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Sprachkontakt: Pidgin und Kreole - Universität Konstanz

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<strong>Universität</strong> <strong>Konstanz</strong>, FB Sprachwissenschaft<br />

Vorlesung: Einführung in die Linguistik, WS 2006/07<br />

Björn Wiemer<br />

<strong>Sprachkontakt</strong>e<br />

Skript 1<br />

1. <strong>Sprachkontakt</strong>-Forschung <strong>und</strong> ihre Bezüge zu anderen Teildisziplinen<br />

Man kann sagen, dass <strong>Sprachkontakt</strong>-Forschung sich allgemein mit den Auswirkungen des<br />

Kontakts zwischen Sprechern verschiedener Sprachen (Dialekte etc., allgemein: von Lekten)<br />

auf die phonologische, grammatische (morphosyntaktische) <strong>und</strong>/oder lexikalische Struktur der<br />

betreffenden Sprachen (Lekte) beschäftigt. Sie untersucht damit eigentlich einen wesentlichen<br />

Teil von Sprachwandel, seine Ursachen <strong>und</strong> Ausprägungen. Obwohl die Erfassung <strong>und</strong><br />

Beschreibung von <strong>Sprachkontakt</strong>en (sowohl in struktureller wie in soziolinguistischer<br />

Hinsicht) synchron erfolgen kann, müssen somit diachrone Aspekte stets berücksichtigt<br />

werden.<br />

Der Ausdruck ‛<strong>Sprachkontakt</strong>’ ist eigentlich eine verkürzende Abstraktion. Denn immer<br />

handelt es sich um den Kontakt zwischen S p r e c h e r n verschiedener Lekte. Bezogen auf<br />

die Sprecher spricht man in der Regel von den kontaktierenden Sprachen als einer Erstsprache<br />

(L1) <strong>und</strong> einer Zweitsprache (L2); die Struktur der L2 wird durch Interferenzen mit der L1<br />

verändert:<br />

(1a) L1 × L2 → L2' .<br />

Aber auch L1 kann sich durch den Einfluß von L2 verändern:<br />

(1b) L1 × L2 → L1' .<br />

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass sich aus L1 <strong>und</strong> L2 besondere Mischformen<br />

ergeben:<br />

(1c) L1 × L2 → L1'×2' (bzw. L3).<br />

Dies ist vor allem bei besonders extremen Bedingungen des <strong>Sprachkontakt</strong>s der Fall. Ich<br />

komme weiter unten auf die in (1a-c) skizzierten Kontaktsituationen zurück.<br />

Als ein „Fernziel“ der <strong>Sprachkontakt</strong>-Forschung darf man eine Typologie (Klassifizierung)<br />

des <strong>Sprachkontakt</strong>s ansehen, die auch (in begrenztem Ausmaße) Voraussagen über den<br />

Verlauf struktureller Veränderungen in einer jeweils gegebenen Kontaktsituation erlauben<br />

würde. Die Realisierung eines solchen Ziels ist aber noch längst nicht in Sicht. Da es um eine<br />

Erfassung struktureller Auswirkungen des <strong>Sprachkontakt</strong>s geht, müssen theoretische<br />

Vorannahmen <strong>und</strong> Beschreibungsmodelle aus der deskriptiven Linguistik zugr<strong>und</strong>egelegt<br />

werden, d.i. der Theorie zur Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik/Pragmatik <strong>und</strong> des<br />

Lexikons natürlicher Sprachen. Einerseits ist die Beherrschung solcher Gr<strong>und</strong>lagen (bzw. die<br />

Vertrautheit mit entsprechenden Theorien) eine Voraussetzung für eine sinnvoll betriebene<br />

<strong>Sprachkontakt</strong>-Forschung, andererseits ist gerade auch bei der Untersuchung von<br />

<strong>Sprachkontakt</strong>en darauf zu achten, dass die theoretischen deskriptiven Voraussetzungen<br />

einheitlich sind (so z.B. bei der Bestimmung grammatischer vs. lexikalischer Kategorien oder<br />

in Theorien des Lexikons, welche häufig wesentliche Teile der Grammatik integrieren).<br />

1


Andernfalls gerät man in Gefahr, artifizielle Gegenüberstellungen zu schaffen. Eine weitere<br />

unabdingbare Voraussetzung der Erforschung von <strong>Sprachkontakt</strong>en stellen empirische<br />

Methoden der Datenerhebung <strong>und</strong> -auswertung dar, insbesondere Methoden der<br />

Feldforschung. (Hierbei können Erkenntnisse <strong>und</strong> Vorgehensweisen der empirischen<br />

