließ. Ich spürte Jims rasenden Herzschlag, fühlte mein eigenes Herz hoch in meiner<br />

Kehle schlagen, wusste, dass wir beide schrien. Das grelle Licht durchbohrte meine ge-<br />

schossenen Augenlider, wühlte sich durch den Sehnerv in mein Hirn und ... dann wurde es<br />

dunkel...<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

************<br />

************<br />

34) John Locke<br />

Richard Alpert sah auf das Türkis schimmernde Wasser hinaus. <strong>Der</strong> dunkelhaarige<br />

Mann zerbrach sich seit zwei Tagen den Kopf. Er wusste nicht, was seine Wachsamkeit aus-<br />

gelöst hatte. <strong>Der</strong> attraktive Mann, der wie ein 35 - 40 Jähriger aussah, in Wahrheit jedoch um<br />

so vieles älter war, zermarterte sich das Gehirn, doch er kam erneut zu keinem Ergebnis. Was<br />

immer seine innere Alarmglocke zum Klingen gebracht hatte, zeigte sich nicht in einer<br />

Offenbarung. Er drehte sich langsam herum und ließ seinen Blick über die Gruppe von<br />

Menschen gleiten, die sich hinter ihm am Strand niedergelassen hatten. Gedankenverloren<br />

musterte er sie. Neben seinen eigenen Leuten, mit denen er seit Jahren zusammen war, und<br />

denen er zu einhundert Prozent vertraute, waren einige Menschen bei ihm, die er kaum<br />

kannte, denen er nicht traute und die er eigentlich nicht bei sich haben wollte. Doch er hatte<br />

keine Wahl gehabt. <strong>Der</strong> Mann, dem er jetzt zu Gehorsam verpflichtet war, hatte die An-<br />

weisung gegeben, seine Begleiter mitzunehmen. Er war zusammen mit einem Mann, der eine<br />

Pilotenuniform trug und einer jungen Asiatin vor drei Tagen zu Richard und seinen Leuten<br />

gestoßen. Noch eine dritte Person war bei ihnen gewesen. Ein Mann, schüttere schmutzig<br />

blonde Haare, um die fünfzig, mit auffallend hervorstehenden Augen, die im Gegensatz zu<br />

früher jetzt leer und verloren guckten.<br />

dachte er<br />

bleiben? -<br />

Richards Blick blieb an diesem Mann hängen und wie so oft in den letzten Tagen<br />

- Du hättest nicht wieder kommen sollen, Ben. Warum konntest du dich nicht weg<br />

<strong>Der</strong> Mann, Benjamin Linus, schien den Blick zu spüren, denn er hob müde den Kopf.<br />

- Was willst du hier noch? Du hast so unendlich viel Leid und Blutvergießen ver-<br />

ursacht. Und warum? Aus Geltungssucht. Aus übersteigerter, nicht kontrollierbarer<br />

Geltungssucht. Dein Platz ist nicht mehr hier. -<br />

Richard sah seinen ehemaligen Anführer an und schüttelte unmerklich den Kopf.<br />

Linus schien nicht nur Richards Blick gespürt zu haben, er schien auch zu ahnen, was in dem<br />

geheimnisvollen Mann vorging. Er seufzte und senkte den Blick. Den stummen Vorwurf in<br />

den Augen des Dunkelhaarigen wollte Linus nicht sehen. Er konnte ihn nicht ertragen, diesen<br />

berechtigten Vorwurf. Bens Aufmerksamkeit wurde durch das Erscheinen eines Mannes<br />

unterbrochen, der sich leise seufzend neben ihn in den warmen Sand sinken ließ.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Er scheint nicht übermäßig erfreut, dich wieder zu sehen.“, stellte der Mann mit<br />

einem Nicken in Richards Richtung ruhig und mit leicht ironischem Tonfall fest.<br />

Ben nickte ohne aufzuschauen. Seine Augen waren auf den fast weißen Sand gerichtet.<br />

„Nein, er ist gar nicht erfreut.“, erwiderte er kurz angebunden.<br />

Plötzlich schaute Ben seinen Gesprächspartner doch an.<br />

„Was ist es, was du hier willst, John?“<br />

<strong>Der</strong> mit John angesprochene, kräftige, kahlköpfige Mittfünfziger grinste verhalten.<br />

„Nun, das, was du ganz offensichtlich nie geschafft hat, Ben. Ich werde Jacob auf-<br />

suchen und mit ihm sprechen.“<br />

Erstaunt über die klare Aussage funkelte erstmals seit der Wiederankunft auf der Insel<br />

so etwas wie Leben in Benjamins Augen auf.<br />

„Du willst mit ihm sprechen? Deshalb lässt du dich von Richard zu ihm führen?<br />

Warum glaubst du, er würde dir Gewähren, was er mir in all den vielen Jahren, die ich klaglos<br />

seine Befehle ausgeführt habe, nicht gewährte?“<br />

Lauernd sah Ben John an. Dieser strich gedankenverloren mit den Fingern seiner<br />

Rechten durch den warmen Sand. Ruhig und bestimmt antwortete dieser:<br />

„Weil ich denke, er wird einem Toten keinen Wunsch abschlagen können!“<br />

„Was meinst du damit, einem Toten?“<br />

John und auch Ben hatten nicht gehört, dass sich ihnen von hinten eine junge, hübsche<br />

Asiatin genähert hatte. Ertappt fuhren beide Männer herum.<br />

„Was meinst du damit, John?“, wiederholte die junge Frau energisch ihre Frage.<br />

<strong>Der</strong> Angesprochene hatte sich bereits wieder unter Kontrolle.<br />

„Sun. Setzt dich doch zu uns.“, sagte er freundlich.<br />

Sun Kwon ließ sich neben John in den warmen Sand sinken. Sie wirkte müde, er-<br />

schöpft und hoffnungslos, nichts desto weniger aber wild entschlossen. Auffordernd sah sie<br />

John an. <strong>Der</strong> Kahlköpfige lächelte freundlich.<br />

„Das ist ganz einfach, Sun. Unser gemeinsamer Freund hier hat <strong>mich</strong> vor ein paar<br />

Tagen in Santa Monica umgebracht.“<br />

Ben gab ein undeutbares Geräusch von sich, ein Keuchen, Ächzen. Sun starrte John<br />

an, als wäre er verrückt geworden.<br />

„Was sagst du da?“, fragte sie fassungslos.<br />

John lächelte immer noch freundlich.<br />

„So ist es, Sun. Ich wollte <strong>mich</strong> umbringen, weil ich keinen anderen Ausweg mehr<br />

sah. Jemand hatte mir gesagt, dass ich erst Sterben müsste, um uns alle Retten zu können.<br />

Offensichtlich war diese Prophezeiung richtig, denn ich lebe wieder, bin hier und werde dafür<br />

sorgen, dass wir alle in ein normales Leben zurückkehren werden.“<br />

Sun war immer noch fassungslos. Sie sah Ben an.<br />

„Du hast ... ihn wirklich umgebracht?“<br />

- 385 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ben schien unter dieser Frage zu Schrumpfen. Er sackte regelrecht in sich zusammen.<br />

„Sun, ich ... Er stand auf einem Tisch, die Schlinge bereits um den Hals ... Ich habe<br />

ihn überredet, es zu lassen. Dann hat er mir erzählt, dass er keinen Erfolg hatte, euch alle zu<br />

überreden, wieder auf die Insel zu kommen. Jack, Sayid, Kate, Hurley, es gelang ihm nicht,<br />

sie zu überzeugen. Daraufhin wollte er die Vorhersage, dass sein Tod dafür ... Er wollte es<br />

wahr machen. Ich wollte unbedingt auch wieder kommen. Ich sah keine andere Möglichkeit<br />

mehr, als der Prophezeiung zu glauben. Darum tat ich es. Und es war die richtige Ent-<br />

scheidung! Wir sind hier, er lebt ...“<br />

„Aber wieso lebst du wieder? Du warst nicht wirklich tot ...“<br />

Sun wurde es kalt in der heißen Sonne. John zuckte gelassen die Schultern.<br />

„Doch, ich war tot. Ich lebte nicht mehr, Sun. Warum ich es jetzt wieder tue, kann ich<br />

dir erst beantworten, wenn ich einen kleinen Plausch mit dem geheimnisvollen Jacob geführt<br />

habe. Darum sind wir hier, auf dem Weg zu seinem Versteck.“<br />

Sun schüttelte den Kopf.<br />

„Das kann ich nicht glauben.“, stieß sie hervor.<br />

Sie stemmte sich auf die Beine und ließ Ben und John im Sand sitzen. Suchend sah sie<br />

sich um und entdeckte den Piloten, der ein kleines Stückchen entfernt im Sand saß. Sie eilte<br />

zu ihm und er sah ihr entgegen.<br />

„Na, hast du etwas erfahren?“, fragte er sie, als sie sich zu ihm setzte.<br />

Sun nickte.<br />

„Frank, ich glaube, John hat den Verstand verloren. Er behauptet ernstlich, vor<br />

wenigen Tagen in Santa Monica von Ben umgebracht worden zu sein. Jemand hätte ihm ge-<br />

sagt, er müsse erst Sterben, um uns alle zu retten. Das ist Wahnsinn! Und Ben hat auch noch<br />

zugegeben, John getötet zu haben. Die haben beide den Verstand verloren.“<br />

Frank Lapidus warf einen Blick zu John und Ben hinüber, die immer noch reglos<br />

nebeneinander im Sand saßen. Langsam sagte er:<br />

„Ich weiß nicht, Sun. Langsam fange ich an, zu glauben, dass auf dieser Insel so ziem-<br />

lich alles möglich ist. Oder sagen wir es mal so: Ich halte hier nichts mehr für unmöglich. Ich<br />

meine, was sind hier denn bei euch schon für Wunder und unglaubliche Dinge geschehen.“<br />

Sun dachte kurz an die Zeit nach dem Crash. Sie hatten herausgefunden, dass John<br />

Locke vor dem Absturz jahrelang im Rollstuhl gesessen hatte, gelähmt, unfähig, die Beine zu<br />

benutzen. Rose Nadler, sie war unheilbar an Krebs erkrankt gewesen und war auf der Insel<br />

innerhalb kürzester Zeit vollkommen genesen. Sie selbst und Jin, es war ein Wunder gewesen,<br />

dass sie schwanger geworden war, Jin war nachgewiesen unfruchtbar. Sun konnte nicht<br />

anders, sie musste Frank Lapidus zustimmen.<br />

„Du hast Recht, Frank, hier gehen die seltsamsten Dinge vor. Aber ... Tote, die wieder<br />

Leben? Wäre nicht die minimale Hoffnung gewesen, Jin doch noch leben wieder zu finden<br />

- 386 -


By<br />

Frauke Feind<br />

wäre ich niemals auf diese verfluchte Insel zurückgekehrt. Ich weiß ja nicht einmal, ob er<br />

noch lebt.“ Sie musste mit aller Kraft Tränen zurückhalten. „Wo wohl die Anderen sind ...“,<br />

überlegte sie laut.<br />

Sie hatte Frank unmittelbar nachdem sie entdeckt hatte, dass er der Pilot der Maschine,<br />

in der sie alle gesessen hatten, war, alles erzählt. Von der Aufforderung, zur Insel zurück zu<br />

kehren, dass Sayid, Kate, Jack, Hurley und sie selbst die Maschine der Ajira Airways, Flug<br />

316 nach Guam, bestiegen hatten. Aber nur sie war hier angekommen, in dieser Zeit. Von den<br />

Anderen war keine Spur zu finden gewesen. Sun hoffte so verzweifelt, Jin wieder zu finden.<br />

Als sie zusammen mit Frank und Benjamin Linus, den sie im Flieger nicht wahrgenommen<br />

hatte, am Strand, ziemlich genau dort, wo damals nach dem Crash ihr Camp gewesen war, zu<br />

sich gekommen war, hatte sie schnell festgestellt, dass sonst niemand anwesend war. Keine<br />

Spur von Kate, Sayid, Jack oder Hurley war zu finden gewesen. Sun hatte es nicht glauben<br />

wollen. Sie hatte zusammen mit Frank, der sich sofort angeboten hatte ihr zu helfen, auf die<br />

Suche gemacht, doch schnell waren sie auf John und die Gruppe um Richard Alpert gestoßen.<br />

John hatte ihnen erklärt, dass er ebenfalls in der Maschine gewesen und dass sonst niemand<br />

auf der Insel eingetroffen war. Er hatte sie aufgefordert, mit ihnen zu kommen. Gemeinsam<br />

waren sie zu Ben zurückgekehrt. John war unangenehm berührt gewesen, als ihm klar wurde,<br />

dass auch Benjamin Linus wieder auf der Insel war. Er hatte jedoch nichts gesagt, sondern nur<br />

erklärt, dass er und Alperts Leute auf dem Weg zu Jacob waren, um die ganze Angelegenheit<br />

ein für alle Mal zu beenden. Da sie keine andere Hoffnung hatte, Jin wieder zu sehen, war sie<br />

John gefolgt. Und nun saß er hier und erklärte ihr so ganz nebenbei, dass er tot gewesen war.<br />

Sun seufzte. Und dann erging der Befehl von John:<br />

„So, wir haben uns genug ausgeruht, wir werden weiter gehen. Je eher wir bei Jacob<br />

sind, desto eher werden wir alle wieder in Frieden leben können.“<br />

Die Anwesenden erhoben sich nach und nach und Minuten später waren wieder alle<br />

auf den Beinen und auf dem Weg, den Strand entlang nach Norden. Sun und Lapidus hatten<br />

sich in der Nähe Lockes in die Gruppe eingereiht und beobachteten den Mann aufmerksam.<br />

Gut gelaunt und energiegeladen marschierte er neben Richard durch den Sand. Alpert selbst<br />

wirkte nicht annähernd so gut gelaunt. Er warf immer wieder fragende Seitenblicke auf John<br />

Locke.<br />

„Alpert scheint nicht sonderlich erbaut über Johns Plan zu sein.“, meinte Frank nach<br />

einer Weile leise zu Sun.<br />

auch?“<br />

nickte.<br />

„Er wirkt, als wolle er lieber in die entgegen gesetzte Richtung gehen, findest du nicht<br />

Sun hatte die besorgten und zum Teil richtig mürrischen Blicke ebenfalls bemerkt. Sie<br />

„Ja, etwas scheint ihm an Johns Plan nicht zu behagen.“<br />

- 387 -


wieder.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Das Laufen in dem weichen Sand war anstrengend und so schwiegen Frank und Sun<br />

************<br />

Richard hätte einiges dafür gegeben, hätte er die Gedanken Lockes lesen können.<br />

Irgendetwas war anders an dem Mann, Richard konnte nur leider nicht den Finger darauf<br />

legen, was ihn störte. Er wusste nur, dass er kein gutes Gefühl hatte und normalerweise hatte<br />

er sich immer auf sein Gefühl verlassen können. Er lebte nun schon so lange, hatte Anführer<br />

kommen und gehen sehen, hatte unzählige Kämpfe für die Insel ausgefochten, zahllose Be-<br />

fehle ausgeführt, meist, ohne sie zu hinterfragen. Das war nicht seine Aufgabe. Jetzt jedoch<br />

hatte er erstmals in seinem langen Leben das dringende Bedürfnis, einem direkten Befehl<br />

eines Anführers nicht zu gehorchen. Doch er wusste, ihm blieb keine Wahl. John war ihm als<br />

neuer Anführer angekündigt worden und er hatte diesem zu Gehorchen. Und doch ...<br />

Irgendetwas in ihm sagte dem geheimnisvollen Mann, dass etwas nicht stimmte. Richard<br />

hoffte, dass Locke sich auf eine längere Rast einlassen würde, sobald es dunkel war. Alpert<br />

spürte, dass es wichtig war, die Ankunft bei Jacob noch ein wenig hinaus zu zögern. Er wurde<br />

unmerklich langsamer und die Gruppe hinter ihm passte sich ebenso unmerklich an seine Ge-<br />

schwindigkeit an. Locke schien es nicht aufzufallen. Richard sah sich um. Er war Locke am<br />

südöstlichen Strand begegnet und hatte ihn von dort aus durch den Dschungel zu seinen<br />

Leuten geführt. Schon da hatte Richard deutliches Unbehagen in der Nähe Lockes verspürt.<br />

Richard wusste um das Geheimnis der Insel, um all ihre Geheimnisse. Es war ihm bekannt,<br />

dass Jacob einen gefährlichen Widersacher auf der Insel hatte. Seine, Richards Aufgabe, war<br />

es all die vielen Jahre gewesen, das Gleichgewicht zwischen den beiden Gegnern zu wahren.<br />

Bislang war nie etwas geschehen, das dieses Gleichgewicht gestört hatte. Das hieß aber nicht,<br />

dass es dabei bleiben würde. Richard nahm sich fest vor, weiter wachsam zu sein und die<br />

Augen offen zu halten.<br />

************<br />

Locke lief eine Weile neben Richard her, dann ließ er sich zurückfallen, ganz ans Ende<br />

der Gruppe, wo Ben alleine durch den Sand stapfte. Dieser sah Locke entgegen.<br />

„Du willst nicht nur mit Jacob Plauschen, nehme ich an ...“<br />

„Nun, ich möchte endlich einiges Klären, ist das nicht auch in deinem Sinne? Du<br />

kannst mit mir kommen, Ben, dann kannst du Jacob persönlich fragen, warum er dich in all<br />

den Jahren, die du sein ergebener Diener warst, nie<br />

mit einer Audienz beglückt hat.“<br />

- 388 -


schwer.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Sarkastisch und sehr verletzend kamen die Worte aus Johns Mund. Ben schluckte<br />

„Nun, irgendetwas muss ich wohl falsch gemacht haben, sonst ...“<br />

„Vielleicht hast du einmal zu oft dein eigenes Süppchen gekocht?“, unterbrach John<br />

den ehemaligen Anführer der Anderen.<br />

gemacht.“<br />

„Was immer ich getan habe, habe ich zum Wohl ...“<br />

Erneut wurde Ben unterbrochen.<br />

„Was immer du getan hast, Benjamin, hast du zu deinem eigenen Wohl und Nutzen<br />

Ben schüttelte den Kopf.<br />

„Das stimmt nicht. Ich habe vieles selbst entschieden, aber nicht alles.“<br />

Ben klang beleidigt, nie hätte er ausgerechnet vor John zugegeben, allzu oft seinen<br />

eigenen Willen durchgesetzt zu haben. John sah den Mann von der Seite ironisch an.<br />

„Du hast Leid und Tod über die Menschen gebracht, die dir vertraut haben, zuletzt<br />

über deine Ziehtochter Alexandra.“<br />

Bei der Erwähnung des Namens wurde Ben blass.<br />

„Ich habe sie gesehen.“, sagte er leise.<br />

„Wie meinst du das?“, fragte Locke lauernd.<br />

„Ich habe sie in der Höhle gesehen. Sie hat ...“ Ben biss sich auf die Lippe. „Sie hat<br />

mir gesagt, wenn ich nicht alles tun würde, was du sagst, würde sie <strong>mich</strong> umbringen.“<br />

leise:<br />

John sah Ben jetzt scharf an.<br />

„Das hat sie gesagt?“<br />

Ben nickte.<br />

„Ja, ich soll dir gehorchen, ohne Kompromisse.“<br />

In Johns Augen glomm ein kalter Funke auf. Er schwieg eine Weile, dann erklärte er<br />

„Du hast <strong>mich</strong> gefragt, was ich bei Jacob will. Nun, Ben, ich war nicht ganz ehrlich zu<br />

dir. Ich werde dir sagen, was ich bei Jacob will. Ich werde ihn umbringen!“<br />

kommen.“<br />

Ben stoppte unwillkürlich.<br />

„Was willst du?“<br />

John erklärte ruhig und kalt:<br />

„Ich wollte Jacob umbringen.“<br />

Ben holte tief Luft.<br />

„Du wolltest?“<br />

John nickte langsam.<br />

„Ja, ich wollte das gute Werk selbst tun. Aber jetzt ist mir eine bessere Idee ge-<br />

- 389 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ben schien zu schrumpfen. Er hatte so eine Ahnung, welche Idee John Locke ge-<br />

kommen war. Innerlich zitternd wartete er auf die nächsten Worte. Und diese kamen, kalt und<br />

überlegen.<br />

„Willst du gar nicht erfahren, welche Idee mir gekommen ist?“<br />

Ben biss die Zähne aufeinander.<br />

„Du wirst es mir sicher gleich erzählen.“, erklärte er leise.<br />

John lachte.<br />

„Da hast du allerdings Recht, denn du bist ein wichtiger Bestandteil meiner Idee.<br />

Nicht ich werde Jacob töten, du wirst das für <strong>mich</strong> übernehmen.“<br />

Ben hatte etwas Ähnliches vermutet. Doch nun zuckte er dennoch heftig zusammen.<br />

„Was?“ fragte er bestürzt. „Du verlangst allen Ernstes von mir, dass ich Jacob töte?<br />

Er ist unser Führer. Er hält alle Fäden in der Hand. Du weißt nicht, was geschieht, wenn er<br />

stirbt.“<br />

John blieb ganz ruhig.<br />

„Oh, darüber mache dir keine Gedanken, Benjamin. Alles wird anders und besser,<br />

wenn er vernichtet ist. Das sagt mir mein Gefühl.“<br />

- Und du wirst dafür sorgen. -<br />

fügte Locke in Gedanken grinsend hinzu. Ben war erschüttert. Die Vorstellung Jacob<br />

zu Töten glich der Vorstellung, Gott zu Töten. Das konnte John nicht ernst meinen. Aber ein<br />

Blick in die kalten Augen Lockes sagte Ben, dass dieser es sehr wohl sehr ernst meinte.<br />

„Was ist? Du selbst hast doch mehr Grund als alle anderen, Jacob umzubringen. Du<br />

hast so viele Jahre seinen Befehlen gehorcht und was hast du davon gehabt? Hat er es dir je<br />

gedankt? Hat er sich je dazu herab gelassen, dir zu gewähren mit ihm zu reden? Er hat zu-<br />

gelassen, dass Keamy Alex erschießt, Benjamin. Woher kommen deine Skrupel? Du hast nie<br />

Probleme mit dem Töten gehabt! Auf deinen Befehl hin wurde die ganze DHARMA Initiative<br />

ausgelöscht, du hast deinen eigenen Vater umgebracht, du hast deine eigenen Leute betrogen<br />

und manipuliert, Jack, Kate und Sawyer entführt und schwer misshandelt, Walter seinem<br />

Vater entrissen, <strong>mich</strong> kalt lächelnd umgebracht. Warum hindert dich nun plötzlich dein Ge-<br />

wissen, dieses gute Werk auch bei Jacob zu vollbringen?“<br />

************<br />

Ben war unter den kalten Worten, die John hier so ruhig von sich gab, zusammen-<br />

gezuckt. Er wusste, dass Locke Recht hatte, er hatte nie Skrupel empfunden. Bens Leben war,<br />

bevor er Anführer der Inselbewohner um Richard wurde, schlicht und ergreifend grässlich<br />

gewesen. Seine Mutter hatte ihn in einer Sturzgeburt irgendwo im Wald auf einem Ausflug<br />

zur Welt gebracht und war anschließend in den Armen seines Vaters verblutete. Roger Linus<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

war über den Tod seiner geliebten Emily nie hinweg gekommen und hatte unterschwellig<br />

seinen Sohn Ben für ihren Tod verantwortlich gemacht. Unmittelbar nach der Geburt war<br />

Roger mit der noch lebenden Emily im Arm zur Straße gerannt und dort hatte er einen Wagen<br />

gestoppt. In diesem Wagen saßen Horace Goodspeed und eine junge Frau namens Olivia. Sie<br />

hatten noch versucht, Hilfe zu leisten, doch es war bereits zu spät gewesen. Zwischen Roger<br />

und Horace hatte sich eine lockere Freundschaft gebildet und als Roger 1973 nach langer<br />

Arbeitslosigkeit wieder einmal mit Horace zusammen traf, hatte dieser ihm angeboten, doch<br />

der DHARMA Initiative beizutreten. So war Ben auf die Insel gelangt.<br />

Nun eine feste, sichere Anstellung zu haben hatte an Rogers Verhalten nicht das<br />

Geringste geändert. Er hatte getrunken, Ben bei jeder Gelegenheit gemaßregelt, geschlagen,<br />

eingesperrt, hatte Bens Geburtstage ignoriert und den Jungen ohne jede Zuneigung oder gar<br />

Liebe aufgezogen. Roger hatte auch in der DHARMA Initiative kaum Freunde gefunden. Ben<br />

hatte unter dem Verhalten seines Vaters unglaublich gelitten. Er war zu einem Einzelgänger,<br />

einem stillen, verschlossenen Jungen geworden. Als er 13 Jahre alt gewesen war, hatte er<br />

einen Mann kennen gelernt, der von den Sicherheitsleuten der DHARMA Initiative im Wald<br />

aufgegriffen worden war. Er hatte sich mit diesem Mann angefreundet. Sein Vater hatte ge-<br />

tobt, aber das war Ben egal gewesen. Schließlich war dieser verregnete Abend gekommen,<br />

den Ben nie wieder vergessen würde. Er war von einem heftigen Unwetter überrascht worden<br />

und plötzlich hatte der Mann wie aus den Wolken gefallen vor Ben gestanden. Ben hatte sich<br />

gefreut, den Freund zu treffen und hatte gehofft, dass dieser ihn auf seiner offensichtlichen<br />

Flucht mitnehmen würde. Doch der vermeintliche Freund hatte ganz anders reagiert. Er hatte<br />

Ben angeschaut, eine Waffe gezogen und ohne zu Zögern abgedrückt. An die Ereignisse<br />

danach hatte Ben lange nur vage Erinnerungen gehabt. Auch an den Mann selbst hatte er sich<br />

viele, viele Jahre nicht erinnert. Ben wusste, dass er zu Richard Alpert, den er bereits vorher<br />

gekannt hatte, gebracht worden war. Er hatte Richard im Wald kennen gelernt, als er ungefähr<br />

10 Jahre alt gewesen war. Eine Vision seiner Mutter hatte ihn damals in den Wald getrieben,<br />

er hatte gehofft, sie zu finden. Doch stattdessen war er Richard begegnet und hatte diesen an-<br />

gefleht, ihn, Ben, bei sich aufzunehmen. Richard hatte ihm ruhig erklärt, dass die Zeit noch<br />

nicht gekommen war und ihn zu seinem verhassten Vater zurück geschickt. Nach dem <strong>Angriff</strong><br />

auf Ben jedoch hatte Richard den halb toten Jungen doch aufgenommen und ... irgendwie<br />

geheilt. Sehr viel später hatte er Ben zurück zu seinem Vater und der DHARMA Initiative<br />

geschickt mit dem Hinweis, wenn die Zeit gekommen wäre, würde er, Ben die Chance be-<br />

kommen, zu den Anderen zurück zu kehren.<br />

Viele Jahre später, nachdem Ben mit Hilfe der Anderen die DHARMA Initiative aus-<br />

gelöscht und seinen eigenen Vater umgebracht hatte, als er schon lange der Anführer war,<br />

hatte er den Mann wieder gesehen, der ihn als Kind so dermaßen verraten und umzubringen<br />

versucht hatte! Plötzlich und unerwartet war dieser auf der Insel erschienen, <strong>Über</strong>lebender<br />

- 391 -


By<br />

Frauke Feind<br />

eines Flugzeugabsturzes. Ben hatte ihn sofort wieder erkannt und schlagartig waren auch die<br />

verschütteten Erinnerungen klar und deutlich gewesen. Er hatte sofort beschlossen, sich zu<br />

Rächen. Und hatte seine Leute gnadenlos in diesen Rachefeldzug eingespannt. Als er die Insel<br />

verlassen hatte, nach Alex gewaltsamen Tod, war es endlich so weit gewesen. Er ließ die ein-<br />

zige Frau, die dem Mann je etwas bedeutet hatte, umbringen und zwar vor dessen Augen.<br />

