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Welt am Sonntag vom 17.7.2011 - Grundschulverband

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<strong>Welt</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> <strong>vom</strong> <strong>17.7.2011</strong>:<br />

Claudia Guderian<br />

Schöne, alte Schrift<br />

Kulturerbe oder Oma-Buchstaben? An H<strong>am</strong>burgs Grundschulen muss die<br />

Schreibschrift nicht mehr gelehrt werden. Was es heißen kann, wenn niemand mehr<br />

Handschriften lernt, zeigen Sütterlin und Kurrent<br />

* Vor allem intime und politisch inkorrekte Mitteilungen werden von Hand<br />

geschrieben. Sie sind ein wichtiges kulturelles Zeugnis<br />

Schon wieder so einer. Der Be<strong>am</strong>te der Justizvollzugsanstalt Celle, der die<br />

ausgehende Häftlingspost kontrollierte, schüttelte den Kopf. Ein Brief an die Verlobte<br />

sollte das sein? Er wusste es besser. Das war eine Geheimschrift. Wer weiß, welche<br />

Kassiber hier aus dem Gefängnis geschmuggelt werden sollten. Nur über seine<br />

Leiche! Häftlingspost, stimmte ihm das Oberlandesgericht Celle später zu, müsse für<br />

die kontrollierende Behörde lesbar sein. Die deutsche Schreibschrift sei jedoch, so<br />

das OLG, weder eine Geheimschrift noch unlesbar oder unverständlich. Der Häftling<br />

darf also weiter in deutscher Schreibschrift mit der Verlobten korrespondieren.<br />

Der Trick mit der Geheimschrift funktionierte auch im Unterricht von Hanno Blohm.<br />

Zur Freude des Lehrers lernten seine Schüler bei ihm Kurrentschrift. Bis ihn nach<br />

einer Weile eine Kollegin ansprach: "Du, kannst du mir das auch mal zeigen? Meine<br />

Schüler haben da immer so merkwürdige Spickzettel - ich kann die nicht lesen."<br />

Was der Häftling und Hanno Blohms Schüler verwendeten, lernte bis 1941 jedes<br />

deutsche Schulkind in der ersten Klasse: "Rauf - runter - rauf - Pünktchen drauf" gab<br />

den sprichwörtlichen i-Männchen ihre erste Aufgabe. Es war die von Ludwig Sütterlin<br />

reformierte deutsche Schreibschrift. Und den Texten, die darin verfasst wurden, ist<br />

eines gemeins<strong>am</strong>, sagt Everardus Overgaauw, Leiter der Handschriftenabteilung der<br />

Staatsbibliothek Berlin: "Man schreibt mit der Hand für den eigenen Gebrauch und<br />

für Personen, die uns nahestehen. Der Gebrauch ist sehr eingeschränkt. In der<br />

Schule ist er nach wie vor wichtig."<br />

Für den eigenen Gebrauch schrieben auch Goethe und Schiller, Kleist und Wieland,<br />

sogar die erste Version von Kafkas "Beschreibung eines K<strong>am</strong>pfes" ist in dieser<br />

Schrift abgefasst. Weshalb in Deutschland jeder Kurrent lesen können sollte, der sich<br />

mit Literatur bis Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigt, fordert der Heidelberger<br />

Editionswissenschaftler Roland Reuß, der gerade nach 25 Jahren seine große<br />

historisch-kritische Kleist-Ausgabe abgeschlossen hat und sich nun den ganzen<br />

Kafka vornimmt.<br />

Historiker, die sich mit der deutschen Geschichte <strong>vom</strong> 17. Jahrhundert an<br />

beschäftigen, müssen die Kurrent kennen, sonst können sie die Quellen nicht kritisch<br />

prüfen. Ohne eine solche Prüfung könne aber, sagt Reuß, nicht wissenschaftlich<br />

gearbeitet werden.<br />

Walter Kempowski wertete für das "Echolot" mehr als 8000 Konvolute mit<br />

überwiegend handschriftlichen Mitteilungen aus, und stellte Momentaufnahmen aus


verschiedenen Kriegstagen zu einer gewaltigen Kollage zus<strong>am</strong>men. Nur so ist<br />

"Geschichte von unten" erfahrbar, wenn man die überlieferten Dokumente aller<br />

sozialen Gruppen entziffern kann. Kempowski war, wie alle seiner Generation,<br />

"zweischriftig": Er beherrschte die deutsche Kurrentschrift genauso gut wie die<br />

lateinische Schreibschrift.<br />

Zuerst waren allerdings die lateinischen Minuskeln da, bis heute überliefert in alten<br />

