Mops fidel - Gesundheit Berlin eV
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Dr. med. Sabine Tuschy<br />
Ziele und Wirkung von Adipositastherapie am Beispiel des Therapieprogramms<br />
„<strong>Mops</strong> <strong>fidel</strong>“<br />
Adipositas ist laut WHO die häufigste chronische Krankheit im Kindes- und Jugendalter. Wir<br />
leben in einer bewegungsarmen Überflussgesellschaft, dieser Lebensstil führt dazu, dass<br />
immer mehr Menschen an Übergewicht bzw. Adipositas erkranken. Entsprechend der Kinderund<br />
Jugendgesundheitsstudie (KiGGS 5/6 2007) gilt für Deutschland, dass 15% der Kinder<br />
und Jugendlichen (i. A. von 3-17 Jahren) übergewichtig sind und 6% an Adipositas leiden.<br />
Bekannte relevante Risikofaktoren sind u.a. niedriger Sozialstatus, Kinder mit Migrationshintergrund<br />
und Kinder adipöser Eltern, insbesondere adipöser Mütter. So sind z. B. türkischstämmige<br />
Kinder 3-4fach häufiger zu dick, ganz unabhängig von der sozialen Schicht. Problematisch<br />
neben der zunehmenden Prävalenz der Adipositas ist, dass die adipösen Kinder steigende<br />
BMI-Werte aufweisen. D. h. wir haben nicht nur immer mehr „dicke Kinder“ in unserer<br />
Gesellschaft, sondern die „dicken“ Kinder und Jugendlichen werden auch immer schwerer<br />
(APV 2008; BZGA 2005-2008).<br />
Es treten zunehmend häufiger <strong>Gesundheit</strong>sstörungen in jüngerem Alter auf. Je stärker das<br />
Übergewicht ist, umso höher ist das Risiko später an Folgekrankheiten zu leiden. Typische<br />
häufige Folgeerkrankungen der Adipositas sind: Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen,<br />
Altersdiabetes, Gelenkprobleme, metabolisches Syndrom, funktionelle Hyperandrogenämie<br />
(Polyzystisches Ovar-Syndrom = PCO) ect. Mindestens die Hälfte aller adipösen Kinder haben<br />
zusätzliche Begleiterkrankungen, 10-20% der adipösen Kinder haben Störungen im Fett- und<br />
Glukosestoffwechsel. Prävention und Therapie sollten bereits im Kleinkindalter beginnen!<br />
Diese Probleme müssen vor einer gesellschaftlichen Realität gesehen werden, in der immer<br />
häufiger vor dem Fernseher gegessen, Fertiggerichte und Fast Food konsumiert werden und<br />
gemeinsame Mahlzeiten eine Ausnahme darstellen. Wo weder Wasser oder ungesüßter Tee<br />
getrunken werden, sondern „Softdrinks“, welche gerade bei Migranten auch als Statussymbol<br />
fungieren. Ein hoher Prozentsatz der Kinder leben bei alleinerziehenden Eltern, in Familien<br />
mit Schichtdienst oder in denen die Eltern Hartz IV Empfänger sind. Unter diesen Bedingungen<br />
ist es nicht vielen Kindern möglich, regelmäßig außerhalb des Hauses zu spielen oder<br />
einen Sportverein zu besuchen. Im Gegenteil, es wird zunehmend Zeit vor dem Fernseher,<br />
Computer oder anderen viereckigen Kästen in Passivität verbracht. In den Medien wird vermittelt,<br />
das „Kindernahrung“, z. B. Milchschnitte, Fruchtzwerge oder Multivitaminsaft…. „gesund“<br />
seien und Konsum „glücklich“ mache. Die zunehmende Kinderarmut verursacht mehr<br />
<strong>Gesundheit</strong> <strong>Berlin</strong> (Hrsg.): Dokumentation 14. bundesweiter Kongress Armut und <strong>Gesundheit</strong>, <strong>Berlin</strong> 2008<br />
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Sabine Tuschy: Ziele und Wirkung von Adipositastherapie am Beispiel des Therapieprogramms „<strong>Mops</strong> <strong>fidel</strong>“<br />
Adipositas als ein unzureichendes Wissen über „gesunde Ernährung“ und einen „gesunden<br />
Lebensstil“!<br />