Autounfall, Fahrerflucht. Es war nun ein leichtes gewesen, dem Mann einzureden, dass der<br />

Tod der Frau auf das Konto von Charles Widmore gehe. Er hatte den Mann eiskalt eingesetzt,<br />

um unter den wichtigen Anhängern Widmores aufzuräumen, dann hatte er ihn fallen lassen.<br />

Sollte er doch mit seinem Gewissen und der Tatsache, die Frau, die er mehr geliebt hatte als<br />

sein Leben verloren zu haben klar kommen. Ben hatte seine Rache gehabt und den Mann,<br />

Sayid Jarrah, gebrochen zurück gelassen.<br />

************<br />

An all das dachte Ben nach den Worten Lockes. Und da Ben eine ziemlich gestörte<br />

Persönlichkeit war, suchte er Fehler für das, was ihm widerfahren war, nur bei anderen. Und<br />

auf Jacob hatte er seinen Hass ohnehin schon fixiert. Nur über die Möglichkeit, sich an<br />

diesem zu Rächen, hatte er nie nachgedacht. Warum eigentlich? Weil Ben nie heraus be-<br />

kommen hatte, wo er Jacob finden konnte. Egal, wie sehr er Richard bedrängte, dieser hatte<br />

ihn immer wieder mit dem Hinweis abgewimmelt, dass Jacob entscheiden würde, ob Ben er-<br />

fuhr, wo er diesen finden konnte. Nun kam Locke daher, befahl Richard, ihn zu Jacob zu<br />

bringen, und Richard gehorchte. In Bens gestörtem Selbstwertgefühl wuchs die Wut. Wut auf<br />

Richard, der ihm den Zugang zu Jacob verwehrt hatte, Wut auf alle, die diesen geheimnis-<br />

vollen Mann kennen lernen durften und Wut und Hass auf Jacob selbst! Er, Ben, hatte es<br />

mehr als verdient, zu erfahren, warum Jacob ihn nie zu sich gelassen hatte. Er hatte alles getan<br />

und war nur abgespeist worden. Immer brennender wurde der Hass, den Ben in sich spürte.<br />

Sein Begleiter, der Ben sehr genau beobachtete, grinste. Er spürte überdeutlich, dass seine<br />

Saat aufgegangen war. Sie war auf idealen Nährboden gefallen und wuchs schnell und<br />

effektiv heran. Locke sagte ruhig:<br />

„Jacob war es, der zuließ, dass Martin Keamy deine Tochter vor deinen Augen er-<br />

schoss, Benjamin.“<br />

Linus nickte.<br />

„Du hast Recht, John. Ich habe es verdient, mehr als jeder andere, endlich eine Er-<br />

klärung von Jacob zu erhalten. Und er verdient es nicht besser, als umgebracht zu werden!“<br />

************<br />

- 392 -


By<br />

Frauke Feind<br />

35) Memorys<br />

Ich hatte das Gefühl, in Wackelpudding zu stecken. So oft ich versuchte, meine<br />

Gliedmaßen zu bewegen, so oft kam es mir vor, als würden sie in einer zähen, wabbeligen<br />

Masse feststecken. Unendlich mühsam öffnete ich meine Augen einen Spalt, immer darauf<br />

vorbereitet, dass sie wieder von dem bohrend grellen Licht geblendet wurden. Doch das ge-<br />

schah nicht. Stattdessen sah ich nichts. Absolut nichts. Komplette Dunkelheit hüllte <strong>mich</strong> ein<br />

und mein Herz schlug von einer Sekunde zur Anderen schmerzhaft in meiner Brust. Panisch<br />

riss ich die Augen ganz auf, aber das Resultat blieb das Gleiche. Vollkommene Schwärze um<br />

<strong>mich</strong> herum. Ich konnte nichts fühlen, nichts sehen und geriet in Panik. Wie lange dieser Zu-<br />

stand anhielt konnte ich nicht sagen, es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Tränen stürzten mir<br />

über die Wangen und ich war kurz davor, hysterisch los zu schreien. Doch bevor es dazu<br />

kommen konnte sah ich plötzlich und unerwartet doch etwas. Ein winziges Licht, warm und<br />

sanft rot schimmernd, tauchte in einiger Entfernung von mir auf und wurde schnell größer.<br />

Unendlich erleichtert merkte ich, dass ich nicht erblindet war. Vor Erleichterung kamen mir<br />

schon wieder Tränen. Nun konnte ich <strong>mich</strong> auch bewegen. Das Licht kam näher und un-<br />

willkürlich versuchte ich, etwas von meiner Umgebung zu erkennen, doch die blieb im<br />

Schwarz um <strong>mich</strong> herum verborgen.<br />

So konzentrierte ich meine Aufmerksamkeit auf das Licht, dass sich mir bis auf<br />

wenige Schritte genähert hatte. Plötzlich glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. In mitten<br />

des Lichtes erkannte ich eine Gestalt. Ein alter Mann, der <strong>mich</strong> liebevoll anlächelte.<br />

„Grandpa?“ In der nächsten Sekunde schon hing ich weinend an seinem Hals und spürte seine<br />

Arme fest und beschützend um <strong>mich</strong>. Ein ungeheures Glücksgefühl überschwemmte <strong>mich</strong><br />

und ich hatte nur noch den einen Wunsch, dieses Gefühl nie wieder zu verlieren. So geborgen<br />

und fern ab jeder noch so geringen Gefahr, es war wie im Paradies. Grandpa hielt <strong>mich</strong><br />

minutenlang fest, dann sagte er leise und beruhigend:<br />

„Mein kleiner Schatz ... Du darfst nicht hier sein!“<br />

Erschrocken sah ich auf, schaute in die gütigen Augen, die <strong>mich</strong> besorgt musterten.<br />

„Was sagst du da? Ich bin so glücklich, dass ich dich wieder habe. Du kannst <strong>mich</strong><br />

nicht fort schicken!“<br />

„Das muss ich leider, Kelly. Noch hast du hier nichts zu suchen. Dein Platz ist an der<br />

Seite Jims. Du hast noch so unendlich viel zu tun.“<br />

Ich schüttelte hektisch den Kopf.<br />

„Nein. Nein, ich will nichts mehr tun müssen. Ich habe keine Kraft mehr. Du weißt ja<br />

nicht, was in den letzten Wochen los war. Ich ertrage das nicht mehr, bitte! Ich möchte hier<br />

bleiben, bei dir, und alles vergessen.“, stieß ich atemlos hervor.<br />

- 393 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Grandpa zog <strong>mich</strong> zu einem Baumstamm, der sich aus der Dunkelheit schälte und wir<br />

setzten uns. Er nahm meine Hände und sah <strong>mich</strong> ernst an.<br />

„Ich weiß, es ist viel verlangt, aber du bist der stärkste Mensch, den ich kenne, mein<br />

Engel. Du schaffst das, davon bin ich überzeugt. Und, Liebling, denke doch an Jim. Ahnst du,<br />

wie unendlich verzweifelt er ist?“<br />

Langsam dämmerte mir, was los war. Ruhig fragte ich:<br />

„Ich bin tot, richtig?“<br />

Grandpa nickte. Dann aber sagte er:<br />

„Nun, noch kannst du dich entscheiden. Du musst nur den Mut und die Kraft auf-<br />

bringen, zurück zu kehren, mein Schatz. Es ist noch zu früh, deine Aufgaben sind noch nicht<br />

erfüllt. Jim verdient es nicht, dass du ihn alleine zurück lässt. Er liebt dich mehr, als irgend-<br />

jemand sonst dich liebt. Du darfst ihn nicht im Stich lassen. Er würde daran zerbrechen.“<br />

Ich dachte an Jim und spürte erneut Tränen auf meinem Gesicht. Einerseits war da die<br />

Nähe und die Stimme meines Großvaters, andererseits sah ich jetzt plastisch Jims Gesicht vor<br />

mir, spürte seine liebevollen, beschützenden Hände, hörte seine Stimme, die mir Lieb-<br />

kosungen in die Ohren flüsterte. Ich hatte das Gefühl, nur die Hand ausstrecken zu brauchen,<br />

um ihm über die Wangen zu streicheln. Er weinte. Warum weinte er? Wie ein Blitz zuckte es<br />

durch <strong>mich</strong> hindurch.<br />

„Du hast Recht. Ich kann ihn nicht alleine lassen! Aber wirst du auf <strong>mich</strong> warten?“<br />

Grandpa lächelte.<br />

„Natürlich werde ich das. Und in sehr vielen Jahren, wenn deine Zeit auch gekommen<br />

ist, werde ich dich empfangen. Du wirst zu mir kommen, zusammen mit Jim. Du wirst deine<br />

Mutter wieder sehen, deinen Vater, der, bis es so weit ist, auch schon bei mir sein wird, Jim<br />

wird seine Eltern wieder sehen. Aber noch ist es nicht so weit.“<br />

Ich nickte.<br />

„Ja, ich weiß. Du hast Recht, Grandpa, ich muss zu Jim zurück.“<br />

Ich wollte aufspringen, aber mein Großvater hielt <strong>mich</strong> zurück.<br />

„Kelly, du musst es verhindern.“<br />

„Was?“ fragte ich verwirrt.<br />

„Das John seinen Plan wahr macht!“<br />

************<br />

Jim kam langsam zu sich. Er spürte, dass er im Wasser lag. Und er spürte, dass er<br />

Kelly fest in den Armen hielt. Erleichtert atmete er auf. Wie er dort, wo auch immer sie jetzt<br />

waren, hingelangt war, war im Moment unwichtig. Wichtig war nur, dass Kelly bei ihm war.<br />

Er öffnete mühsam die Augen und flüsterte:<br />

- 394 -


„Kelly ...“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Eine Antwort erhielt er nicht. Er zwang sich, richtig zu sich zu kommen. Müde öffnete<br />

er die Augen und nachdem die Sterne und Kreise, die daraufhin vor ihm aufblitzten ver-<br />

schwunden waren, erkannte er, dass er am Ufer lag, auf dem Rücken, halb noch im Wasser.<br />

Kelly lag reglos in seinen Armen. Erschrocken war er nun schnell richtig bei sich. Hastig<br />

kniete er sich hin und untersuchte Kelly. Und hatte das Gefühl, ein Eiszapfen würde in sein<br />

Herz eindringen. Er hatte sie neben sich, aber sie atmete nicht mehr! Vollkommen verzweifelt<br />

wimmerte er:<br />

„Nein ... Kelly ...“<br />

Plötzlich hörte er eine Stimme hinter sich.<br />

„Sawyer, was ist mit ihr?“<br />

In der nächsten Sekunde kniete Jack neben ihm. Er blutete heftig am Bein, war weiß<br />

wie eine Wand, beugte sich aber ungeachtet dessen über Kelly und fing sofort an, Herz-<br />

druckmassage auszuführen.<br />

schon.“<br />

„Beatme sie, los, drei Mal!“, herrschte er Jim an und dieser gehorchte wie in Trance.<br />

Er sah Jack fragend an und dieser erklärte:<br />

„Kopf etwas in den Nacken, Nase zuhalten und drei Mal in ihren Mund, nun mach<br />

Hastig tat Jim, was ihm gesagt wurde. Blind vor Tränen sah er zu, wie Jack wieder<br />

und wieder kurze, kräftige Druckbewegungen auf Kellys Brust ausführte.<br />

„Wieder beatmen.“<br />

Erneut beugte Jim sich zu Kelly herunter und blies ihr drei Mal hintereinander seinen<br />

Atem in die Lungen. Nach endlosen Minuten, in denen Jim schon jede Hoffnung aufgegeben<br />

hatte, passierte es endlich. Plötzlich hustete Kelly krampfhaft, ein Schwall Wasser lief aus<br />

ihrem Mund und sie öffnete die Augen. Jack sank ächzend auf den Rücken und Jim riss die<br />

junge Frau in seine Arme und stotterte schluchzend und zitternd Liebkosungen in ihre Ohren,<br />

von seiner Umgebung nichts mehr registrierend.<br />

************<br />

Krampfhaft hustend kam ich zu mir. Eben noch hatte ich die eindringliche Stimme<br />

meines Großvaters gehört, nun war es die tränenerstickte Stimme Jims, die mir Liebkosungen<br />

in die Ohren flüsterte. Ich hatte das Gefühl, gar nicht genug Luft in meine Lungen pumpen zu<br />

können. Abgesehen von Jims Stimme hörte ich Rauschen von Wellen, Blätter, die im Wind<br />

raschelten und über allem immer wieder Jims Stimme. Ich öffnete langsam die Augen, hatte<br />

Angst vor dem, was ich zu sehen bekommen würde. Doch es war ganz harmlos. <strong>Über</strong> mir<br />

blauer Himmel, neben mir Jim, der <strong>mich</strong> krampfhaft schluchzend an sich presste und in<br />

- 395 -


By<br />

Frauke Feind<br />

seinen Armen wiegte, wie man einen Säugling gewiegt hätte. Ich wollte so liegen bleiben, für<br />

immer, aber plötzlich drang noch eine andere Stimme an mein Ohr.<br />

„Du musst verbunden werden. Jack. Du wirst verbluten!“<br />

Ich reagierte auf diese verängstigten Worte wie ein Roboter. Langsam versuchte ich,<br />

<strong>mich</strong> aus Jims Umarmung zu lösen. Das war jedoch ein schwieriges Unterfangen, denn er<br />

klammerte sich an <strong>mich</strong> als wolle er <strong>mich</strong> nie wieder loslassen.<br />

„Baby, es geht mir gut ... Ich muss ... ich muss <strong>mich</strong> um Jack kümmern ...“<br />

Wieder hustete ich und spürte erneut Salzwasser auf der Zunge. Jim sah mir ins Ge-<br />

sicht, dann spürte ich seine Lippen. Auf den Augen, der Stirn, den Wangen, meinen eigenen<br />

Lippen.<br />

stört.<br />

„Geht es dir gut? Bitte, Kelly, geht es dir wirklich gut?“, keuchte er vollkommen ver-<br />

Es kostete <strong>mich</strong> ungeheure Kraft, weniger physisch als vielmehr psychisch, <strong>mich</strong> lang-<br />

sam aus seinen Armen zu lösen.<br />

kümmern.“<br />

„Baby, ja, es geht mir wieder gut, alles in Ordnung. Ich muss <strong>mich</strong> wirklich um Jack<br />

Und erst jetzt ließ Jim <strong>mich</strong> ganz langsam los.<br />

Etwas schwankend kam ich auf die Beine und sofort waren Jims Arme wieder um<br />

<strong>mich</strong>, mir zu helfen.<br />

„Wir müssen dich aus dem Wasser kriegen.“, erklärte ich Jack kalt.<br />

Kate, ihre Stimme war es, die ich gehört hatte, nickte heftig.<br />

„Jin, fass mit an.“<br />

Miles eilte ebenfalls neben Jack und zusammen mit Jin richtete er den Arzt auf, half<br />

ihm den Strand hinauf. Jetzt sah ich auch Daniel, Sayid und Hurley. Und ich sah, dass Jim am<br />

linken Oberarm eine blutende Schramme hatte, Miles an der linken Seite und Daniel am Hals.<br />

Sayid blutete an der rechten Schulter, wo ihn mein Schuss getroffen hatte. Jin und Kate waren<br />

ebenfalls nicht ohne Verletzungen davon gekommen. Lediglich Hurley blutete nicht. Ich<br />

hustete immer noch ein wenig, fühlte <strong>mich</strong> aber von Minute zu Minute besser. Wir hatten die<br />

Baumgrenze erreicht und Miles und Sayid ließen Jack langsam zu Boden sinken. Ich kniete<br />

<strong>mich</strong> neben dem Arzt in den warmen Sand und erklärte Kate:<br />

„Zieh ihm die Schuhe aus, die Hose muss runter.“<br />

Hastig kniete Kate sich ebenfalls hin und zog Jack die Schuhe aus. Nun halfen wir ihm<br />

aus dem Overall. Ich beugte <strong>mich</strong> über ihn und sah mir die Wunde an. Die Kugel steckte noch<br />

und ich schaute <strong>mich</strong> um.<br />

„Hat einer von euch ein Messer ...?“<br />

Bevor ich die Frage noch ganz stellen konnte, zogen sowohl Miles als auch Jin Messer<br />

aus der Tasche. Jin hatte sein Leatherman noch bei sich, das schon einmal bei Jim zum Ein-<br />

satz gekommen war, und ich griff danach.<br />

- 396 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Wir brauchen schnell ein Feuer, kümmert euch darum.“<br />

Hurley, Dan und Sayid eilten los, um trockenes Geäst zu suchen. Ich sah Jin an.<br />

„Halte du seinen Oberkörper, Jim, du hältst das Bein fest.“<br />

Jack lag still, der Blutverlust machte sich langsam bemerkbar. Ich drückte das Ein-<br />

schussloch auseinander und sondierte es wenig vorsichtig mit dem kleinen Messer des<br />

Multifunktionstools. Jack keuchte auf vor Schmerzen, doch darauf nahm ich keine Rücksicht.<br />

Es war mir schlicht egal, ob der Mann, der gedroht hatte, Jim zu erschießen, Schmerzen hatte.<br />

Sayid stapelte bereits Holz übereinander und suchte in seiner Hosentasche nach einen Feuer-<br />

zeug, dass er auch fand. Sofort züngelten an dem trocknen Holz Flammen und kurze Zeit<br />

später brannte ein kleines Feuer. Ich wusste inzwischen, dass die Kugel, die ich selbst Jack<br />

verpasst hatte, nicht tief saß. So nahm ich nun die Zange zu Hilfe und sah Jim an, der immer<br />

noch vollkommen neben sich wirkte.<br />

„Gut festhalten jetzt.“, sagte ich sanft und Jim nickte.<br />

Ich drückte die Wunde erneut auseinander und senkte die Spitzzange des Tools in<br />

Jacks Fleisch. Schnell spürte ich die Kugel und bekam sie schon beim ersten Versuch ver-<br />

nünftig zu packen. Ohne auf Jacks gequälten Aufschrei zu achten entfernte ich die Kugel und<br />

ließ sie in den Sand fallen. Ich bat Miles um sein breites Jagdmesser und reichte es Daniel, der<br />

neben Sayid, der sich die Schulterwunde hielt, am Feuer saß.<br />

„Zum Glühen werden wir es nicht kriegen, aber es muss sehr heiß sein, damit ich die<br />

Ader verschließen kann.“, erklärte ich schnell.<br />

Daniel nickte, hielt das Messer minutenlang an die heißeste Stelle in dem kleinen<br />

Feuer, dort, wo die Flammen weiß leuchteten. Schließlich drückte er mir das Messer wieder in<br />

die Hand und ich hielt es ohne zu Zögern an die Wunde. Jack brüllte erneut auf, sackte in sich<br />

zusammen und verlor die Besinnung.<br />

Kate war kreidebleich. Ich sah Hurley an.<br />

„Ich brauche dein T-Shirt, Hurley.“<br />

Wortlos nickte der dicke, junge Mann und zog sein Shirt unter dem DHARMA<br />

Overall aus. Ich warf es Daniel zu.<br />

„In Streifen.“<br />

Er fing das Kleidungsstück auf und begann, es in Streifen zu schneiden. Abgesehen<br />

davon, dass ich mir vorkam wie im Wilden Westen, wo Schusswunden kurzerhand aus-<br />

gebrannt worden waren um Blutungen zu stoppen hatte ich das Gefühl, Jack das Leben ge-<br />

rettet zu haben. Was für eine Ironie. Erst schoss ich ihn selbst an, dann musste ich die Folgen<br />

meiner eigenen Tat beseitigen! Kate reichte mir Streifen von Hurleys T-Shirt und ich wickelte<br />

diese fest, aber nicht abschnürend um Jacks Oberschenkel. Nun wandte ich <strong>mich</strong> an Jim.<br />

„Was ist mit deinem Arm, Schatz?“, fragte ich ihn.<br />

- 397 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Jim sah <strong>mich</strong> unverwandt an und schien gar nicht mitbekommen zu haben, was ich ihn<br />

gefragt hatte. In einer derart desolaten Verfassung war er nicht einmal am Beginn unserer<br />

Bekanntschaft gewesen. Ich beschloss, die Anderen erst einmal zu Ignorieren und meine<br />

ganze Aufmerksamkeit Jim zu widmen. Ich nahm ihn an der Hand und zog ihn mit mir ein<br />

Stück den Strand entlang. Schweigend folgte er mir, wie eine Marionette. Als wir außer Sicht-<br />

und Hörweite waren zog ich ihn in den warmen Sand hinunter. Langsam und geistesabwesend<br />

ließ er sich neben mir nieder. Leise sagte ich:<br />

verloren.“<br />

„Honey, es geht mir gut. Du musst dich fangen, okay?“<br />

Er wandte sich mir zu und atmete tief ein. Fassungslos stieß er hervor:<br />

„Gott, Kelly, ich ... du warst tot ... Ich hab ... hab gedacht, ich hätte dich doch noch<br />

Wieder kullerten Tränen über seine blassen, verdreckten, von der Folter ge-<br />

schwollenen und in allen Farben schimmernden Wangen. Wir alle sahen aus wie Vogel-<br />

scheuchen, das wurde mir bei diesem Anblick allzu bewusst. Er sah <strong>mich</strong> an und riss <strong>mich</strong> an<br />

sich, so heftig und unerwartet, dass mir kurz die Luft weg blieb. Jedoch presste ich ihn genau-<br />

so fest an <strong>mich</strong> und hielt ihn fest.<br />

Unsere Lippen fanden sich zu einem innigen Kuss. Meine Hände glitten unter Jims<br />

Hemd, das nun zu allem <strong>Über</strong>fluss an vielen Stellen Löcher und Risse aufwies. Meine eigene<br />

Kleidung sah nicht einen Deut besser aus. Vogelscheuchen! Wir lagen im Sand, küssten uns<br />

immer wieder leidenschaftlich und streichelten uns gegenseitig all die Angst und Anspannung<br />

fort. Endlich hatte ich das Gefühl, dass Jim sich entspannte. Als unsere Lippen sich kurz von<br />

einander lösten sagte er mit deutlich ruhigerer Stimme:<br />

„Oh, man, langsam reicht es wirklich. Das alles hier ist mehr, als der stärkste Mann er-<br />

tragen kann. Wie schaffst du es nur, immer noch aufrecht zu stehen und auch noch vernünftig<br />

und überlegt zu handeln?“ Ein Lächeln umspielte dabei endlich wieder seinen Mund und<br />

seine Grübchen zuckten. „Warum hast du dem Doc eigentlich den Arsch gerettet?“, fügte er<br />

grinsend hinzu.<br />

schießen.“<br />

„Das habe ich <strong>mich</strong> auch schon gefragt.“, erklärte ich. „<strong>Der</strong> Mistkerl wollte auf dich<br />

Ich konnte meiner eigenen Stimme den Hass und die Wut, die ich empfand, anhören.<br />

Ich zwang diese Emotionen mühsam zurück und sagte stattdessen:<br />

„Weißt du, ich muss <strong>mich</strong> eigentlich um all die kleineren Verletzungen kümmern. Wie<br />

geht es deinem Arm?“<br />

Jim sah auf die blutige Schramme hinunter und zuckte die Schultern.<br />

„Kein Problem, geht nicht sehr tief in die Haut.“, erklärte er kopfschüttelnd. „Kate ...<br />

Sie hat es tatsächlich getan.“<br />

Ich nickte.<br />

- 398 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„So wie ich. Ich hätte Jack auch den Kopf wegpusten können.“ Ich sah Jim an. „So,<br />

wie Jin Radzinsky den Kopf weg gepustet hat.“<br />

Wir erhoben uns und kehrten eng umschlungen zu den Anderen zurück. Jack war in-<br />

zwischen wieder zu sich gekommen und sah <strong>mich</strong> an.<br />

„Kelly, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich ...“ Er verstummte kurz resigniert, fuhr<br />

endlich leise fort: „Ich kann <strong>mich</strong> wieder erinnern. An alles. Fragt <strong>mich</strong> nicht, warum. Wir<br />

wurden her geschickt, um genau das, was ich plante, zu verhindern. Ich wusste es nicht mehr.<br />

Es war, als hätte es LA nie gegeben. Es tut mir leid, was geschehen ist. Ich habe keine<br />

Ahnung, warum ich <strong>mich</strong> nicht an all das erinnern konnte und noch weniger, warum ich es<br />

jetzt plötzlich kann.“<br />

Kate, die neben ihm im Sand saß, nickte.<br />

„Geht mir genauso. Kelly, ich ... weiß nicht, wie ich dir danken soll, dass du Jack nicht<br />

erschossen hast. Du hättest es tun können, ohne Probleme.“<br />

Ihre Augen schimmerten feucht und meine Wut verflog langsam. Sie konnten wirklich<br />

nichts dafür, dass sie keine Erinnerung mehr an unser Zusammentreffen in LA gehabt hatten.<br />

Aus ihrer Sicht hatten sie das Richtige getan. Ich sah Kate an und nickte langsam.<br />

„Ja, ich hätte es tun können, so, wie du Jim hättest erschießen können. Zum Glück ist<br />

es nicht so weit gekommen, obwohl es verdammt knapp war.“<br />

Daniel, der von alledem nichts verstand, fragte fast schüchtern:<br />

„Wieso ähm ... kennt ihr euch? Aus LA? Ich verstehe nichts!“<br />

Ich sah den Wissenschaftler an und sagte:<br />

„Ich werde mir erst einmal eure Verletzungen anschauen, danach werden wir über das,<br />

was geschehen ist, sprechen, okay?“<br />

Ich begann mit Sayid, der neben Jack am schwersten verletzt war und behandelte auch<br />

seine Schusswunde. Er biss die Zähne knirschend aufeinander, als ich die Kugel entfernte,<br />

hielt aber durch. Ich verband die Wunde mit einem weiteren Streifen von Hurleys T-Shirt und<br />

wandte <strong>mich</strong> dem Nächsten zu.<br />

Eine Stunde später waren alle Schrammen und Beulen versorgt. Miles und Jin waren<br />

im Wald gewesen und kamen mit Papayas und Mangos zurück, wir aßen davon und nun<br />

wurde es langsam dunkel.<br />

„Ich möchte nicht nerven, aber ich würde gerne erfahren, was eigentlich los ist und<br />

warum ihr euch kennt und euch vorher nicht an Dinge erinnern konntet.“, meinte Daniel leise.<br />

Und wir erzählten ihm alles. Angefangen bei meiner ersten Begegnung mit Jim, über<br />

unsere Fahrt und den anschließenden Flug nach LA, bis zu dem Zeitpunkt, als ich das Rad<br />

betätigt hatte. Auch Miles hörte mehr als Aufmerksam zu.<br />

„Ihr musstet also mit aller Macht verhindern, dass wir den Zünder in das Bohrloch<br />

werfen.“, meinte Daniel schließlich fassungslos.<br />

- 399 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ja, das hätte die Schleife erneut ausgelöst.“, sagte Jim ruhig.<br />

„Es grenzt an ein Wunder, dass wir uns nicht gegenseitig umgebracht haben.“, meinte<br />

Daniel erschüttert. „Ihr habt mir also schon das Leben gerettet, habt verhindert, dass meine<br />

Mutter <strong>mich</strong> erschießt?“, sagte er ziemlich betroffen.<br />

„Ja, damit haben wir wohl einen wichtigen Punkt auf unserer Liste erledigt. Eigentlich<br />

ist es doch damit vorbei, oder?“, meinte Kate müde.<br />

Ich seufzte. Dann berichtete ich von meiner Begegnung mit meinem Großvater.<br />

