Die Religion der Baul-Gemeinschaft
Die Religion der Baul-Gemeinschaft
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<strong>Die</strong> <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong><br />
Eine Studie über eine <strong>Religion</strong>sgemeinschaft <strong>der</strong> Shudras und Kastenlosen in<br />
Indien<br />
Kabita Rump<br />
Hannover, 2000
Inhaltsverzeichnis<br />
Einleitung 4<br />
Kapitel 1: <strong>Baul</strong>s als Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> 9<br />
<strong>Die</strong> Kastenzugehörigkeit 9<br />
<strong>Die</strong> verschiedenen Gruppen 10<br />
<strong>Die</strong> Musik und die Bekleidung 11<br />
<strong>Die</strong> finanzielle Lage <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s 13<br />
Das Akhara (die Wohngemeinschaft) 14<br />
Das eheähnliche Verhältnis mit <strong>der</strong> sadhana-sangini<br />
(<strong>der</strong> spirituellen Partnerin) 16<br />
Der kulturelle Beitrag 17<br />
<strong>Baul</strong>s und die Politik 18<br />
<strong>Die</strong> Freizeitaktivitäten 19<br />
Das Bild <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s in <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft<br />
in West Bengal 20<br />
Untersuchungsergebnisse 21<br />
Kapitel 2: Shri Caitanya und die Gründung <strong>der</strong><br />
<strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> 24<br />
Bestimmungen über Shudras und Kastenlosen in den<br />
Dharmashastras 24<br />
<strong>Die</strong> vom Vishnu-Kult und vom Shakti-Kult<br />
geleistete Vorarbeit 24<br />
Shri Caitanya 25<br />
<strong>Die</strong> Gründung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> 28<br />
Untersuchungsergebnisse 32<br />
Kapitel 3: <strong>Die</strong> philosophischen Gedanken und die Mystik<br />
<strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> 33<br />
<strong>Die</strong> Ansichten über die Welt und das Leben 33<br />
Prem (die Gottesliebe sowie die göttliche Liebe),<br />
<strong>der</strong> Weg zur Befreiung 35<br />
Sharira-tattva, Deha-tattva (die mystische Physiologie) 36<br />
<strong>Die</strong> vierundzwanzig Tattvas 40<br />
Ripus (Feinde) und Darajas/Duyaras (Türen) 41<br />
Naris (Kanäle im Körper) 42<br />
Cakras (Zentren) und die Kundalini-shakti im Körper 43<br />
Granthis (Knoten) im Körper 45<br />
Candra/Cãda (die Monde im Körper) 46<br />
Mukti (die Befreiung) in <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> 46<br />
Untersuchungsergebnisse 47<br />
Kapitel 4: <strong>Die</strong> Gottesbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> 48<br />
Das von den Puranas beeinflußte Gottesbild 48<br />
Das vom Tantra beeinflußte Gottesbild 49<br />
Das vom Caitanya-Vaishnavismus beeinflußte<br />
Gottesbild 50<br />
2
Gott, <strong>der</strong> Purusha 52<br />
Gottes Wohnort 52<br />
<strong>Die</strong> höchste Wahrheit erscheint als Gott <strong>der</strong> fremden<br />
<strong>Religion</strong>en 53<br />
Untersuchungsergebnisse 53<br />
Kapitel 5: Feste, Rituale, Guru und die spirituelle Partnerin 54<br />
<strong>Die</strong> Melas (Treffen), die Feste 54<br />
Das Jayadeva-mela 54<br />
Untersuchungsergebnisse 56<br />
Das Kartabhaja-mela 57<br />
Untersuchungsergebnisse 57<br />
Das Paush-mela (das Treffen im Monat Paush) und<br />
das Magh-mela (das Treffen im Monat Magh) 58<br />
Untersuchungsergebnisse 59<br />
Rituale 60<br />
Der Mahotsava, im Dialekt: Macchaba<br />
(die große Feier) 60<br />
Untersuchungsergebnisse 61<br />
Das Malasa-bhoga (die Opferung <strong>der</strong> Speise im<br />
Tontopf) 62<br />
Untersuchungsergebnisse 64<br />
Das Kanthi-badal (<strong>der</strong> Austausch <strong>der</strong> Ketten) 64<br />
Untersuchungsergebnisse 67<br />
Der Caricandra(Vier-Monde)-Ritus 68<br />
Untersuchungsergebnisse 69<br />
Der Mahayoga (<strong>der</strong> große Yoga) 69<br />
Untersuchungsergebnisse 72<br />
Diksha (die Initiation) 73<br />
Untersuchungsergebnisse 74<br />
Shraddha (das Totenzeremonie) 74<br />
Untersuchungsergebnisse 75<br />
Guru 76<br />
Untersuchungsergebnisse 77<br />
Sadhana-sangini (die spirituelle Partnerin) 77<br />
Untersuchungsergebnisse 78<br />
Schluß 79<br />
<strong>Die</strong> Theorie 84<br />
Anhang: <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> 85<br />
Index zu den <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>n 145<br />
Anhang: Lie<strong>der</strong> von Candidas über die Liebe zwischen Krishna<br />
und Radha 149<br />
Wort- und Namensindex 151<br />
Bibliographie 153<br />
Abbildungen 159<br />
3
Einleitung<br />
<strong>Die</strong> wissenschaftliche Fragestellung<br />
<strong>Die</strong> hinduistische Gesellschaft ist in vier Kasten, Brahmana, Kshatriya, Vaishya und Shudra<br />
und die Kastenlosen geteilt. <strong>Die</strong> heiligen Schriften des klassischen Hinduismus untersagen<br />
den Shudras und Kastenlosen das Lernen <strong>der</strong> Veden, den Vollzug <strong>der</strong> vedischen Zeremonien<br />