Sozialforschung von Nutzen sein.)<br />

In expliziter Form stellt <strong>Sprachkontakt</strong>-Forschung eine ausgesprochen junge Teildisziplin<br />

dar. Obwohl Kontakte zwischen Sprachen (inkl. Dialekten) so alt sind wie die Menschheit,<br />

stellt die ein- oder gegenseitige Beeinflussung zwischen Sprachen erst seit gut 150 Jahren<br />

einen Gegenstand wissenschaftlichen Interesses dar. Und erst seit sehr kurzer Zeit gibt es<br />

überhaupt einen Forschungszweig, der sich explizit auf die Beschreibung <strong>und</strong> Klassifizierung<br />

von <strong>Sprachkontakt</strong>en sowie deren Auswirkungen auf die Struktur von Sprachen konzentriert 1 .<br />

Wie oben schon betont wurde, bedeutet ‘<strong>Sprachkontakt</strong>’ genau genommen immer einen<br />

Kontakt zwischen Sprechern, die sich zweier oder mehrerer Lekte bedienen, d.i. die in einem<br />

weiten Sinn zwei- bzw. mehrsprachig sind 2 . Wenn also von ‘<strong>Sprachkontakt</strong>’ die Rede ist, so<br />

sollte dabei im Auge behalten werden, dass die strukturellen Besonderheiten, welche durch<br />

<strong>Sprachkontakt</strong> entstehen <strong>und</strong> welche ein Ausdruck des Sprachwandels sind, im Gr<strong>und</strong>e das<br />

sek<strong>und</strong>äre Produkt dynamischer Vorgänge ausmachen, welche durch die kontinuierliche<br />

Konfrontation mehrsprachiger Sprecherkollektive entstehen. <strong>Sprachkontakt</strong>e setzen also<br />

bestimmte soziale Gegebenheiten <strong>und</strong> kommunikative Motive voraus. Man kann deshalb im<br />

Prinzip sowohl versuchen, <strong>Sprachkontakt</strong> nach seinen strukturellen Folgen zu beschreiben,<br />

wie auch, ihn nach seinen externen (sozialen, kommunikativen) Bedingungen zu ordnen.<br />

Jedoch korrelieren strukturelle <strong>und</strong> externe Kriterien miteinander nur in eingeschränkter<br />

Weise. Es ist bislang nicht gelungen, mehr oder minder klare Korrelationen zwischen den<br />

äußeren Rahmenbedingungen des <strong>Sprachkontakt</strong>s <strong>und</strong> seinen strukturellen Auswirkungen zu<br />

ermitteln, so dass Aussagen zu soziolinguistischen, historischen <strong>und</strong> sonstigen externen<br />

Bedingungen des weiteren eher nur als Hintergr<strong>und</strong>-Information erfolgen.<br />

Zwei weitere Einschränkungen wären hier zu machen. Die eine betrifft das „Medium“ des<br />

<strong>Sprachkontakt</strong>s. Gesprochene Sprache wird hier als primäre Realisierungsform betrachtet,<br />

geschriebene als sek<strong>und</strong>äre; dies nicht zuletzt auf einem historisch-anthropologischen<br />

Hintergr<strong>und</strong>. Aus dieser Sicht spielen sich <strong>Sprachkontakt</strong>e in unmittelbarer Kommunikation<br />

(‘face to face’) ab, <strong>und</strong> ihre Resultate sind zunächst auf dieser Ebene zu beurteilen. Für eine<br />

vollständige Erfassung von <strong>Sprachkontakt</strong>-Situationen (sowie entsprechend von<br />

<strong>Sprachkontakt</strong>-Produkten) wäre sicherlich die Berücksichtigung schriftlicher<br />

Kommunikationsformen erforderlich; doch diese werden hier bewußt vernachlässigt.<br />

Die zweite Einschränkung bezieht sich auf das „soziale Format“: zu dauerhaften<br />

(konventionalisierten) Veränderungen in der Sprachstruktur kann es nur kommen, wenn der<br />

<strong>Sprachkontakt</strong> nicht individuell, sondern kollektiv ist, d.i. möglichst viele Sprecher<br />

einbezieht, so dass zunächst eher nur okkasionelle Veränderungen zwischen einzelnen<br />

Sprechern (welche tagtäglich geschehen) sich auch sozial ausbreiten können. Man muß also<br />

zwischen dem Moment der Innovation (in der Regel kaum ermittelbar), dem Prozeß der<br />

Ausbreitung (Propagation, Expansion) <strong>und</strong> dem Zeitraum der Etablierung von Innovationen in<br />

einem jeweiligen Sprecherkollektiv unterscheiden. In diesem Sinne unterscheiden sich<br />