„Er sagte deutlich zu mir, wir müssten verhindern, dass John seinen Plan wahr<br />

macht.“, schloss ich meinen Bericht.<br />

„John ... Damit kann nur Locke gemeint sein, denke ich. Aber von welchem Plan<br />

sprach dein Großvater?“<br />

Jack sah <strong>mich</strong> über das Lagerfeuer hinweg verwirrt an. Ich zuckte die Schultern.<br />

„Wenn ich das wüsste, wäre ich um einiges schlauer. Wir wissen ja derzeit nicht ein-<br />

mal, wann wir sind.“<br />

Jim lachte frustriert.<br />

„Mal wieder.“<br />

„Das können wir euch sagen.“<br />

Eine Bombe hätte keine größere Wirkung haben können wie diese Worte von einer<br />

Stimme hinter uns im Dschungel. Abgesehen von<br />

Hurley, der wegen seines Körperumfangs nicht so<br />

schnell reagieren konnte und Jack, der auf Grund seiner<br />

Beinverletzung nicht hochfahren konnte, sprangen wir<br />

alle auf die Füße und starrten in den dunklen Wald<br />

hinter uns. Unsere Hände zuckten automatisch auf den<br />

Rücken an den Hosenbund, bevor wir realisierten, dass wir dort keine Waffen stecken hatten,<br />

mit denen wir uns im Zweifelsfall hätten verteidigen können. Aus dem Wald hinter uns traten<br />

eine Frau und vier Männer zu uns an den Strand. Alle fünf waren bewaffnet und starrten uns<br />

misstrauisch an. Unsere eigenen Waffen waren uns abhanden gekommen, als der Flash ge-<br />

schah. So sahen wir uns einmal mehr unbewaffnet und wehrlos von seltsamen Gestalten be-<br />

droht.<br />

Schützen.<br />

„Wer seid ihr?“, fragte Jim angespannt und schob sich langsam vor <strong>mich</strong>, um <strong>mich</strong> zu<br />

Die Neuankömmlinge reagierten auf eine Weise, die wir nun als letztes erwartet<br />

hatten. Die junge Frau sah uns abschätzend an und fragte völlig zusammenhanglos:<br />

„Quid cubitus umbrae statuae?“<br />

Sieden heiß durchzuckte <strong>mich</strong> die Erinnerung an die Worte, die Richard mir vor langer<br />

Zeit beigebracht hatte. Wie aus der Pistole geschossen kam meine Antwort, während die<br />

Anderen verwirrt und fassungslos die Frau anstarrten.<br />

- 400 -


„Ille qui nos omnes servabit!“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Jetzt war es an der dunkelhaarigen Frau, <strong>mich</strong> leicht irritiert anzuschauen. Dann sagte<br />

sie ruhig zu den sie begleitenden Männern:<br />

„Nehmt die Waffen runter.“<br />

Ohne zu Zögern senkten die Männer die Waffen.<br />

„Holt ihn her.“, gab die junge Frau eine weitere Anweisung und wortlos drehten sich<br />

die Männer herum, um wieder im Dschungel zu verschwinden. „Darf ich <strong>mich</strong> zu euch<br />

setzen?“, fragte die Unbekannte uns freundlich.<br />

„Klar, wir lieben es, Leute, die uns erst mit ner Knarre unter der Nase rumgewedelt<br />

haben und die es nicht für nötig halten, sich vorzustellen, an unser Lagerfeuer zu bitten.“,<br />

meinte Jim sarkastisch. „Wie wär‟s denn, wenn du uns mal verrätst, wer ihr seid.“<br />

Die Frau musterte Jim und fragte: „Bist du hier der Anführer?“<br />

Bevor jemand anderes antworten konnte erklärte ich: „Das ist er.“<br />

Jack nickte nur langsam und auch Kate schwieg.<br />

„Gut, du hast selbstverständlich Recht. Mein Name ist Ilana. Meine Begleiter stelle ich<br />

euch vor, sobald sie wieder bei uns sind. Verratet ihr mir, wer ihr seid?“<br />

Wir stellten uns der Reihe nach vor und die Frau schien sich unsere Namen genau ein-<br />

zuprägen. Als wir mit der Vorstellung fertig waren, raschelte es im Dschungel hinter uns und<br />

Augenblicke später traten die vier Männer an den Strand, eine schwere Metallkiste zwischen<br />

sich tragend. Vollkommen verwirrt starrten wir diese Kiste an und Jim konnte sich erneut eine<br />

ironische Bemerkung nicht verkneifen.<br />

„Schleppt ihr nen ganzen Hausstand mit euch herum oder ist das n aufblasbares Flug-<br />

zeug, um von dieser beschissenen Insel zu verschwinden?“<br />

Ilana schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, weder das Eine noch das Andere. Es ist spät, wenn es euch Recht ist, werden<br />

wir euch morgen früh zeigen, was wir bei uns haben.“ Sie deutete der Reihe nach auf die<br />

Männer, die bei ihr waren. „Das sind Bram, Spencer, Dean und Marcos.“, erklärte sie.<br />

Bram war kräftig gebaut mit dunklen, kurzen Haaren und einem fülligen Gesicht,<br />

Dean ein junger Schwarzer, der uns jetzt zunickte, Spencer war um die vierzig, hatte dunkel-<br />

blonde Haare und helle Augen und der letzte in der Gruppe, Marcos, war ein südländischer<br />

Mann mit schwarzen Haaren, sehr dunklen Augen und verschlossenem Gesichtsausdruck. Wir<br />

stellten uns nun auch kurz noch einmal vor, dann stellte Jim die Frage, die uns alle vor dem<br />

Einschlafen noch brennend interessierte.<br />

„Du sagtest, du könntest uns sagen, wann wir sind?“<br />

Er sah Ilana herausfordernd an. Diese nickte ruhig.<br />

„Wenn ich auch die Frage nur ansatzweise verstehe, aber ihr seid im Oktober 2007.“<br />

Fassungslos starrten wir Ilana an.<br />

- 401 -


wirrt.<br />

müde.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Mein Gott, wir sind im April hier aufgeschlagen.“, meinte Kate erschüttert.<br />

„Fast ein halbes Jahr. Solange ist es mir nicht vorgekommen.“, erklärte auch ich ver-<br />

„Nun, hier läuft die Zeit ein wenig anders ab als in der Restwelt.“, erläuterte Daniel<br />

„Wir alle sind erschöpft, lasst uns morgen weiter reden, okay?“, sagte Ilana ruhig und<br />

traf damit unseren Nerv.<br />

Jim stemmte sich schwerfällig auf die Füße und zog <strong>mich</strong> ebenfalls hoch.<br />

„Komm, wir suchen uns n Best Western ...“, meinte er und zog <strong>mich</strong> mit sich, ein<br />

Stück den Stand entlang.<br />

Im Dunkeln suchten wir uns einen Platz unter einer Palme, wo etwas Gras wuchs, und<br />

machten es uns dort so gemütlich es nur möglich war. Eng aneinander geschmiegt lagen wir<br />

da und waren vor Erschöpfung innerhalb weniger Minuten eingeschlafen.<br />

************<br />

Am kommenden Morgen wachte ich durch Vogelgezwitscher auf. Jim schlief noch tief<br />

und fest und ich betrachtete ihn eine Weile. Wie konnte ich auch nur eine Sekunde gezögert<br />

haben, zu ihm zurück zu kehren? Grandpa ... Ich konnte noch nicht fassen, was da geschehen<br />

war. Ähnliche Erzählungen kannte ich von Patienten, die kurze Zeit klinisch tot gewesen<br />

waren. Sie berichteten auch von Begegnungen mit verstorbenen Verwandten oder Freunden.<br />

Scheinbar waren das keine Hirngespinste, verursacht durch die Ausschüttung irgendwelcher<br />

Stresshormone, wie ich bisher eigentlich angenommen hatte. Mir lief ein Schauer über den<br />

Rücken. Ich war tatsächlich tot gewesen, ertrunken. Wäre Jack nicht bei uns gewesen, wäre<br />

ich auch tot geblieben. Ertrunken! Wie, um alles in der Welt, waren wir ins Wasser geraten?<br />

Ich war jetzt hellwach und zermarterte mir den Kopf, was zuletzt geschehen war. <strong>Der</strong> Kampf,<br />

die ungeheure Magnetkraft, die die halbe Baustelle in das Bohrloch gesaugt hatte, der Tod<br />

Radzinskys und Phils, mein Schuss auf Sayid, um zu verhindern, dass er den Zünder warf.<br />

Dann das heftige Vibrieren des Bodens, das schmerzhafte Pfeifen, das ebenso schmerzhafte<br />

Licht ... Was danach geschehen war, wusste ich nicht mehr. So sehr ich auch nachdachte, an<br />

mehr konnte ich <strong>mich</strong> nicht erinnern. Meine Erinnerungen setzten erst wieder ein, als mein<br />

Großvater plötzlich auf <strong>mich</strong> zukam. Was, um alles in der Welt, war geschehen? Ich kam<br />

nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn urplötzlich wurde Jim unruhig und noch bevor<br />

ich reagieren konnte, fuhr er mit einem entsetzten Schrei in die Höhe!<br />

„Kelly!“<br />

Ich hielt ihn schon in den Armen, bevor er richtig aufrecht saß.<br />

- 402 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Hey, alles in Ordnung, Baby, du hast geträumt. Es geht mir gut, ich bin ja bei dir.“,<br />

erklärte ich sanft und eindringlich.<br />

tot bist!“<br />

Jim sah <strong>mich</strong> aus vor Grauen dunklen Augen verwirrt an und fluchte verzweifelt:<br />

„Man, als ob ich nicht schon genug Gründe für Albträume hatte, auch ohne dass du<br />

Er zog <strong>mich</strong> an sich und wir hielten uns minutenlang eng umschlungen. Schließlich<br />

merkte ich, dass sein rasender Herzschlag sich beruhigte und die Spannung aus seinem<br />

Körper wich.<br />

„Geht es wieder?“, fragte ich liebevoll und Jim nickte.<br />

„Ja. Ich dachte, ich hätte dich verloren ...“<br />

Er fuhr sich mit der Rechten durch die verdreckten Haare. Langsam ließ er sich wieder<br />

in die Waagerechte sinken, <strong>mich</strong> mit sich ziehend. Unsere Umgebung ausblendend widmeten<br />

wir uns eine Weile ausgiebig der Morgenkuschelei, die wir in all den Monaten so selten<br />

hatten genießen können. Eigentlich war auch jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, aber das war<br />

uns vollkommen egal. Wir hatten uns nach all dem Horror der vergangenen Wochen ein zärt-<br />

liches Beisammensein mehr als verdient. Und dass sollte uns keiner nehmen. Ohne viel zu<br />

Sprechen lagen wir, uns küssend und liebkosend, wohl fast eine Stunde in der warmen Sonne,<br />

die auf den Strand nieder brannte. Dann sagte ich:<br />

„Wir sollten mal nachsehen, wie es den Anderen geht. Und ich möchte mehr über<br />

diese Ilana und ihre Begleiter erfahren.“<br />

Jim zog <strong>mich</strong> noch zu einem letzten Kuss an sich und erhob sich etwas steif.<br />

„Ob wir wohl mal ne längere Zeit in gemütlichen Betten verbringen werden?“, fragte<br />

er sarkastisch und half mir auf die Füße.<br />

kann.“<br />

Ich zuckte resigniert die Schultern.<br />

„Da habe ich so meine Zweifel. Ist mir auch egal, solange ich nur neben dir schlafen<br />

Befreit lachten wir auf und machten uns Arm in Arm auf den Weg zu den Anderen<br />

zurück. Hier waren alle schon auf den Beinen und sahen uns entgegen.<br />

„Morgen.“, begrüßte Daniel uns und wir erwiderten den Gruß.<br />

Erst einmal kümmerte ich <strong>mich</strong> um die Schusswunden Jacks und Sayids. Beide sahen<br />

gut aus und so konnten wir uns nun dem nahe liegenden widmen.<br />

„Wer seid ihr, wo kommt ihr her und was habt ihr bei euch?“, fragte Jim die fünf Neu-<br />

ankömmlinge gerade heraus.<br />

Ilana schien die Wortführerin zu sein, denn sie war es, die Jim antwortete.<br />

„Wenn es dir nichts ausmacht, würden wir eigentlich erst einmal ganz gerne erfahren,<br />

wer ihr seid und, was noch viel interessanter ist, warum ihr nicht wusstet, in welchem Jahr ihr<br />

seid.“<br />

- 403 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ilana sah uns interessiert der Reihe nach an. Daniel warf Jim einen fragenden Blick zu<br />

und dieser nickte.<br />

grinste Jim.<br />

„Na los, Einstein, du brennst doch schon darauf, mit deinem Wissen zu Glänzen.“,<br />

Und Daniel legte los. Ich behielt während seiner Erklärungen Ilana genau im Auge<br />

und bemerkte, dass sie keineswegs erstaunt wirkte, als sie von den Zeitsprüngen erfuhr. Kurz<br />

schilderte nun auch Jim, was wir erlebt hatten und ich schloss unsere Geschichte mit dem<br />

Verweis auf die Bemerkung meines Großvaters, John an seinem Plan zu hindern. Ilana und<br />

ihre Begleiter hatten gespannt, aber keineswegs sonderlich überrascht, zugehört. Als wir mit<br />

unseren Berichten fertig waren meinte Ilana ruhig:<br />

„Nun, John Locke, denn natürlich ist er gemeint, daran zu hindern, seinen Plan, wie<br />

immer dieser aussehen mag, auszuführen, dürfte nicht allzu schwer sein.“<br />

Sie warf Bram und Spencer einen Blick zu und diese erhoben sich. Sie machten sich<br />

an den Verschlüssen der Kiste zu schaffen und hoben langsam den Deckel ab.<br />

„Seht selber.“, sagte Ilana ruhig.<br />

Wir erhoben uns, auch Jack, und traten gemeinsam an die geheimnisvolle Kiste heran.<br />

Abgesehen von mir selbst zuckten alle anderen heftig zusammen und Kate keuchte:<br />

„Oh, mein Gott.“<br />

In der Kiste lag ein Mann, dem Aussehen nach in den Fünfzigern, sonnengebräunte<br />

Haut, die jetzt fahl wirkte, kahlköpfig, in einem teuren Anzug, die Augen geschlossen, die<br />

Hände auf der Brust, mehr als offensichtlich tot. Ich sah Jim fragend an und dieser keuchte:<br />

„Das ist Locke!“<br />

36) Jacob und Samuel<br />

Minutenlang herrschte erschrockenes Schweigen in der Runde. Abgesehen von Miles<br />

und Daniel, die Locke nur flüchtig kannten, und mir, die ich ihn überhaupt nicht gekannte<br />

hatte, waren alle anderen schockiert. Jim flüsterte:<br />

„<strong>Der</strong> große, weiße Jäger ...“, und starrte auf den toten Mann herunter.<br />

„Wie ...?“, stieß Kate geschockt hervor.<br />

„Alter, was ist bloß los? Warum ist John ... tot?“, keuchte Hurley fassungslos.<br />

Bram und Spencer legten den Deckel wieder über die Kiste und sahen uns der Reihe<br />

nach ernst an. Aber sie warteten, dass erneut Ilana das Wort ergriff. Ilana ließ sich langsam<br />

zurück in den warmen Sand sinken und auch wir setzten uns wieder.<br />

„Ihr möchtet nun gerne erfahren, wie euer Freund ums Leben gekommen ist, das kann<br />

ich verstehen.“ Sie fixierte Sayid mit den Augen. „Wenn dein Plan geklappt hätte, wäre Johns<br />

Tod verhindert worden. Möglicherweise.“<br />

- 404 -


staunt an.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Sayid sah die junge Frau mit den langen, dunklen Locken und den dunklen Augen er-<br />

„Welcher Plan? Wovon sprichst du?“<br />

Ilana lächelte.<br />

„Von deinem Plan, Benjamin Linus zu erschießen. Er war es, der John Locke tötete.“<br />

Neben Daniel war ich die Einzige, die Benjamin nur als Kind kennen gelernt hatte,<br />

nicht als den skrupellosen, manipulativen Psychopathen, der er als Erwachsener gewesen war<br />

und sicher immer noch war.<br />

„Ben hat John umgebracht?“, fragte Jack konsterniert.<br />

Ilana nickte. „Das hat er. Welchen Plan er damit verfolgte, ist uns nicht bekannt.<br />

Sicher ist nur, Ben saß in eurem Flugzeug, als ... nun, als ihr wieder hier ankamt. Und auch<br />

Locke, in seinem Sarg liegend, war in der Maschine. Linus hatte dafür gesorgt. Und auch wir<br />

saßen in der Ajira Maschine.“<br />

Verwirrt sahen wir alle Ilana an.<br />

„Ajira?“, fragte Jim verdutzt.<br />

„Wir sind mit ner Aluana Airways Maschine geflogen, Flug 2712 von Los Angeles<br />

nach Kiribati, als wir ...“<br />

Ilana schüttelte den Kopf, selbst deutlich verwirrt.<br />

„Nein, wir saßen in Flug 316 der Ajira Airways. Von LA nach Guam. Ich hatte dich<br />

...“, sie sah Sayid scharf an: „... bei mir, als meinen Gefangenen und ...“<br />

Heftig unterbrach Sayid die junge Frau.<br />

„Jetzt erkenne ich dich wieder! Aber, nein, das war beim ersten Mal, als wir von<br />

Locke aufgefordert worden waren, hierher zurück zu kehren.“<br />

Ilana überlegte. Dann sagte sie langsam:<br />

„Ich will nicht behaupten, dass ich durch all das durchblicke. Mir sind auch nur<br />

wenige Seiten in dem dicken Buch Insel bekannt. Sicher ist, dass wir alle gemeinsam mit der<br />

Ajira hier abgestürzt sind. Wie es angehen kann, dass ihr euch an einen anderen Flug erinnert,<br />

ist mir selbst ein Rätsel. Die Maschine liegt drüben auf Hydra Island, wir sind mit einem Boot<br />

hier auf die Hauptinsel gekommen.“ Sie warf Jin einen langen Blick zu. „Eine junge Frau,<br />

eine Asiatin, war an Bord, sie sucht dich.“<br />

Jin schüttelte fassungslos den Kopf.<br />

„Nein, ich war doch mit ... Nein, war ich nicht, ich war mit an Bord der Aluana ... Ich<br />

verstehe das alles nicht mehr. Sun ist hier? Geht es ihr gut?“<br />

Kate nervös.<br />

Ilana nickte.<br />

„Ja, sie ist unverletzt. Sie blieb bei Frank Lapidus, dem ...“<br />

„Bei wem? Frank Lapidus? Er war damals mit unter den Leuten der Kahana.“<br />

„Stimmt, er war der Hubschrauberpilot, der uns hier weg geschafft hat.“, stotterte<br />

- 405 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Er war es, der die Ajira geflogen hat.“, nickte Ilana. Sie fixierte <strong>mich</strong> und Jim. „Ihr<br />

beide wart nicht an Bord, da bin ich sicher.“<br />

Jim nickte.<br />

„Nein, ich war ja auf der Insel ... Aber wir waren in der Aluana mit dabei ... Man, leck<br />

<strong>mich</strong> am Arsch, das versteht kein Schwein. Vergessen wir das Mal für nen Moment. Lasst uns<br />

mal darüber reden, dass wir Johns Plan verhindern sollen. Ich mein, hat sich das nicht damit<br />

erledigt, dass er hier bei uns ist, mausetot?“<br />

Ilana zuckte die Schultern.<br />

„Wohl eher nicht.“, erklärte sie ruhig.<br />

„So? Und warum nicht? Er war zwar ne Nervensäge, aber irgendwie denk ich, als<br />

Toter kann er nicht mehr rum nerven.“, meine Jim ironisch.<br />

drang!“<br />

Und jetzt, erstmals, machte Bram den Mund auf.<br />

„Als Toter nicht, aber er ist bei der anderen Gruppe, sehr lebendig und voller Taten-<br />

Einen Moment lang waren wir sprachlos. Wir starrten Bram an, als hätte er soeben be-<br />

hauptet, Elvis Presley im Dschungel getroffen zu haben. Grinsend brachte Jim in einem Ton-<br />

fall, der keine Zweifel offen ließ, auf den Punkt, was wir alle dachten.<br />

„Ihr habt sie ja nicht mehr alle!“<br />

Ilana lächelte sanft.<br />

„Ich kann verstehen, dass ihr das nicht glauben könnt, aber wenn ihr euch uns an-<br />

schließt werden wir es euch beweisen können. Ich weiß nicht, was ihr über die Insel wisst.“<br />

Keiner von uns konnte ein ironisches Auflachen unterdrücken.<br />

„Mehr, als wir jemals wissen wollten.“, meinte Kate überzeugt.<br />

Ilana sah sie an.<br />

„Ich denke, du sprichst auf die offensichtlichen Dinge an. Heilungskräfte, Zeitsprünge,<br />

Menschen, die tot sind und doch wieder auftauchen ...“<br />

Jim und ich sahen uns an und stießen fast parallel:<br />

„Juliet!“, hervor.<br />

„Das Monster, Eisbären.“, ergänzte Hurley unsicher.<br />

„Ja, all das sind augenfällige Dinge. Es gibt hier aber etwas, das weder zu sehen noch<br />

zu hören ist. Seit Urzeiten beherbergt die Insel zwei vollkommen gegensätzliche ... nennen<br />

wir es einfach einmal Kräfte. Eine dieser Kräfte ist Jacob, euch allen inzwischen wenigstens<br />

vom Hörensagen her bekannt. Jacob ist ... das Gute. Obwohl es aus eurer Sicht sicherlich<br />

nicht immer so aussah. Jacob hat einen Gegenspieler, der sozusagen das Böse repräsentiert.<br />

Obwohl auch das eine zu einfache, simple Erklärung ist. Diese beiden Männer, Jacob und<br />

Samuel, vertreten vehement ihre Standpunkte. Ricardus, ihr kennt ihn als Richard, ist, solange<br />

Jacob und Samuel schon hier auf die Insel verbannt sind, der Mittler, er sorgt dafür, dass sich<br />

das Gleichgewicht nicht zu sehr auf die eine oder andere Seite verlagert.“<br />

- 406 -


sam:<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Jim hatte, wie wir anderen, gespannt und aufmerksam zugehört. Jetzt fragte er lang-<br />

„Sag mal, Ponce de Leon, von welchem Zeitraum sprichst du?“<br />

Ilana sah Jim an und seufzte. „Nun, über einen Zeitraum, der eure Vorstellungskräfte<br />

übersteigt. Samuel und Jacob wurde hier auf die Insel verbannt ... 2300 vor Christi Geburt.“<br />

Nicht nur mir entwich ein hysterisches Kichern. Fassungslos starrten wir erneut Ilana<br />

und ihre Begleiter an.<br />

„Ja, klar. Demnach ist der gute Ricky 4300 Jahre alt?“<br />

Jim konnte den Sarkasmus in seiner Stimme nicht unterdrücken. Ilana nickte ernst.<br />

„Das ist er, ja. Er hat sich freiwillig zu dieser Aufgabe gemeldet. Unzählige Jahre<br />

konnte er verhindern, dass der Eine oder Andere die Oberhand gewann. Jacob lenkte die Ge-<br />

schicke der Menschen, die ihr immer ‟die Anderen‟ nennt, von den Leuten der DHARMA<br />

Initiative ‟Hostiles‟ genannt. Solange sie hier alleine auf der Insel waren, gab es nie<br />

Schwierigkeiten. Dann jedoch, im Jahre 1845, am 22.ten März, brach von Portsmouth,<br />

England, ein Dreimastschoner zu einer Handelsreise nach Siam, dem heutigen Thailand, auf.<br />

Irgendwie gelang es Jacob, den Schutzschild, der die Insel normalerweise vollständig ver-<br />

birgt, zu durchbrechen und die Fregatte hierher zu locken. Damit kamen erstmals unerlaubt<br />

Fremde hier an. Jacob und Samuel begannen, die <strong>Über</strong>lebenden in ihrem Sinne zu<br />

manipulieren. Jacob wollte beweisen, dass Menschen gut sein können, Samuel wollte das<br />

Gegenteil beweisen. Jeder von ihnen machte sich die <strong>Über</strong>lebenden auf seine Weise nutzbar.<br />

Samuel konnte mit lebenden Menschen nichts anfangen, aber er lernte es, sich ihrer toten<br />

Körper zu bedienen. Jacob lernte im Gegenzug, für kurze Zeit von der Insel zu verschwinden,<br />

aber er konnte sich immer nur wenige Minuten in der realen Welt aufhalten. Dummerweise<br />

behielt Samuel Recht mit seiner Vermutung, dass Menschen immer kämpfen, zerstören und<br />

vernichten. Doch Jacob gab nicht auf. Er ...“ Sie sah uns an und biss sich auf die Lippe. „Er<br />

sorgte dafür, dass euer Flugzeug auf die Insel stürzte und eine auserwählte Gruppe von<br />

Passagieren überlebte. Dann ...“ Wieder stockte sie, als fiele ihr schwer, auszusprechen, was<br />

wir längst wussten.<br />

„Dann steckte der Dreckskerl uns in eine Zeitschleife, richtig? Er benutzte uns wie<br />

Versuchskaninchen, in der Hoffnung, beweisen zu können, dass wir Menschen auch ohne<br />

Kämpfe auskommen würden.“<br />

erfüllt.<br />

Bedrückt nickte Ilana.<br />

„Ja, Jim, das tat er. Samuel sucht seit unzähligen Jahren einen Weg, Jacob zu töten.“<br />

„Warum hat er das gute Werk nicht selbst in die Hand genommen?“, fragte Jim hass-<br />

Bram war es, der an Ilanas Stelle antwortete.<br />

- 407 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Weil das nicht möglich ist. Die Beiden können sich nicht gegenseitig töten. Nun sieht<br />

es aber so aus, als hätte Samuel einen Weg gefunden, wie er diese Schranke umgehen kann.<br />

Wir befürchten, er hat einen Weg gefunden, Jacob umzubringen.“<br />

„Gut. Sehr gut. Meinen Segen hat er!“, stieß Kate verzweifelt hervor.<br />

„Ist er sich auch nur ansatzweise darüber im Klaren, was er uns allen angetan hat?“<br />

<strong>Der</strong> Dunkelhaarigen liefen Tränen über die Wangen. Sayid schüttelte fassungslos den<br />

Kopf, Hurley murmelte irgendetwas vor sich hin und Jim stieß erschüttert hervor:<br />

„Er hat uns benutzt, wir waren Marionetten, Schachfiguren in seinem perfiden Spiel.<br />

Zum Teufel, ich schwör, wenn Samuel jemanden braucht, der dem Dreckskerl das Licht aus-<br />

pustet, werd ich <strong>mich</strong> selbst zur Verfügung stellen!“<br />

Ilana und ihre Begleiter blieben bei Jims leidenschaftlichem Ausbruch ruhig.<br />

„Ich kann euren Hass und eure Verbitterung mehr als gut verstehen. Aber es ist so,<br />

dass weder Jacob noch Samuel so etwas wie Mitleid empfinden können. Sie sind beide nicht<br />

gut und nicht böse. Menschliche Belange, Leid, Schmerz, all das kennen sie nicht, da sie dem<br />

am Nächsten kommen, was wir Gottheiten nennen würden. Ihnen fehlt die Möglichkeit,<br />

menschliche Empfindungen und Emotionen einordnen zu können.“<br />

„Das gibt ihnen noch lange nicht das Recht, mit uns zu spielen.“, stieß Jack mühsam<br />

beherrscht hervor.<br />

„Du hast absolut Recht, Jack. Darum sind wir hier. Wir müssen versuchen, dahinter zu<br />

kommen, was der Doppelgänger eures Freundes hier ...“ Sie deutete auf die Kiste. „... vorhat.<br />

Wenn wir mit unseren Vermutungen richtig liegen, setzt Samuel Locke als Waffe gegen<br />