(yajña) und die übliche Gottesverehrung (puja). <strong>Die</strong>s dürfen nur die drei oberen<br />
Kasten. Neben dem klassischen Hinduismus, <strong>der</strong> in den heiligen Schriften <strong>der</strong> Hindus präsentiert<br />
wird, bestehen in Indien mehrere Strömungen, die von den Shudras und Kastenlosen<br />
praktiziert werden. Über diese Strömungen gibt es bis heute fast keine wissenschaftlichen<br />
Arbeiten. Solche Arbeiten sind jedoch wünschenswert, da man sonst nicht weiß, wie<br />
die Shudras und Kastenlosen, die ebenso Hindus sind wie die Brahmanen, Kshatriyas und<br />
Vaishyas, ihre <strong>Religion</strong> praktizieren. Deshalb ist es nötig, daß die <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> Shudras und<br />
Kastenlosen untersucht wird. Solche Untersuchungen werden das Bild vom Hinduismus<br />
vervollständigen. <strong>Die</strong> hier vorgelegte Studie möchte ihren Beitrag in diesem Sinne leisten.<br />
Sie ist eine analytische Darstellung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong>, die aus Shudras und Kastenlosen<br />
besteht und im Bundesstaat West Bengal, Indien, beheimatet ist. <strong>Die</strong> wissenschaftliche<br />
Fragestellung <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit lautet: Was verstehen die <strong>Baul</strong>s unter Hinduismus, da<br />
sie doch die Veden nicht lernen dürfen und daher auch die Lehre <strong>der</strong> Veden nicht kennen<br />
können und wie üben sie den Hinduismus aus, da sie doch den Tempel nicht betreten und<br />
die Zeremonien nicht vollziehen dürfen; wie ist ihr Verhältnis zum klassischen Hinduismus;<br />
wie reagiert die Autorität <strong>der</strong> indischen Gesellschaft, die aus den drei oberen Kasten besteht,<br />
auf die religiösen Praktiken <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s und wie fügt sich die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> in diese<br />
bunte pluralistische Gesellschaft ein? Zur Beantwortung dieser Fragen wird eine Theorie<br />
entwickelt.<br />
Bisherige Arbeiten über die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s gelten unter den Intellektuellen im Bundesstaat West Bengal, Indien, als Kuriositäten.<br />
So gibt es zwar keine wissenschaftliche Arbeit über sie, die sie vollständig darstellt,<br />
aber es gibt hier und da einen Aufsatz o<strong>der</strong> ein Buch über diese Leute, die mit ihrer Freiheit<br />
die Intellektuellen faszinieren, vor allem auch deshalb, weil die Intellektuellen, die ausschließlich<br />
aus den drei oberen Kasten stammen, über die Rituale und Lebensbedingungen<br />
<strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s wenig wissen. Solche Literaturen stellen die <strong>Baul</strong>s häufig als souveräne Rebellen<br />
dar, die über <strong>der</strong> Kastengesellschaft stehen. Als Beispiele können hier <strong>der</strong> Aufsatz Kakoli<br />
Banerjee: <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s, Symbol <strong>der</strong> Revolte gegen die Orthodoxie, Indien, Perspektiven, Februar<br />
1993, S. 10-13 und das Buch von Bhaskar Bhattacharyya: The Path of the Mystic<br />
Lover, <strong>Baul</strong> Songs of Passion and Ecstasy, genannt werden. <strong>Die</strong> Wahrheit sieht an<strong>der</strong>s aus,<br />
wie die gegenwärtige Studie zeigt. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s bilden zwar für sich selbst eine subjektive<br />
Welt, in <strong>der</strong> sie ihre Würde bewahren können, aber die Geschehnisse in ihrem Umfeld lassen<br />
sie nicht kalt. Sie leiden, genau wie ihre Kastengenossen, unter gesellschaftlicher und<br />
finanzieller Benachteiligung. Es ist verständlich, daß gerade die Intellektuellen einer Gesellschaft,<br />
die im säkularen Bereich keine individuelle Freiheit erlaubt, da von den Dharmashastras<br />
je<strong>der</strong> Schritt für die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> drei oberen Kasten festgelegt ist, von den<br />
<strong>Baul</strong>s fasziniert sind. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sind diejenigen, die sich <strong>der</strong> bestehenden Ordnung nicht<br />
4
unterwerfen, indem sie verkünden, daß die Veden die wahre <strong>Religion</strong> nicht wie<strong>der</strong>geben und<br />
daß die Bestimmungen <strong>der</strong> Dharmashastras kleinlich sind. Es besteht kein Zweifel daran,<br />
daß die <strong>Baul</strong>s auf ihre Weise rebellieren, aber sie tun es, weil sie vom klassischen<br />
Hinduismus ausgeschlossen sind und nicht tatsächlich deshalb, weil sie nicht gerne die <strong>Religion</strong><br />
<strong>der</strong> drei oberen Kasten praktiziert hätten. Kapitel 5, Feste und Rituale, zeigt, wie sie<br />
in Anlehnung an den Hinduismus ihre Feste und Rituale gestalten. Eine weitere Kritik <strong>der</strong><br />
Autorin an Bhaskar Bhattacharyyas Buch ist die, daß er auch die Fakire und Derwische<br />
<strong>Baul</strong>s nennt, so daß man nicht weiß, ob die von ihm zitierten Lie<strong>der</strong> tatsächlich von den<br />