Sprachwandel-Prozesse, die durch <strong>Sprachkontakt</strong> entstehen, nicht von spezielleren<br />

1<br />

Vgl. dazu Oksaar (1996) im HSK-Band ‘Kontaktlinguistik’ <strong>und</strong> die Einleitung zu demselben.<br />

2<br />

Unter Umständen kann sogar die lediglich passive Beherrschung (das Hörverständnis) einer anderen Sprache<br />

(eines anderen Lekts) zu einer Veränderung in der primär gesprochenen (beherrschten) Sprache führen. So hat<br />

man z.B. bei Russen, die im Kaukasus leben, aber keine der lokalen Sprachen beherrschen, festgestellt, daß die<br />

Realisierung russischer Phoneme sich an diejenige jener Lokalsprachen annäherte. Analoges kann man oft auch<br />

in der Satzintonation beobachten.<br />

2


Sprachwandel-Prozessen (wie z.B. Grammatikalisierung). Berücksichtigt wird hier also nur<br />

kollektiver, nicht individueller <strong>Sprachkontakt</strong> 3 .<br />

Zu den folgenden linguistischen Teildisziplinen weist die <strong>Sprachkontakt</strong>-Forschung<br />

(Kontaktlinguistik) nähere Bezüge auf:<br />

1) Areallinguistik<br />

Sie beschäftigt sich mit strukturellen Konvergenzen zwischen Sprachen (Lekten) in<br />

geographisch zusammenhängenden Gebieten, unabhängig von sprachgenetischer<br />

Zusammengehörigkeit. Konvergenzen werden dabei in der Regel über <strong>Sprachkontakt</strong>e erklärt.<br />

Sie führen oft zu einem arealen Bias, d.i. zu typologisch auffälligen strukturellen Merkmalen<br />

(<strong>und</strong> deren Anhäufungen), welche nicht ohne <strong>Sprachkontakt</strong> über „genetische“ Grenzen<br />

hinweg erklärt werden können. Dadurch ergibt sich auch eine enge Wechselwirkung mit der<br />

Typologie.<br />

2) Typologie<br />

Ihr Ziel besteht in der Erfassung <strong>und</strong> Erklärung der Einheit in der Vielheit, d.i. der natürlichen<br />

Sprachen zugr<strong>und</strong>e liegenden Muster des Ausdrucks kategorialer Unterscheidungen sowie der<br />

Unterscheidung von Lautstrukturen, morphologischen Formen <strong>und</strong> syntaktischen Strukturen,<br />

die übereinzelsprachlich festgestellt werden können. Die Typologie strebt auf empirischem<br />

Weg eine Ermittlung von strukturellen <strong>und</strong> funktionalen Universalien an. Ein besonderes<br />

Augenmerk gilt dabei Hierarchien <strong>und</strong> einseitig gerichteten Implikationen, die die allgemeine<br />

Gestalt der Form ‘Wenn A, dann B’ (aber nicht notwendig umgekehrt!) aufweisen. Idealiter<br />

kommt man dadurch zu Schlüssen über Merkmale (Formen <strong>und</strong> deren Funktionen), welche in<br />

Sprachen nebeneinander auftreten können oder welche einander sogar bedingen (d.i. in einem<br />

kausalen Zusammenhang stehen). Man gelangt dabei auch zu Aussagen (Hypothesen) über<br />

allgemeine Kategorisierungsprinzipien in Sprachen <strong>und</strong> über (synchrone <strong>und</strong> diachrone)<br />

Beziehungen zwischen Kategorien <strong>und</strong> ihren Ausdrucksmustern (Konstruktionen,<br />

Paradigmen, Verteilungen).<br />

Es gilt die „Nullhypothese“, daß bei sprachkontakt-bedingten Veränderungen diese<br />

Prinzipien <strong>und</strong> Beziehungen eingehalten werden; es können aber auch typologisch auffällige<br />

Kategorisierungen <strong>und</strong>/oder Ausdrucksformen auftreten – was dann Indizien gerade für<br />

sprachkontakt-bedingte Veränderungen liefern kann. Als Hintergr<strong>und</strong> (Vergleichsgröße) dient<br />

dabei ein jeweils entsprechend größeres Areal. Dieses ist entweder der ganze Erdball (wie<br />

Typologen es generell ansetzen; vgl. Nichols 1992) oder ein Areal von kontinentalem,<br />

subkontinentalem oder noch kleinerem Ausmaß (zu dieser Problematik vgl. u.a. Wiemer<br />