Dies vor dem Hintergrund einer Gesellschaft in der bereits 6-7jährige, insbesondere Mädchen,<br />
dünner sein wollen, 56% aller 13-14jährigen sich „zu dick fühlen“ und 30% der unter<br />
10jährigen Diäterfahrungen haben (BZGA 07/2004).<br />
Wir sind die ambulante Adipositassprechstunde „<strong>Mops</strong> <strong>fidel</strong>“ im Sozialpädiatrischen Zentrum<br />
der Kinderklinik Lindenhof des SANA Klinikums in <strong>Berlin</strong> Lichtenberg.<br />
Seit dem Jahr 2000 werden Familien mit adipösen und übergewichtigen Kindern und Jugendlichen<br />
in einem ambulanten und wohnortnahen Therapieprogramm durch ein multiprofessionelles<br />
Team (Kinder- und Jugendärztinnen, ein Psychologe, Diätassistentinnen, Sporttherapeuten<br />
und einer Sozialpädagogin) betreut. Das auf ein Jahr ausgelegte moderne Therapieprogramm<br />
ermöglicht eine Gewichtsreduktion durch ausgewogene Ernährung und mehr Alltagsaktivität<br />
bzw. Sport. Bei Bedarf besteht auch eine längere Therapiemöglichkeit. Durch<br />
eine Therapie der Adipositas/des Übergewichtes sollen Folgekrankheiten frühzeitig diagnostiziert,<br />
verhindert bzw. behandelt werden.<br />
Zielgruppen sind Familien mit adipösen Kindern (BMI > 97. Perzentile) bzw. mit übergewichtigen<br />
Kindern (BMI 90.-97. Perzentile) die bereits Folgekrankheiten haben und im Alter von<br />
0-18 Jahren sind (AGA 2008). Der Body- Mass-Index (BMI) errechnet sich aus: Gewicht /<br />
Körperlänge x Körperlänge ( kg/m² ). Die Behandlung erfolgt nach Überweisung durch den<br />
betreuenden Kinderarzt und wird durch die Krankenkassen finanziert. Kooperationspartner<br />
sind Kinderärzte, Kinder- und Jugendgesundheitsdienste, Allgemeinärzte, Hausärzte und<br />
Fachärzte.<br />
<strong>Gesundheit</strong> <strong>Berlin</strong> (Hrsg.): Dokumentation 14. bundesweiter Kongress Armut und <strong>Gesundheit</strong>, <strong>Berlin</strong> 2008<br />
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Sabine Tuschy: Ziele und Wirkung von Adipositastherapie am Beispiel des Therapieprogramms „<strong>Mops</strong> <strong>fidel</strong>“<br />
Die Therapie der Adipositas bedarf eines strukturierten Vorgehens, denn Adipositas ist mehr<br />
als nur ein medizinisches Problem.<br />
Das Wichtigste ist das Fundament des Hauses, es ist notwendig, dass dicke Kinder (das gilt<br />
im Prinzip für jedes Kind) viel Unterstützung von ihren Eltern bekommen. Um dies zu stabilisieren<br />
erhalten die Eltern Trainingsmaßnahmen in Form von Elternschulungen. Um das Ziel<br />
abzunehmen erreichen zu können, besteht das Haus, also das Therapiekonzept, aus 4-Säulen<br />
und egal welche Säule fehlt: Medizin, Sport, Ernährung oder Psychologie, so ist die Chance<br />
nachhaltig Gewicht zu reduzieren geringer. Zusätzlich besteht die Möglichkeit einer sozialpädagogischen<br />
Betreuung zur Hilfe z. B. beim Kontakt mit Jugendämtern, Organisation von<br />
Einzel-, Familienhilfen oder halbjährigen Langzeitrehabilitationen bei besonders extremer<br />
Adipositas. Es erfolgt eine umfassende medizinische Diagnostik inklusive Ursachenanalyse.<br />
Auch führen wir verschiedene Sport-, Freizeit- und Ferienprogramme und Familienveranstaltungen<br />
durch. Die psychologische Diagnostik und das Essverhaltenstraining sollen zum Einen<br />
die Kinder stärken und helfen leichter den Verlockungen des Alltags zu widerstehen, zum<br />
Anderen ihr Selbstbewusstsein fördern um sich so besser gegen die Diskriminierung im Alltag<br />
wehren zu können. Entsprechend der familiären Voraussetzungen ist möglicherweise ein vollständiges<br />