<strong>Baul</strong>s verfaßt worden sind o<strong>der</strong> von den Fakiren und Derwischen. Oft behandelt ein Buch<br />
die <strong>Baul</strong>s so oberflächlich, daß man, auch nachdem man das Buch gelesen hat, nicht viel<br />
über die <strong>Baul</strong>s weiß. Ein <strong>der</strong>artiges Buch ist P. Bandyopadhyay: <strong>Baul</strong>s of Bengal, Calcutta,<br />
1989. Das Buch von Alokeranjan Dasgupta: Leben in Lie<strong>der</strong>n, Meistertexte aus Indien und<br />
Bangladesch, Nürnberg, 1992 zitiert Lie<strong>der</strong>fragmente, so daß die Strophen aus dem Zusammenhang<br />
gerissen sind. Außerdem vermittelt <strong>der</strong> Titel den Eindruck, als ob <strong>der</strong> Autor<br />
die zitierten Lie<strong>der</strong> in Indien und Bangladesh gesammelt hat, was höchstwahrscheinlich<br />
nicht <strong>der</strong> Fall ist. Wahrscheinlich meint Dasgupta, daß von ihm zitierte Lie<strong>der</strong> zum Teil aus<br />
Indien und zum Teil aus Bangladesh stammen, weil einige dieser Lie<strong>der</strong> vor dem 15.8.1947<br />
verfaßt worden sind, als Pakistan und Bangladesh zu Indien gehörten.<br />
Es gibt zwei ernstzunehmende Bücher über die <strong>Baul</strong>s, Upendranath Bhattacarya: Banglar<br />
baul o baul gan, Kalikata, 1957, geschrieben auf Bengali, <strong>der</strong> Sprache des Bundesstaates<br />
West Bengal, und Manas Ray: The <strong>Baul</strong>s of Birbhum, Calcutta, 1994. Wahrscheinlich hin<strong>der</strong>te<br />
seine Bewun<strong>der</strong>ung für die <strong>Baul</strong>s Bhattacarya, dem Leser ein <strong>der</strong> Wahrheit entsprechendes<br />
Bild <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s zu vermitteln. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s wurden hier idealisiert. Frei von allen<br />
weltlichen Bedürfnissen suchen sie Gott. Sie leben in Einsamkeit und sind perfekte Asketen.<br />
Sie sind Yogis, die Feste und Rituale ablehnen und Gott im eigenen Körper suchen. Nun<br />
stimmt es, daß die <strong>Baul</strong>s Tantrayoga praktizieren und daher Gott im eigenen Körper suchen,<br />
und ihre Freizeit unter sich verbringen. Aber sie sind auch Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> wie alle<br />
an<strong>der</strong>en, die sowohl die weltlichen als auch die spirituellen Bedürfnisse spüren und auch<br />
dementsprechend handeln. Asketen, die Bhattacarya beschreibt, findet man im Himalaya.<br />
<strong>Die</strong>se Asketen üben aber nicht den Tantrayoga, son<strong>der</strong>n den Rajayoga, <strong>der</strong> keine Partnerin<br />
zuläßt. Gelobt werden muß jedoch die Lie<strong>der</strong>sammlung, die Bhattacarya seinem Leser<br />
darbietet. <strong>Die</strong>se Sammlung enthält insgesamt 680 <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>. Allerdings erläutert <strong>der</strong><br />
Autor kein einziges Lied, so daß diese für die Mehrheit <strong>der</strong> Leserschaft unverständlich<br />
bleiben. Denn oft verfassen die <strong>Baul</strong>s ihre Lie<strong>der</strong> in einer Geheimsprache, so daß die<br />
Nichteingeweihten diese nicht verstehen. Das Buch des Anthropologen Manas Ray ist eine<br />
132 Seiten umfassende Abhandlung über die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong>. Der Schwerpunkt dieser<br />
Arbeit liegt auf dem gesellschaftlichen Aspekt <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong>. <strong>Die</strong> religiösen<br />
Praktiken <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s werden in diesem Buch auf 17 Seiten und die Rituale auf 8 Seiten abgehandelt.<br />
Ray zitiert, rechnet man die Fragmente dazu, 10 <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> insgesamt, im Original,<br />
d. h. auf Bengali mit einer kurzen freien Übersetzung, da nicht hier <strong>der</strong> Schwerpunkt<br />
seiner Studie liegt. Das Buch ist jedoch interessant für Soziologen, da sich <strong>der</strong> Autor hier<br />
auf die gesellschaftlichen Aspekte <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> konzentriert. Ein weiteres nennenswertes<br />
Buch ist Krishnendu Das: The <strong>Baul</strong>s of Bengal, Calcutta, weil er hier eine<br />
16seitige Biographie seines Vaters Purnadas <strong>Baul</strong> präsentiert. Purnadas <strong>Baul</strong> gilt heute als<br />
<strong>der</strong> Kaiser <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s und dient vielen jungen <strong>Baul</strong>s, die berühmt und reich werden möchten,<br />
als Vorbild.<br />
5
Ressourcen und Methode<br />
Der Grund, warum es keine wissenschaftliche Studie über die <strong>Baul</strong>s gibt, obwohl die Intellektuellen<br />
im Bundesstaat West Bengal, Indien, sich für die <strong>Baul</strong>s interessieren, liegt<br />
wahrscheinlich darin, daß die <strong>Baul</strong>s keine heiligen Schriften haben. <strong>Die</strong> einzige Quellenliteratur<br />
hierfür sind die <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>. <strong>Die</strong>se sind jedoch nicht auf Hochbengali, <strong>der</strong> Sprache<br />