2004a).<br />

3) Soziolinguistik (inkl. Dialektologie)<br />

Soziolinguistik wäre von der ‘Soziologie des Sprechens’ <strong>und</strong> der Ethnolinguistik<br />

abzugrenzen. In ersterer geht es um die strukturellen, d.i. linguistisch erforschbaren<br />

Manifestationen sozialer (sowie zum Teil auch biologischer) <strong>und</strong> kommunikativ bedingter<br />

Unterschiede 4 innerhalb größerer Sprecherkollektive, letztere sind dagegen eine Teildisziplin<br />

der Soziologie bzw. der Ethnologie (vgl. dazu die Ethnologie des Sprechens als eigenen<br />

Forschungszweig); sie gehen damit von anderen Ziel- <strong>und</strong> Akzentsetzungen aus. Im<br />

klassischen Sinne konzentriert sich die Soziolinguistik (vor allem im angelsächsischen Raum)<br />

auf die Erforschung der Kovarianz zwischen sprachlichen (strukturellen) Variablen <strong>und</strong><br />

3<br />

Vgl. eine analoge Unterscheidung zwischen ‘bilingualism’ <strong>und</strong> ‘bilinguality’ bei Hamers/Blanc (1989: 6).<br />

4<br />

Sie wird auch als „sekulär“ bezeichnet. Als klassisches Beispiel einer solchen Arbeit kann man etwa auf Labov<br />

(1972) verweisen.<br />

3


solchen Parametern wie Alter, Geschlecht <strong>und</strong> soziale Zugehörigkeit (vgl. Chambers 1995:<br />

17f.). Dialektologie stellt in diesem Sinne nur eine Teildisziplin der Soziolinguistik dar (vgl.<br />

dazu Chambers/Trudgill 1980).<br />

In anderen Traditionen (vor allem außerhalb des angelsächsischen Raums) lässt sich hinter<br />

der Gegenüberstellung von Soziolinguistik <strong>und</strong> Dialektologie oft noch eine (zumindest<br />

implizite) Unterscheidung zwischen sozial bedingter Variation im städtischen Bereich (→<br />

Soziolinguistik) vs. ländlichen Bereich (→ Dialektologie) erkennen, welche aber zunehmend<br />

verschwindet. Man könnte demnach auch sagen, daß – in Anlehnung an eine gängige<br />

Unterscheidung von Coseriu (1988: 25) – die Soziolinguistik sich primär mit diastratischer (=<br />

durch soziale Schichten bedingter) Variation beschäftigt, die Dialektologie dagegen vorrangig<br />

mit diatopischer (= regional differenzierter) Variation. Ursprünglich besitzt die Dialektologie<br />

ihre Wurzeln in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts 5 <strong>und</strong><br />

diente nicht zuletzt als „Materiallieferant“ für die Ermittlung sprachgenetischer<br />

Zusammenhänge, da man in Dialekten oft archaische Züge entdeckte, welche bei der<br />

Rekonstruktion früherer Sprachzustände hilfreich sein konnten.<br />

Man kann sowohl Dialektologie (im engen, „diatopischen“ Sinne) wie auch Soziolinguistik<br />

ebenso unter dem Gesichtspunkt von <strong>Sprachkontakt</strong>en betrachten, <strong>und</strong> zwar sowohl<br />

hinsichtlich Kontakten zwischen Varietäten einer Sprache wie auch über Sprachgrenzen<br />

hinweg (s. dazu auch die oben erwähnte Areallinguistik).<br />

4) Mehrsprachigkeit, Zweitsprach-Erwerb<br />

Da <strong>Sprachkontakt</strong>e (<strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene sprachliche Veränderungen) über zwei- oder<br />

mehrsprachige Sprecher erfolgen, sind die Berührungspunkte der <strong>Sprachkontakt</strong>-Forschung<br />

mit Mehrsprachigkeit <strong>und</strong> Zweitsprach-Erwerb offensichtlich. Diese gehen aber in jedem Fall<br />

über eine bloße „Fehleranalyse“ hinaus. Vor allem deshalb, weil es aus der Sicht des<br />

<strong>Sprachkontakt</strong>s (<strong>und</strong> seiner strukturellen Folgen) unangemessen wäre, von „Fehlern“ zu<br />

sprechen. Man sollte besser von Abweichungen gegenüber einer jeweiligen Standardnorm<br />

einer der Kontaktsprachen (Lekte) reden.<br />

Spezielle Phänomene, die im Rahmen der Forschung sowohl zu <strong>Sprachkontakt</strong>en als auch<br />

zur Mehrsprachigkeit behandelt werden, sind das Code-Switching <strong>und</strong> das sog.<br />