Handschriften. Dann wurden der Buchdruck und mit ihm die gotische Schrift<br />

erfunden. Mit der Verbreitung des Buchdrucks entdeckten Kaufleute dessen Vorteile,<br />

und schon bald wurden Urkunden und Geschäftsbücher niedergeschrieben. Doch die<br />

gerade stehenden Druckbuchstaben schrieben sich nur langs<strong>am</strong>. D<strong>am</strong>it es schneller<br />

ging, wurde eine "laufende" Schrift erfunden, bei der ab dem 14. Jahrhundert das G,<br />

H und K Schlaufen bek<strong>am</strong>en: die Ober- und Unterlängen. Die neue "Kursivschrift"<br />

hatte eine leichte Neigung nach rechts, so ließ sich schneller schreiben. Als<br />

Kurrentschrift wurden die einzelnen Buchstaben miteinander verbunden.<br />

Das Schreiben war nach der großen Preußischen Schulreform von 1741 normiert<br />

und aus dem Leben der Menschen nicht mehr wegzudenken. Es erfüllt auch, sagt<br />

Overgaauw, ein menschliches Grundbedürfnis. Seine Intimität zeige sich darin, dass<br />

zum Beispiel Kochrezepte bis heute meistens handgeschrieben sind. Den Siegeszug<br />

der deutschen Schreibschrift schien noch in den 1920er Jahren nichts aufhalten zu<br />

können. Ludwig Sütterlin vereinfachte die Kurrentschrift 1911 noch einmal, 1935<br />

wurde sie verbindlich an allen deutschen Volksschulen gelehrt.<br />

1941 k<strong>am</strong> der Umschwung. Frankreich war erobert. Bald würde ganz Europa<br />

Deutsch sprechen. Dann allerdings, überlegte Martin Bormann, Hitlers Leiter der<br />

Parteikanzlei, hätte man es mit Völkern zu tun, die Lateinisch schrieben. Er ließ<br />

daher die deutsche Schrift nicht mehr lehren. Ab 1941 lernten alle deutschen<br />

Schulkinder nur noch die lateinische Ausgangsschrift. Ironie der Geschichte: weil so<br />

viele Dokumente aus der Nazizeit in Fraktur und Sütterlin überliefert sind, haftet ihr<br />

heute das Odium der "Stacheldrahtschrift" an.<br />

Heute können nur noch wenige Menschen die Kurrentschrift. Die H<strong>am</strong>burger<br />

Sütterlinstube kann sich entsprechend vor Aufträgen nicht retten. Was nach außen<br />

hin wie eine nette Seniorenbeschäftigung aussehen mag, ist wichtig, um einen Teil<br />

des kulturellen Erbes zu sichern. "Ich wage mir nicht auszumalen, was passiert,<br />

wenn wir nicht mehr da sind", sagt Peter Hohn von der Sütterlinstube. "Dann wird es<br />

nur noch ein paar wenige unbezahlbare Experten geben, die die alte Schrift lesen<br />

können." Weil aber handgeschriebene Dokumente oft intime Mitteilungen sind, die<br />

nicht der politisch korrekten Denkweise der Zeit entsprechen, sind sie eine<br />

unschätzbare Quelle für Historiker und für jeden F<strong>am</strong>ilienforscher, der die<br />

Liebesbriefe zwischen Oma an Opa lesen will.<br />

Jugendarbeit, da sind sich alle Beteiligten einig, ist deshalb nötiger denn je. Denn<br />

wenn der Generationenfaden erst einmal abgeschnitten ist, gibt es keinen Zugang<br />

mehr zum alten Wissen. Die Staatsarchive halten meistens nur eine Buchstabentafel<br />

bereit, aber d<strong>am</strong>it kann man keine ausgeschriebene Handschrift lesen. Die<br />

Universitäten Heidelberg und FU Berlin bieten im Rahmen der Studiengänge<br />

"Editionswissenschaft" zwei Semesterdoppelstunden "Paläografie" an.


Weitere Bibliotheken? Institute? Fehlanzeige. "Dafür ist kein Geld da", heißt es. Die<br />

Bibliotheken leisten sich die Retrodigitalisierung, nicht aber die Lehre der alten<br />

Schriften, in denen die Dokumente verfasst sind. "Noch vor zehn Jahren", sagt<br />

Roland Reuß, "habe ich mitleidiges Lächeln der Kollegen geerntet, als ich forderte,<br />

man müsse so etwas können, wenn man als Literaturwissenschaftler seriös arbeiten<br />

will."<br />

Gerade hat H<strong>am</strong>burg das fakultative Erlernen der vereinfachten lateinischen<br />

Schreibschrift abgeschafft. Wer hier 2011 schreiben lernt, wird später Muttis<br />

Einkaufszettel von 2011 nicht lesen können.

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