<strong>der</strong> Gebildeten in West Bengal, son<strong>der</strong>n in den Dialekten des Bundesstaates verfaßt. <strong>Die</strong><br />
gebildeten Bürger verstehen diese Dialekte nicht. Fast immer enthalten die Lie<strong>der</strong> grammatische<br />
und orthographische Fehler. Oft sind die Sätze unvollständig. Hinzu kommt noch,<br />
daß die <strong>Baul</strong>s ihre Lie<strong>der</strong> zwar vor allen Leuten singen, es aber niemandem erlauben das<br />
Manuskript, falls sie eines haben, einzusehen o<strong>der</strong> zu photographieren. Sie mißtrauen den<br />
drei oberen Kasten und meinen, daß diese ihre <strong>Religion</strong> nur falsch darstellen können, da sie<br />
doch den klassischen Hinduismus praktizieren und von <strong>der</strong> wahren <strong>Religion</strong>, d. h. selbstverständlich<br />
von <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong>, nichts verstehen. <strong>Die</strong>s bedeutet, daß wer eine wissenschaftliche<br />
Arbeit über die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> schreiben möchte, ihr Vertrauen gewinnen<br />
muß, damit die <strong>Baul</strong>s ihm überhaupt ihre Lie<strong>der</strong>sammlung zeigen und interpretieren. Denn<br />
die auf Geheimsprache verfaßten Lie<strong>der</strong> sind ohne Erläuterung für die Hindus <strong>der</strong> drei oberen<br />
Kasten unverständlich, da sie mit den religiösen Praktiken <strong>der</strong> Shudras, hier <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s,<br />
nicht vertraut sind.<br />
Für mich war es möglich, das Vertrauen <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s zu gewinnen. Durch meine Schul- und<br />
Collegeausbildung an <strong>der</strong> Visva-Bharati University, Santiniketan, Bundesstaat West Bengal,<br />
bin ich mit vielen <strong>Baul</strong>s seit meiner Kindheit bekannt. <strong>Die</strong> Visva-Bharati University<br />
veranstaltet jedes Jahr zweimal (im Dezember und im Februar) ein Fest, zu dem sie unter<br />
an<strong>der</strong>en die <strong>Baul</strong>s einlädt. Bei diesem Fest lernte ich zum ersten Mal die <strong>Baul</strong>s kennen, als<br />
ich noch eine Schülerin war. Meine Ausbildung an <strong>der</strong> Visva-Bharati University, Santiniketan,<br />
die ein Schul- und Universitätsinternat ist, wurde im Jahr 1967 beendet. Meine Verbindung<br />
mit den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Universität besteht jedoch bis heute. Jedes Mal, wenn ich<br />
meine Heimat besuche, besuche ich auch meine ehemaligen Lehrer und Professoren und seit<br />
1984 auch die <strong>Baul</strong>s <strong>der</strong> Umgebung. Mein verstorbener Lehrer Brajagopal Gosvami machte<br />
mich während des dreitägigen Festes im Februar 1984 auf die Beson<strong>der</strong>heiten <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<br />
<strong>Religion</strong> aufmerksam und mit verschiedenen <strong>Baul</strong>s bekannt. Durch die Vermittlung von<br />
Herrn Gosvami gewann ich schnell das Vertrauen <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s <strong>der</strong> Umgebung. Auch Narayan<br />
Gosvami, ein Angestellter <strong>der</strong> Visva-Bharati University, half mir in dieser Beziehung. Er<br />
stellt immer die Liste <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s zusammen, die zum Fest im Februar eingeladen werden. So<br />
war es möglich, von ihm die Namen und Adressen von berühmten und weniger berühmten<br />
<strong>Baul</strong>s im ganzen Bundesstaat West Bengal zu erfahren. Der nächste Schritt bestand aus<br />
Gesprächen mit den <strong>Baul</strong>s. Jedes Mal, wenn ich in Indien war, habe ich möglichst viele<br />
<strong>Baul</strong>s besucht. Dabei habe ich nicht nur mir noch nicht bekannte <strong>Baul</strong>s, son<strong>der</strong>n auch mir<br />
schon bekannte <strong>Baul</strong>s besucht. Im Jahre 1994 war ich zum letzten Mal in Indien. Das letzte<br />
Gespräch führte ich jedoch am 06.08.98 in Detmold mit Purnadas <strong>Baul</strong> und seiner Frau<br />
Mañjudasi <strong>Baul</strong>, die auf einer Europa-Tournee waren. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s in Indien haben mir ihre<br />
Lie<strong>der</strong> erläutert. Ohne diese Lektüre wäre es für mich nicht möglich, eine Arbeit über die<br />
<strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> zu schreiben. Ich sagte ihnen jedoch nicht, daß ich eine Arbeit über sie<br />
schreiben wollte, da dies ihr Mißtrauen hätte erwecken können. Deshalb sind die Interviews<br />
auch nicht auf dem Tonband festgehalten worden. Um die intersubjektive Nachprüfbarkeit<br />
zu gewährleisten, sind alle namentlich genannten <strong>Baul</strong>s in dieser Arbeit mit ihrem Wohnort<br />
erwähnt worden. Während <strong>der</strong> Feldstudie gab es außer den durch die Verkehrsmittel<br />
bedingten keine beson<strong>der</strong>en Probleme. Nicht alle Wohnorte <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s konnten mit dem<br />