„Ausländerregister“ (eng. „foreigner talk“ u.ä.). Dem Code-Switching wird die letzte<br />

Vorlesung gewidmet sein.<br />

Unter einem Ausländerregister versteht man in der Regel eine Varietät einer Sprache Lx<br />

(z.B. des Deutschen), die aufgr<strong>und</strong> unvollständigen L2-Erwerbs in grammatischen<br />

Kernbereichen (sowie eines relativ rudimentären Wortschatzes) zu gegenüber der<br />

Standardnorm dieser Sprache stark vereinfachten Strukturen führt 6 . Diese Strukturen gleichen<br />

in Extremfällen denen eines <strong>Pidgin</strong>s (s. unten). In ihnen fehlen vor allem morphologische<br />

Markierungen innerhalb von Wortformen (Kasus- oder Tempusendungen u.ä.) <strong>und</strong><br />

Funktionswörter (Artikel, Konjunktionen, Präpositionen etc.), <strong>und</strong> die lineare Gliederung der<br />

Äußerung (Abfolge der Wortformen) richtet sich nach sprachübergreifenden pragmatischen<br />

Regeln der Topic-Comment-Regelung. Vgl. dazu folgende Beispiele:<br />

(2) meine Dorf Malatya gehen, Malatya Zug nehmen <strong>und</strong> weg, Berlin kommen <strong>und</strong> hier<br />

wohnen<br />

5<br />

Darin gleicht sie der Typologie.<br />

6<br />

Dem „foreigner talk“ steht die Erscheinung gegenüber, dass kompetente L1-Sprecher („Muttersprachler“) sich<br />

einer solchen Sprechweise anpassen <strong>und</strong> damit auch zur Verfestigung einer derartig simplifizierten Grammatik<br />

beitragen (vgl. dazu u.a. Jakovidou 1993). Man bezeichnet diese Erscheinung auch als ‘Xenolekte’ (vgl. Roche<br />

1989). Xenolekte kann man somit quasi als das soziolinguistische „Spiegelbild“ des Ausländerregisters<br />

betrachten.<br />

4


(zit. aus: Dittmar/Kuhberg 1988: 315)<br />

(3) jaa, misc zä gec güüdcrabfärdig)q l<br />

(= Ja, da müssen Sie zur Güterabfertigung nach L. gehen.)<br />

(zit. aus: Jakovidou 1993: 60)<br />

(4a) ich nicht komme Deutschland – Spanien immer Bauer arbeite<br />

(4b) ich alleine – nicht gut<br />

(4c) dieses Jahr Winter gut, nicht kalt, nicht Schnee, verstehst du – immer fort, Zement fort;<br />

vielleicht Schnee, vielleicht kalt, Zement nicht fort – keine Arbeit<br />

(zit. aus: Dittmar 1982: 22f.)<br />

5) Kreolistik: <strong>Pidgin</strong>s <strong>und</strong> Creoles<br />

Ganz kurz formuliert, beschäftigt sich die Kreolistik mit den Resultaten extremer<br />

<strong>Sprachkontakt</strong>-Situationen (s. unten), welche dem Schema aus (1c) am Anfang entsprechen:<br />

innerhalb kurzer Zeit (2-3 Generationen) entsteht aus dem Miteinanderwirken zweier oder<br />

mehrerer Kontaktsprachen eine Varietät, welche Eigenschaften beider (aller) von ihnen<br />

aufweist <strong>und</strong> insofern eine Mischform darstellt. Strukturell gleichen die dabei zu<br />

beobachtenden Sprachvarietäten in vielem den gerade erwähnten Ausländerregistern.<br />

Gemäß einer aus den 70er Jahren stammenden Lehrmeinung entstehen Kreolsprachen aus<br />

<strong>Pidgin</strong>s. Letztere wiederum sind das Ergebnis extremer Formen von <strong>Sprachkontakt</strong>, in<br />

welchen man von einer „lexifizierenden“ Sprache ausgehen kann, deren Grammatik<br />

gegenüber den Kontaktsprachen in radikaler Art vereinfacht ist: sie entspricht dem<br />

isolierenden Typ (d.i. weist praktisch keine grammatischen Morpheme auf) <strong>und</strong> gehorcht am<br />

ehesten kognitiv privilegierten Diskursprinzipien. Die lexifizierende Sprache ist diejenige, aus<br />

welcher der wesentliche Bestand der lexikalischen Morpheme stammt, d.i. in diesem Fall<br />

praktisch alle Morpheme (denn es gibt ja fast keine anderen); s. dazu weiter unten.<br />

