Schreibschrift gegen Druckschrift - Grundschulverband
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<strong>Schreibschrift</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Druckschrift</strong><br />
Kulturkampf an den Grundschulen<br />
von<br />
Petra Sorge<br />
5. September 2011<br />
picture alliance<br />
Hamburger Kinder werden vielleicht nie wieder die klassische <strong>Schreibschrift</strong> kennenlernen.<br />
In Hamburg müssen Grundschulen ab diesem Schuljahr nicht mehr die<br />
<strong>Schreibschrift</strong> unterrichten. Die Schüler können stattdessen nur noch die<br />
<strong>Druckschrift</strong> lernen. Auch andere Bundesländer testen das vereinfachte<br />
Schreiben an ihren Grundschülern. Eltern und Schreibexperten schlagen<br />
Alarm.<br />
Das große „H“ mit einem Haken und zwei Schleifen, beim „A“ ein Anfangsbogen<br />
und ein kreisförmiger Mittelbalken: Millionen Deutsche haben diese Buchstaben<br />
noch mit Feder und Tinte in ihre Schulhefte gekratzt. In der ersten Klasse lernten<br />
sie, die sogenannte lateinische Ausgangsschrift in normierte Zeilen mit vier<br />
Linien und breitem Mittelbalken zu schreiben.<br />
Einige Hamburger Kinder werden diese schnörkelreiche Schwungschrift<br />
wahrscheinlich nicht mehr kennenlernen. Denn in der Hansestadt darf seit Beginn<br />
des Schuljahres die sogenannte „Grundschrift“ unterrichtet werden. Die<br />
Bildungsbehörde hatte den Schulen freigestellt, ob sie sich der Reform per<br />
Beschluss der Lehrerkonferenz anschließen oder weiterhin Druck- und<br />
<strong>Schreibschrift</strong> lehren.<br />
Die Grundschrift, erklärt Horst Bartnitzky, Ex-Chef des <strong>Grundschulverband</strong>s, sei<br />
eigentlich gar keine neue Schrift, sondern „eine mit der Hand geschriebene<br />
<strong>Druckschrift</strong>“. Die Schüler könnten die Schrift jeden Tag in ihrer Lebenswelt<br />
sehen – auf Werbetafeln, Alltagsprodukten oder auf dem Computer, den viele<br />
Kinder schon vor der Einschulung beherrschen. Bislang werde die Druck- und<br />
<strong>Schreibschrift</strong> in den Eingangsklassen zeitlich versetzt unterrichtet, erklärt der<br />
pensionierte Pädagoge. „Dadurch wird der aktive Schreibprozess unterbrochen.“
Mit der Grundschrift würde dies jedoch vereinheitlicht: Die Kinder lernen nur<br />
noch die <strong>Druckschrift</strong>. Die Buchstaben würden dann durch einfache Wendebögen<br />
miteinander verbunden und so zur <strong>Schreibschrift</strong>. „Der Zwischenschritt über die<br />
erlernte <strong>Schreibschrift</strong> entfällt, weil die Kinder direkt auf dem Weg zu ihrer<br />
individuellen Handschrift begleitet werden sollen“, fordert Bartnitzky und<br />
zerstreut Zweifel: „Die Schrift bleibt formklar, lesbar und ist mit Schwung zu<br />
schreiben.“ Ohnehin hätten viele Jungen mit den Haken, Schleifen und Strichen<br />
der lateinischen Ausgangsschrift viel Mühe.<br />
Walter Scheuerl, graues Haar, buschige Augenbrauen und Hornbrille, erwartet<br />
da<strong>gegen</strong> einen „Wildwuchs an Schriften schon in der Mittelstufe“. Den Kindern<br />
dürfe es nicht freigestellt werden, bei den Buchstaben individuelle<br />
Verknüpfungen zu machen. Mit seiner Hamburger Initiative „Wir wollen lernen“<br />
leitete Scheuerl im vergangenen Jahr bereits den Elternaufstand <strong>gegen</strong> die<br />
Abschaffung des Gymnasiums und brachte das wichtige schwarz-grüne<br />
Reformprojekt zu Fall. Die Grundschrift führe zu einer „Nivellierung nach unten“,<br />
fürchtet der Rechtsanwalt und zweifache Vater. „An den weiterführenden Schulen<br />
sind Kinder, die nur die <strong>Druckschrift</strong> können, benachteiligt, vor allem, wenn sie<br />
lange Aufsätze schreiben müssen.“<br />