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Omnibus erreicht werden. Aber auch das Verkehrsmittelproblem konnte mit Hilfe <strong>der</strong><br />
Riksha gelöst werden. Was die Gespräche mit den <strong>Baul</strong>s angeht, erwähnte ich gleich bei <strong>der</strong><br />
Vorstellung, daß ich mit Brajagopal Gosvami, Narayan Gosvami und einigen an<strong>der</strong>en <strong>Baul</strong>s<br />
bekannt war. <strong>Die</strong>s beeinflußte die Feldstudie positiv. <strong>Die</strong> Lie<strong>der</strong>sammlung, die Entzifferung<br />
ihrer Geheimsprache und das Interview geschah am selben Tag und gingen ineinan<strong>der</strong> über.<br />
Ich respektierte die unbürokratische und langsame Art <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s und war nicht enttäuscht,<br />
wenn an einem Tag mein Besuch bei einem <strong>Baul</strong> nicht viel Material hergab.<br />
Um die Lie<strong>der</strong> sprachlich zu verstehen, mußte ich die Dialekte lernen, was nicht beson<strong>der</strong>s<br />
schwierig war.<br />
<strong>Die</strong> materiellen Grundlagen <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit bilden die publizierten und die noch<br />
nicht veröffentlichten <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>, Gespräche mit den <strong>Baul</strong>s und ihren Partnerinnen, die in<br />
verschiedenen Dörfern des Bundesstaates West Bengal wohnen, Gespräche mit den Mitglie<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> drei oberen Kasten des genannten Bundesstaates und die eigene Beobachtung.<br />
Weitere wichtige Quellenliteraturen dieser Untersuchung sind die von Krishnadas Kabiraj<br />
geschriebene Biographie von Caitanya Shri-shri-caitanya-caritamrita und an<strong>der</strong>e Schriften<br />
des Caitanya-orientierten Vaishnavismus in West Bengal, da die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> aus<br />
diesem Zweig des Hinduismus entstanden ist. <strong>Die</strong>se Schriften sind auf Bengali verfaßt. Für<br />
die Gewinnung von Erkenntnissen und die Entwicklung einer darauf basierten Theorie<br />
wurde ein hermeneutischer Ansatz verfolgt. Hierbei sind die Untersuchungsobjekte mit<br />
methodischer Distanz „von außen“ betrachtet und begriffen worden. Gleichzeitig ist aber<br />
auch das Nachvollziehen <strong>der</strong> Gedanken <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s berücksichtigt worden. Daher ist die<br />
Darstellung des Phänomens „die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> in dieser Arbeit keine wertende Beschreibung<br />
dieses Glaubens, son<strong>der</strong>n eine Untersuchung einer zeitgenössischen religiösen<br />
Bewegung. Daher sind auch Werturteile fällende Begriffe wie Irrlehre o<strong>der</strong> Aberglaube<br />
vermieden worden. <strong>Die</strong>s bedeutet jedoch nicht, daß hier die <strong>Religion</strong> einer Gesellschaftsschicht<br />
beschrieben wurde, ohne zu fragen, was diese bewogen hat, dieses o<strong>der</strong> jenes zu<br />
glauben und zu wollen. Es ist aber nicht das Ziel dieser Arbeit, die objektive Wahrheit dieser<br />
Grundüberzeugung herauszufinden. Mit einer methodischen Untersuchung versucht diese<br />
Arbeit, die religiösen Denkweisen <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s zu rekonstruieren und ihre religiösen<br />
Handlungsweisen nachvollziehbar zu machen. Hier waren auch Vergleiche mit dem klassischen<br />
Hinduismus notwendig, um festzustellen, wo die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> das klassische<br />
Modell akzeptiert und wo sie sich von ihm trennt und für sich selbst neue Denk- und<br />
Handlungsweisen entwickelt.<br />
<strong>Die</strong> in <strong>der</strong> Geheimsprache verfaßten Lie<strong>der</strong> ließ ich mir zunächst von den <strong>Baul</strong>s erläutern<br />
und erklären. Um die Objektivität bzw. die Richtigkeit <strong>der</strong> Erläuterungen und Erklärungen<br />
gegenzuprüfen, bin ich mit dem selben Lied zu mehreren <strong>Baul</strong>s gegangen, bis ich in <strong>der</strong><br />
Lage war die Codes selbst zu entziffern. <strong>Die</strong> Lie<strong>der</strong> sind in dieser Arbeit nach inhaltlichen<br />
und philologischen Gesichtspunkten gründlich untersucht und analysiert worden, da diese<br />
die Hauptquellen dieser Arbeit sind. <strong>Die</strong> Gespräche mit den <strong>Baul</strong>s und Nicht-<strong>Baul</strong>s stehen<br />
als die Quellen an <strong>der</strong> zweiten Stelle. <strong>Die</strong> Lie<strong>der</strong> und die Gespräche sind zunächst getrennt<br />
untersucht und dann miteinan<strong>der</strong> verglichen worden. <strong>Die</strong> Ergebnisse des Vergleichs sind,<br />
wo möglich, durch eigene Beobachtungen ergänzt worden. <strong>Die</strong> Bücher über den Caitanyaorientierten<br />
Vaishnavismus sind auf dem Buchmarkt in Indien erhältlich.<br />
7
Technische Einzelheiten<br />