Jacob ein.“<br />

„Und warum sollten wir ausgerechnet das verhindern nach allem, was wir wegen<br />

dieses neckischen Spielchens erleiden mussten?“, fragte Miles sarkastisch. „Lass <strong>mich</strong> raten:<br />

Die Welt geht unter, wenn Jacob gekillt wird?“<br />

einander.“<br />

Ilana warf Miles einen durchdringenden Blick zu.<br />

„So was in der Art, ja. Wenn das Gleichgewicht gestört wird, gerät einiges durch-<br />

Ich war von dem Gehörten genauso betroffen wie die <strong>Über</strong>lebenden von Flug 815.<br />

Wenn ich auch erst seit Kurzem eine Rolle in diesem Spiel übernommen hatte, konnte ich<br />

doch nur zu gut nachempfinden, was Jim und die Anderen hier schon durchgemacht hatten.<br />

Es fiel mir sehr schwer, mir vorzustellen, dass wir verhindern sollten, was jeder von uns selbst<br />

nur zu gerne getan hatte: Diesen Jacob umzubringen.<br />

„Wenn wir euch helfen, was geschieht dann mit uns?“, fragte ich die Frau.<br />

„Ich nehme an, damit seid ihr aus dem Spiel raus.“, meinte diese.<br />

„Du nimmst es an. Genauso gut kann es sein, dass Jacob beschließt, wir könnten noch<br />

weiter an seinen Fäden zappeln. Und wenn wir raus sind, wer sagt uns, dass er sich nicht die<br />

nächsten armen Schweine greift und mit ihnen das gleiche, morbide Spiel spielt wie mit uns?“<br />

- 408 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Am besten ist es, wir schicken beide in die Hölle!“, schnaufte Jim wütend.<br />

„Wir werden mit Richards Hilfe dafür sorgen, dass diese Insel wirklich nur noch von<br />

den Leuten gefunden werden kann, die hierher gehören.“, erklärte Ilana. „Dann kann etwas<br />

wie das, was euch widerfahren ist, nicht mehr passieren.“<br />

die Hose.“<br />

„Sagst du, Magellana. Aber wie ich das seh, wurde das schon mal versucht und ging in<br />

Jim hatte Recht. Es war offensichtlich schon einmal danebengegangen, Menschen von<br />

der Insel fern zu halten. Ich sah Ilana an und fragte:<br />

„Was hat es mit der Magnetenergie und den Zeitsprüngen auf sich?“<br />

Die junge Frau sah <strong>mich</strong> an und schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf.<br />

„Jedenfalls hat das nichts mit Jacob und Samuel zu tun. Das sind Dinge, die un-<br />

abhängig von den Beiden hier aufeinander treffen. Allerdings haben beide sich diese Dinge zu<br />

Nutze gemacht.“ Sie stand abrupt auf. „Wir müssen los. Werdet ihr uns begleiten?“<br />

Jim und ich sahen uns an. Wir nickten übereinstimmend.<br />

„Ja, wir kommen mit euch. Was wir letztlich tun werden, muss man abwarten. Wie<br />

sieht es mit euch aus?“<br />

Wir sahen Jack und die Anderen an. Miles und Jin nickten. Jin meinte:<br />

„Selbstverständlich. Sun ist bei den Anderen.“<br />

Hurley und Daniel erhoben sich ebenfalls.<br />

„Wie auch immer, Leute, ich will endlich weg hier, egal, was ich dafür machen<br />

muss.“, erklärte Hurley.<br />

Sayid, Kate und Jack zögerten kurz, dann nickten sie ebenfalls ergeben.<br />

„Zum Teufel, was soll„s, eine Wahl haben wir ohnehin nicht, wie es scheint. Ich weiß<br />

nicht, ob mein Bein <strong>mich</strong> soweit trägt. Wo müssen wir denn überhaupt hin?“<br />

Jim hatte sich am Strand umgesehen und meinte:<br />

„Wir sind, wenn <strong>mich</strong> nicht alles täuscht, am nördlichen Strand, was meint ihr?“<br />

Er sah Miles und Jin an und diese nickten.<br />

„Denke ich auch. Dann können wir quer durch den Dschungel die Inselspitze mit der<br />

Sturm-Station abkürzen.“<br />

Kate warf ein:<br />

„Das schafft Jack nie mit seinem verletzten Bein.“<br />

Sie warf mir bei diesen Worten einen wütenden Blick zu. Ich sah sie kalt an.<br />

„Er kann sich freuen, dass ich ihm nur ins Bein geschossen habe!“<br />

Bevor die Situation eskalieren konnte erklärte Bram:<br />

„Das ist kein Problem. Jack kann sich auf die Kiste setzen. Dass schaffen wir, die<br />

Tragestangen sind lang genug, da könnt ihr noch mit anfassen und helfen.“<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Jack verzog das Gesicht, doch als er mit Hurleys und Kates Hilfe auf die Füße ge-<br />

kommen war musste er wohl oder übel zugeben, dass er keine Chance hatte, weit zu laufen.<br />

So setzte er sich möglichst bequem auf die große Alukiste und neben Bram, Dean, Spencer<br />

und Markos griffen auch Jin, Miles, Hurley und Daniel zu. Gemeinsam schafften sie es<br />

spielend, die Kiste anzuheben. Jim und ich gesellten uns zu Ilana, die sich gerne Jims Führung<br />

unterwarf. Jim suchte den einfachsten Weg, doch trotzdem wurde es ein sehr anstrengender<br />

Marsch und wir redeten kaum, während wir uns vorwärts kämpften. Gegen Abend hatten wir<br />

die Berge und den Wald hinter uns gelassen und erreichten wieder den Strand. Unendlich er-<br />

leichtert sahen wir uns um.<br />

„Wir sind etwas südlich des Docks.“, stellte Jim fest. „Wo genau müssen wir hin?“<br />

Er sah Ilana an.<br />

„Heute Abend nirgendwo mehr. Wir sind alle erschöpft und sollten uns ausruhen, be-<br />

vor wir morgen auf die andere Gruppe stoßen.“<br />

Keiner hatte Einwände. Da wir alle mehr oder weniger verletzt waren, kam uns eine<br />

ruhige Nacht sehr zu Gute. Ich kontrollierte die Wunden, aber alle verheilten gut. Kate ver-<br />

schwand zusammen mit Miles kurz im Wald und kam bald darauf mit einigen Früchten<br />

zurück, die sie an uns alle verteilte.<br />

„Verflucht, ich würd sonst was dafür geben, mal wieder n anständiges Steak auf dem<br />

Teller zu haben.“, seufzte Jim wehmütig, während er einer Mango aus der Schale half.<br />

„Nicht nur du, Alter.“, schnaufte Hurley.<br />

„Klar, Moppelchen, du schiebst Kohldampf.“, grinste Jim und bekam dafür von<br />

Hurley eine Mango an den Kopf geworfen.<br />

Lachend ging er in Deckung.<br />

„Hey, Jabba, bleib friedlich.“<br />

Hurley grinste.<br />

„Dann halt gefälligst dein Schandmaul, Alter.“<br />

Wir aßen uns so gut es möglich war satt. Anschließend hockten wir zusammen in der<br />

Dunkelheit. Ein Lagerfeuer wollten wir nicht machen, dass konnte zu weit gesehen werden.<br />

„Wie passt ihr eigentlich in die ganze Geschichte?“, wollte Sayid wissen, als wir es<br />

uns nach dem voluminösen Mahl versuchten, bequem zu machen.<br />

Ilana seufzte leise.<br />

„Ich hatte einen schweren Unfall, vor ein paar Jahren, in Russland. Dabei erlitt ich<br />

schwerste Gesichtsverletzungen. Ich lag in einer Klinik und hatte keine Hoffnung mehr,<br />

gesund zu werden. Ich wollte sterben, mein Gesicht war vollkommen zerstört. Dann eines<br />

Tages kam eine Krankenschwester zu mir. Sie erzählte mir, dass ich Besuch hätte und plötz-<br />

lich stand Jacob an meinem Bett. Er sprach mit mir und bat <strong>mich</strong> um Hilfe. Er fragte, ob ich<br />

bereit wäre, ihm zu helfen, wenn er <strong>mich</strong> rufen würde. Um ihn loszuwerden stimmte ich zu.<br />

Ich war überzeugt, nie wieder irgendjemandem helfen zu können. Er ging, zufrieden, meine<br />

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Frauke Feind<br />

Zusicherung zu haben. Am kommenden Morgen war Visite und Verbandswechsel. Und als<br />

meine Verbände abgenommen waren, brach das totale Chaos aus. Mein Gesicht wies nicht<br />

mehr den kleinsten Kratzer auf. Das Krankenhauspersonal stritt sich darüber, ob ich als Hexe<br />

verbrannt oder als Heilige verehrt werden sollte. Ich nahm ihnen die Entscheidung ab und<br />

verzog <strong>mich</strong>, so schnell es mir möglich war. Dann vor einiger Zeit hörte ich tatsächlich<br />

wieder von Jacob. Er schickte mir eine Nachricht, dass es nun an der Zeit wäre, mein Ver-<br />

sprechen einzulösen.“<br />

Wir hatten interessiert zugehört und mussten nun ein weiteres unerklärliches<br />

Phänomen schlucken. Hurley sah Ilana in der Dunkelheit an und fragte:<br />

„Sag mal, weißt du auch was über ... über das ... das Monster?“<br />

Wir waren alle mehr als gespannt auf die Antwort, wurden jedoch enttäuscht. Die<br />

junge Frau schüttelte den Kopf.<br />

hört.“<br />

„Nein, ich weiß nicht, was es ist. Ich selbst habe es noch nicht gesehen, nur davon ge-<br />

„Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn mal jemand mit ner Erklärung rüber ge-<br />

kommen wäre.“, meinte Jim lakonisch.<br />

Kate wissen.<br />

„Warum können Jacob und Samuel sich nicht einfach gegenseitig umbringen?“, wollte<br />

„Das wurde von den Mächten, die die Beiden auf diese Insel verbannten, beschlossen.<br />

Wer diese Mächte sind, kann ich euch auch nicht sagen. Möglicherweise weiß Richard mehr<br />

darüber.“ erwiderte die Frau.<br />

„Er ist echt schon so alt?“<br />

Hurley konnte es offensichtlich nicht fassen.<br />

„Ja, das ist er.“<br />

Ilana nickte.<br />

„Ist er überhaupt ein Mensch?“, fragte Kate nervös.<br />

Sie hatte vor dem unheimlichen Mann schon immer eine ziemliche Angst gehabt.<br />

Ilana musste über diese Frage einige Augenblicke nachdenken.<br />

„Ja, ich denke, dass ist er schon. Im Grunde ist er auch nicht unsterblich. Er kann im<br />

Kampf durchaus getötet werden. Was er nicht kann ist krank werden, alt, solange er seine<br />

Aufgabe zu erfüllen hat. Und er kann sich nicht selbst töten.“<br />

„Was würde passieren, wenn er sterben würde?“, fragte Miles interessiert.<br />

Ilana zuckte die Schultern.<br />

„Das möchte ich lieber nicht herausfinden.“ Scheinbar hatte sie es satt, Fragen be-<br />

antworten zu müssen, denn sie meinte gähnend: „Wir sollten schlafen, wer weiß, was der Tag<br />

morgen bringen wird.“<br />

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Frauke Feind<br />

Keiner von uns hatte Einwände, wir waren alle müde und erschöpft. Jim erhob sich<br />

und zog <strong>mich</strong> abermals mit sich, ein Stück weg vom Lager. Wir wollten die wenigen<br />

Möglichkeiten, alleine zu sein, nutzen.<br />

Als wir einen Platz weit genug entfernt von den Anderen gefunden hatten, zog Jim<br />

<strong>mich</strong> an sich und sagte leise und sanft:<br />

lasse?“<br />

„Was hältst du davon, wenn ich uns die ganze Scheiße hier mal für ne Weile vergessen<br />

Seine Hände waren bei diesen Worten sanft streichelnd unter mein T-Shirt gerutscht<br />

und strichen liebkosend über meinen Rücken. Ich spürte eine angenehme Wärme von ihnen<br />

ausgehen, die meinen ganzen Körper erfasste. Beschämt fragte ich:<br />

„Sind wir denn weit genug weg ...?“<br />

Er lachte leise.<br />

„Wenn du nicht zu laut wirst ...“<br />

Dass seine Linke in den Bund meiner Jeans rutschte und meinen Po umschloss half<br />

mir bei meiner Entscheidung sehr. Ich ließ <strong>mich</strong> langsam in die Knie sinken und zog Jim mit<br />

mir. Unter uns war kein Sand, sondern weiches Gras. Langsam streifte Jim mir mein T-Shirt<br />

über den Kopf und legte es achtlos neben uns. Sein eigenes folgte Sekunden später.<br />

Gegenseitig fummelten wir die Verschlüsse unserer Jeans auf und befreiten uns von den<br />

störenden Kleidungsstücken. Nackt sanken wir uns in die Arme. Wir blendeten einmal mehr<br />

aus, wo wir waren und streichelten einander, erst sanft und zurückhaltend, schnell aber<br />

leidenschaftlicher. Wir hatten so sehr das Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Zärtlichkeit<br />

nach all dem Horror, dass wir uns rasch nicht mehr beherrschen konnten. Jim rollte sich vor-<br />

sichtig auf <strong>mich</strong> und ich öffnete ihm nur zu gerne die Beine. Ich spürte ihn in <strong>mich</strong> gleiten<br />

und war einfach nur glücklich. Wie immer, wenn ich mit Jim alleine sein konnte. Und diese<br />

Gelegenheiten boten sich uns viel zu selten. Aber für diesen Moment, für diese kurze Zeit, die<br />

wir uns hier stahlen, waren wir alleine auf der Welt und nichts und niemand konnte uns be-<br />

helligen. Niemand bedrohte uns, für ein paar wenige Minuten war die Insel nicht die Hölle,<br />

sondern unser Paradies!<br />

************<br />

<strong>Der</strong> Morgen kam viel zu schnell. Wir hatten uns nicht die Mühe gemacht, uns wieder<br />

anzukleiden und so wachten wir, von der Sonne geweckt, nackt und eng umschlungen auf.<br />

Etwas verlegen sah ich <strong>mich</strong> um, doch niemand war zu sehen. Jim lachte leise.<br />

„Mach dir keinen Kopf darüber, dass uns einer unserer lieben Freunde überraschen<br />

könnte, Honey. Und wenn, wäre es auch scheißegal. Hier haben andere viel mehr zu ver-<br />

bergen als wir.“<br />

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Frauke Feind<br />

Er zog <strong>mich</strong> an sich und küsste <strong>mich</strong>, lange und leidenschaftlich.<br />

„Das war wunderschön gestern Nacht.“, flüsterte ich verliebt und ließ meine Hand<br />

über Jims warmen Körper gleiten.<br />

Dabei stieß ich auf Dreck, Schrammen, verkrustetes Blut und Grashalme, die uns<br />

beiden am Körper klebten. Auf Jims rechter Wange prangte ein Schmierfleck und ich lächelte.<br />

„Was hältst du davon, wenn wir noch ein paar Minuten länger so tun, als wären wir<br />

alleine auf der Welt, und versuchen, uns mal ein wenig zu reinigen?“<br />

Ich strich zärtlich mit meinem Finger über die vielen Schrammen und Dreckflecke, die<br />

auch Jims Brust zierten.<br />

„Und wenn wir dabei auseinander fallen?“, fragte er ernsthaft. „Hab mal gelesen, dass<br />

Dreck zusammen hält.“<br />

Ich kicherte.<br />

„Na, wenn du beim Baden in mehrere Teile zerfällst habe ich mehr von dir.“<br />

Jim sah <strong>mich</strong> an und schüttelte empört den Kopf.<br />

„Hey! Ich bin nur am Stück ein ganzer Mann.“<br />

Er stemmte sich auf die Füße und zog <strong>mich</strong> ebenfalls hoch. Wir pfiffen noch einmal<br />

darauf, eventuell gesehen werden zu können und liefen Hand in Hand ins Wasser. Es war<br />

warm und wir genossen das Bad in vollen Zügen. Gegenseitig rubbelten wir uns vorsichtig,<br />

um einander nicht weh zu tun, den Schmutz und Krusten vom Blut von der Haut. Auch aus<br />

den Haaren spülten wir den Dreck soweit es möglich war heraus. Endlich hatten wir das Ge-<br />

fühl, wenigstens wieder halbwegs zivilisiert auszusehen und schwammen ans Ufer. Wir<br />

stellten uns ein paar Minuten in die Sonne und zogen uns nun schweren Herzens die<br />

schmutzigen, zerrissenen Kleidungsstücke wieder an.<br />

„Du ahnst ja nicht, was ich für frische Kleidung alles tun würde ...“, seufzte ich und<br />

sah wehmütig an mir herunter.<br />

Jim folgte meinem Blick und meinte unglücklich:<br />

„Du solltest irgendwo in nem Krankenhaus am OP Tisch stehen und jemandem das<br />

Leben retten und nicht hier auf der Insel immer wieder um dein Leben kämpfen müssen.“<br />

Ich zog ihn an <strong>mich</strong> und erklärte fest:<br />

„Ich bin genau da, wo ich sein sollte und, noch viel wichtiger, sein will: An deiner<br />

Seite. Und wenn du demnächst beschließt, in die Hölle hinunter zu steigen, um Luzifer einen<br />

Besuch abzustatten und dort ein wenig aufzuräumen, werde ich wieder an deiner Seite sein.“<br />

Jims faszinierenden Augen sahen auf <strong>mich</strong> herab. In ihnen spiegelte sich Fassungs-<br />

losigkeit, Unglauben, Sorge, aber auch unglaubliches Glück.<br />

egal, wo.“<br />

„Ich liebe dich.“, sagte er schlicht und ich nickte.<br />

„Ich weiß. Ich liebe dich auch. Und darum wird mein Platz immer an deiner Seite sein,<br />

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Frauke Feind<br />

Vorerst war dieses Wo dort, wo die Anderen auf uns warteten. Ilana sah uns entgegen<br />

und erklärte ruhig:<br />

„Wir wollten euch gerade holen. Wir müssen uns auf den Weg machen, sonst wird es<br />

knapp für uns. Wenn es das nicht ohnehin schon geworden ist.“<br />

Jim zog eine Augenbraue in die Höhe und fragte:<br />

„Was liegt jetzt eigentlich genau an, Sheena?“<br />

Ilana sah ihn ein wenig irritiert an, ignorierte aber gekonnt die eigenwillige Anrede<br />

und erklärte ruhig:<br />

„Wir müssen Richard zeigen, was wir bei uns haben. Es könnte sein, dass es dann, je<br />

nachdem, was für einen Plan John verfolgt, zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung<br />

kommen wird. Ihr habt keine Waffen, das ist schlecht.“<br />

Jim lachte sarkastisch.<br />

„So, schlecht ... Ich würd mal sagen, das ist für‟n Arsch! Wenn es zu ner Schießerei<br />

kommt, sind wir wehrlos. Wir können natürlich mit Matsch werfen, aber ich vermute mal, das<br />

wird niemanden sonderlich beeindrucken.“<br />

Ilana nickte.<br />

„Da hast du allerdings Recht. Aber dagegen können wir etwas machen.“<br />

Sie gab Bram einen Wink und dieser trat an die Kiste heran. Er öffnete eine Klappe,<br />

die links außen an der Kiste angebracht war und zog nacheinander mehrere Waffen, alles 9<br />

mm SIG hervor.<br />

fragend an.<br />

„Es reicht nicht für alle, zwei von euch gehen leer aus.“, erklärte er und sah uns<br />

„Hoss und Plato, ihr werdet in einem Kampf keine große Hilfe sein, okay, ihr bleibt<br />

besser in Deckung, bis die Luft nicht mehr bleihaltig ist.“<br />

Jim sah Hurley und Daniel auffordern an und diese nickten.<br />

„Alter, nichts, was ich lieber täte.“, bestätigte Hurley und auch Daniel gab zu:<br />

„Ich ... Nun, ich bin kein Kämpfer, ich wäre vermutlich wirklich keine Hilfe.“<br />

Verlegen sah er zu Boden. Jim nickte. Er verteilte die Waffen an Jin, Miles, Kate,<br />

Jack, Sayid und <strong>mich</strong>. Eine behielt er. Bram warf uns noch je zwei Magazine zu, dann seufzte<br />

er.<br />

„Das war‟s. Mehr kann ich euch nicht anbieten.“<br />

„Hey, Scotty, das ist schon mal deutlich mehr als nichts. Damit kommen wir schon<br />

mal ne ganze Ecke weiter. Sind alles gute Schützen hier, selbst Doktor Do-Right.“<br />

Er warf Jack einen nicht übermäßig freundlichen Blick zu, den dieser nicht mitbekam,<br />

da er gerade seine Waffe prüfte. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Jim und Jack ...<br />

Zwei Welten prallten aufeinander. Ich wusste aus Erzählungen inzwischen mehr als genug,<br />

um mir vorstellen zu können, wie es zwischen den Beiden vom ersten Tage an gefunkt hatte.<br />

Und ich konnte Jim so gut verstehen. Ich hatte ebenfalls seit der ersten Begegnung eine<br />

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Frauke Feind<br />

Aversion gegen Jack, die ich nicht verbergen konnte. Und ich konnte meine Hand dafür ins<br />

Feuer legen, dass ich nicht durch Jims Erzählungen voreingenommen gewesen war. Sicher<br />

hatte <strong>mich</strong> einiges von dem, was Jim mir berichtet hatte, aufgeregt, aber ich bildete mir<br />

dennoch immer ein eigenes Urteil. Und das fiel sowohl für Jack als auch für Kate verheerend<br />

aus, so war es nun einmal. Sayid war ein anderes Kaliber, er war auf seine Art erheblich ehr-<br />

licher als Jack. Ich mochte den Iraqui auch nicht übermäßig, aber wenn ich hätte wählen<br />

müssen, wen ich auf meiner Seite hätte haben wollen, ich würde immer Sayid gewählt haben.<br />

Wir alle prüften die Waffen mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es mir graute. Auch<br />

ich empfand den Umgang mit ihnen inzwischen als vollkommen normal und legitim.<br />

Nachdem wir alle unsere Waffen, bis auf Dan und Hugo, in den Hosenbund verstaut<br />

hatten, machten wir uns auf den Weg, den Strand entlang nach Süden. Wir hielten uns am<br />

Waldrand, einmal wegen der gnadenlos brennenden Sonne, zum Anderen, um nicht sofort<br />

gesehen zu werden. Jack hockte wieder genervt auf der Kiste und Jim und ich hielten uns<br />

neben Ilana.<br />

„Was könnte John Boys Plan sein, Xena, was denkst du?“<br />

Schmunzelnd fragte ich <strong>mich</strong> ein Mal mehr, ob Jim die Spitznamen je ausgehen<br />

würden. Dass sie auch immer passten, machte das Ganze perfekt. Ilana schien nicht zu<br />

wissen, wer Xena war, aber ich konnte <strong>mich</strong> vage daran erinnern, dass es sich dabei um einen<br />

Seriencharakter aus einer US Serie handelte. Wenn meine Erinnerungen <strong>mich</strong> nicht ganz<br />

trogen, war Xena eine Kriegerin gewesen. Ilana sah Jim wieder einmal leicht verdutzt an,<br />

dann aber schien sie zu beschließen, vollkommen zu ignorieren, dass dieser unmögliche<br />

Mensch scheinbar niemanden mit seinem richtigen Namen ansprach. Sie erwiderte ruhig:<br />

„Ich kann auch nur Vermutungen anstellen. Jacob hat sehr eindringlich um meine<br />

Hilfe gebeten. Er ... er meinte in seiner Nachricht, es könnte sein, dass Samuel ... wie drückte<br />

er es aus ... ein Schlupfloch gefunden haben könnte.“ Sie schüttelte den Kopf und meinte:<br />

„Ich weiß nicht wirklich, was er damit gemeint haben könnte.“<br />

Jim wirkte sehr konzentriert, als er jetzt sagte:<br />

„Wenn bei Methusalem eine Art Doppelgänger von Locke das Sagen hat, könnte es<br />

denn nicht sein, dass Samuel sich Lockes Aussehen bedient, um Jacob zu Killen?“<br />

Ilana schüttelte den Kopf.<br />

37) Die Statue<br />

„Eigentlich nicht, denn wie gesagt, sie können sich gegenseitig nicht umbringen. Auch<br />

wenn Samuel aussehen würde wie John Locke, wäre er ja immer noch Samuel. Er muss einen<br />

anderen Plan verfolgen.“<br />

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Jim nickte.<br />

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Frauke Feind<br />

„Okay, verstehe, aber wenn er da den großen Cochise macht, könnte er nicht einfach<br />

einem anderen befehlen, Jacob zu töten?“<br />

Wieder schüttelte Ilana den Kopf.<br />

„Soweit geht seine Macht nicht. Keiner von Richards Leuten würde das tun.“<br />

„Dann hat es vielleicht gar nichts mit Jacob zu tun.“, mutmaßte ich nervös. „Was<br />

könnte es sonst sein?“<br />

Hilflos zuckte die hübsche, junge Frau die Schultern.<br />

„Ich weiß es wirklich nicht. Wenn ich es wüsste, würde ich <strong>mich</strong> um einiges besser<br />

fühlen, das könnt ihr mir gerne glauben.“<br />

Ich schnaufte angespannt.<br />

„Was mag aus dem Aluana Flug geworden sein? Es scheint ja fast, als könnten wir uns<br />

daran erinnern, und doch scheint er nie stattgefunden zu haben.“<br />

Ilana sah <strong>mich</strong> an und erklärte:<br />

„Ich denke, einige Dinge darf man hier einfach nicht hinterfragen, weil es keine<br />

normale Erklärung dafür gibt. Das mit dem Flug ist wohl eines dieser Phänomene, für die es<br />

keine befriedigende Erklärung geben wird. Ihr seid jetzt hier, offensichtlich, um zu helfen.<br />

Das ist es, was derzeit zählt.“<br />

Jim grinste frustriert.<br />

„Klar, mal wieder ohne gefragt zu werden.“ Er sah uns anderen an und meinte genervt:<br />

„Ob irgendeins dieser ganzen Arschlöcher hier je auf die Idee kommen wird, dass wir<br />

eventuell die Schnauze gestrichen voll haben, immer wieder unseren Arsch zu riskieren, um<br />

hier zu helfen?“<br />

Ich schmiegte <strong>mich</strong> an ihn und erwiderte resigniert:<br />

„Kann ich mir nicht vorstellen. Wie es aussieht geht es hier ja um höhere Ziele.“<br />

************<br />

John war mehr als zufrieden. Sei Plan funktionierte besser als er es sich in seinen<br />

Sun und Frank ihn beobachteten.<br />

kühnsten Träumen vorgestellt hatte. Endlich, endlich konnte er<br />

erledigen, was schon lange in seinem Kopf herum spukte. Er<br />

würde sich Jacobs entledigen, ein für alle Mal. <strong>Der</strong> hatte ihm<br />

einfach schon zu oft in die Suppe gespuckt. John schmunzelte<br />

zufrieden und diabolisch vor sich hin. Er bekam nicht mit, dass<br />

„Was denkst du, Sun, was plant unser Anführer?“<br />

Die hübsche Asiatin schüttelte sachte den Kopf.<br />

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Frauke Feind<br />

„Ich weiß es nicht, Frank, er sieht sehr zufrieden aus.“ Sie sah unauffällig zu Ben<br />

hinüber. „Und der Mistkerl auch.“, meinte sie leise. „Gott, wie ich ihn hasse.“<br />

„Er hat euch allen übel mitgespielt, was?“<br />

Sun nickte energisch.<br />

„Du ahnst nicht, wie sehr. Sawyer, Kate und Jack waren eine ganze Weile in den<br />