Therapieprogramm nicht realisierbar. In einem Stufenmodell wird entschieden, ob<br />
ein Gruppen- oder nur ein Einzeltraining erfolgen kann, bzw. lediglich ein Kurzprogramm<br />
oder sogar nur eine Einzelberatung bzw. eine monodisziplinäre Schulung z. B. durch den Kinderarzt<br />
möglich ist. Im positivsten Fall wird das Familienleben harmonischer, der Familienalltag<br />
aktiver, interessanter, alle dünner und damit auch gesünder.<br />
Psychosoziale Studien bei chronisch kranken Kindern haben nachgewiesen, dass die Lebensqualität<br />
von adipösen Kindern der krebskranker Kinder entspricht (Schwimmer et al 2003),<br />
d.h. Kinder mit schweren anderen chronischen Krankheiten wie Asthma, Mukoviszidose oder<br />
atopisches Ekzem haben eine höhere Lebensqualität als adipöse Kinder.<br />
Seit 2007 besteht für das Therapieprogramm „<strong>Mops</strong> <strong>fidel</strong>“ eine Zertifizierung durch die Adipositasgesellschaft<br />
im Kindes- und Jugendalter (AGA). Die Evaluation erfolgte in der Adipositas-Patienten-Verlaufsdokumentation<br />
„APV“ im Rahmen des APV-Benchmarking (APV 2008<br />
Version 3.71), zusätzlich besteht die Teilnahme an der BZGA Multizenterstudie der Universität<br />
Ulm (EvAKuJ-Projekt 2005-2008) basierend auf den AGA – Leitlinien.<br />
Es werden über 300 Familien pro Jahr in unserem Zentrum betreut, welches nach APV derzeit<br />
die drittgrößte ambulante Einrichtung im deutschsprachigen Raum ist.<br />
Nach einem Jahr Therapiedauer ist durchschnittlich eine BMI-SDS Reduktion von 0,2 nachweisbar.<br />
Auch Kinder die keine Gewichts- bzw. BMI-Reduktion erzielen, profitieren gesundheitlich<br />
außerordentlich von einer Ernährungsumstellung, vermehrter Alltagsaktivität und<br />
einer verbesserten sportlichen Betätigung.<br />
In dem <strong>Berlin</strong>er Bezirk Lichtenberg, eine sozial benachteiligte Region <strong>Berlin</strong>s, in der unsere<br />
Einrichtung liegt, betrug der Anteil nichtdeutscher Kinder 18,5% (Einschulungsuntersuchung<br />
2006), dies deckt sich mit dem Anteil von 17% bei unseren Patientenzahlen.<br />
In den Migrantengruppen waren die Adipositas und das Übergewicht stärker verbreitet als<br />
bei den deutschen Kindern.<br />
<strong>Gesundheit</strong> <strong>Berlin</strong> (Hrsg.): Dokumentation 14. bundesweiter Kongress Armut und <strong>Gesundheit</strong>, <strong>Berlin</strong> 2008<br />
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Sabine Tuschy: Ziele und Wirkung von Adipositastherapie am Beispiel des Therapieprogramms „<strong>Mops</strong> <strong>fidel</strong>“<br />
Bei den Kindern nichtdeutscher Herkunft waren Jungen stärker betroffen als Mädchen, bei<br />
den deutschen Kindern bestand kein relevanter Geschlechtsunterschied. Im Vergleich zum<br />
Vorjahr stieg die Prävalenz bei den Kindern mit Migrationshintergrund stärker als bei den<br />
Kindern deutscher Eltern. 13,8% Steigerung bei übergewichtigen Jungen aus sonstigen Staaten<br />
(türkisch, arabisch und sonstige westliche Staaten). 3% Prävalenzzunahme bei Jungen<br />
aus dem ehemaligen Ostblock sowohl für Übergewicht als auch Adipositas (Kindergesundheitsbericht<br />
2/2008). Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede im Alltagsleben führen dazu,<br />
dass Kinder von Eltern mit Migrationshintergrund auch in der zweiten Generation überproportional<br />
häufig die Adipositasprogramme vorzeitig abbrechen.<br />
Die größten Erfolge in der Gewichtsreduktion erzielen die unter 10-jährigen Kinder, 67% der<br />