<strong>Die</strong> Sanskrit- und die Bengali Wörter sind in dieser Arbeit in Klammern stets klein geschrieben,<br />
da die genannten Sprachen keine Groß- und Kleinbuchstaben kennen. Wo diese<br />
Wörter aber in einem deutschen Satz integriert worden sind, sind sie <strong>der</strong> deutschen Orthographie<br />
entsprechend groß o<strong>der</strong> klein geschrieben.<br />
<strong>Die</strong> Komposita werden we<strong>der</strong> im Sanskrit noch im Bengali mit Bindestrich geschrieben. <strong>Die</strong><br />
vorliegende Arbeit tut dies trotzdem, um dem Leser entgegenzukommen. Allerdings<br />
geschieht dies nach Ermessen <strong>der</strong> Autorin, so daß <strong>der</strong> Leser hier und da ein Kompositum<br />
ohne Bindestrich vielleicht doch lieber mit Bindestrich vorgefunden hätte.<br />
Es kommt vor, daß <strong>der</strong> Duden das Geschlecht eines Sanskrit-Wortes mißachtet, so wird z.<br />
B. <strong>der</strong> Mantra auf Sanskrit im Duden als das Mantra zitiert. In solchen Fällen sind immer die<br />
Artikel nach <strong>der</strong> Sanskrit-Grammatik bevorzugt worden.<br />
<strong>Die</strong> Leser werden darauf hingewiesen, daß viele in Indien publizierte Bücher keine Angabe<br />
über das Erscheinungsjahr haben, so daß in <strong>der</strong> Bibliographie diese Bücher ohne Jahr zitiert<br />
worden sind.<br />
Erläuterungen<br />
1. In <strong>der</strong> vorliegenden Studie wird <strong>Baul</strong>-dharma als <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> übersetzt. Der Begriff<br />
<strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> identifiziert sich mit <strong>der</strong> Emotion, dem Instinkt, Kult, Ritual, <strong>der</strong> Wahrnehmung,<br />
Beobachtung, dem Glauben, <strong>der</strong> Mystik und den metaphysischen Gedanken <strong>der</strong><br />
<strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong>.<br />
2. In dieser Arbeit werden die Begriffe Ishvar und Bhagavan als Gott und prem bzw.<br />
Krishna-prem des Caitanya-Vaishnavismus als Gottesliebe übersetzt.<br />
3. Klassischer Hinduismus: In dieser Arbeit wird <strong>der</strong> Hinduismus als <strong>der</strong> klassische Hinduismus<br />
bezeichnet, <strong>der</strong> die Veden und die Upanishaden für unfehlbar hält, die Weisungen<br />
<strong>der</strong> Dharmashastras und <strong>der</strong> Puranas einhält und die Epen Mahabharata und Ramayana für<br />
richtunggebend hält.<br />
4. <strong>Die</strong> Leser werden darauf hingewiesen, daß sowohl die tatsama (das selbe wie das) als<br />
auch die tatbhava (aus dem entstanden) Bengali Wörter nicht immer die gleiche Bedeutung<br />
haben, wie die original Sanskrit-Wörter.<br />
5. <strong>Die</strong> Leser werden darauf hingewiesen, daß die tasama und die tadbhava Bengali Wörter<br />
oft an<strong>der</strong>s buchstabiert werden als entsprechede Sanskrit-Wörter, z. B. Kavita und Devidas<br />
werden auf Bengali Kabita und Debidas buchstabiert.<br />
8
Kapitel 1<br />
<strong>Baul</strong>s als Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong><br />
<strong>Baul</strong>s sind Mitglie<strong>der</strong> einer <strong>Religion</strong>sgemeinschaft, die Caitanya (s. Kapitel 2) ihren Urguru<br />
nennt und seiner Lehre nach eigener Interpretation folgt. Sie sind heute im Bundesstaat<br />
West Bengal beheimatet. Vor <strong>der</strong> Unabhängigkeit Indiens im Jahre 1947 gab es auch im<br />
heutigen Bangladesh <strong>Baul</strong>s. Heute leben die <strong>Baul</strong>s im Bundesstaat West Bengal. <strong>Die</strong>ses<br />
Kapitel untersucht die Beson<strong>der</strong>heiten <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s, die ihnen eine individuelle Identität in <strong>der</strong><br />
indischen Gesellschaft verleihen.<br />
<strong>Die</strong> Kastenzugehörigkeit<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong> sind fast ausschließlich Shudras und Kastenlose. Als Folge ihrer Kastenzugehörigkeit<br />
sind sie auch meistens Analphabeten. Manche <strong>Baul</strong>s, die meinen, daß ihren Kin<strong>der</strong>n<br />
es einmal besser gehen sollte als ihnen selbst, schicken sie zur Schule. Aber es ist nicht<br />
selbstverständlich, daß die Dorfgesellschaft es akzeptiert. Es ist vorgekommen, daß die<br />
Dorfgemeinschaft sich dagegen entschieden hat, daß ihre Kin<strong>der</strong> mit den Kastenlosen in eine<br />
Schule gehen. In solchen Fällen verweigert die Dorfschule dem <strong>Baul</strong>-Kind den Schul -<br />
besuch. 1 Es gibt einzelne <strong>Baul</strong>s, die ursprünglich zu einer <strong>der</strong> oberen Kasten gehörten. Ursprünglich<br />
deshalb, weil Je<strong>der</strong> aus den oberen Kasten, <strong>der</strong> in die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> eintritt,<br />
seine ursprüngliche Kaste verliert und zum Kastenlosen wird, da er gegen die kastenbezogenen<br />
Regeln verstoßen hat. Denn die Dharmashastras verbieten den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