Händen dieses ... Kate hat erzählt, was man ihr und Sawyer angetan hat. Es muss entsetzlich<br />

gewesen sein. Und alles nur, damit Jack diesen Bastard operiert. Hätte er ihn doch nur bei der<br />

OP umgebracht!“ Leidenschaftlich stieß Sun diese Worte hervor. „Ich wollte ihn selbst töten,<br />

weißt du. Ich habe mit Charles Widmore einen Pakt geschlossen. Aber als ich Ben vor meiner<br />

Waffe hatte, zeigte er mir Jins Ehering. Er meinte, Jin lebe noch. Er könnte <strong>mich</strong> zu ihm<br />

bringen. So landete ich in der Maschine, zusammen mit Kate, Jack, Hurley ...“<br />

Sun stutzte. Wie ein Déjà-vu hatte sie plötzlich vor Augen, wie sie zusammen mit Jin<br />

ein Flugzeug bestieg, Jim und Kelly ... Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Welche Kelly? Und<br />

Sawyer, er war nicht mit in dem Flugzeug, er war doch bei Jin auf der Insel. Sie musste da<br />

irgendwelche Erinnerungen durcheinander bringen. Energisch schob Sun diese seltsamen Ge-<br />

danken zur Seite.<br />

„Wie bist du eigentlich zu Ajira gekommen?“, fragte sie Frank stattdessen.<br />

Dieser grinste.<br />

„Na ja, nach der Geschichte damals hatte ich das Gefühl, mein Image aufpolieren zu<br />

müssen. Ich hatte es einfach satt, als Söldner jeden kranken Psychopathen hinzufliegen wo<br />

immer der Betreffende hinwollte. Ich bin Pilot, kein Handlanger. Weißt du, ich sollte ur-<br />

sprünglich eure Oceanic damals fliegen. Ich habe bei Oceanic als Pilot gearbeitet. Im letzten<br />

Moment musste ich ersetzt werden, stell dir vor, ich hatte total verschlafen.“ Verlegen grinste<br />

Frank. „Aber nach der ganzen Scheiße mit der Kahana, Keamy und der Flucht von dieser<br />

wundervollen Insel dachte ich mir, ein anständiger Job bei einem anständigen Arbeitgeber<br />

wäre nicht das schlechteste. Ich bewarb <strong>mich</strong> bei Ajira und flog erst Frachtmaschinen, dann<br />

ihre Linienmaschinen national und später eben auch <strong>Über</strong>see. Dass ich nun doch noch auf der<br />

Insel abgestürzt bin, nur ein paar Jahre später, lässt <strong>mich</strong> allerdings Zweifeln, ob ich die<br />

richtige Entscheidung getroffen habe.“<br />

Er grinste. Sun lächelte.<br />

„Wir sind wenigstens freiwillig hier ...“, meinte sie kopfschüttelnd.<br />

Sie warf einen Blick zu Ben und Locke hinüber, die stumm nebeneinander her liefen.<br />

„Frank, irgendwie erscheint Locke mir ... verändert. Er ist mir unheimlich. Ich<br />

wünschte fast, wir wären nicht mit ihm mit gegangen.“<br />

Lepidus sah ebenfalls zu den beiden Männern am Ende der Gruppe hinüber und kniff<br />

die Augen zusammen.<br />

„Ich habe ihn kaum kennen gelernt. Das Einzige, was ich weiß ist, dass er Naomi ge-<br />

killt hat. Und da hatte er Recht. Ob er anders ist als sonst, darüber kann ich mir kein Urteil<br />

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Frauke Feind<br />

bilden. Aber wenn du das sagst ... Ich meine, du hast Monate mit ihm verbracht, du kennst ihn<br />

sicher sehr gut.“<br />

Sun dachte kurz über die Monate nach, die sie alle zusammen hier auf der Insel ver-<br />

bracht hatten und schüttelte langsam den Kopf.<br />

ursachte.<br />

„Nein, wenn ich ehrlich bin, kenne ich ihn nicht wirklich gut.“<br />

Vor ihnen wurde es plötzlich unruhig. Und dann sahen sie, was die Unruhe ver-<br />

************<br />

Schweigend marschierten wir etwa eine Stunde weiter als Jin plötzlich meinte:<br />

„Sawyer, ich glaube, hier bin ich noch nie gewesen. Diesen Strandabschnitt kenne ich<br />

nicht. Wie sieht es bei dir aus?“<br />

Jim sah sich um, in der Hoffnung, irgendeine Landmarke zu erkennen, doch er musste<br />

ebenfalls einräumen, hier noch nicht gewesen zu sein.<br />

„Ich hab die komische Statue damals während der Zeitsprünge mal irgendwann von<br />

weitem gesehen, aber direkt an dem Strandabschnitt, wo sie steht, war ich noch nie.“<br />

„Als wir damals um die Insel rum sind, mit dem Boot von Desmond, da haben wir sie<br />

vom Wasser aus gesehen, oder vielmehr das, was noch von ihr übrig war. Sie muss einmal<br />

sehr beeindruckend ausgesehen haben. Heute sind nur noch Reste zu sehen.“<br />

Ilana hatte zugehört und sagte:<br />

„Sie war einmal das Abbild Tawerets, der Schutzgöttin der Schwangeren.“<br />

Ich überlegte.<br />

„Eine altägyptische Göttin, wenn ich <strong>mich</strong> Recht erinnere.“<br />

Ilana nickte.<br />

„Das stimmt.“<br />

„Wie, zur Hölle, kommt ne Statue aus dem alten Ägypten auf unsere entzückende<br />

Südseeinsel?“, fragte Jim konsterniert.<br />

Ilana lächelte.<br />

„Das weiß wohl abgesehen vielleicht von Richard, Jacob und Samuel kein lebender<br />

Mensch mehr.“<br />

Kate schnaufte verbittert.<br />

„Na prima, Rauchmonster, Zeitsprünge, Unsterbliche, Götter und nun auch noch<br />

ägyptische Statuen. Diese Insel wird mir immer sympathischer.“<br />

Wenn ich Kate auch sonst nicht allzu oft Recht gab, aber in diesem Fall konnte ich ihr<br />

nur von Herzen zustimmen.<br />

Ilana hob ihre rechte Hand und erklärte:<br />

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Frauke Feind<br />

„Bevor wir die Statue erreichen, sollten wir uns ein wenig ausruhen. Wir wissen nicht,<br />

auf was wir gefasst sein müssen, wenn wir die Gruppe um Richard erreichen.“<br />

antworten.“<br />

Wir ließen uns alle in den warmen Sand sinken. Dann fragte Kate nervös:<br />

„Was sollte denn wohl so passieren?“<br />

Bram zuckte die Schultern.<br />

„Da wir nicht wissen, wer oder was der andere John ist, ist diese Frage schwer zu be-<br />

Er stockte kurz, als wolle er noch etwas hinzu fügen, wurde aber durch einen Blick<br />

Ilanas gebremst. Jim bemerkte diesen Blick sehr wohl.<br />

„Was ist los? Was verschweigt ihr uns, kommt schon, raus damit. Wir riskieren hier<br />

unseren Arsch, also haben wir ja wohl das Recht, zu erfahren, was da abgehen kann!“<br />

Ilana seufzte.<br />

„Du hast selbstverständlich Recht. Es besteht die Möglichkeit, dass Samuel sich<br />

Lockes Körpers bemächtigt hat. Wenn wir ihn mit dem echten Locke konfrontieren, mag es<br />

...“ Sie brach ab und sah bedrückt zu Boden.<br />

„Es mag was, Ilana?“<br />

Ich sah die hübsche junge Frau herausfordernd an.<br />

„Es mag sein, dass das, was ihr das Monster nennt, erscheinen wird. Wir vermuten,<br />

dass Samuel in dieser Erscheinungsform auftritt. Oder wenigstens eine Möglichkeit gefunden<br />

hat, dieses Ding zu beherrschen.“<br />

Ich war unter diesen Worten geschrumpft, aber nicht nur mir ging es so. Jim hatte mit<br />

ansehen müssen, wie das Ding, frei gelassen von Ben, die Söldner um Martin Keamy zer-<br />

rissen hatte. Die Vorstellung, dass es am Strand erscheinen würde, um uns möglicherweise<br />

anzugreifen, war mehr als beängstigend. Jim atmete tief durch und fragte frustriert:<br />

„Wann genau hattet ihr vor uns das zu sagen?“ Er schüttelte genervt den Kopf. „Ist ja<br />

nicht so, dass das eine völlig nebensächliche Info ist, oder? Habt ihr das Scheißding mal er-<br />

lebt? Nein? Ich schon. Es hat ne Gruppe von schwer bewaffneten Söldnern in der Luft zer-<br />

rissen wie Papier und das mein ich wörtlich, okay. Was denkt ihr denn, was wir gegen das ...<br />

was auch immer machen sollen? Mit Bananen bewerfen?“ Er redete sich in Rage. „Ich hab ja<br />

kein Problem damit, ein paar Dharmaisten den Kopf weg zu ballern, aber gegen dieses Ding<br />

sind wir machtlos. Verdammt noch mal, wie sollen wir es bekämpfen?“<br />

Er fuhr sich in einer hilflosen Geste durchs Haar. Ilana hatte beschämt zugehört und<br />

zuckte die Schultern.<br />

„Ihr habt Recht, wir hätten es euch vorher sagen müssen. Ich bin ehrlich zu euch: Wir<br />

wissen auch nicht, wie wir diesem Ding begegnen sollen. Wir können nur hoffen, dass Jacob<br />

uns vor ihm schützen kann.“<br />

Jim schnaufte.<br />

„Sonst wird„s n verdammt kurzer Kampf.“<br />

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Frauke Feind<br />

Ich spürte eine Gänsehaut über meinen Körper huschen und drückte <strong>mich</strong> unwillkür-<br />

lich eng an Jim heran. Dieser legte den Arm um <strong>mich</strong> und hielt <strong>mich</strong> fest.<br />

„Das ist alles ne riesige Scheiße.“, meinte er gestresst.<br />

Jin seufzte.<br />

„Ich fange an zu hoffen, dass es nicht Sun ist, die mit Locke zusammen ist.“<br />

Jack sah zu Kate hinüber und lächelte dieser aufmunternd zu.<br />

„Wird schon gut gehen.“, sagte er beruhigend.<br />

Jim sah Ilana an und meinte:<br />

„Wie wär‟s denn mit nem anständigen Plan, wie wir vorgehen wollen? Einfach in die<br />

Aufführung rein Platzen scheint mir nicht sehr schlau zu sein.“<br />

Ich konnte ihm da nur Zustimmen.<br />

„Darüber sollten wir wirklich sprechen.“<br />

Bram und Ilana tauschten einen Blick und nickten.<br />

„Das Sinnvollste wär‟s, ihr geht alleine zu ihnen und wir umgehen sie ein wenig und<br />

stoßen dann in ihren Rücken. Doc, wie sieht‟s aus, schaffst du n paar Meter, ohne getragen zu<br />

werden?“<br />

Seite.“<br />

zu Rechnen?“<br />

Jack nickte giftig.<br />

„Auf jedem Fall.“<br />

Sayid stimmte zu.<br />

„Das ist eine gute Idee. So haben wir den <strong>Über</strong>raschungsmoment doppelt auf unserer<br />

Jim wandte sich erneut an Ilana.<br />

„Was denkst du, Ištar, haben wir bei Richard und seinen Leuten auch mit Widerstand<br />

Verblüfft sah ich Jim an. Er kannte also nicht nur Fernsehserien, sondern auch alt-<br />

babylonische Götter und spanische Forscher. Er hatte Ilana vor einiger Zeit Ponce de leon<br />

genannt, nach einem spanischen Forscher und Konquistador, der 1508 die erste Siedlung in<br />

Puerto Rico gründete. Ilana zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern.<br />

„Er muss dem Führer gehorchen, aber da er gleichzeitig als Mittler fungiert, wird er<br />

nicht tatenlos zusehen, wie jemand oder irgendwas Jacob einfach etwas antut, davon bin ich<br />

überzeugt. Die Minuten, bis wir ihnen präsentiert haben, was wir mit uns führen, werden die<br />

Kniffligsten werden. Danach ist alles stark abhängig davon, wie der andere Locke reagiert.“<br />

„Gut, das werden wir erleben. Danny Boy, Jabba, ihr bleibt im Wald, bis die Lage,<br />

wie auch immer, unter Kontrolle ist, verstanden? Jin-Bo, Bonsai, ihr bleibt an Kellys Seite,<br />

klar soweit? Egal, was passiert, passt auf sie auf! Ali, Doc Hollywood und du, Freckles, ihr tut<br />

ausnahmsweise mal, was ich sag, verstanden?“<br />

Verbissen nickten Jack und Kate, Sayid zuckte nur gelassen die Schultern.<br />

„Du bist der Boss.“<br />

- 420 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ich wollte etwas einwenden, aber Jim sah <strong>mich</strong> scharf an und grinste.<br />

„Du tust zur Abwechslung auch mal, was ich möchte, Babe! Keine Alleingänge, um<br />

Smokey zu bremsen, verstanden?“<br />

Ergeben seufzte ich.<br />

„Wir werden sehen.“<br />

„Gut, Ilana, du und deine Leute, ihr marschiert direkt in sie hinein. Gebt uns ein wenig<br />

Zeit, uns um die Herrschaften herum zu schleichen, okay? Bevor wir nicht hinter ihnen auf-<br />

tauchen, zeigt ihnen nicht, was ihr in eurer Wunderkiste mit euch schleppt. Du hast absolut<br />

Recht, das wird n kniffliger Moment werden, wenn der falsche große weiße Jäger mit dem<br />

echten großen weißen Jäger bekannt gemacht wird. Abgesehen von Methusalem kennt wohl<br />

keiner hier Dean und Sammy wirklich. Wir wissen nicht, wie sie reagieren, also rechnen wir<br />

sicherheitshalber mit dem Schlimmsten. Vielleicht schlagen sie sich nur gegenseitig die<br />

Schädel ein, vielleicht überlegen sie aber auch, dass sie genauso gut uns die Birnen weg<br />

pusten könnten. Sollten wir das hier auch wieder überleben, werde ich mit Kelly auf den<br />

Mond ziehen, damit niemand je wieder auf die Idee kommt, uns noch mal auf diese be-<br />

schissene Insel zu holen!“<br />

Ich musste trotz des Ernstes der Lage lachen.<br />

„Da könnten wir sicher sein, das stimmt.“<br />

Keiner von uns sagte noch etwas. Angespannt und hochgradig nervös versuchten wir,<br />

uns auf die bevorstehende Konfrontation vorzubereiten. Doch abgesehen von Ilana und ihren<br />

Leuten gelang das keinem von uns. Jin starrte in den Sand vor sich und versuchte, sich auf ein<br />

Wiedersehen mit Sun einzustellen. Miles hatte sich in den Sand gelegt und sah zu den weißen<br />

Wolken am Himmel hinauf. Er dachte an seinen Vater, mit dem er nur so kurz Gelegenheit<br />

gehabt hatte, zusammen zu sein. Hurley sah aus als würde er jeden Moment schreiend in die<br />

entgegengesetzte Richtung fliehen. Daniel wirkte noch nervöser, als er ohnehin schon ständig<br />

war. Kate versorgte noch einmal Jacks Wunde, die aber bereits gut verheilt war. Und Jim und<br />

ich? Wir versuchten hektisch, eine Möglichkeit zu finden, den anderen irgendwie zu schützen.<br />

Da wir aber nicht wussten, was uns letztlich wirklich erwartete, war das ein verflucht<br />

schweres Unterfangen!<br />

...“<br />

Ilana war es schließlich, die uns wieder auf die Beine trieb.<br />

„Wir sollten das letzte Stück in <strong>Angriff</strong> nehmen, ich habe das Gefühl, es könnte eilen<br />

Keiner von uns zeigte wirklich Begeisterung für diesen Vorschlag, aber da wir ohne-<br />

hin keine andere Wahl hatten, machten wir uns letztlich wieder auf den Weg. Jim hielt <strong>mich</strong><br />

die ganze Zeit im Arm und schließlich sagte er leise:<br />

„Mir wär‟s lieber, wenn du ... naja, wenn du dich zurück halten würdest, Babe.“<br />

Ich nickte.<br />

- 421 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Klar. Gerne doch. Ich bleibe im Hintergrund und schaue seelenruhig zu, wie du dich<br />

in Lebensgefahr begibst. Sonst noch was?“<br />

Kurz wirkte Jim, als ob er nicht sicher war, ob er lachen oder weinen sollte.<br />

Schließlich prustete er genervt und meinte:<br />

„Ich hab‟s dir schon mal gesagt, du bist stur wie n Maulesel.“<br />

Ich nickte.<br />

„Das weiß ich. Vergiss es einfach, Jim, ich bleibe bei dir, egal, was passieren wird.<br />

Irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass es unser Schicksal ist, von diesem Rauchding ge-<br />

fressen zu werden. Und zusammen werden wir auch das hier schaffen. Und nebenbei, an<br />

deiner Seite bin ich ohnehin in Sicherheit, egal, was passiert.“<br />

Ich sah den Strand entlang und dann stockte mir der<br />

Atem. Da war sie, die Statue. Wir hatten unser Ziel erreicht!<br />

Obwohl nur noch der Sockel und ein Fuß übrig waren, wirkte<br />

dieses Bauwerk immer noch gigantisch groß. Ich versuchte<br />

mir vorzustellen, wie groß es gewesen sein mochte, als es<br />

noch unbeschädigt gewesen war. Doch schon wurde meine<br />

Aufmerksamkeit davon abgelenkt, dass eben von der anderen Seite der Statue eine große<br />

Gruppe Menschen kam.<br />

************<br />

Sun und Frank starrten auf einen riesigen steinernen Fuß, der auf einem fast zwei<br />

Meter hohen und bestimmt zehn Meter langen, aus Felsblöcken gefertigten Sockel ruhte. Von<br />

dem Sockel aus führte ein natürlicher Wall über den Strand in den Dschungel hinein.<br />

„Die muss mal gigantisch groß gewesen sein.“, stellte Frank verblüfft fest.<br />

„Wir haben sie damals vom Wasser aus gesehen, als wir Jack, Kate, Sawyer und<br />

Hurley zu Hilfe kommen wollten.“, erklärte Sun angespannt.<br />

Von hinten näherten sich Locke und Ben. Locke wandte sich leutselig an Richard:<br />

„Wo ist der Eingang?“<br />

Richard sah den Mann erstaunt an.<br />

„Willst du nicht bis morgen früh warten, John?“<br />

<strong>Der</strong> Kahlköpfige schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, Richard, das will ich ganz bestimmt nicht. Was würde sich bis dahin ändern?<br />

Also, wo ist der Eingang?“<br />

Richard zuckte ergeben die Schultern.<br />

„Wie du möchtest. <strong>Der</strong> Eingang befindet sich auf der anderen Seite des Sockels.“<br />

- 422 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Er setzte sich in Bewegung, um den Wall, an dessen Ende der Sockel errichtet worden<br />

war, zu bewältigen. Seine Leute folgten ihm, ergriffen von dem Anblick dieses einst ge-<br />

waltigen Baudenkmals.<br />

„Wen hat diese Statue einst dargestellt?“, fragte Locke den dunkelhaarigen Anführer.<br />

„Sie stellte Taweret, die altägyptische Schutzgöttin der Schwangeren, dar. Im Alten<br />

Reich galt Taweret den Menschen als besonders wohlwollend, speziell bei der Entbindung. In<br />

späteren Zeiten wurden ihr auch Wesenszüge eines Dämons zugeordnet. So sollte sie bei-<br />

spielsweise Tote verschlingen, die das Totengericht vor Osiris nicht bestanden, und ihnen<br />

damit die Möglichkeit eines ewigen Lebens nehmen.“, erklärte Richard ruhig.<br />

In Lockes Augen war etwas, das Richard deutlich machte, das John dies genau wusste.<br />

Erneut fragte er sich, was an dem Mann anders war. Doch er kam nicht mehr dazu, weiter<br />

darüber nachzudenken, denn jetzt hatte er den Wall überwunden und konnte den Strand auf<br />

der anderen Seite der Statue sehen. Und was er dort sah, ließ ihn augenblicklich seine Waffe<br />

ziehen. Da kamen fünf unbekannte Personen den Strand entlang auf sie zu. Eine Frau und vier<br />

Männer. Die Männer trugen eine große Metallkiste zwischen sich. Nicht nur Richard zog<br />

seine Waffe, seine Leute reagieren genauso.<br />

************<br />

Als wir die Gruppe um Alpert auftauchen sahen, reagierten wir automatisch.<br />

Blitzschnell verzogen wir uns in den Dschungel und hatten Glück, dass uns keiner sah. So<br />

schnell es ging, hasteten wir durch das Dickicht vorwärts, mög-<br />

lichst jedes laute Geräusch vermeidend. Jim führte uns an. Er<br />

bewegte sich geschickt und geschmeidig und ich kam nicht<br />

darum hin, unglaublich stolz auf ihn zu sein. Vor uns tauchte<br />

ein aus Sand, Steinen und Buschwerk bestehender, vielleicht anderthalb Meter hoher Wall<br />

auf, der sich in den Dschungel zog. Wir turnten über diesen Wall hinweg und schlichen auf<br />

der anderen Seite geduckt an den Strand hinunter. Nun konnten wir die Stimmen auf der<br />

anderen Wallseite hören.<br />

Leuten herum.<br />

„Wer seid ihr? Wie kommt ihr hierher?“<br />

Das war Richards Stimme. Ilana antwortete ihm, ruhig und beherrscht.<br />

„Wir sind keine Feinde, Ricardus.“<br />

Richard stutzte, als er seinen Namen so ausgesprochen hörte und drehte sich zu seinen<br />

„Nehmt die Waffen herunter. Keiner schießt, verstanden?“<br />

Er wandte sich wieder Ilana zu.<br />

„Eigentlich ist mein Name Richard. Wer seid ihr?“<br />

An Stelle einer Antwort auf die Frage sagte Ilana die magischen Worte:<br />

- 423 -


„Quid cubitus umbrae statuae?“<br />

Ohne zu Zögern erwiderte Richard:<br />

„Ille qui nos omnes servabit!“<br />

Ilana nickte.<br />

„Und genau der ist in Gefahr.“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Das war unser Stichwort. Abgesehen von Dan und Hurley, die im Wald geblieben<br />

waren, turnten wir schnell über den Wall zurück und stießen so in den Rücken der Gruppe.<br />

Jim war es, der die Anderen auf uns aufmerksam machte.<br />

„Hallo, Methusalem.“<br />

Hätten wir eine Bombe hinter der Gruppe hochgehen lassen, die Wirkung hätte nicht<br />

durchschlagender sein können. Alle wirbelten zu uns herum und im nächsten Moment lagen<br />

sich Jin und Sun bereits schluchzend in den Armen. Frank wirkte erleichtert, als er uns so<br />

überraschend auftauchen sah, Ben und Locke eindeutig bestürzt. Richard sah Jim an und<br />

irgendwie hatte ich das eigenartige Gefühl, zwischen den beiden Männern wurde blitzschnell<br />

ein stummer Dialog geführt. Ilana nickte zufrieden. Richard wandte sich wieder ihr zu und<br />

stellte die entscheidende Frage.<br />

„Wieso ist er in Gefahr?“<br />

Ilana gab ihren Männern einen Wink, während wir unauffällig dichter an Locke heran<br />

rückten, der zusehends genervt wirkte. Er sah gerade Jack an und sagte:<br />

„Hallo, Jack. Schön, dich gesund wieder zu sehen.“<br />

Jack beobachtete John aufmerksam und nickte kurz. Jim war es, der leise und an-<br />

gespannt antwortete:<br />

„Wäre schön, wenn wir das von dir auch behaupten können, Lederstrumpf.“<br />

Seine Worte waren für Ilanas Männer der Startschuss. Sie hatten die große Kiste ab-<br />

gestellt und hoben jetzt den Deckel ab. Ich behielt diesen John Locke im Auge und merkte,<br />

dass er immer nervöser wurde. Ilana forderte Richard auf:<br />

„Wirf einen Blick hinein.“<br />

Langsam trat Richard an die Kiste heran und schaute hinein. Und erstarrte.<br />

Einmal mehr überschlugen sich die Ereignisse nun. <strong>Der</strong> falsche John Locke hatte<br />

offensichtlich geahnt, was in der Kiste lag. Er war unbemerkt an <strong>mich</strong> heran getreten, und<br />

Ben hatte sich ebenfalls unbemerkt an Jack heran geschlichen. Die Beiden reagierten wie ab-<br />

gesprochen. Bevor Jack und ich auch nur ahnten, was los war, spürten wir beide Messer-<br />

klingen am Hals. Ich erstarrte vor Schreck. Locke erklärte kalt:<br />

blass.<br />

„Ladys, Gentlemen, darf ich kurz um ihre Aufmerksamkeit bitten?“<br />

Erst jetzt merkten die Anderen, was los war. Jim wirbelte herum und wurde leichen-<br />

„Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst ...“<br />

- 424 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Weiter kam er nicht, denn Locke unterbrach ihn kalt.<br />

„Mach dich nicht lächerlich, James, du wirst gar nichts machen. Ihr alle werdet das<br />

nicht, sonst ist die Lady hier Filet. Richard, ich möchte, dass du mir sofort verrätst, wie ich zu<br />

Jacob gelange. Und stelle meine Geduld nicht auf die Probe, sonst ...“<br />

Er drückte das Messer unmissverständlich fester gegen meinen Hals und ich spürte,<br />

die wie scharfe Klinge in meine Haut eindrang. Jim keuchte entsetzt:<br />

„Richard, bitte. Sag ihm schon, wie er zu Jacob kommt. Ich flehe dich an!“<br />

Jack ging es nicht besser als mir. Er hing hilflos in Bens Griff und wurde langsam<br />

rückwärts auf den Sockel zu dirigiert. Auch Locke zog <strong>mich</strong> rückwärtsgehend mit sich.<br />

Richard biss die Zähne zusammen, dann trat er sehr langsam und vorsichtig zu uns hinüber<br />

und stieg auf den Sockel hinauf. Er drückte an einen Stein an den Resten der Statue und lang-<br />

sam öffnete sich eine schwere, bis eben verborgene Tür, die in den Fuß hinein führte. Ben gab<br />

Jack einen Stoß, der diesen vom Sockel hinunter beförderte und packte stattdessen Richard<br />

am Arm.<br />

„Du kommst mit, mein Ex-Freund.“<br />

Langsam bewegten wir uns in die Statue hinein, verzweifelt im Auge behalten von den<br />

hilflosen Zuschauern. Jim wirkte, als würde er jeden Moment Amok laufen. Als wir alle vier<br />

im Gang hinter der Tür standen erklärte Locke:<br />

„Du wirst so freundlich sein und die Tür schließen, und zwar so, dass sie nicht wieder<br />

zu öffnen ist, verstanden?“<br />

Tief atmete Richard ein und drückte die Tür langsam wieder zu. Und erst jetzt sahen<br />

wir, dass von Innen ein baumstammgroßer Riegel vorgelegt werden konnte. Ich schluckte.<br />

Wenn dieser Riegel die Tür verschloss, würde nur eine Atombombe die Tür von außen wieder<br />

öffnen können. Richard war gezwungen, den Riegel in die Halterung zu legen. Die Anderen<br />

waren jetzt nachhaltig ausgesperrt. Locke ließ <strong>mich</strong> los und gab mir einen Schubs, der <strong>mich</strong><br />

den Gang entlang trieb. Ben sagte liebenswürdig zu Richard:<br />

„Nun darfst du <strong>mich</strong> endlich dem großen Jacob vorstellen. Nach all den vielen Jahren<br />

habe ich das wohl mehr als verdient!“<br />

************<br />

Jim bestand nur noch aus Angst. Seit er gesehen hatte, was der falsche Locke tat,<br />

wagte er nicht, sich zu rühren, aus Angst, Locke könnte die Bewegung falsch auffassen.<br />