behandelten Kinder erreichen eine Gewichtsabnahme nach einer einjährigen Therapie. Je<br />
früher eine Gewichtsreduktion durch eine Verhaltens- und Ernährungsumstellung erzielt wird,<br />
desto wahrscheinlicher und dauerhafter sind der Erfolg und die Risikoreduktion gesundheitlicher<br />
Folgen.<br />
Adipositas ist eine Krankheit und muss auch als solche anerkannt werden, dies ist bis heute<br />
trotz der WHO Definition in Deutschland nicht erfolgt.<br />
Zur Therapiefinanzierung gibt es bis heute keine einheitliche Regelung in Deutschland.<br />
Es gibt Hinweise einer enormen Stabilität des Übergewichtes im Kindesalter bis hinein ins<br />
Erwachsenenalter. Je früher mit der Behandlung des Übergewichtes begonnen wird, desto<br />
größer die Chance auch vorbeugend wirksam werden zu können. Die Gefahr von medizinischen<br />
Folgerisiken steigt mit der Dauer der körperlichen Belastung durch die Adipositas an.<br />
Aus diesem Grund sollten bereits im Kleinkindalter spätestens jedoch im Vorschulalter die<br />
Maßnahmen der Prävention und ggf. eine Therapie einsetzen.<br />
Dr. med. Sabine Tuschy<br />
Kinder- und Jugendärztin des Adipositasprogrammes „<strong>Mops</strong> <strong>fidel</strong>“<br />
Kontakt:<br />
Sana Klinikum Lichtenberg<br />
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lindenhof – SPZ-Adipositassprechstunde <strong>Mops</strong> Fidel<br />
Dr. med. S. Tuschy; S. Sturm<br />
Gotlindestraße 2-20<br />
10365 <strong>Berlin</strong><br />
Tel.: (030) 55 18 52 45 (oder 52 67)<br />
Fax: (030) 55 18 52 88<br />
E-Mail: adipositas@sana-kl.de<br />
www.khl-berlin.de/615.0.html<br />
<strong>Gesundheit</strong> <strong>Berlin</strong> (Hrsg.): Dokumentation 14. bundesweiter Kongress Armut und <strong>Gesundheit</strong>, <strong>Berlin</strong> 2008<br />
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Sabine Tuschy: Ziele und Wirkung von Adipositastherapie am Beispiel des Therapieprogramms „<strong>Mops</strong> <strong>fidel</strong>“<br />
Literatur / Quellen:<br />
Beobachtungsstudie zur Evaluation ambulanter und stationärer Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland<br />
(EvAKuJ-Projekt) Ulm 2005-2008, Professor Holl<br />
Bundesgesundheitsblatt – <strong>Gesundheit</strong>sforschung – <strong>Gesundheit</strong>sschutz 2007 50:736-743 Kinder- und Jugendgesundheitssurvey<br />
(KiGGS 5/6 2007)<br />
BZGA - Broschüre: „Essstörungen….was ist das“ Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA), Köln im<br />
Auftrag des Bundesministeriums für <strong>Gesundheit</strong> und Soziale Sicherung 7.04 Ausgabe 1.150.7.04<br />
Kindergesundheitsbericht (2/2008), Auswertung der Einschulungsuntersuchungen 2006 im Bezirk Lichtenberg.<br />
Bezirksamt Lichtenberg von <strong>Berlin</strong>, Abt. Familie Jugend und <strong>Gesundheit</strong><br />
Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) 10/2008; www.a-g-a.de<br />
Multizentrische Datenbank: Adipositas-Patienten-Verlaufsdokumentation „APV“ APV-Benchmarking-Auswertung<br />
Universität Ulm 2008, APV-Version 3.71; www.a-p-v.de<br />
Schwimmer JB, Burwinkle TM, Varni JW. Health-related quality of life of severely obese children and adolescents.<br />
JAMA. 2003;289:1813-1819.<br />
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<strong>Gesundheit</strong> <strong>Berlin</strong> (Hrsg.): Dokumentation 14. bundesweiter Kongress Armut und <strong>Gesundheit</strong>, <strong>Berlin</strong> 2008<br />
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