drei oberen Kasten den Umgang mit den Shudras und Kastenlosen. 2 . Hat man einmal seine<br />
Kastenzugehörigkeit verloren, ist die Rückkehr zum Elternhaus nicht mehr möglich. Denn<br />
in diesem Falle hätten auch die Eltern ihre Kastenzugehörigkeit verloren. <strong>Die</strong> soziale Sicherheit<br />
ist <strong>der</strong> einzige Grund, warum sie in diese <strong>Gemeinschaft</strong> eintreten. Als gewöhnlicher<br />
Bettler wird man oft abgewiesen, aber sobald man als ein religiöser Mensch auftritt, z. B. als<br />
Sadhu o<strong>der</strong> <strong>Baul</strong>, empfängt man Almosen und finanzielle Unterstützung bei Krankheitsfällen.<br />
Deshalb kommt es vor, daß hier und da ein Arbeitsloser aus <strong>der</strong> oberen Kaste in<br />
die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> eintritt, wie es z. B. bei Debidas <strong>Baul</strong> <strong>der</strong> Fall ist. Er, wohnhaft in<br />
Sãithiya, trat die in <strong>Gemeinschaft</strong> ein, als er wegen seiner schlechten Gesundheit seinen<br />
Arbeitsplatz verlor. Er wurde als Brahmane geboren. Jayadas <strong>Baul</strong>, wohnhaft Suripara,<br />
Bolpur, wurde in einer Brahmanenfamilie geboren. Nachdem er seine Stelle verloren hatte,<br />
trat er in die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> ein. Auch die ehemaligen Kriminellen ohne berufliche<br />
Perspektiven finden eine Zuflucht bei dieser <strong>Gemeinschaft</strong>. Santiram Das <strong>Baul</strong>, wohnhaft<br />
Mallarpur, war für seine kriminellen Tätigkeiten bekannt. Er wurde wegen eines Raubüberfalles<br />
verhaftet und bestraft. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis trat er in die <strong>Baul</strong>-<br />
<strong>Gemeinschaft</strong> ein.<br />
1 Siehe Krishnendu Das: The <strong>Baul</strong>s of Bengal, Calcutta, 2<br />
2 Vgl. z. B. Gautama-Dharmashastra XX, 2, Vashistha-dharmasutra I, 19-22<br />
9
<strong>Die</strong> verschiedenen Gruppen<br />
<strong>Die</strong> Maluidhari- und die Kistidhari-bauls<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> besteht aus zwei Gruppen, Maluidharis, d. h. <strong>Baul</strong>s, die eine ovale<br />
ausgehöhlte Kokosnußschale und Kistidharis, d. h. <strong>Baul</strong>s, die eine längliche ausgehöhlte<br />
Kokosnußschale immer bei sich haben. <strong>Die</strong>se Schale dient als Eß- und Trinkgeschirr und ist<br />
den <strong>Baul</strong>s heilig. Sie müssen dieses Geschirr immer mit sich tragen. Im ersten Augenblick<br />
scheint die Gruppierung nach dem Geschirr sinnlos zu sein. Aber sie unterscheiden sich<br />
nicht nur durch das Geschirr, son<strong>der</strong>n auch durch die Verhaltensweise. <strong>Die</strong> Maluidhari-<br />
<strong>Baul</strong>s dürfen nur einmal am Tag den Almosengang gehen. Alles, was sie am Tag als<br />
Almosen empfangen, teilen sie in drei Teile, einen Teil für den Urguru Caitanya, den sie<br />
liebevoll Mahaprabhu (großer Gott) nennen, den zweiten Teil für den direkten Guru und<br />
den dritten Teil für sich selbst. Der Anteil für Caitanya wird das ganze Jahr lang gesammelt,<br />
um damit das große alljährliche Fest Mahotsab (s. Kapitel 5) zu feiern. <strong>Die</strong> Kistidhari-<strong>Baul</strong>s<br />
haben keine solchen festen Regeln, was den Almosengang und Almosenertrag betrifft. Beide<br />
tragen eine große Tasche (ãcla) aus Baumwolle während des Almosengangs. In dieser<br />
Tasche tragen sie ihr Geschirr. Sie dient auch als die Tragetasche für den Almosenertrag.<br />
Tatsächlich gibt es aber genügend Maluidhari-<strong>Baul</strong>s, die mindestens zweimal den<br />
Almosengang gehen. Für die Maluidhari-<strong>Baul</strong>s sind Fisch, Fleisch, Eier, Zwiebeln und<br />
Knoblauch verboten. <strong>Die</strong>s entspricht einigen Bestimmungen von Manusmriti V, 5 und 11-<br />
15. <strong>Die</strong>se Restriktionen gelten nicht für die Kistidhari-<strong>Baul</strong>s. Eine Kette aus den Samen <strong>der</strong><br />
Tulsi-Pflanze (Basilikum) ist obligatorisch für die Maluidhari-<strong>Baul</strong>s, da Tulsi für die<br />
Caitanya-Vaisnavs heilig ist. 3 <strong>Die</strong> Kistidhari-<strong>Baul</strong>s tragen mehrere Ketten aus Quarz, Glas<br />
und Holzperlen. Im täglichen Leben unterscheiden sich die beiden Gruppen voneinan<strong>der</strong><br />
nicht so sehr, daß ein Außenstehen<strong>der</strong> einen Maluidhari-<strong>Baul</strong> von einem Kistidhari-<strong>Baul</strong><br />
unterscheiden kann. Da die <strong>Baul</strong>s von Natur aus aufgeschlossen sind, findet <strong>der</strong> Austausch<br />
zwischen den beiden Gruppen statt.<br />
<strong>Die</strong> Udasi-<strong>Baul</strong>s (die heimatlosen <strong>Baul</strong>s) und die Grihi-<strong>Baul</strong>s (die nie<strong>der</strong>gelassenen<br />
<strong>Baul</strong>s)<br />
Purnadas <strong>Baul</strong>, auch Purnacandra Das <strong>Baul</strong> genannt, unterscheidet zwischen den heimatlosen<br />