Hilflos musste er mit ansehen, wie Locke und Ben zusammen mit Richard und Kelly in der<br />

Statue verschwanden. Jack hatte sich nach seinem Sturz bereits wieder aufgerappelt und<br />

humpelte zu Kate hinüber, die ihn mit einer heftigen Umarmung empfing. Kaum hatte sich<br />

die steinerne Tür hinter Locke geschlossen, rannte Jim schon los, um diesem zu folgen. Auch<br />

Sayid und Ilana eilten zur Statue hinüber. Doch sie wurden bitter enttäuscht. So sehr sie auch<br />

- 425 -


By<br />

Frauke Feind<br />

auf den Stein drückten, den Richard benutzt hatte, um die geheime Tür zu öffnen, es gelang<br />

ihnen nicht, den Mechanismus wieder in Gange zu setzen. Vollkommen verzweifelt<br />

trommelte Jim schließlich mit den Fäusten gegen den Stein und brüllte:<br />

„Mach auf, du verdammter Drecksack.“<br />

Kate eilte zu ihm und legte ihm begütigend die Hand auf den Arm.<br />

„Komm schon, Sawyer, wenn du dir die Hände zerschlägst, kannst du Kelly nicht<br />

mehr helfen. Wir werden eine Möglichkeit finden, hinein zu gelangen, aber ganz sicher nicht<br />

mit Gewalt.“<br />

Inzwischen waren auch Richards Männer und die Begleiter Ilanas näher gekommen.<br />

„Nichts zu machen?“, fragte Bram besorgt.<br />

„Nein, gar nichts, genauso gut könnten wir versuchen, die Statue zu verschieben.“, er-<br />

klärte Ilana bedrückt.<br />

Jim fuhr sich in einer hilflosen Geste durch die Haare. Jack sah den ewigen<br />

Konkurrenten fast mitleidig an.<br />

„Sawyer, wir kriegen sie da raus, irgendwie. Du wirst Kelly zurück bekommen.“<br />

Einer der Männer aus Richards Gruppe fragte nach:<br />

„Wie heißt die junge Frau?“<br />

Kate erklärte:<br />

„Kelly. Warum? Ist das wichtig?“<br />

<strong>Der</strong> Mann, er war um die fünfzig, schüttelte den Kopf.<br />

„Nein, nicht wirklich. Ich habe nur eine Tochter, die auch Kelly heißt. Sie müsste un-<br />

gefähr im gleichen Alter sein wie die junge Frau.“<br />

Jim sah den Mann an.<br />

„Wie heißt du denn?“, fragte er angespannt.<br />

„Hanso, Ken Hanso.“<br />

Jim riss die Augen auf.<br />

„Du bist Ken? <strong>Der</strong> Sohn von Lars Hanso alias Tim Walsh?“<br />

<strong>Der</strong> Mann nickte.<br />

„Ja. Woher kennst du meinen Vater?“<br />

„Unwichtig, ich hatte das Vergnügen, ihn kennen zu lernen. Du wirst es nicht glauben,<br />

Kelly IST deine Tochter.“<br />

Ken riss die Augen auf.<br />

„Was sagst du da?“<br />

Jim nickte unglücklich.<br />

„Sie ist deine Tochter. Ihre Mutter war Christine Marsh.“<br />

Ken sah Jim fassungslos an. Dann sprang er völlig überraschend auch auf den Sockel<br />

der Statue und begann, ebenfalls gegen die versteckte Tür zu hämmern. Aber natürlich hatte<br />

auch er keinen Erfolg.<br />

- 426 -


Ilana?“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Wir müssen sie da raus holen.“, schnaufte er gestresst.<br />

„Ja, aber wie?“, fragte Jack, der sich nun ebenfalls zu ihnen auf den Sockel gesellte.<br />

Jim sah sich nach den Leuten Richards um.<br />

„Wisst ihr denn nicht ne andere Möglichkeit, in die verdammte Statue zu kommen?<br />

Keiner reagierte auf Jims Worte. Plötzlich jedoch stutzte Ken Hanso.<br />

„Mein Vater hat mal erwähnt, dass es vom Stab aus einen geheimen Gang gibt ...“<br />

Jin, der mit Sun und Frank unten am Sockel der Statue stand, fragte:<br />

„Gibt es denn die Stationen noch?“<br />

Ken nickte.<br />

„Nicht alle, einige sind vollkommen zerstört, aber der Stab ist noch gut erhalten. Wenn<br />

es uns gelänge, den Gang zu finden ...“<br />

Jim nickte entschlossen.<br />

„Kate, Miles, Dan, ihr kommt mit. Ken auch. Ilana, du bleibst mit deinen Leuten hier,<br />

aber ich brauch noch n paar Freiwillige, die mit uns kommen. Bis zum Stab sind es nicht mal<br />

anderthalb Kilometer. Das schaffen wir schnell.“<br />

nickte.<br />

Dan, der zusammen mit Hurley schon vor Minuten aus dem Dschungel getreten war,<br />

„Okay, ich bin bereit.“<br />

Aus der Gruppe Richards folgten fünf jüngere Männer. Jim fragte:<br />

„Wisst ihr, wo der Stab ist?“<br />

Ken nickte.<br />

„Ja, wir kennen alle Stationen. Kommt schon, wir müssen uns beeilen!“<br />

Er setzte sich zusammen mit Jim an die Spitze und führte die Gruppe im Laufschritt in<br />

den Dschungel. Vollkommen abgekämpft erreichten sie nach zirka zwanzig Minuten den ver-<br />

steckten Eingang zum Stab. Jim klebte das Hemd am Körper und er jappste krampfhaft nach<br />

Luft, genau wie seine Begleiter. Aber die Angst um Kelly trieb ihn voran.<br />

„Wir müssen die verdammte Station durchsuchen, alles, was an Räumen noch<br />

existiert. Wir müssen den Gang finden!“<br />

Hastig machten sich alle daran, die Räumlichkeiten gründlich zu durchsuchen. Die<br />

Zeit lief ihnen davon. Kate wühlte in einem Raum herum, der Schränke und zwei Schreib-<br />

tische beherbergte. Sie klopfte Wände ab, warf rücksichtslos die Schränke um, um hinter<br />

ihnen die Wände zu untersuchen. Nichts deutete hier auf einen versteckten Gang hin. Kate<br />

hetzte ins nächste Zimmer. <strong>Über</strong>all aus dem großen Gebäude waren laute Geräusche zu hören,<br />

die daraufhin deuteten, dass die Anderen ähnlich rücksichtslos bei der Suche vorgingen. Kate<br />

sah sich um. Hier hatte scheinbar schon jemand etwas gesucht oder aus purer Zerstörungswut<br />

Einrichtungsgegenstände durch die Gegend geworfen. Auf dem Boden entdeckte sie einen<br />

verdreckten Teppich, der fest verlegt war. Einer Eingebung folgend riss sie an einer losen<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Stelle diesen Teppich hoch und dann sah sie es. Eine Klappe war in den Boden eingearbeitet.<br />

Kate brüllte laut:<br />

schauen.“<br />

„Sawyer! Schnell, komm her, ich habe hier etwas gefunden, dass solltest du dir an-<br />

Sekunden später kam Jim zusammen mit Ken Hanso in den Raum gehetzt, dicht ge-<br />

folgt von den Anderen, die Kates Ruf ebenfalls gehört hatten. Zusammen rissen Jim und Ken<br />

den Teppich noch ein ganzes Stück weiter vom Boden ab. Nun konnten alle die Luke sehen,<br />

die in den Boden eingelassen unter dem Teppich verborgen gewesen war.<br />

„Oh, Gott, lass es der Gang sein!“, flehte Jim in brünstig.<br />

Er fasste in die kleine Griffmulde, die den Metallbügel der Klappe beinhaltete und zog<br />

an diesen. Knarrend öffnete sich die Luke und Jim ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Er<br />

beugte sich über das dunkle Loch, dass sich unter der Klappe verborgen hatte.<br />

folgen.“<br />

„Hat jemand Licht?“, fragte er seine Mitstreiter.<br />

Einer der Männer aus Richards Gefolge reichte Jim eine kleine Taschenlampe.<br />

„Hier, mehr kann ich dir nicht anbieten.“<br />

Jim bedankte sich und leuchtete in das Loch hinein.<br />

„Da sind Metallsprossen an der Wand. Ich geh da runter, wer mit will, kann mir<br />

Er wartete keine Antwort ab, sondern begann bereits mit dem Abstieg. Er musste<br />

sechsundzwanzig Sprossen hinab steigen, dann hatte er den Boden erreicht. Ken folgte ihm<br />

unmittelbar, ebenso Miles und Daniel. Auch Kate und zwei der jungen Männer Richards<br />

turnten noch nach unten.<br />

„Die Anderen sagen Bescheid, dass wir den Gang wohl gefunden haben.“, erklärte<br />

einer der Beiden.<br />

Jim nickte.<br />

„Okay, dann wollen wir mal.“<br />

So schnell es bei der mehr als spärlichen Beleuchtung möglich war hasteten sie voran.<br />

Plötzlich sahen sie fast gleichzeitig in einiger Entfernung vor sich ein flackerndes Licht wie<br />

von einer Fackel auftauchen.<br />

************<br />

38) Todfeinde<br />

Ich sah <strong>mich</strong> zögernd um während ich langsam los marschierte. Um uns herum waren<br />

hohe Wände aus behauenen Steinquadern zu erkennen. In Abständen von vielleicht einem<br />

Meter waren an diesen Wänden Halterungen für einfache Fackeln angebracht. Diese ver-<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

breiteten ein unruhiges, warmes Licht. Richard hielt sich an meiner Seite. Er schwieg ver-<br />

bissen und führte uns langsam den langen Gang entlang. Immer wieder waren in regel-<br />

mäßigen Abständen runde Steinsäulen in den breiten Gang eingearbeitet, die wohl die Auf-<br />

gabe hatten, die Decke zu stützen. An den Wänden waren altägyptische Malereien zu sehen<br />

und immer wieder Hieroglyphen. Locke und Ben, die hinter uns gingen, sahen sich genauso<br />

aufmerksam um. Wobei Locke nicht den Eindruck machte, als würde das alles hier neu für<br />

ihn sein. Ben jedoch war offensichtlich fasziniert. Wir wurden nicht angetrieben, sondern<br />

konnten uns gründlich umschauen. Nach vielleicht zwanzig Metern traten wir in eine riesige,<br />

runde Halle, die ebenfalls einige dicke Steinsäulen beinhaltete. In der Mitte des großen<br />

Raumes brannte ein offenes Feuer in einer runden Steinschale. An den Wänden steckten zahl-<br />

reiche Fackeln in Halterungen. Auch hier waren die Wände mit Hieroglyphen verziert. Ein-<br />

fache Bänke, aus Stein gehauen, mit ebenfalls aus Stein gearbeiteten Tischen, verteilten sich<br />

auf zwei Nischen. Vor uns waren vier Stufen, die wir jetzt langsam hinunter traten.<br />

Aufmerksam sahen wir uns um. Ich konnte in der schummrigen Beleuchtung mindestens zwei<br />

Gänge ausmachen, die von der Halle ab gingen.<br />

Uns gegenüber stand ein sehr großer Webrahmen, auf den ein fast fertiger Teppich ge-<br />

spannt war. Langsam traten wir alle vier zu diesem Kunstwerk hinüber.<br />

Ganz oben am Rand war in altgriechischen Buchstaben: ΘEΟΙ ΣΟ΢Α<br />

ΓΟΙEΝ Ο΢Α ΦΡE΢Ι ΢Η΢Ι ΜEΝΟΙΝΑΖ eingewebt. Mühsam kramte ich<br />

in meinen Erinnerungen herum. Ich hatte <strong>mich</strong> von jeher für Mythologie<br />

interessiert und hatte zusammen mit einer guten Freundin, die Ägyptologie<br />

studiert hatte, in DC Kurse in Altgriechisch und Hebräisch belegt. Meine<br />

Freundin hatte mir auch große Einblicke in die Mythologie Ägyptens ge-<br />

geben. Wenn ich <strong>mich</strong> nicht vollkommen falsch erinnerte, hieß dieser Satz<br />

sinngemäß etwa: Mögen die Götter dir gewähren, was dein Herz begehrt.<br />

Unter dem Satz war eine Abbildung des sogenannten geflügelten Horus-Auge zu erkennen. Es<br />

wirkte, als würden die von ihm ausgehenden Sonnenstrahlen nach einigen Menschen, die<br />

unter dem Auge abgebildet waren, greifen. <strong>Der</strong> Ausgangspunkt der Strahlen, ein Kreis, sollte<br />

möglicherweise Aton darstellen. Aton war eine Erscheinungsform Amun Res, des Gottes der<br />

Sonne, des Windes und der Fruchtbarkeit, des Königs der Götter. Aton hatte unter dem<br />

Pharao Echnaton für eine kurze Zeit die Stellung des Hauptgottes der Ägypter eingenommen.<br />

Mir schoss durch den Kopf, dass dies möglicherweise ein Hinweis auf die heilenden Kräfte<br />

der Insel darstellen konnte. Horus, ein Lichtgott, hatte nach einem Kampf mit Seth, Gott der<br />

Wüste, des Chaos, der Gewalt und des Verderbens, ein künstliches Auge, das sogenannte<br />

Udjat-Auge als Ersatz für ein von Seth in diesem Kampf ausgestochenes Auge erhalten.<br />

Dieses künstliche Auge war zu einem Symbol für Heilung geworden.<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

Unter diesem Bild folgten zwei weitere Darstellungen, einmal Menschen, die um<br />

einige Krüge herum tanzten, dann eine Abfolge von Bildern, die den Vorgang der Getreide-<br />

ernte von der Aussaat bis zur Ernte darstellten. Zwischen den Tänzern und der Erntedar-<br />

stellung war ein weiterer Satz gewebt worden. ΘEΟΙ ΓE ΣΟΙ ΟΛΒΙΑ ΓΟΙEΝ. Das hieß so<br />

viel wie: Mögen die Götter dir Fröhlichkeit gewähren. Die letzte Darstellung am unteren<br />

Rand des Teppichs stellte wohl ebenfalls eine kleine Geschichte dar, in die ein Schiff in-<br />

volviert war. Deutlich war zu erkennen, dass auch die Statue Tawerets hier abgebildet war.<br />

Dann folgte noch einmal ein Satz in Altgriechisch. Ι ΜONOITO TOΤ ΠOIΛEMOT<br />

TEAO΢ EOΡAKA΢I, was so viel hieß wie: Sie sind die, die das Ende des Krieges sehen<br />

werden oder möglicherweise hieß es auch: gesehen haben. Außerdem waren in den Teppich<br />

auch viele Hieroglyphen eingearbeitet, von deren Bedeutung ich leider keinerlei Ahnung<br />

hatte. Fasziniert betrachtete ich das Kunstwerk. Schließlich jedoch riss ich <strong>mich</strong> los und sah<br />

<strong>mich</strong> weiter in dem großen Raum um. Doch abgesehen von kleinen, in die Wände ein-<br />

gearbeiteten Nischen, in denen verschiedene Gebrauchsgegenstände zu erkennen waren, wie<br />

Becher, kleine Krüge, Schüsseln, Dinge des täglichen Gebrauchs eben, gab es hier nichts<br />

spannendes mehr zu sehen. Und was es ebenfalls deutlich nicht gab war Jacob. Diese Tat-<br />

sache jedoch ließ den falschen Locke scheinbar kalt. Ben jedoch sah sich hektisch um und<br />

schließlich fuhr er Richard genervt an:<br />

„Wo ist er? Wo ist Jacob?“<br />

Richard, der sich den Teppich ebenfalls angeschaut hatte, drehte sich zu Ben herum.<br />

„Das weiß ich nicht, Ben, ich besitze leider keinen eingebauten Jacob-Detektor. Er<br />

wird bereits wissen, dass wir hier sind, und wird sicher in Kürze erscheinen.“<br />

Locke sah erst Richard dann <strong>mich</strong> an.<br />

„Wäre gesünder für euch. Ich könnte mir gut vorstellen, dass ein unerwarteter Todes-<br />

fall in seiner guten Stube für Jacob Grund genug wäre, schnell zu erscheinen. Und zwei<br />

Todesfälle würden dies sicher noch mehr unterstreichen.“<br />

Richard blieb gelassen, mir jedoch wurde trotz der Wärme in diesem Raum eiskalt.<br />

Locke ließ sich entspannt auf eine der steinernen Bänke sinken und lächelte Richard wie eine<br />

Schlange an.<br />

„Was meinst du, wessen Ableben wird Jacob schneller hervor locken, dass einer un-<br />

schuldigen jungen Frau oder das deine?“<br />

Er spielte mit dem Messer in seiner Hand herum. Jim hatte mir erzählt, dass der echte<br />

Locke virtuos mit Messern umgehen konnte. Scheinbar hatte auch der falsche Locke diese<br />

Fähigkeit. Richard schien statt Blut Eiswasser in seinen Adern zu haben. Kalt erwiderte er:<br />

„Du weißt besser als jeder von uns, dass man Jacob nicht zwingen kann. Also höre<br />

mit den leeren Drohung auf.“<br />

Er ließ sich gegenüber Lockes auf ein Sitzmöbel sinken und sah diesen ruhig an.<br />

- 430 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Dein perfider Plan wird auch diesmal nicht funktionieren, auch das weißt du. Du<br />

kannst Jacob nicht töten!“<br />

Richards Worten entnahm ich, dass er, wie auch ich inzwischen, wusste, dass Samuel<br />

sich des Erscheinungsbildes Lockes bediente. John lächelte immer noch.<br />

„Nun, wir werden es auf einen Versuch ankommen lassen, oder? In meiner eigenen<br />

Erscheinungsform ist es mir nicht möglich, Ricardus, aber vielleicht geht es in dieser?“<br />

Irgendetwas an seinen Worten störte <strong>mich</strong>, aber ich wusste nicht, was. Linus stand<br />

immer noch vor dem Teppich und betrachtete diesen interessiert. Plötzlich drehte er sich zu<br />

uns herum und sagte:<br />

„Ich würde es durchaus begrüßen, wenn dein Plan funktionieren würde, John. Ich habe<br />

immer gewusst, dass du etwas ganz Besonderes bist. Ich unterstütze dich weiterhin, solange<br />

du mir nur meinen Wunsch gewährst, Jacob selbst zu fragen, warum er <strong>mich</strong> all die vielen<br />

Jahre ignoriert hat. Ich habe ein Recht, zu erfahren, warum ich es ihm nicht wert war, sich mir<br />

vorzustellen.“<br />

Aus jedem dieser Worte ging hervor, wie frustriert und ungerecht behandelt sich<br />

dieser Benjamin Linus fühlte. Ich sah ihn an und fragte:<br />

„Ist dir bewusst, dass ich zu den Personen gehöre, die dir vor sehr vielen Jahren dein<br />

erbärmliches Leben gerettet haben?“<br />

Ben nickte.<br />

„Oh ja, ich erinnere <strong>mich</strong> an alles. Du hast geholfen, in dem du weg geschaut hast.<br />

James und Kate waren es, die <strong>mich</strong> zu Richard gebracht haben. Und Sayid war es, der <strong>mich</strong><br />

zu erschießen versuchte. Er wurde dafür von mir bestraft. Oh ja. Ich war es, der den Anschlag<br />

auf Nadia anordnete. Und Sayid hat in seiner vollkommenen Verzweiflung nach dem<br />

seidenen Faden gegriffen, den ich ihm zu warf. Er hat an meinen Fäden gehangen wie eine<br />

Marionette und in der Organisation Widmores gründlich aufgeräumt. Er ist der geborene<br />

Killer!“<br />

Kurz verstummte Ben, dann stieß er hasserfüllt hervor:<br />

„Charles war es, der Keamy und seine Söldner auf die Insel schickte! Er ist Schuld<br />

daran, dass meine Tochter getötet wurde.“<br />

schüttelnd:<br />

Ich hatte die ganze Geschichte von Jim genau erzählt bekommen und erwiderte kopf-<br />

„Du weißt im Grunde deines Herzens, dass das nicht stimmt. Du alleine bist daran<br />

schuld! Du warst zu feige, dich zu stellen, dein Egoismus ging soweit, dass du zuschautest,<br />

wie deine Tochter erschossen wurde, dabei lag es in deiner Hand alleine, das zu verhindern.<br />

Außerdem war sie nicht einmal deine Tochter. Du hast keine Hemmungen gehabt, sie einer<br />

jungen Frau fort zu nehmen und diese vollkommen verzweifelt zurück zu lassen.“<br />

- 431 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Ben wurde blass, das war selbst in der schummrigen Beleuchtung hier zu sehen.<br />

Richard behielt ihn scharf im Auge.<br />

„Woher willst du das wissen? Du warst nicht dabei.“, giftete Linus <strong>mich</strong> an.<br />

„Das stimmt, aber Hugo und Jim waren dabei. Sie haben mir von allem erzählt.“<br />

Ben kam auf <strong>mich</strong> zu und knurrte:<br />

„Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest. Ich hatte keine Schuld daran. Charles hat<br />

die Regeln geändert. Ihn alleine trifft die Schuld an Alex„ Tod. Ihn ganz alleine!“<br />

„Benjamin, du weißt, dass das nicht stimmt.“<br />

Linus und ich wirbelten gleichermaßen erschrocken herum, als wir plötzlich eine<br />

sanfte, freundliche Stimme hinter uns hörten. Aus einem der Gänge, die ich beim Betreten der<br />

Halle ausgemacht hatte, war ein Mann getreten, groß, schlank, um die vierzig, dunkelblonde,<br />

kurze Haare, blaugraue, freundliche Augen. Lächelnd trat der Mann zu uns und sagte ruhig:<br />

„Welch überraschender Besuch.“<br />

„Jacob!“ stieß Ben hervor. „Du bist Jacob.“<br />

kurz.<br />

<strong>Der</strong> Mann lächelte immer noch.<br />

„Ja, das bin ich, das hast du klug erkannt.“, erwiderte er<br />

Er sah Richard an und dieser erwiderte den Blick. Nun<br />

wandte sich der Mann mir zu.<br />

„Kelly. Ich hätte nicht erwartet, dich hier vor zu finden. Du hast mehr als bewiesen,<br />

dass dein Großvater sich in dir nicht getäuscht hat.“<br />

Ich wusste, dass ich einen selten dämlichen Gesichtsausdruck zur Schau stellte, kam<br />

aber nicht umhin, verblüfft zu Fragen:<br />

„Woher kennst du <strong>mich</strong>? Und woher kennst du meinen Großvater?“<br />

Jacob lächelte sanft.<br />

„Er war ein guter Freund, Kelly. Und er bat <strong>mich</strong>, ein Auge auf dich zu haben. Diesen<br />

Gefallen tat ich ihm gerne.“<br />

hast.“<br />

Verwirrt fragte ich:<br />

„Was bedeutet das?“<br />

Jacob lächelte sanft.<br />

„Das bedeutet, Kelly, dass ich über dich gewacht habe, seit du unsere Heimat betreten<br />

Fassungslos starrte ich Jacob an.<br />

„Dann warst du es, der den Rauch gehindert hat, <strong>mich</strong> zu töten?“<br />

Jacob nickte.<br />

„Das, und einiges mehr.“<br />

„Hast du auch dafür gesorgt, dass Jim sich wieder erinnern konnte?“<br />

Jacob nickte erneut.<br />

- 432 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Ja, das habe ich, obwohl meine Pläne ursprünglich anders geartet waren. Du musst<br />

wissen, ich habe nicht die alleinige Gewalt über die Macht.“<br />

grinste er kalt.<br />

Er sah jetzt John an, der ruhig unsere Unterhaltung beobachtet hatte.<br />

„Du hast also dein Schlupfloch gefunden, was?“<br />

John nickte langsam.<br />

„Und du hast überhaupt keine Vorstellung, was ich dafür unternehmen musste.“,<br />

Ben hatte scheinbar genug davon, dass Jacob ihn nicht weiter beachtete. Er stieß <strong>mich</strong><br />

hart zur Seite und baute sich herausfordernd vor Jacob auf. Dieser sah Ben ruhig an.<br />

„Du weißt, dass du die Wahl hast, richtig? Was immer er dir erzählt hat, Benjamin, du<br />

hast eine Wahl.“<br />

Ben schaute Jacob mit einem fast mitleiderregenden Gesichtsausdruck an.<br />

„Ich habe die Wahl? So, wie ich fünfunddreißig Jahre die Wahl hatte, was? Plötzlich<br />

hast du Zeit, mit mir zu reden? Jetzt plötzlich? Ich habe dich all die vielen Jahre nur durch<br />

Zettel und Listen kennen gelernt. Deine schriftlichen Instruktionen ... Ich habe nie hinterfragt,<br />

habe alles getan, was du mir auf trugst. Aber wenn ich es wagte, direkt nach dir zu Fragen, zu<br />

bitten, zu dir gebracht zu werden, wurde mir freundlich mitgeteilt „Du musst warten, du musst<br />

geduldig sein.„ Doch für Richard hast du immer Zeit gehabt.“ Er schluckte heftig, dann fuhr<br />

er hasserfüllt fort: „Und für ihn ...“ Er deutete auf Locke. „... hast du sofort Zeit, was? Er<br />

kommt hierher, fragt nicht lange, sondern dringt hier ein. Und du erscheinst. Und was ist mit<br />

ihr? Auch ihr widmest du deine Aufmerksamkeit. Aber was ist mit mir? Was ist mit mir.“<br />

Die letzten Worte schrie er fast heraus. Und Jacob? <strong>Der</strong> schaute Ben nur verständnis-<br />

los an und fragte gleichgültig:<br />

„Was ist mit dir?“<br />

Ben gab ein undefinierbares Geräusch von sich. Leise und gefährlich sagte er:<br />

„So ist das ...“<br />

Und plötzlich wussten sowohl Richard als auch ich, dass wir falsch vermutet hatten.<br />

Vollkommen falsch. Nicht John Locke wollte Jacob töten. Benjamin würde es tun!<br />

Alles Weitere schien sich plötzlich in Zeitlupe abzuspielen. Kaum war die Gewissheit<br />

über Johns perfiden Plan in unsere Hirne vorgedrungen, sprang Richard schon auf, wurde<br />

jedoch von Locke, der ebenfalls aufgesprungen war, gehindert, zu Jacob zu gelangen. Locke<br />

hatte plötzlich wieder sein Messer in der Hand und ehe Richard begriff was los war, rammte<br />

John ihm dieses schon in den Rücken. Aufseufzend ging Richard zu Boden und Locke blieb<br />

über ihm stehen, sah auf den Dunkelhaarigen hinunter und sagte angewidert:<br />

„Ich habe euch so satt. Du und Jacob, ihr seid seit zu vielen Jahrtausenden der Dorn in<br />

meinem Fleisch. Endlich habe ich die Möglichkeit, euch beide heraus zu reißen.“<br />