Er übte auch Kritik an der Argumentation des Hamburger Schulsenators Ties<br />
Rabe. Nur weil die <strong>Schreibschrift</strong> einigen Schülern schwerer falle, dürfe man sie<br />
nicht aufgeben. Scheuerl sieht das Problem eher bei den Lehrern: „Die haben<br />
doch nicht mal mehr Schreibdidaktik in ihrer Universitätsausbildung.“<br />
Der <strong>Grundschulverband</strong>, der die Schreibreform maßgeblich vertritt, sieht das<br />
anders. „Wir wollen, dass die eigene Handschrift wieder mehr in den Mittelpunkt<br />
des Unterrichts rückt“, sagt Erika Brinkmann, Pädagogin an der Hochschule<br />
Schwäbisch Gmünd. So sollten wieder mehr Schönschreibübungen gemacht<br />
werden, etwa mit Gedichten oder verzierten Initialen. Brinkmann verweist auch<br />
auf Erfahrungen im Ausland. Weder in Frankreich noch in Spanien werde die<br />
lateinische Ausgangsschrift unterrichtet.<br />
In Schweden und England können sich die Schulen ihr Schriftmodell selber<br />
aussuchen, und in Neuseeland schreiben die Kinder bis zur vierten Klasse mit<br />
<strong>Druckschrift</strong>. „Es gibt keine Anzeichen, dass Menschen, die erst die <strong>Druckschrift</strong><br />
und dann eine verbundene Ausgangsschrift lernen, langsamer schreiben“, sagt<br />
Brinkmann.<br />
Wenige Erwachsene – die nach jahrelanger Erfahrung eine sehr ökonomische<br />
Handschrift entwickeln – würden noch so schreiben wie in der Schule. Studien<br />
zufolge verbinden sie nicht jeden Buchstaben einzeln, wie das die Norm<br />
eigentlich vorsieht, sagt Brinkmann. „Sie setzen dazwischen auch mal den Stift<br />
ab.“ Der Zwang, alle Buchstaben eines Wortes zu verbinden, führe schneller zum<br />
Krampf in den Händen, behauptet die Pädagogin. „Das merken Sie, wenn Sie mal<br />
versuchen, das Wort ‚Silvesterfeuerwerk‘ durchgängig zu schreiben.“<br />
Für den <strong>Grundschulverband</strong> hat Brinkmann die Lehrpläne der 16 Bundesländer<br />
untersucht. Ihr Fazit: „Da steht nirgendwo, dass Kinder die lateinische<br />
Ausgangsschrift lernen müssen. Das Ziel ist die persönliche Handschrift der<br />
Kinder – und die darf auch eine verbundene <strong>Druckschrift</strong> sein.“<br />
Die Grundschrift darf nicht nur in Hamburg, sondern auch in Nordrhein-Westfalen<br />
erprobt werden. Selbst im Süden ist man interessiert: Bayern will das<br />
Experiment zum Ende der Sommerferien im September an vier Grundschulen
starten, Baden-Württemberg an 16 Schulen. Brinkmann begleitet die Versuche in<br />
Schwäbisch Gmünd wissenschaftlich. Sie sammelt Schriftproben von<br />
Erstklässlern der dortigen Klösterleschule.<br />
Einige Zeitungen finden sich da<strong>gegen</strong> auf der Seite der Kritiker des<br />
Schulexperiments. So ließ die Berliner Tageszeitung die frühere Lehrerin und<br />
Buchautorin Karin Pfeiffer-Stolz zu Wort kommen. Aus ihrer Sicht ist die<br />
Grundschrift fürs Lernen eher hinderlich. Nur noch zu drucken statt zu schreiben<br />
sei wie ein Wettrennen in Holzpantoffeln statt in Turnschuhen, monierte sie.<br />
Die konservative Frankfurter Allgemeine sieht die deutsche Kulturpolitik sogar an<br />
einem Scheideweg. Schon jetzt könnten die Deutschen kaum noch alte deutsche<br />
Schriften lesen. Bestes Beispiel sei Bundespräsident Christian Wulff: Er habe in<br />
einem Interview eingeräumt, die Familienchronik seines Großvaters nicht lesen<br />
zu können, weil diese in der altdeutschen Sütterlin verfasst sei.<br />
Diese und alle anderen deutschen <strong>Schreibschrift</strong>en entstanden ab dem 15 und<br />
16. Jahrhundert aus der Fraktur. Die erste Verkehrsschrift in den deutschen<br />
Ländern war die schräg geneigte Kurrent, mit der auch Goethe und Schiller ihre<br />