In jedem Fall entstehen <strong>Pidgin</strong>s, wenn Sprecherkollektive aufeinandertreffen, die sich<br />

gegenseitig nicht über eine bereits bestehende Sprache verständigen können. In diesen Sinne<br />

sind <strong>Pidgin</strong>s Sprachen ohne Muttersprachler; sie können aber zum Ausgangspunkt für die<br />

Entwicklung einer komplexeren <strong>und</strong> stärker konventionalisierten Grammatik (mit eigener<br />

Norm) werden, die schließlich sogar standardisiert <strong>und</strong> zur Basis muttersprachlichen (d.i.<br />

eines natürlichen Erstsprach-)Erwerbs werden kann. Wenn das geschieht, spricht man von<br />

Kreolsprachen (Creoles). Dieser traditionellen Auffassung über das Verhältnis von <strong>Pidgin</strong>s<br />

<strong>und</strong> Kreolsprachen entspricht das folgende Schema:<br />

Schema 1:<br />

PIDGIN CREOLE<br />

(i) reduzierter Code → expandiert zu<br />

(ii) Zweitsprache für alle Sprecher → Erstsprache für neue Sprechergenerationen<br />

Dieses Schema beschreibt die Entwicklung für die erste Hauptform eines <strong>Pidgin</strong>s. Man kann<br />

wohl zwei Hauptformen von <strong>Pidgin</strong>s unterscheiden 7 : die verbreitetere Form scheint diejenige<br />

gewesen zu sein, bei der eine europäische Prestigesprache (Portugiesisch, Spanisch, Englisch,<br />

Französisch, Deutsch, Niederländisch) von Einheimischen oder Sklaven in entfernteren<br />

Weltgegenden als Lingua Franca akzeptiert werden musste. Die L1 der Sprecher war dabei in<br />

der Regel nicht einheitlich. Der Erwerb der L2 (= der europäischen Kolonialsprache) war sehr<br />

rudimentär; das lexikalische Material stammte aus dieser Prestigesprache (sie stellte deshalb<br />

7<br />

Zur Entstehung <strong>und</strong> den Arten von <strong>Pidgin</strong>s <strong>und</strong> Kreolsprachen gibt es verschiedene, zum Teil divergierende<br />

Standpunkte. Für gute Überblicke vgl. Bechert/Wildgen (1991: 129ff.), Thomason/Kaufman (1991: Kap. 7); am<br />

umfassendsten <strong>und</strong> aktuellsten vgl. jedoch Lefebrve (2004: Kap. 2).<br />

5


die „lexifizierende“ Sprache dar, s.o.), es konnte dabei zu einem großen Teil phonetisch<br />

verändert werden 8 . Eine solcherart rudimentäre Sprache wurde den Kindern weitergegeben,<br />

<strong>und</strong> sie zwang auch die L1-Sprecher der Prestigesprache, sich im Umgang mit den L2-<br />

Sprechern an diese Sprachform anzupassen. Mit der Zeit stellte sich so ein Usus ein, <strong>und</strong> es<br />

entstanden grammatische Unterscheidungen. Diese Art von <strong>Pidgin</strong>s (<strong>und</strong> der aus ihnen<br />

hervorgegangenen Kreolsprachen) ist also im wesentlichen ein linguistisches Produkt aus der<br />

Kolonialzeit.<br />

Die andere Hauptform des <strong>Pidgin</strong>s unterscheidet sich von der ersten vor allem aus<br />

soziolinguistischer Sicht, nicht jedoch in ihren strukturellen Eigenheiten. Bei ihr gibt es kein<br />

(oder nur ein wesentlich geringeres) Prestigegefälle zwischen den beteiligten<br />

Kontaktsprachen, aus denen sich ein <strong>Pidgin</strong> ergibt; <strong>und</strong> es dient nicht als Input-Sprache für<br />

den Spracherwerb einer nachfolgenden Generation (weshalb sich aus ihm auch kein Creole<br />

entwickelt). Zwei bekannte Fälle sind das chinesisch-englische <strong>Pidgin</strong>, entstanden im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert in südchinesischen Hafenstädten, <strong>und</strong> das Russenorsk, ein russisch-norwegisches<br />

<strong>Pidgin</strong>, gesprochen von Händlern um die Wende vom 19. zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert am<br />

europäischen Eismeer. Sie dienten als Kommunikationsformen lediglich für die Handel<br />

treibende Bevölkerung; mit dem Ende der Handelsbeziehungen bzw. mit der Übernahme der<br />