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Frauke Feind<br />

Während er über Richard stand, schien er sich zu verändern. Er wurde schlanker, be-<br />

kam Haare und plötzlich stand ein Mann mit kurzen, grauen Haaren, sehr dunklen Augen und<br />

einem drei Tage Bart über Richard. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, das Phänomen zu be-<br />

obachten, denn auch Ben hatte sein Messer gezogen, und ehe ich noch reagieren konnte, hatte<br />

er es dem überraschten Jacob in den Bauch gerammt. Zu einem zweiten Stoß kam er jedoch<br />

nicht, denn ich warf <strong>mich</strong> gegen ihn und versuchte, ihn zu entwaffnen. Normalerweise wäre<br />

es mir sicher gelungen, immerhin hatte ich dies in intensivem Training erlernt, doch ich hatte<br />

nicht mit der unglaublichen Wut, dem Hass gerechnet, der Ben beherrschte. Dieser verlieh<br />

ihm unglaubliche Kräfte. Plötzlich sah ich die Hand mit dem blutigen Messer darin auf <strong>mich</strong><br />

zukommen und schon versenkte Ben die Klinge in meiner linken Seite.<br />

Schlagartig blieb mir die Luft weg. Ich keuchte entsetzt auf und presste die Rechte auf<br />

die blutende Wunde. Und Ben wirbelte bereits wieder zu Jacob herum, der zu Boden ge-<br />

gangen war. Er wollte sich über ihn beugen, um ihm den Rest zu geben, doch soweit kam es<br />

nicht mehr. Von irgendwo hörte ich vollkommen unerwartet Jims Stimme schreien:<br />

„Kelly!“<br />

Etwas knallte laut und zwischen Bens Augen war plötzlich ein kleines, blutiges Loch.<br />

Weitere Schüsse fielen und auch Samuel ging getroffen zu Boden. Und nun schien die Hölle<br />

loszubrechen. Von morbider Faszination gepackt starrte ich auf Samuels Körper und ver-<br />

suchte zu erfassen, was ich sah. Irgendwie schien Samuel dunkler zu werden. Und sein<br />

Körper schien an Festigkeit zu verlieren. Er waberte, wie Rauch ... Und dieser Rauch wurde<br />

dunkler, gewann an Größe und plötzlich war der Raum erfüllt von dem nur allzu bekannten<br />

Brüllen. Flüchtig registrierte ich, dass Jim, Kate, Miles, Daniel, mein Dad und einige mir<br />

unbekannte Männer in den Raum getreten waren. Entsetzt<br />

blieben sie stehen und starrten auf die schwarze, decken-<br />

hohe Rauchsäule, die sich zwischen ihnen und uns aus-<br />

breitete. Ich hörte Jim panisch etwas schreien, konnte<br />

jedoch durch den Lärm nicht verstehen, was es war. Noch<br />

einmal brüllte die Rauchsäule auf, verstummte und stürzte sich auf die Neuankömmlinge.<br />

Ich konnte meine eigene Stimme in der plötzlichen Stille überdeutlich hören, als ich<br />

jetzt entsetzt schrie:<br />

„NEIN!“<br />

Einer der Männer wurde von der Rauchsäule gepackt<br />

und seine Schreie waren das Schlimmste, was ich je gehört<br />

hatte. So schnell, wie sie aufgeklungen waren verstummten<br />

sie auch wieder und die blutige Leiche, kaum noch als<br />

Mensch zu erkennen, klatschte unmittelbar vor Jim auf den<br />

Boden. Erneut schrie ich.<br />

- 434 -


„Jacob! Du musst ihn aufhalten!“<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

Trotz der Schmerzen in meiner Seite war ich zu dem am Boden liegenden Mann<br />

herum gewirbelt. Er war noch bei Besinnung und ich taumelte zu ihm hinüber, ging neben<br />

ihm auf die Knie.<br />

Schultern.<br />

„Du musst ihn aufhalten!“, schrie ich noch einmal und packte den Verletzten an den<br />

Er sah <strong>mich</strong> aus leicht glasigen Augen an, dann flüsterte er schwach:<br />

„Du ... du kannst ... das ...“<br />

Die Rauchsäule schickte sich an, sich auf Kate und Jim, die dicht beieinander standen,<br />

zu stürzen. Ich hörte wie durch Watte Kates panischen Schrei, als der Rauch auf sie und Jim<br />

nieder raste. Ich spürte Jacobs rechte Hand nach meiner greifen und von einer Sekunde zur<br />

Anderen waren seine Gedanken in meinem Kopf.<br />

„Du kannst ihn aufhalten Kelly, rette ihr Leben!“<br />

Es war, als würde nicht ich sprechen, sondern jemand durch <strong>mich</strong>. Die Worte polterten<br />

plötzlich durch meinen Verstand.<br />

„Lass sie in Frieden. Du hast verloren, deine Zeit hier ist vorbei. Du hast, wie Ptah,<br />

deine Chance vertan. Du hast nicht die Macht, dich mir zu Widersetzen. Verschwinde,<br />

Apophis. Ich, Aton, befehle es dir.“<br />

<strong>Der</strong> Rauch, der sich schon um Jim und Kate gewickelt hatte, brüllte erneut auf, plötz-<br />

lich jedoch begann er, sich zurück zu ziehen. Er waberte zögernd in die Hallenmitte,<br />

sammelte sich über dem immer noch dort brennenden Feuer und stieg langsam zur Decke<br />

empor. Müde hob ich den Kopf und sah dem Rauch nach, wie er allmählich aus unserem<br />

Blick verschwand. Mir wurde eiskalt und ich sank langsam ebenfalls ganz zu Boden. Und<br />

plötzlich waren Arme da, die <strong>mich</strong> hielten.<br />

„Kelly! Nein, bitte, bleib bei mir. Bitte. Kelly!“<br />

Aus Tränen verschleierten Augen sah ich Jims Gesicht über mir, leichenblass und mit<br />

panisch aufgerissenen Augen. Ich wollte etwas sagen, ihn beruhigen, aber ich hatte nicht mehr<br />

die Kraft dazu. Ich merkte, wie ich die Besinnung verlor.<br />

hatte.<br />

************<br />

Jim war stehen geblieben und deutete nach vorne.<br />

„Da, Licht.“ „Ob wir es geschafft haben?“, fragte Ken, der sich neben Jim gehalten<br />

„Hoffentlich. Vorsichtig weiter.“<br />

Jim setzte sich wieder in Bewegung und sie schlichen auf das diffuse Licht zu, lang-<br />

sam, leise und vorsichtig. Nun konnten sie eine große, runde Halle überblicken, die sich vor<br />

- 435 -


By<br />

Frauke Feind<br />

ihnen auf tat. Und was sie dort sahen, ließ Jim entsetzt aufstöhnen. Ben stand vor einem<br />

Mann, der Jim vage bekannt vor kam. Kelly kämpfte mit Ben, der sich rasend vor Wut<br />

wehrte. Bevor Jim reagieren konnte, stieß Ben mit dem Messer zu und mit vor Entsetzen weit<br />

aufgerissenen Augen musste Jim mit ansehen, wie das Messer Kelly in die linke Seite traf. Er<br />

riss seine Waffe aus dem Hosenbund und noch bevor Ben sich gebückt hatte, um dem am<br />

Boden liegenden Mann den Rest zu geben, zielte Jim bereits und drückte ohne zu Zögern ab.<br />

Ben brach zusammen. Jim wollte zu Kelly hinüber eilen, doch so weit kam er nicht. <strong>Der</strong><br />

Mann, der bei Richard stand, wollte diesem das Messer noch einmal in den Körper rammen,<br />

doch auch soweit kam es nicht. Ken, Miles und einer der jungen Männer rissen gleichzeitig<br />

ihre Waffen in die Höhe und schossen. <strong>Der</strong> Mann wurde zurück geschleudert und ging zu<br />

Boden. Und kaum lag er zusammen gekrümmt still, schien er sich aufzulösen. Geschockt<br />

starrten Jim und seine Begleiter auf den unbekannten Mann und sahen, wie sich aus dessen<br />

Körper der verhasste und gefürchtete schwarze Rauch löste!<br />

Kate wich zurück und stand unmittelbar neben Jim, der ebenso entsetzt auf den Rauch<br />

starrte wie alle anderen Anwesenden. Das bekannte Brüllen erfüllte die Halle und nun stürzte<br />

der Rauch sich auf einen der Männer, den, der auf den Kerl bei Richard geschossen hatte.<br />

Kate schrie vor Entsetzten, als der Rauch den Mann in die Höhe riss. Dessen Todesschreie<br />

füllten die Halle, wie vor Sekunden noch das Brüllen des Rauchmonsters. Doch schnell ver-<br />

stummten die fürchterlichen Schreie und der zerfetzte, blutige Körper klatschte unmittelbar<br />

vor Jim und Kate auf den Boden. Sofort wirbelte der Rauch auf sie zu. Unfähig, sich zu<br />

Rühren, etwas zu ihrer Rettung zu unternehmen, wurden Jim und Kate von dem Rauch um-<br />

schlossen. Doch bevor dieser sie attackieren konnte, drang plötzlich Kellys Stimme durch die<br />

Halle.<br />

„Lass sie in Frieden. Du hast verloren, deine Zeit hier ist vorbei. Du hast, wie Ptah,<br />

deine Chance vertan. Du hast nicht die Macht, dich mir zu Widersetzen. Verschwinde,<br />

Apophis. Ich, Aton, befehle es dir.“<br />

Fassungslos hörten alle diese Worte. Und das unglaubliche geschah. <strong>Der</strong> Rauch zog<br />

sich widerwillig zurück, waberte in die Hallenmitte und tanzte einen Moment lang über der<br />

offenen Feuerstelle, die dort angelegt worden war. Dann konnten alle sehen, dass er langsam<br />

zur Hallendecke aufstieg und ... verschwand. Jim verschwendete keinen weiteren Gedanken<br />

an das, was gerade geschehen war. Mit wenigen, schnellen Schritten überwand er stattdessen<br />

die Entfernung und warf sich neben Kelly auf die Knie. Er zog die junge Frau, die zu Boden<br />

gesunken war, an sich und Tränen stürzten ihm über die Wangen.<br />

„Kelly. Nein, bitte, bleib bei mir. Bitte. Kelly!“, stammelte er panisch.<br />

Er sah, dass Kellys Augen sich verdrehten und dann hatte sie bereits die Besinnung<br />

verloren. Plötzlich war Kate neben ihm.<br />

„Wir müssen sie schnellstens zu Jack bringen, Sawyer. Komm schon!“<br />

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Frauke Feind<br />

Wie in Trance hob Jim Kelly auf und sah sich suchend um. Zwei weitere Gänge<br />

mündeten in die Halle, aber welcher führte zum Ausgang? Plötzlich hörte er Richards<br />

Stimme, schwach und schmerzerfüllt:<br />

„Links, Jim ...“<br />

Ohne zu Zögern rannte Jim los, dicht gefolgt von Kate und Ken Hanso. <strong>Der</strong> Gang, in<br />

dem sie sich befanden, endete nach einigen Metern vor einer Wand, in die die Tür, durch die<br />

Locke und Ben mit Kelly und Richard verschwunden waren, eingearbeitet war. Kate und Ken<br />

hoben den dicken Riegel aus den Halterungen und stemmten sich gemeinsam gegen die Tür,<br />

die erstaunlich leicht auf ging. Blendendes Licht schlug ihnen entgegen und sie traten auf den<br />

Sockel hinaus. Unter sich am Strand waren die Zurückgebliebenen versammelt. Alle starrten<br />

gerade in den Himmel, wo eine schwarze Rauchsäule sich im lauen Wind langsam auflöste.<br />

Sie fuhren herum, als sie plötzlich eine Stimme hörten.<br />

wesenden zu:<br />

raus holen.“<br />

„Jack. Schnell, ich brauch Hilfe!“<br />

Jim hastete schon an den Strand hinunter, dicht gefolgt von Ken. Kate rief den An-<br />

„Richard ist verletzt, und noch zwei andere Männer ebenfalls. Kommt, wir müssen sie<br />

Mehrere Leute, unter ihnen Ilana und Bram, setzten sich eilig in Bewegung. Jim hatte<br />

mit Kelly im Arm Jack erreicht.<br />

„Was ist passiert?“, fragte der Arzt hastig.<br />

„Ben. <strong>Der</strong> Dreckskerl hat ihr ein Messer in die Seite gerammt. Bitte, Jack, du musst<br />

sie retten, bitte, ich flehe dich an!“<br />

Jim war außer sich vor Angst. Und nicht nur er. Auch Ken Hanso, der Jim dicht auf<br />

gefolgt war, flehte:<br />

und erklärte:<br />

„Kannst du ihr helfen, Doktor? Sie ist meine Tochter! Bitte.“<br />

Jim hatte sich in den Sand gekniet und hielt Kelly im Arm. Jack kniete sich neben ihn<br />

„Lass <strong>mich</strong> die Wunde ansehen, Sawyer.“<br />

Jim reagierte gar nicht.<br />

„Sawyer! Ich muss sie mir anschauen.“, wiederholte Jack eindringlich.<br />

Und erst jetzt löste Jim die Umarmung so weit, dass Jack an Kelly heran konnte.<br />

Hastig untersuchte der Arzt die junge Frau. Die Stichwunde saß links unterhalb der Organe,<br />

außerhalb des Darmbereichs, da war Jack sich sicher. Sie hatte heftig geblutet und tat dies<br />

immer noch, war jedoch nicht lebensgefährlich. Erleichtert atmete der Arzt auf. Er rief:<br />

„Ich brauche Verbandsmaterial. Schnell!“<br />

Eine Frau kam angerannt und reichte ihm einen Kasten.<br />

„Da ist Verbandsmaterial drin.“, erklärte sie.<br />

- 437 -


By<br />

Frauke Feind<br />

Dankbar nickte Jack und riss den Kasten auf. Er nahm ein Päckchen Verbandsmull<br />

heraus und drückte diese auf die Stichwunde.<br />

„Festhalten.“, wies er Ken an.<br />

Dieser drückte den Verbandsmull auf die Wunde und Jack legte einen festen Druck-<br />

verband an. Dann sagte er ruhig:<br />

„Sawyer, sie wird gesund, keine Angst. Sie wird wieder gesund, hörst du?“<br />

Zu mehr kam er nicht, denn gerade wurden aus der Statue auch Richard und Jacob an-<br />

geschleppt. Jack stemmte sich mühsam in die Höhe und eilte zu den Verletzten hinüber.<br />

************<br />

Langsam kam ich zu mir. Wo war ich? Ich lag in einem Bett, so viel war sicher.<br />

Fassungslos sah ich <strong>mich</strong> um. Ein hübscher, heller Raum, offensichtlich ein Schlafzimmer.<br />

Schrank, Spiegel, Fenster, alles war vorhanden. Vorsichtig setzte ich <strong>mich</strong> auf. In meiner<br />

linken Seite pochte es heftig, aber durchaus erträglich. Schlagartig setzte meine Erinnerung<br />

ein. <strong>Der</strong> Kampf in der Statue. Ben, der mir ein Messer in den Körper gerammt hatte. Jim, der<br />

plötzlich bei mir gewesen war ... Und dann Dunkelheit. Wo, um alles in der Welt, war ich?<br />

Ich merkte, dass ich ein sauberes, langes T-Shirt trug. Sauber. Ich war sauber. Erstaunt schlug<br />

ich die Bettdecke zur Seite und schwang langsam und vorsichtig die Beine aus dem Bett.<br />

Kurz wurde mir schwindelig, doch schnell hatte mein Kreislauf sich gefangen. Ich stemmte<br />

<strong>mich</strong> auf die Füße und hielt mir mit zusammen gebissenen Zähnen die Seite. Aber die<br />

Schmerzen hielten sich auch jetzt in durchaus erträglichen Grenzen. Ich sah <strong>mich</strong> um und<br />

entdeckte eine Tür. Etwas schwerfällig ging ich zu dieser hinüber und öffnete sie. Ein Flur.<br />

Plötzlich hörte ich in einiger Entfernung zwei Stimmen. Unsicher bewegte ich <strong>mich</strong> darauf zu.<br />

Durch eine offene Tür konnte ich in eine Küche schauen. Und da stand Jim, einen Wasser-<br />

kessel in der Hand, und ließ aus diesem gerade Wasser in einen Kaffeefilter laufen.<br />

„Jack meint, sie müsste demnächst aufwachen. Anderthalb Tage. Ich schwör dir, das<br />

sind die längsten sechsunddreißig Stunden meines Lebens gewesen.“<br />

<strong>Der</strong> andere Mann lachte mitleidig. Und ich sagte leise:<br />

„Sie ist aufgewacht, Jack hatte Recht.“<br />

Hätte ich eine Bombe zwischen die Männer geworfen, die Wirkung hätte nicht um-<br />

werfender sein können. Jim wäre fast der Kessel aus der Hand gefallen vor Schreck und der<br />

andere Mann, ich erkannte, dass es sich bei ihm um meinen Vater handelte, war nicht weniger<br />

erschrocken.<br />

„Kelly. Bist du irre?“<br />

Blitzschnell war Jim an meiner Seite und schon lag ich in seinen Armen.<br />

„Was läufst du hier rum, spinnst du denn?“, fragte er besorgt.<br />

- 438 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Mir geht es gut, wirklich, nur wenn du <strong>mich</strong> so drückst tut es weh.“<br />

Das war beides keine Lüge. Es ging mir wirklich erstaunlich gut. Dafür, dass man mir<br />

ein langes Messer in den Körper gerammt hatte, fühlte ich <strong>mich</strong> erstaunlich wohl. Sofort<br />

lockerte Jim seinen Griff und sah <strong>mich</strong> an.<br />

liebevoll.<br />

„Du siehst viel besser aus. Gott, Kelly, ich hab solche Angst um dich gehabt.“, sagte er<br />

Seine Augen schimmerten feucht. Er ließ <strong>mich</strong> zögernd ganz los und machte etwas<br />

Platz. Mein Vater war zu mir getreten und sah <strong>mich</strong> stumm an. Dann seufzte er leise und im<br />

nächsten Moment hing ich heulend an seinem Hals.<br />

„Daddy ...“<br />

er fassungslos.<br />

„Mein kleiner Schatz. Das ich dich wieder in meinen Armen halten kann ...“, stotterte<br />

Es dauerte einige Minuten, bis wir uns ein wenig beruhigt hatten. Dann nahm Jim<br />

<strong>mich</strong> vorsichtig auf den Arm und trug <strong>mich</strong> ins Schlafzimmer zurück. Mein Vater folgte uns,<br />

mit einem Tablett in der Hand, auf das er in aller Eile den fertigen Kaffee, drei Tassen und<br />

einen Teller mit Sandwiches gestellt hatte. Jim legte <strong>mich</strong> aufs Bett zurück und mein Vater<br />

stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch unter dem Fenster.<br />

meine.<br />

„Wie geht es dir wirklich?“, fragte Jim besorgt und ich nahm seine Hände liebevoll in<br />

„Es geht mir gut, Baby, wirklich. Die Wunde tut noch ein wenig weh, das ist aber auch<br />

alles. Scheinbar sind die heilenden Kräfte der Insel auch bei mir zur Wirkung gekommen.“<br />

leise:<br />

Jim sah <strong>mich</strong> an und seufzte. Er schloss <strong>mich</strong> noch einmal in die Arme und sagte<br />

„Ich liebe dich, Kelly.“<br />

Glücklich ließ ich mir die Umarmung gefallen. Schließlich ließ er <strong>mich</strong> los und setzte<br />

sich aufs Bett zu mir. Und nun endlich stellte ich die Frage, die mir seit dem Aufwachen auf<br />

der Zunge brannte.<br />

„Wo sind wir?“<br />

Jim grinste.<br />

„Home, sweet home. Wir stecken wieder in Dharmaville.“<br />

Fassungslos starrte ich ihn an.<br />

„Was?“<br />

Mein Dad lachte.<br />

„Ja, wir sind umgezogen. Wir haben dich her geschafft, nachdem Jack dich versorgt<br />

hatte. War ja nicht so weit zu gehen.“<br />

Jim grinste.<br />

„Ken und ich haben hier ein wenig aufgeräumt, während du geschlafen hast. Ist fast ne<br />

Luxusbehausung.“<br />

- 439 -


Ich schüttelte den Kopf.<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Vielleicht sollte ich erst mal eine Tasse Kaffee trinken.“, schnaufte ich verwirrt.<br />

Mein Vater schenkte uns Kaffee ein und endlich hatte ich nach so langer Zeit wieder<br />

meinen geliebten <strong>Über</strong>lebenssaft in den Händen. Seufzend vor Wonne trank ich einige<br />

Schlucke und stöhnte wohlig:<br />

„Gut ...“ Nun bekam ich auch ein Sandwich gereicht und nachdem ich dies gegessen<br />

hatte, wollte ich natürlich wissen, was weiter passiert war, nachdem mir die Lichter aus-<br />

gegangen waren.<br />

„Jack hat dich verarztet und dann hat er sich um Richard und Jacob gekümmert. Wir<br />

haben nicht solange gewartet, sondern sind mit dir sofort hierher. Die Anderen sind uns<br />

irgendwann nach gekommen.“<br />

„Richard ... Wie geht es ihm? Und wie geht es Samuel und Jacob? Und Kate, Jack ...<br />

Wo sind sie alle?“<br />

Jim erklärte:<br />

„Sie sind alle erst mal hier. Sie haben sich auf die Häuser verteilt, sind ja genug da. In<br />

einigen Hütten ist es n bisschen voll, aber was soll‟s. Ist ja nicht von Dauer.“<br />

Ich stutzte.<br />

„Wieso nicht von Dauer?“<br />

Jim lachte ironisch.<br />

„Na, wir wollen doch wohl schnellstens alle hier weg.“<br />

Ich nickte langsam.<br />

„Wo seid ihr überhaupt so plötzlich her gekommen?“<br />

Mein Vater schmunzelte.<br />

„Dein Großvater hat mir gegenüber mal erwähnt, dass es von der Stab-Station zur<br />

Statue einen geheimen Gang gibt. <strong>Der</strong> wurde vor langer Zeit für Jacob als Fluchtmöglichkeit<br />

angelegt, verstehst du? Nachdem die Dharma-Leute weg waren. Das fiel mir glücklicherweise<br />

ein. Jim und ich sind zusammen mit Daniel, Kate und Miles sowie zwei unserer Leute durch<br />

diesen Gang geturnt und kamen gerade in dem Moment in Jacobs Wohnbereich an, als Ben<br />

dir das Messer in ...“<br />

kalt.<br />

Er verstummte und schüttelte sich.<br />

„Wer hat ihn erschossen?“, fragte ich hasserfüllt.<br />

„Jim. Und wenn er es nicht getan hätte, hätte ich es gemacht.“, erklärte mein Vater<br />

Ich sah Jim dankbar an.<br />

„Wir haben eine Fehler gemacht, als wir ihm das Leben retteten.“, sagte ich leise.<br />

„Ja, wir haben ihn erst zu dem gemacht, was er war. Naja, nun ist der Mistkerl<br />

Geschichte. Und auch Samuel ist Geschichte.“<br />

- 440 -


Ich trank meinen Kaffee aus und bat:<br />

By<br />

Frauke Feind<br />

„Ich würde gerne Duschen, falls das möglich ist. Und ich brauche nicht im Bett zu<br />

liegen, okay. Mir geht es wirklich gut.“<br />

Knurrig wurde mir erlaubt, aufzustehen.<br />

„Ich komm mit, dass ist dir wohl klar, oder?“, erklärte Jim bestimmt.<br />

Lächelnd nickte ich.<br />

„Ohne dich würde ich nicht gehen.“<br />

Mein Vater nahm uns die leeren Tassen ab und trug das Tablett in die Küche. Ich<br />

stand vorsichtig auf und Jim legte einen Arm um <strong>mich</strong>.<br />

„Komm, mein Schatz, ich werd dich abseifen.“, erklärte er grinsend.<br />

Er führte <strong>mich</strong> in ein Badezimmer das sehr ähnlich dem war, welches es in meinem<br />

Haus gegeben hatte. Hier streifte ich mir das T-Shirt über den Kopf und löste vorsichtig den<br />

Verband über der Wunde. Ich war erstaunt, wie gut diese verheilt war.<br />

staunt.<br />

„Da ist ja kaum noch was zu sehen!“, stieß auch Jim verwirrt hervor.<br />

„Offensichtlich profitierst nicht nur du von den Heilkräften der Insel.“, meinte ich er-<br />

Sekunden später standen wir unter dem warmen Wasserstrahl. Jim machte sein Ver-<br />

sprechen war und seifte <strong>mich</strong> gründlich ein. Dann wusch er mir die Haare. Zwanzig Minuten<br />

später stand ich vor dem Schrank im Schlafzimmer und starrte verblüfft auf einige saubere,<br />

wenn auch altmodische Kleidungsstücke. Mehrere Jeans lagen dort, T-Shirts, Blusen, einige<br />

kurze Röcke hingen auf Kleiderbügeln, sogar zwei oder drei Kleider gab es. Alles im Stil der<br />

siebziger Jahre. Erst jetzt fiel mir auch auf, dass Jim ebenfalls Kleidungsstücke aus der<br />

Flower Power Zeit trug. Ich zuckte die Schultern, griff mir ein leichtes Kleid mit vielen<br />

Rüschen in lila Blumenmuster und schlüpfte in BH und Slip. Nun zog ich das Kleid an. Jim<br />

grinste breit, als er <strong>mich</strong> sah.<br />

„Ist n Tick zu weit, aber es geht.“<br />

Er zog <strong>mich</strong> an sich und seine Lippen küssten meine Stirn, meine Augen, meine<br />

Wangen, meine Lippen. Minutenlang. So lange, dass mir die Luft weg blieb.<br />

Wir gingen zusammen auf die Terrasse hinaus. Und nun sah ich auch, dass wir im<br />

Haus von Horace und Amy waren. Mein Vater saß auf einem bequemen Stuhl und hatte uns<br />

auch Stühle bereit gestellt. Wir setzten uns zu ihm und wurden von einigen vorbeikommenden<br />

Leuten begrüßt. Plötzlich sahen wir Kate und Jack vorbei gehen. Sie waren in Begleitung von<br />

Sun und Jin und begrüßten uns freundlich.<br />

„Jack, vielen Dank, dass du <strong>mich</strong> verarztet hast. Jetzt sind wir Quitt.“<br />

Jack nickte.<br />

„War mir ein Vergnügen. Schön, dass du wieder auf den Beinen bist.“<br />

<strong>Der</strong> Arzt sah Jim an.<br />

„Heute Nachmittag ist Versammlung im Schulgebäude. Um 15 Uhr, okay.“<br />

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Frauke Feind<br />

Jim nickte. Mir jedoch lief eine Gänsehaut über den Rücken. Das letzte Mal, als wir<br />

dort zu einer Versammlung gerufen worden waren, hatte man Jim, Sayid und Kate zum Tode<br />

verurteilt. Jim schien meine Gedanken zu ahnen. Er warf mir einen beruhigenden Blick zu<br />

und sagte:<br />

„Hey, Kleines, heut wird uns keiner zum Tode verurteilen, okay?“<br />

Ich tastete nach seiner Hand du drückte diese fest.<br />

„Ich weiß. Es sind nur nicht die schönsten Erinnerungen, die ich an diesen Ort habe.“<br />

Jim nickte.<br />

„Die haben wir alle nicht, jedenfalls nicht vom Ende.“<br />

Wir saßen bis kurz vor 15 Uhr zusammen auf der Terrasse, unterhielten uns. Mein<br />

Vater und ich hatten uns natürlich unglaublich vieles zu erzählen. Ich erfuhr, warum meine<br />

Mutter mit mir von der Insel verschwunden war. Dass mein Vater verzweifelt versucht hatte,<br />

sie und <strong>mich</strong> aufzutreiben. Dass er in ständigem Kontakt mit meinem Großvater gestanden<br />

hatte. All das war neu für <strong>mich</strong>. Im Gegenzug berichtete ich ihm von meinem Leben, als<br />

meine Mutter noch gelebt hatte, später von meiner Stiefmutter, von meinem begonnenen<br />

Studium, vom Tod meiner Stiefmutter und meinem Umzug nach Wright. Und in diesem Zu-<br />

sammenhang fiel mir ein, dass wir noch immer nicht wussten, wer damals die Typen auf Jim<br />

gehetzt hatte. Ich fragte meinen Vater und er meinte: „Ich würde denken, es war Ben. Aber<br />

sicher bin ich mir da nicht. Charles ist nicht weniger durch geknallt, nur anders. Sein wir froh,<br />

dass es nicht geklappt hat.“<br />

Schließlich mussten wir uns auf den Weg zum Schulgebäude machen. Jim legte<br />

fürsorglich den Arm um <strong>mich</strong> und führte <strong>mich</strong> so zum Haus Nummer 8 hinüber. Die meisten<br />