Gedichte verfassten. Die Kurrentschrift eignete sich besonders für den Gänsekiel.<br />
Anfang des 20. Jahrhunderts entwarf der Grafiker Ludwig Sütterlin eine neue,<br />
senkrecht ausgerichtete Schrift. Die Sütterlin ging mit den damals üblichen<br />
Stahlfedern einfacher von der Hand. Sie war zwischen 1924 und 1941 die<br />
verbindliche <strong>Schreibschrift</strong> in den deutschen Ländern. Ausgerechnet die<br />
Nationalsozialisten, die die altdeutschen Lettern fälschlicherweise als „jüdisch“<br />
brandmarkten, schafften die Sütterlin ab. Stattdessen wurde die Deutsche<br />
Normalschrift eingeführt, später abgelöst durch die Lateinische Ausgangsschrift<br />
(LAS).<br />
Nach dem Krieg entwickelten sich in Ost und West weitere Varianten. 1968<br />
wurde in der damaligen DDR die sogenannte „Schulausgangsschrift“ (SAS)<br />
eingeführt, deren Kleinbuchstaben noch weitgehend der lateinischen Norm<br />
entsprechen. Da<strong>gegen</strong> kommen die Großbuchstaben der SAS ohne Schnörkel<br />
daher. In der Bundesrepublik setzte sich ab 1973 vielerorts die „Vereinfachte<br />
Ausgangsschrift“ (VA) durch. In Nordrhein-Westfalen hat diese Variante, die der<br />
<strong>Druckschrift</strong> am ähnlichsten ist, die lateinische Ausgangsschrift am weitesten<br />
verdrängt.<br />
Die Münchner Schreibexpertin Ute Andresen sieht die neue Grundschrift mit<br />
Grausen. „Leere Versprechungen, falsch gedacht und irreführend!“, wettert die<br />
Pädagogin. „Wie Erwachsene schreiben, darf nicht Modell für Anfänger sein.“<br />
Die Ausgangsschrift brauche ausführliche Formen und Verbindungen, die später<br />
individuell vereinfacht werden könnten. „Die einzelnen Buchstaben müssen sich<br />
geschmeidig verändern können, je nachdem, wo sie eingefügt werden. Nur so<br />
wird das Schreiben flüssig“, erklärt Andresen. Wenn Buchstaben aber<br />
„formstabil“ geschrieben werden sollen, könnten schnell Unleserlichkeiten
entstehen. Das sei etwa an den Kinderschriften nach der Vereinfachten<br />
Ausgangsschrift zu sehen.<br />
Probleme beim Erlernen der <strong>Schreibschrift</strong> entstehen aus Andresens Sicht vor<br />
allem dann, wenn sich die Schüler schon mit der <strong>Druckschrift</strong> ungünstige<br />
Bewegungsmuster aneigneten. „Das Grundschrift-Konzept sieht aber vor, dass<br />
Kinder eigenwillige Bewegungsmuster entwickeln und beibehalten dürfen“,<br />
moniert Andresen. Dabei könnten Kinder die <strong>Schreibschrift</strong> binnen drei Wochen<br />
erlernen, wenn sie die Druckbuchstaben gleich in verbindlicher Linienführung<br />
eingeübt hätten.<br />
Noch schlimmer sei, dass die Kinder bei den Hausaufgaben von niemandem Hilfe<br />
erwarten könnten. „Weder die Eltern noch die Erzieher kennen die Grundschrift,<br />
so dass es zu Hause zu unfruchtbaren Zankereien kommen wird.“ Andresen<br />
kritisiert, dass der <strong>Grundschulverband</strong> die Schule nun zu einem „Testfeld“<br />
machen wolle.<br />
Einen Versuch für eine neue <strong>Schreibschrift</strong> gab es in Hamburg schon einmal.<br />
2001 brachte die Lehrerin Amelie Sjölin den Kleinen nur die <strong>Druckschrift</strong> bei. In<br />
der zweiten Klasse sollten die Kinder dann die Buchstaben verbinden. Hier und<br />
da konnten sie sich auch an Alternativen ausprobieren. Mehr noch: Wer weiter<br />
gedruckt schreiben wollte, durfte das.<br />
Das Ergebnis: Die Wahlfreiheit führte zu größerer Unsicherheit, den Kindern fiel<br />
das Schreiben insgesamt schwerer. Eine verbindliche Ausgangsschrift – wie die<br />
Schulausgangsschrift –, so lautete das Fazit der Wissenschaftlerin, engt zwar die<br />
individuelle Gestaltungsfreiheit der Schüler ein. Sie erleichtert aber den<br />
Lernprozess.