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N° 21 - Familie P rigge

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schroff, mal sehr melodiös durch den Mann auf der linken Bühnenseite: Jan Drees.<br />

Natürlich werden auch der noch am Donnerstag von HEINZ bei „Beckmann“ verteidigte<br />

Bundespräsident Christian Wulff, seine gegenwärtigen Probleme und die Gegenspieler,<br />

ohne namentlich genannt zu werden, in drei Texten verarbeitet und seziert.<br />

Um 20:55 Uhr läutet HEINZ die Pausenglocke und das Publikum hat Gelegenheit, sich mit<br />

Getränken zu versorgen und über den einen oder anderen „schwerer verdaulichen“ Text<br />

nochmals zu resümieren. <strong>21</strong>:15 Uhr ist es Aufgabe von Jan Drees, die Lesungsgäste für<br />

den zweiten Teil mit sphärischen Klängen einzustimmen. HEINZ versäumt es nicht, Jan<br />

Drees und seine Beiträge entsprechend zu würdigen und das Publikum aufzuklären, dass<br />

alles absolut live passiert und nicht, wie der eine oder andere bei verschiedenen<br />

vorherigen Auftritten schon mal vermutet hat, vom Band kommt. HEINZ, auch bei<br />

diesem Lesungsauftritt bekanntermaßen bissig, zynisch und immer ganz nahe an dem,<br />

was man wohl mit dem Begriff „Das Leben an sich“ umschreiben könnte. Da berichtet<br />

der Querdenker freimütig über das Thema Sex und die eigenen Eltern. Dabei nimmt er<br />

kein Blatt vor den Mund und beschreibt schon sehr plastisch, was ihn und seinen Vater<br />

verbunden hat, nachdem der Filius im Keller des Hauses die Porno-Sammlung des Herrn<br />

Papa gefunden hat. HEINZ spricht Klartext und geht dabei auch schon einmal an die<br />

Grenzen der Erträglichkeit. Da ist seine Abrechnung mit dem Gegenwartstheater, die<br />

barsch ausfällt: Nach seiner Einschätzung ist das Niveau auf jedem Golfplatz höher als<br />

auf den Theaterbühnen. Auf Golfplätzen gäbe es immerhin eine Platzreife als<br />

Voraussetzung zum Betreten eines solchen Platzes. Im Theater sei nicht einmal eine<br />

Sitzplatzreife von Nöten. Dann stellt er Fragen, die sich so noch niemand gestellt hat.<br />

Warum zum Beispiel heißt ein Zahnarzt Dr. Quälschrei?<br />

Spannend und auch irgendwie in der Schlussfolgerung beunruhigend ist Kunzes<br />

Schicksalsbetrachtung der US-Präsidenten Lincoln und Kennedy. Lincoln hatte einen<br />

Berater, der Kennedy hieß und ihn warnte, ins Theater zu gehen. Kennedy hatte einen<br />

Berater namens Lincoln und der riet von der Reise nach Dallas ab. Der eine Mörder<br />

mordete im Theater und floh in ein Lagerhaus, der andere schoss aus einem Lagerhaus<br />

und floh in ein Theater. Beide Präsidenten hatten einen Nachfolger, der Johnson hieß.<br />

HEINZ’ Schlussfolgerung: Er möchte der Mörder sein. Die meisten Texte des Abends<br />

stammen aus dem aktuellen Nichtroman „Vor Gebrauch schütteln“ und vieles davon<br />

schüttelte die Zuhörer wirklich wach. Ist es nun böse, was Kunze da gerade sagt? Nein,<br />

es sind die Erkenntnisse eines Künstlers, der im Flüchtlingslager Espelkamp das Licht der<br />

Welt erblickte und sein Weltbild in der bleiernen Zeit der Terroristenjagd entwickelte.<br />

HEINZ bleibt in seiner Lesung dem Image treu, ein Querdenker zu sein, der einen<br />

schmunzeln lässt und im gleichen Satz dafür sorgt, dass einem dieses Schmunzeln<br />

gefriert. Er brilliert mit seinem wachen und gleichsam unruhigen Geist. Er beruhigt mit<br />

Bekenntnissen von Nöten, die wir alle selbst gut kennen und er beunruhigt mit düsteren<br />

Prognosen und fatalen Erkenntnissen, die ihre Unbequemlichkeit auch dann nicht<br />

verlieren, wenn der Mann zur Gitarre greift.<br />

Es ist 22:05 Uhr, der Lesungsteil ist abgeschlossen und unter viel Beifall verbeugen sich<br />

HEINZ und Jan Drees vor dem konzentrierten, jedoch für mein Empfinden zu wenig<br />

Emotionen zeigenden Publikum. Eine persönliche Anmerkung: Gerade im Winter ist das<br />

ohnehin unterkühlte, oftmals ein bisschen eingefrorene westfälische Temperament durch<br />

eine Lesung mit fast keinem „Schenkelklopferhumor“ und viel „Nachdenklichkeit“ nicht<br />

auf hohe Betriebstemperatur zu bringen.<br />

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