Kommunikationsfunktionen durch eine andere Sprache, z.B. eine Lingua Franca (so vor allem<br />

Englisch), verschwand auch dieses <strong>Pidgin</strong> ohne Fortsetzung in einem Creole.<br />

Die neueste Forschung geht nun davon aus, dass die Unterschiede zwischen <strong>Pidgin</strong>s <strong>und</strong><br />

Creoles weniger durchgängig zutreffen, als dies Schema 1 veranschaulicht, d.i. die Merkmale,<br />

welche strukturelle Unterschiede <strong>und</strong> den Entstehungszusammenhang zwischen <strong>Pidgin</strong>s <strong>und</strong><br />

Creoles erfassen sollten, sind weit weniger klar verallgemeinerbar, als man zuvor annahm.<br />

Letztlich lassen sich für Varietäten, die in der Forschung als <strong>Pidgin</strong>s oder Creoles beschrieben<br />

werden, mehr gemeinsame Züge als Unterschiede feststellen; unter diesen Gemeinsamkeiten<br />

überwiegen zudem soziolinguistische über strukturelle. Vgl. dazu die folgende Aufstellung<br />

(vgl. Lefebvre 2004: 7-36):<br />

Schema 2: Gemeinsamkeiten zwischen <strong>Pidgin</strong>s <strong>und</strong> Creoles<br />

SOZIALE, HISTORISCHE<br />

BEDINGUNGEN STRUKTURELLE MERKMALE<br />

(i) entstehen nur in mehrsprachigen (vi) in der Regel isolierend<br />

Gemeinschaften (vii) „hohe“ Varietät dient als „Lexifi-<br />

(ii) eine Prestigesprache vs. eine oder zierer“, „niedrige“ Varietät(en) als<br />

(in der Regel) mehrere Sprachen grammatische Gr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> als<br />

mit geringem Prestige Gr<strong>und</strong>lage für semantische<br />

(iii) Notwendigkeit, eine Lingua Franca zu Eigenschaften (z.B. Polysemie) 3)<br />

verwenden 1)<br />

(iv) die Sprecher der „niedrigen“ Varietät(en)<br />

haben in der Regel wenig Zugang zur<br />

„hohen“ Varietät 2)<br />

(v) entwickeln sich innerhalb einer sehr<br />

kurzen Zeitspanne (2-3 Generationen)<br />

--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

8<br />

So stellt die Bezeichnung ‘<strong>Pidgin</strong>’ selbst eine Verballhornung von engl. business dar. Sie entstammt dem<br />

chinesisch-englischen <strong>Pidgin</strong> aus dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, welches allerdings dem zweiten Haupttyp entspricht<br />

(s.u.).<br />

6


1) Beispiele für eine Lingua Franca:<br />

• Englisch (weltweit)<br />

• diverse Sprachen im Kaukasus (d.i. in einem Gebiet mit sehr hoher „Dichte“ an<br />

verschiedenen Sprachen <strong>und</strong> einem hohen Prozentsatz an aktiver Mehrsprachigkeit)<br />

• Russisch auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR<br />

• Latein im Römischen Imperium<br />

• Kolonialsprachen in ehemaligen Kolonien westlicher Großmächte (Großbritannien,<br />

Niederlande, Spanien, Portugal etc.)<br />

2) Die Sprecher der „niedrigen“ Varietät stellen zugleich die hauptsächlichen „Träger“ des<br />

<strong>Pidgin</strong>s bzw. entstehenden Creoles dar.<br />

3) Bei der Übernahme der semantischen Struktur geht es darum, dass Worte (bzw.<br />

Wortformen) der Lexifizierer-Sprache semantisch an die Verwendung eines ihrer Äquivalente<br />

in der anderen Kontaktsprache (in der Regel einer der „niedrigen“ Varietäten) angepasst<br />

werden. Wenn dieses Äquivalent eine breitere semantische Struktur aufweist als das Wort aus<br />

der Lexifizierer-Sprache, wird diese Struktur auf Worte aus dieser übertragen.<br />

Beispiel: Media Lengua, ML (Südamerika: Spanisch + Quechua)<br />

(5a) span. sentarse ‘sich hinsetzen’<br />

(5b) → ML sinta-ri: ‘sitzen’ (span. estar sentado) ← Quechua tiya-ri<br />

‘leben’ (span. vivir)<br />

‘sich befinden’ (span. estar)<br />

‘es gibt...’ (span. hay)<br />

„Technisch“ kann man hier davon sprechen, dass die phonologische Form des Wortes aus der<br />

Lexifizierer-Sprache stammt, die semantische Repräsentation jedoch derjenigen aus der<br />

