Interview mit Dr. Horst Bartnitzky - Grundschulverband
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Copyright © FR-online.de 2009, Erscheinungsdatum 12.09.2009 | Ausgabe: d<br />
URL: http://www.fronline.de/in_und_ausland/wissen_und_bildung/aktuell/?em_cnt=1941106&em_loc=1739<br />
<strong>Horst</strong> <strong>Bartnitzky</strong>: "Schule ist verordnetes Unrecht"<br />
Auch Grundschulen benachteiligen Kinder, sagt Verbands-Chef <strong>Horst</strong> <strong>Bartnitzky</strong> im FR-<br />
<strong>Interview</strong>. "Schwächeren Kindern signalisiert man durch die ständige Auslese: Ihr könnt nichts."<br />
Zur Person<br />
<strong>Dr</strong>. <strong>Horst</strong> <strong>Bartnitzky</strong> ist Vorsitzender des <strong>Grundschulverband</strong>es. Der pensionierte Lehrer<br />
organisiert den Bundesgrundschulkongress, der nach zehn Jahren an diesem Wochenende wieder<br />
unter dem Motto "Allen Kindern gerecht werden" in Frankfurt am Main stattfindet.<br />
Herr <strong>Bartnitzky</strong>, laut einer neuen Studie der OECD ist das Grundschulkind dem deutschen Staat<br />
rund 3700 Euro pro Jahr wert, der Zwölftklässler aber mehr als das Doppelte. Ist das gerecht?<br />
Nein. Es zeigt, dass die deutsche Grundschule erheblich unterfinanziert ist, sowohl <strong>mit</strong> Blick auf<br />
die anderen Schulstufen als auch im internationalen Vergleich.<br />
Warum ist das so?<br />
Die weiterführende Schule bekommt traditionell mehr, weil sie die Schüler in Beruf und<br />
Studium entlässt. Dabei vergisst man aber, dass das Bildungsfundament besonders gesichert<br />
werden muss. Das fängt im Kindergarten an und geht <strong>mit</strong> der Grundschule weiter. Diese Jahre<br />
sind entscheidend für die Lernmotivation des Kindes, auch für die Lesesozialisation.<br />
Ein gutes Stichwort: Warum bekommen Grundschüler bei Lesestudien wie Iglu bessere Noten<br />
als 15-Jährige in der Pisa-Studie?<br />
Das war für die Grundschulen in der Tat eine Art Rehabilitierung. Denn als 2001 die ersten Pisa-<br />
Ergebnisse kamen, zeigten die weiterführenden Schulen <strong>mit</strong> dem Finger auf uns: Ihr habt das<br />
Fundament nicht richtig gelegt, deshalb schneiden die 15-Jährigen bei uns schlecht ab. Dabei ist<br />
es genau umgekehrt: Die Grundschule schafft es relativ gut, Kinder zum Lesen zu motivieren.<br />
Offenbar geht das aber in den weiterführenden Schulen wieder verloren.<br />
Was machen die Grundschulen denn besser?<br />
Grundschullehrer sehen sich in erster Linie als Pädagogen für Kinder und nicht als Fachlehrer.<br />
Das ist eine ganz andere Denkweise. Sie sind die Bezugspersonen für die Schüler und sind in der<br />
Lage, das Kind in seiner ganzen Persönlichkeit zu sehen - nicht nur die Leistung in einem<br />
bestimmten Fach.<br />
Da<strong>mit</strong> unterstellen Sie den anderen Lehrern, sich nicht auf die Kinder einstellen zu können.
Ein Fachlehrer an einer weiterführenden Schule geht in der Regel <strong>mit</strong> jeweils zwei Stunden<br />
Unterricht pro Woche in die verschiedenen Klassen. Er hat an der Universität zwar sein Fach<br />
intensiv studiert, aber die Didaktik ist im Studium eher ein Nebenprodukt. Deshalb verwundert<br />
es nicht, wenn dieser Pädagoge sich vor allem als Vertreter seines Faches fühlt und seinen<br />
Ehrgeiz darin setzt, in zwei Stunden Unterricht sein Fachwissen möglichst gut zu verkaufen.<br />
Es ist doch großartig, wenn jemand <strong>mit</strong> Begeisterung sein Fach unterrichtet ...<br />
Natürlich. Aber dabei kommen andere Dinge oft zu kurz: Wie ist das Vorwissen der Kinder, was<br />
interessiert die Jugendlichen und wie kann ich das am besten ver<strong>mit</strong>teln?<br />
Sind die Grundschulen auf Leistungsunterschiede bei ihren Schülern besser vorbereitet?<br />
Ich will nicht Schwarz-Weiß-malen. Natürlich gibt es auch bei den deutschen Grundschulen<br />
alles: von der Steinzeit bis zum hochmodernen Unterricht. Aber ich glaube, dass die meisten<br />
über relativ gut entwickelte Differenzierungskonzepte verfügen.<br />
Was heißt das?<br />
Zum Beispiel die Wochenplanarbeit. Man verabredet <strong>mit</strong> den Kindern für eine Woche einen<br />
Arbeitsplan, den sie täglich selbst organisieren können. So bekommt jedes Kind die Zeit, die es<br />
braucht. Differenzierter Unterricht findet auch beim Lesenlernen statt. Es gibt Kinder, die schon<br />
vor der ersten Klasse angefangen haben, zu lesen oder zu schreiben, während Buchstaben für<br />
andere eine noch völlig fremde Welt bedeuten. Da kann man nicht einfach alle über einen Kamm<br />
scheren. Die neuere Forschung belegt ganz eindeutig, dass die Kinder ihren ganz eigenen Weg in<br />
die Schriftsprache brauchen.<br />
Die Kernforderung des diesjährigen Bundesgrundschulkongresses lautet "Allen Kindern gerecht<br />
werden". Ist das nicht - bei allen Bemühungen um individuelle Förderung - utopisch?<br />
Das mag eine utopische Leitidee sein, die man niemals hundertprozentig einlösen kann. Aber wir<br />
müssen wenigstens in diese Richtung gehen. Bisher ist Schule vor allem eine Ausleseschule. Sie<br />
ist in vielen Fällen staatlich verordnetes Unrecht an der nachwachsenden Generation. Kinder, die<br />
viel können, werden in ihrem Können bestärkt und ermutigt. Schwächeren Kindern signalisiert<br />
man durch die ständige Auslese: Ihr könnt nichts. So beginnen negative Bildungskarrieren.<br />
Die Grundschulen arbeiten aber doch kräftig an dieser Ungerechtigkeit <strong>mit</strong>, indem sie den<br />
Akademiker-Sohn fürs Gymnasium empfehlen und die Tochter aus der Migrantenfamilie auf die<br />
Hauptschule schicken!<br />
Ja, das stimmt leider. Oft wird hier nicht die tatsächliche Begabung des Kindes bewertet, sondern<br />
die Frage gestellt, wie passt dieses Kind ins System. Bei einem Kind aus einer bildungsfernen<br />
Schicht vermutet die Lehrerin vielleicht, dass es am Gymnasium nicht die nötige Unterstützung<br />
durch die Familie bekommt und scheitern könnte. Deshalb bekommt es keine
Gymnasialempfehlung. Das ist eine ganz fatale Entwicklung, weil sie die Kinder festlegt und<br />
ausbremst. Schule darf aber nicht fesseln, sondern muss Flügel verleihen.<br />
(<strong>Interview</strong>: Katja Irle)