Plätze in der kleinen Aula waren schon belegt, aber wir hatten trotzdem keine Schwierig-<br />

keiten, noch drei freie Stühle zu finden. Ich sah <strong>mich</strong> um. Kate und Jack waren da, Jin und<br />

Sun, Miles, Hurley, Daniel, Sayid, Ilana und ihre Männer, und viele unbekannte Gesichter,<br />

die wohl zu Richard gehören mussten. Insgesamt vielleicht dreißig Menschen. Wir wurden<br />

immer wieder freundlich begrüßt und schließlich ging die Tür zu der kleinen Empore der<br />

Aula auf und Richard und Jacob traten heraus. Jim stutzte, dann sagte er erstaunt:<br />

„Das ist Jacob? Ich kenn den Mann!“<br />

Erstaunt fragte ich:<br />

„Woher denn das?“<br />

Jim atmete tief durch.<br />

„Von der Beerdigung meiner Eltern ... Er war da. Er gab mir den Kugelschreiber, mit<br />

dem ich den Brief an Sawyer fertig schrieb.“<br />

wie Jim.<br />

Ich hörte hinter uns Kate und Jack und auch Jin und Sun erstaunt das Gleiche sagen<br />

„Ich kenne den Typen.“<br />

- 442 -


Und auch Hurley stieß erstaunt hervor:<br />

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Frauke Feind<br />

„Alter, wir haben uns in der Taxe vorm Knast gesehen.“<br />

Richard war es, der anfing zu Reden.<br />

39) Abschied<br />

„Jack, ich möchte <strong>mich</strong> bei dir bedanken, dass du mir das Leben gerettet hast. Was<br />

passiert ist, ist nicht mehr rückgängig zu machen. Wir alle haben schlimme Zeiten durch ge-<br />

macht. Viele von euch haben alles riskiert, um alles zum Guten zu wenden. Ich möchte euch<br />

allen jetzt Jacob vorstellen. Die wenigsten von euch kennen ihn.“<br />

Jacob, der noch ein wenig zittrig wirkte, stand auf und sah uns alle an.<br />

„Viele von euch kennen <strong>mich</strong> nur von seltsamen Anweisungen, die Benjamin an euch<br />

weiter gegeben hat. Keiner von euch hat <strong>mich</strong> je persönlich kennen gelernt. Aber es gibt <strong>mich</strong><br />

wirklich. Wir müssen heute hier vieles klären. Ihr habt alle eine Menge Fragen an <strong>mich</strong>,<br />

nehme ich an. Doch erst einmal möchte ich <strong>mich</strong> bei meiner Lebensretterin bedanken.“<br />

Er sah <strong>mich</strong> direkt an und fuhr fort:<br />

„Kelly, du hast durch dein selbstloses Eingreifen verhindert, dass Benjamin sein Vor-<br />

haben erfolgreich beenden konnte. Ich stehe tief in deiner Schuld. Wenn du einen Wunsch<br />

hast, lasse es <strong>mich</strong> bitte wissen. Und nun beantworte ich euch gerne eure Fragen.“<br />

fragte kalt:<br />

Jim war es, der als erstes den Mund aufmachte. Er sah Jacob herausfordernd an und<br />

„Warum hast du uns das alles angetan? Warum hast du uns in diese beschissene Zeit-<br />

schleife gesteckt? Warum, verdammt noch mal?“<br />

Jacob hörte sich die leidenschaftlichen Worte an und seufzte.<br />

„Was ihr alle durchmachen musstet ist fast mehr als mancher ertragen kann. Ihr habt<br />

die Hölle erlebt und habt allen Grund, <strong>mich</strong> zu hassen und verfluchen. Ich werde meine ge-<br />

rechte Strafe erhalten, sobald ich hier alles geklärt habe. Apophis und ich selbst stehen schon<br />

seit Urzeiten in ständigem Streit mit einander. Schließlich wurden wir auf diese Insel verbannt<br />

und bekamen Maat als Mittler zugeteilt. Er übernahm diese Aufgabe freiwillig. Viele Zeitalter<br />

war die Insel geschützt, niemand konnte sie finden. Apophis und ich langweilten uns zu Tode.<br />

Dann aber gelang es mir endlich, den Schutz der Insel solange zu durchbrechen, dass ein<br />

Schiff den Weg hierher finden konnte. Viele von euch wissen, welches Schiff ich meine.“<br />

Jim meinte laut: „<br />

Die Black Rock, nehm ich an.“<br />

Jacob nickte.<br />

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Frauke Feind<br />

„Ja, und mit ihr kamen Menschen auf die Insel. Sie liefen hier auf Grund und bildeten<br />

schnell zwei Gruppen. Dank Apophis, dem es gelang, einige von ihnen auf seine Seite zu<br />

ziehen, fingen sie an, sich zu bekämpfen. Wir hatten gewettet, dass sie nicht lange friedlich<br />

miteinander leben würden. Apophis setzte auf Kampf, ich auf friedliches Nebeneinander.<br />

Apophis gewann. Und so kam unser Wettstreit erst richtig in Schwung. Schon lange vor<br />

diesem Zeitpunkt beschloss Apophis, <strong>mich</strong> zu Töten. Da wir uns nicht gegenseitig umbringen<br />

konnten, schmiedete er einen sehr aufwendigen Plan, der erst nach vielen Anläufen gelang.<br />

Immer wieder machtet ihr seine Pläne zunichte, in dem ihr die Bombe zündetet. Was ich auch<br />

versuchte, letztlich entschiedet ihr euch immer für den gleichen Weg.“<br />

Einen Moment musterte er uns alle still. Dann fuhr er fort:<br />

„Lars Hanso bemerkte schließlich, was vor ging. Er spürte, dass hier etwas nicht<br />

normal lief. Es gelang ihm, die Insel zu verlassen, sorgte dafür, dass seine Schwiegertochter<br />

und seine Enkelin mit ihm gingen und wir konnten ihn lange Jahre nicht finden. Er hatte seine<br />

Spur gut verwischt. Da er wusste, dass hier eine Zeitschleife lief, traf er Vorkehrungen, um<br />

dabei zu helfen, diese zu durchbrechen. Er wusste, dass seine Enkelin die Kraft in sich trug,<br />

alles zu verändern. Er sorgte dafür, dass sein Name ins Spiel kam, wie, ist auch mir nicht klar.<br />

Aber auch euch gelang es viele Jahre nicht, ihn aufzufinden. Erst James schaffte es schließ-<br />

lich, die einzige lebende Person zu finden, die in der Lage war, eure Handlungsweise soweit<br />

zu verändern, dass es auf ein anderes Ende hinaus lief: Kelly, Lars Enkelin. In dem Moment,<br />

als sie auf der Insel ankam, wusste ich, dass ihr wirklich gerettet seid. Aber auch Apophis war<br />

dies klar. Er warf seine letzten Trümpfe ins Spiel und bemächtigte sich endlich des toten<br />

Körpers eures Freundes John Locke. Und das Ende kennt ihr nun. Die Zeitschleife wurde end-<br />

lich durchbrochen. Apophis konnte vernichtet werden, ich werde an einen Ort verbannt, den<br />

kein lebender Mensch mehr erreichen kann und werde in Vergessenheit geraten. Maat, den ihr<br />

als Richard kennt, hat sich entschieden, hier auf der Insel zu bleiben. Er wird nun ganz normal<br />

altern und irgendwann sterben. Und ihr könnt wählen, was ihr gerne möchtet: Hier bleiben<br />

oder in euer Leben außerhalb der Insel zurück kehren.“<br />

Fassungslos hatten wir Jacobs Worten gelauscht. Apophis ... Maat ... Ich kannte diese<br />

Namen, hatte über sie gehört, als meine Freundin in DC studiert hatte. Ägyptische Götter. Ein<br />

leicht hysterisches Kichern stieg mir in die Kehle. Mühsam kämpfte ich es nieder. Stattdessen<br />

fragte ich:<br />

„Was war der Rauch? Warum konnte ich ihn aufhalten?“<br />

Jacob sah <strong>mich</strong> an.<br />

„Er ist quasi die Sichtbarmachung unserer Macht. Und es lag in deiner Macht, ihn auf-<br />

zuhalten, weil du in dem Moment Aton als Gefäß dientest. Du weißt, wer Aton ist. Du hast<br />

unsere Macht ein für alle Mal vernichtet. In diese Zeit passt sie nicht mehr. Sie war uns dien-<br />

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Frauke Feind<br />

lich, doch nun ist es vorbei. Mit dem Rauch verschwinde auch ich für immer von der Erde.<br />

Eines jedoch kann ich noch für dich tun, was immer es auch sein mag.“<br />

Ich wusste, was ich von ihm wollte.<br />

„Die Heilkräfte der Insel, sind sie an euch gebunden?“<br />

Jacob schüttelte den Kopf.<br />

„Nicht ausschließlich. Sie werden fort bestehen, auch wenn Apophis und ich schon<br />

lange in Vergessenheit geraten sind. Aber sie dürfen nicht in die falschen Hände geraten.<br />

Sollte je an die Öffentlichkeit dringen, was diese Insel für Kräfte birgt, werden sie aufhören<br />

zu existieren und die Insel wird jeglicher Macht beraubt werden.“<br />

Ich nickte verstehend.<br />

„Und wirken die Kräfte über die Insel hinaus fort?“<br />

Jim wusste plötzlich, worauf ich hinaus wollte. Er versuchte, etwas zu sagen, wurde<br />

aber von Jacob unterbrochen.<br />

„Nein, Kelly, das tun sie nicht. Sie wirken hier. Und nur hier.“<br />

„Dann lautet mein Wunsch an dich, die Insel für eine gewisse Zeit verlassen zu dürfen,<br />

mein Studium zu beenden und als vollwertige Ärztin zurück zu kehren.“, erklärte ich fest.<br />

Jacob lächelte.<br />

„Ihr alle werdet immer auf die Insel zurück kehren können, wenn ihr es wünscht.<br />

Richard wird das weiterhin ermöglichen. Wer von euch möchte hier bleiben?“<br />

Alle aus Richards Gruppe hoben sofort die Hand, ebenso Miles und Daniel. Sie waren<br />

beide hier geboren worden, es war kein Wunder, dass sie den Wunsch hatten, zu bleiben. Dass<br />

ich bleiben wollte, hatte ich ja bereits gesagt. Kate, Jack, Jin, Hurley, Sayid, Sun und Frank<br />

schüttelten die Köpfe.<br />

„Niemals, Alter.“, brachte Hurley auf den Punkt, was in ihnen vor ging.<br />

Jacob nickte.<br />

„Ich kann verstehen, dass ihr nur den einen Wunsch habt, hier fort zu kommen. Kelly,<br />

warum ist es dein Wunsch, auf der Insel zu bleiben?“<br />

„Das ist es nicht. Sie macht das nur für <strong>mich</strong>. Vergiss es, Kelly, du wirst hier nicht den<br />

Rest deines Lebens versauern! Wir hauen auch ab.“<br />

Kopf.<br />

Jim hatte sich nicht mehr zurück halten können. Ich sah ihn an und schüttelte den<br />

„Nein, das werden wir nicht. Dein Tumor ...“<br />

„Vergiss das Scheißding, Kelly, ich werd nicht die Schuld daran haben, dass du ...“<br />

Jetzt war es an mir, Jim zu unterbrechen.<br />

„Baby, du hast gehört, was Jacob gesagt hat. <strong>Der</strong> Tumor wird zurück kehren, wenn du<br />

die Insel verlässt.“<br />

ein.<br />

Bevor unsere hitzige Debatte zu einem Streit auswachsen konnte, mischte Jacob sich<br />

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Frauke Feind<br />

„Kelly, du hast mein Leben gerettet, wenn es dein Wunsch ist, kann ich es dir ver-<br />

gelten, in dem ich Jims Leben rette. Wenn es nur deine Sorge um ihn ist, die dich hier auf der<br />

Insel hält, kann ich dir diese Sorge nehmen. Das war es, was ich meinte, als ich dich auf-<br />

forderte, einen Wunsch zu äußern.“<br />

Ich starrte Jacob verblüfft an.<br />

„Ich dachte, deine Macht sei gebrochen ...“, stotterte ich verwirrt.<br />

„Das ist sie. Aber dieses Eine kann ich noch für dich tun. Du und James, ihr könnte die<br />

Insel gefahrlos verlassen, sein Tumor wird nie zurück kehren.“<br />

Ich sah Jim an und im nächsten Moment lagen wir uns in den Armen. Unter Freuden-<br />

tränen stotterte ich:<br />

„Wo ist die nächste Maschine nach LA?“<br />

************<br />

„Es wird Zeit, Freunde, seid ihr bereit?“<br />

Frank stand vor uns und sah uns der Reihe nach an. Alle nickten.<br />

„Dann nichts wie weg hier und auf Nimmerwiedersehen.“, sagte der Pilot in brünstig.<br />

Er verschwand in der Kanzel und schloss die Tür hinter sich. Ich klammerte <strong>mich</strong> an<br />

Jim und hielt unwillkürlich die Luft an, als die Motoren aufheulten und die Maschine sich in<br />

Bewegung setzte. Wir hatten nur eine ziemlich kurze Startbahn, doch es reichte. Wir alle<br />

hatten in den vergangenen Tagen Wunder vollbracht. Die Maschine, mit der Frank und die<br />

Anderen auf Hydra gelandet waren, war nicht schwer beschädigt. Gemeinsam war es ge-<br />

lungen, die wenigen defekten Teile zu Reparieren. Und der Rest von uns hatte Schwerstarbeit<br />

an einer kleinen Startbahn geleistet. Neben den überlebenden Passagieren, die auf Hydra ge-<br />

blieben waren, hatten auch Richards Leute geholfen und gemeinsam war es uns gelungen,<br />

eine Startbahn quasi aus dem Boden zu stampfen. Und nun saßen wir in der Maschine und<br />

hofften, dass der Fluch der Insel uns endlich los lassen würde.<br />

Ich konnte den Ruck spüren, als die Reifen den Bodenkontakt<br />

verloren und dann waren wir in der Luft. Es war kaum zu<br />

glauben. Schnell lag Hydra Island hinter uns und wir konnten<br />

im Steigen einen letzten Blick auf Dharmaville werfen, wo von<br />

nun an Richard und seine Leute wohnen würden. Glücklich sahen wir aus dem Fenster. Wir<br />

schwebten wirklich davon, unter uns wurde die Insel schnell kleiner. Ken, der rechts neben<br />

mir saß, grinste.<br />

„Hey, Fliegen ist ... wow!“<br />

Ich lachte befreit auf.<br />

„Ja, wenn die Dinger in der Luft bleiben. Bist du immer noch sicher, das Richtige ge-<br />

tan zu haben, Dad?“<br />

- 446 -


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Frauke Feind<br />

Mein Vater griff nach meiner Hand und drückte diese sanft.<br />

„Kleines, ich war mir in meinem ganzen Leben nur einer Sache genauso sicher, und<br />

das war die, deine Mutter zu heiraten. Ich habe achtundzwanzig Jahre deines Lebens verpasst,<br />

und werde, das schwöre ich bei Aton ...“ Er grinste vergnügt. „... keinen einzigen weiteren<br />

Tag verpassen.“<br />

Aton. Wir alle hatten in den vergangenen Tagen so viel über die Geschehnisse ge-<br />

sprochen, doch wirklich begreifen konnten wir sie wohl alle nicht. Besonders Jack hatte er-<br />

hebliche Schwierigkeiten gehabt, sich mit der Tatsache abzufinden, dass wir es ganz offen-<br />

sichtlich mit wahrhaftigen Göttern zu tun gehabt hatten. Nachdem Jacob mir versichert hatte,<br />

dass Jim nicht mit einer Rückkehr des Tumors rechnen brauchte, hatte er sich noch einmal bei<br />

uns allen entschuldigt. Und dann ... Es war schwer zu fassen gewesen, aber wir hatten es alle<br />

mit eigenen Augen gesehen, war er von einer Sekunde zur anderen einfach verschwunden<br />

gewesen. Weg. Als hätte es ihn nie gegeben. Fassungsloses Schweigen hatte geherrscht, doch<br />

nicht für lange. Plötzlich hatten wir alle wild durcheinander geredet und unzählige Fragen<br />

waren auf Richard nieder geprasselt. Doch auch er konnte lange nicht alle beantworten.<br />

Vieles, was von der Insel selbst ausging, entzog sich auch seiner Kenntnis. Jedoch konnte er<br />

uns erklären, dass das seltsame Erscheinen verstorbener Personen von Apophis gesteuert ge-<br />

wesen war. In diesem Zusammenhang erfuhren wir nun auch, dass Juliet ebenfalls nicht mehr<br />

lebte. Das war ein Schock für Jim und <strong>mich</strong> gewesen. Sie war an Land gegangen und hatte<br />

sich auf Tahiti, in Papeete, an die Botschaft der Vereinigten Staaten gewendet, um Papiere für<br />

die Rückreise in die USA zu bekommen. Dort war sie von einem betrunkenen Autofahrer<br />

erfasst worden, der bei dem Unfall selbst auch ums Leben kam. Das war also der Grund ge-<br />

wesen, warum sie uns 1971 hatte erscheinen können. Jim war sehr betroffen gewesen, doch<br />

Richard hatte ruhig erklärt:<br />

„Anscheinend war es nicht vom Schicksal vorgesehen, dass sie weiter leben sollte.<br />

Gegen unser Schicksal können wir nichts machen.“<br />

An diese Worte dachte ich komischerweise, als die Insel unter uns im Meer ver-<br />

schwand und wir auf LA zu flogen. Unser Schicksal war es offensichtlich nicht gewesen, dort<br />

zu bleiben. Ich wäre geblieben, wenn ich damit Jims Leben gerettet hätte. Doch ich musste<br />

zugeben, dass es mir so erheblich lieber war. Wir würden in die Zivilisation zurück kehren.<br />

Wir hatten uns eine plausible Geschichte ausgedacht, wohin die Maschine solange ver-<br />

schwunden gewesen war und hofften, dass man sie uns abkaufen würde. Dass provisorische<br />

Reparaturen an ihr ausgeführt worden waren war nicht zu übersehen. Ich sah Jim an und sagte<br />

leise:<br />

„Ich kann es kaum erwarten, nachhause zu kommen. Und du wirst endlich sesshaft<br />

werden. Wirst du das überhaupt aushalten?“<br />

Er lachte.<br />

- 447 -


By<br />

Frauke Feind<br />

„Und wie. Aber werden Ken und ich in Wright und Umgebung überhaupt ne Chance<br />

haben, Arbeit zu finden?“<br />

„Naja, in Wright sicher nicht, aber in Beckley oder Posperity wird sich schon etwas<br />

finden lassen.“<br />

Jim sah zu meinem Vater hinüber.<br />

„Was denkst du, wir werden nen Job finden, oder? Und sonst lassen wir uns eben von<br />

Kelly aushalten. Wenn sie erst Ärztin ist, wird sie genug verdienen, um uns beide zu er-<br />

nähren.“ Er sah <strong>mich</strong> verliebt an und sagte er leise: „Doktor Kelly Ford, hört sich doch gut an,<br />

oder?“<br />

gerne ...“<br />

Ich sah Devon an.<br />

************<br />

Prolog<br />

„Macht ihr sie zu? Jim hat heute seine letzte Prüfung, davon hängt alles ab. Ich wäre<br />

Devon lachte.<br />

„Du wärest gerne dabei, ist mir klar. Jimmy wird das schon machen, da bin ich sicher.<br />

Er hat ja alle anderen Prüfungen auch mit Bravour bestanden. Warum sollte er gerade bei der<br />

Letzten patzen?“<br />

Ich spürte, dass ich rot wurde.<br />

„Ich weiß ja, aber ... Wenn er es schafft, wird er ab Morgen den Rettungshubschrauber<br />

fliegen, Definitiv. Ich bin derart nervös, du glaubst es nicht. Ich habe ihn glaube ich in den<br />

letzten Tagen wahnsinnig gemacht.“<br />

Die Kollegin schüttelte lachend den Kopf.<br />

„Na, hau schon ab, wir kommen hier jetzt auch ohne dich klar. Grüß Jimmy schön. Ich<br />

drücke die Daumen!“<br />

Dankbar legte ich die Nadel, die ich schon in der Hand hielt, auf das OP-Tablett und<br />

eilte aus dem Raum. Die Patientin, der wir eine künstliche Hüfte eingesetzt hatten, war bei<br />

Devon und dem Team in besten Händen, das wusste ich. Ich eilte in den Umkleideraum, stieg<br />

aus den blutverschmierten Kleidungsstücken und warf diese in den Wäschekorb. Dann hetzte<br />

ich in mein Büro hinüber. Bevor ich nämlich für heute Schluss machen konnte, musste ich<br />

noch zwei Termine für OPs am kommenden Tag bestätigen. Ich sank etwas müde hinter<br />

meinen Schreibtisch und schaltete meinen Monitor ein. Schnell überblickte ich meinen<br />

Terminkalender und teilte dann die beiden Operationen für 11 und 14.30 Uhr ein. Dann wollte<br />

ich <strong>mich</strong> verdrücken. Doch das Telefon machte mir einen Strich durch die Rechnung.<br />

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„Ja?“<br />

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Frauke Feind<br />

Am anderen Ende erkannte ich sofort die Stimme Doktor Emerson Keenans. Er war<br />

der Leiter des Raleigh General hier in Beckley.<br />

klappt?“<br />

„Dr. Ford, gut, dass ich Sie noch erwische. Wie geht es Mrs. Madson? Hat alles ge-<br />

Ich verdrehte genervt die Augen. Hastig erwiderte ich:<br />

„Dr. Keenan, welch <strong>Über</strong>raschung. Ja, mit Mrs. Madson hat alles geklappt, sie wird in<br />

Kürze wieder Tanzen können.“<br />

Mein Chef atmete auf, das war selbst am Telefon zu hören.<br />

„Das ist sehr erfreulich. Nun, so ist es mir ein ganz besonderes Vergnügen, Ihnen auch<br />

eine Freude machen zu können. Dr. Ford, wir haben einen neuen Piloten für den Medicopter.<br />

Ihr Mann hat gerade seinen Vertrag unterschrieben.“<br />

herrschen.<br />

Fast hätte ich laut los gejubelt. Im letzten Moment erst gelang es mir, <strong>mich</strong> zu be-<br />

„Oh, das ist großartig!“, brachte ich mühsam hervor. „Er wartet am Hangar auf Sie,<br />

Dr. Ford. Sie werden sicher schnell zu ihm wollen.“<br />

Plan.“<br />

- Allerdings, aber du Trottel hältst <strong>mich</strong> ja hier am Telefon auf. -<br />

schoss mir durch den Kopf. Höflich sagte ich jedoch:<br />

„Ich würde gerne Feierabend machen, Sir. Morgen habe ich fünf Operationen auf dem<br />

Ich hörte den Klinikleiter lachen.<br />

„Warum sitzen Sie dann noch an ihrem Schreibtisch?“<br />

Hätte ich gekonnt, ich hätte den Mann durch die Telefonleitung erwürgt.<br />

„Ich bin schon weg, Sir.“, erklärte ich und legte einfach auf.<br />

Endlich sprintete ich aus meinem Büro und legte den Weg bis zum Hangar fast im<br />

Laufschritt zurück.<br />

Vor der Halle, in dem der Medicopter unter gebracht war, sah ich Jim mit einem der<br />

Mechaniker stehen und sich mit diesem unterhalten. Er sah <strong>mich</strong> kommen und strahlte.<br />

„Da bist du ja endlich.“<br />

Lachend fing er <strong>mich</strong> auf und wirbelte <strong>mich</strong> im Kreis herum.<br />

„Du hast es geschafft.“, rief ich begeistert.<br />

Jim nickte.<br />

„Dank Frank. Wenn er <strong>mich</strong> nicht so durch die Theorie getreten hätte, wäre ich wohl<br />

nicht klar gekommen.“<br />

holfen hatte.<br />

Ich dachte voller Dankbarkeit an Frank Lapidus, der Jim wirklich nach Kräften ge-<br />

„Komm, lass uns nachhause fahren, Ken wartet schon auf uns.“<br />

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Frauke Feind<br />

Wir verabschiedeten uns bei dem Mechaniker und schlenderten Arm in Arm zu Jims<br />

Wagen, der auf dem kleinen Parkplatz des Hangars stand. Als wir im Wagen saßen meinte<br />

Jim:<br />

„Jetzt haben wir es wirklich geschafft, Babe. Du bist die beste Chirurgin, die das<br />

Raleigh General bekommen konnte und nun haben sie auch den besten Piloten für ihren<br />

Medicopter.“<br />

Ich grinste.<br />

„Ja, deine Bescheidenheit hat sich schon immer wirklich in Grenzen gehalten.“<br />

Jim lachte fröhlich.<br />

„Was denn, bin ich nicht der Beste?“<br />

Er musste sich ein wenig auf den Verkehr konzentrieren, denn auf der 41 war um diese<br />

Zeit eine Menge Feierabendverkehr. Doch schnell blieb dieser hinter uns zurück, als wir<br />

Beckley verlassen hatten.<br />

Knappe zwanzig Minuten später fuhr Jim bereits auf die Auffahrt zu unserem Haus. Er<br />

hupte und Sekunden später wurde schon die Haustür aufgerissen und Timmy, gefolgt von<br />

meinem Dad kamen auf uns zu. Timmy rannte, so schnell ihn seine Beine trugen und ließ sich<br />

kichernd von Jim auffangen.<br />

„Daddy. Du bist jetzt ein Pilot!“, krähte er vergnügt.<br />

Mein Vater hatte uns auch erreicht und gratulierte Jim herzlich.<br />

„Mein Junge, das hast du großartig gemacht. So ist mein Job als Nanny ja auf lange<br />

Sicht gerettet.“<br />

Ich lachte.<br />

„Ja, Dad, das ist er. Allerdings wirst du in absehbarer Zeit doppelt so viel Arbeit<br />

haben.“, erklärte ich glücklich.<br />

blendet hätte.<br />

Jim setzte Timmy ab und drehte sich zu mir herum.<br />

„Wie jetzt?“, fragte er ziemlich blöde.<br />

„Tim wird in einigen Monaten ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommen.“<br />

Jims Augen strahlten von einer Sekunde zur anderen so stark, dass es <strong>mich</strong> fast ge-<br />

„Ist nicht dein Ernst. Seit wann weißt du das?“, fragte er unendlich glücklich.<br />

„Seit heute.“, lachte ich.<br />

Jim zog <strong>mich</strong> an sich und küsste <strong>mich</strong> ungeniert. Tim verzog das Gesicht.<br />

„Mum, wann kommt es denn an, das neue Baby?“, wollte er wissen und zog un-<br />

geduldig an meinem Arm.<br />

Ich löste <strong>mich</strong> aus Jims Armen und nahm stattdessen meinen Sohn auf die Arme.<br />

Ernsthaft erklärte ich:<br />

„Das neue Baby, mein Schatz, kommt kurz vor Weihnachten.“<br />

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By<br />

Frauke Feind<br />

„Das ist praktisch, dann kriegt es gleich Geschenke.“, überlegte Timmy, während wir<br />

ins Haus gingen.<br />

Jim hatte einen Arm um <strong>mich</strong> gelegt und als ich Tim im Wohnzimmer abgesetzt hatte,<br />

zog er <strong>mich</strong> noch einmal an sich.<br />

„Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?“ Ich nickte.<br />

„So sehr, wie ich dich, Honey!“<br />

************<br />

ENDE<br />

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