Quechua-Sprache entspricht (vgl. Lefebvre 2004: 24).<br />

Relexifizierung<br />

Der gerade dargestellte Vorgang der Übernahme einer semantischen Struktur stellt einen Teil<br />

eines Prozesses dar, den man als ‘Relexifizierung’ bezeichnet. Dieser kann nämlich aus zwei<br />

verschiedenen Vorgängen bestehen.<br />

Zum einen erfolgt eben das, was wir unter (5a-b) als ‘Übernahme der semantischen<br />

Struktur’ bezeichnet haben.<br />

Zum anderen werden bei der Relexifizierung Formen von Wörtern, die zu den<br />

gr<strong>und</strong>legenden syntaktischen Kategorien (Wortklassen) gehören, aus der „hohen“ Varietät in<br />

den <strong>Pidgin</strong>/das Creole überführt. Gleichzeitig jedoch stammen Markierungen syntaktischer<br />

Relationen (z.B. Kasus am Substantiv, Person am Verb) bzw. sonstiger grammatischer<br />

Kategorien (z.B. Numerus beim Substantiv, Tempus am Verb) aus der „niedrigen“ Varietät.<br />

Diese Markierungen können entweder geb<strong>und</strong>ene Morpheme sein (Affixe) oder freie<br />

Morpheme (Klitika, Funktionswörter wie etwa Präpositionen).<br />

Vgl. dazu wiederum die Media Lengua in Südamerika. In den folgenden Beispielen sind<br />

die lexikalischen Morpheme, d.i. diejenigen, welche aus dem Spanischen in die Media<br />

Lengua (ML) gelangt sind, <strong>und</strong> ihre Äquivalente im Quechua, unterstrichen(vgl. Lefebvre<br />

2004: 24):<br />

(6a) span. No sé.<br />

NEG wissen.1.SG.PRS<br />

‘Ich weiß nicht.’<br />

7


(6b) Quechua Mana yacha-ni-chu.<br />

(6c) ML No sabi-ni-chu.<br />

NEG wissen.1.SG.VAL<br />

‘Ich weiß nicht.’<br />

(7a) span. Si llueve demás, no voy a ir.<br />

wenn regnen.3.SG.PRS zu_viel NEG gehen.1.SG.PRS COMP gehen.INF<br />

‘Wenn es zu sehr regnet, werde ich nicht gehen.’<br />

(7b) Quechua Yalli-da tamia-pi-ga, mana ri-sha-chu.<br />

(7c) ML Dimas-ta llubi-pi-ga, no i-sha-chu.<br />

zu_viel.AKK regnen.LOK.TOP NEG gehen.ASP.VAL<br />

‘Wenn es zu sehr regnet, werde ich nicht gehen.’<br />

Abschließend sei zur Sprechweise „hohe“ vs. „niedrige“ Varietät noch gesagt, dass nicht<br />

immer klar festzulegen ist, welches das soziale Verhältnis zwischen den beteiligten Varietäten<br />

ist. Dies ist nur in solchen Fällen eindeutig, wenn es sich um eine „Eroberersprache“ vs. eine<br />

„Erobertensprache“ (oder „Sklavensprache“) handelt. Die Folgen für die Struktur des <strong>Pidgin</strong>s<br />

bzw. Creoles sind dabei ebenso wenig immer klar vorhersagbar. Deshalb sei hier noch ein<br />

prominentes Beispiel dafür angeführt, dass die Gr<strong>und</strong>lage der Relexifizierung auch von der<br />

Sprache einer autochthonen Bevölkerung ausgehen kann, welche wiederum grammatische<br />

Formative von der kontaktierenden „Importsprache“ übernimmt. Solche Fälle sind insgesamt<br />

selten, aber eben doch belegt.<br />

Die Eskimo-Sprache Aleutisch (nach den Aleuten-Inseln, Beringmeer) wurde im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert so stark vom Russischen beeinflusst, dass die finiten Verbformen (inkl.<br />

Imperativ) die ursprünglichen Endungen der Verbformen komplett ersetzt haben. Vgl. dazu<br />

das Paradigma gemäß der Darstellung in Thomason/Kaufman (1988: 234f.) 9 ; Bering Aleut<br />

(dieselbe Sprache vor dem Kontakt, gesprochen auf den Nachbarinseln) wird als Vergleich für<br />

den Zustand der Formen vor dem Kontakt mit dem Russischen mitangeführt:<br />

(8)<br />

9 Die Autoren berufen sich ihrerseits auf eine Arbeit von Menovščikov.<br />

8

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