(udasi-baul) und nie<strong>der</strong>gelassenen (grihi-baul) <strong>Baul</strong>s. 4 <strong>Die</strong> heimatlosen <strong>Baul</strong>s sollen<br />
idealerweise Gottsucher ohne weltliche Bindungen sein. Der ständige Wohnortwechsel soll<br />
auch die Absage an alles ausdrücken, was sie an das Weltliche bindet. In Wirklichkeit aber<br />
sind es finanzielle Überlegungen, die sie zum Ortwechsel zwingen. Ein Dorf, wo sie neu<br />
ankommen, wo man sie noch nicht kennt, zeigt sich gebefreudiger. Wenn sich hier eine<br />
gewisse Müdigkeit bei <strong>der</strong> Almosengabe bemerkbar macht, ziehen sie weg. <strong>Die</strong> nie<strong>der</strong>gelassenen<br />
<strong>Baul</strong>s wohnen in einer Wohngemeinschaft im Dorf (s. unten).<br />
3 Vgl. Krishnadas Kabiraj: Shri-shri-caitanya-caritamrita, Madhyalila XV, 7-9<br />
4 Purnadas <strong>Baul</strong>: Banglar baul gan, Kalikata, 4<br />
10
<strong>Die</strong> Musik und die Bekleidung<br />
Der Stellenwert <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong><br />
<strong>Die</strong> Musik hat bei den <strong>Baul</strong>s einen hohen Stellenwert. Sie ist nicht nur die Ausdrucksform<br />
ihrer Gedanken, son<strong>der</strong>n auch das einzige Mittel zur Konservierung ihrer <strong>Religion</strong>. Durch<br />
ihre Lie<strong>der</strong> verkünden sie ihre Botschaft. Deshalb sind diese Lie<strong>der</strong> ihre heiligen Schriften.<br />
sie sind zum Teil überliefert, zum Teil selbstverfaßt. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sind freudige Lie<strong>der</strong>macher.<br />
Purnacandra Das <strong>Baul</strong> schreibt: „<strong>Die</strong>se Lie<strong>der</strong> sind die spirituellen Übungen <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s. In<br />
diesen Lie<strong>der</strong>n eröffnen sie die wahre Lehre (ihrer) <strong>Religion</strong> (dharma-tattva)“ 5 und „Sie<br />
suchen den Menschen ihres Herzen (d. h. Gott) durch die Lie<strong>der</strong>.“ 6 Ferner schreibt er: „Sie<br />
haben all ihre Freude in den Lie<strong>der</strong>n. Sie existieren in den Lie<strong>der</strong>n. (. . .) Sie beleben die<br />
Gegend mit ihren Lie<strong>der</strong>n und wecken die Menschen aus dem Schlaf. Durch ihre Lie<strong>der</strong><br />
deuten sie an: ‘Ich suche den Menschen des Herzens, komm, schließt euch mir an!’“ 7 . <strong>Die</strong><br />
Zitate zeigen eindeutig die hohe Meinung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s gegenüber ihrer Lie<strong>der</strong>n.<br />
<strong>Die</strong> Musik ist auch das Kapital, mit dem die <strong>Baul</strong>s ihren Lebensunterhalt verdienen. <strong>Die</strong><br />
Nachfrage nach dieser Musik ist aber sehr gering. Im Normalfall dient sie dem Almosengang.<br />
Ist die Musik gut, kann auf einen guten Ertrag gehofft werden. Daher singen sie neben<br />
den selbstverfaßten und vom eigenen Guru überlieferten Lie<strong>der</strong>, auch gerne populäre<br />
<strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>, die nicht von fremden Gurus verfaßt o<strong>der</strong> überliefert sind. 8<br />
Themen <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong><br />
<strong>Die</strong> Mehrheit <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong> beinhalten religiöse Themen. <strong>Die</strong> Lie<strong>der</strong> über den Tantrayoga sind<br />
in einer Geheimsprache (heyali) verfaßt (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>), damit <strong>der</strong> Nichteingeweihte<br />
den Inhalt nicht versteht. <strong>Die</strong>s tun die <strong>Baul</strong>s, weil sie meinen, daß die Hindus aus den<br />
drei oberen Kasten ihre <strong>Religion</strong> falsch verstünden, wüßten sie alles über den Tantrayoga.<br />
Neben den religiösen Themen, enthalten die Lie<strong>der</strong> auch Gesellschaftskritik (s. Anhang<br />
<strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). <strong>Die</strong> Vielfältigkeit <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong> beweist eindeutig, daß die <strong>Baul</strong>s sich gedanklich<br />
nicht nur mit <strong>der</strong> Spiritualität befassen. Als benachteiligte Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong><br />
beobachten sie die Wirtschaftslage und die Gesellschaft Indiens mit beson<strong>der</strong>em Interesse.<br />
Da die Lie<strong>der</strong> gewöhnlich mündlich überliefert werden, kommt es vor daß die <strong>Baul</strong>s vom<br />
selben Lied voneinan<strong>der</strong> abweichende Versionen singen.<br />
Anlässe zur Lie<strong>der</strong>präsentation<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s singen beim Almosengang, großen und kleinen Treffen (mela, s. Kapitel 5), bei<br />
den Festen und Feiern und wenn sie gerade dazu Lust haben. Manchmal werden sie als<br />
Volksliedsänger zu Konzerten eingeladen. Einzelne <strong>Baul</strong>s, wie Purnadas <strong>Baul</strong>, erhalten<br />
manchmal einen Auftrag für einen Auftritt im Fernsehen. Hier treten sie nicht als das Mitglie<strong>der</strong><br />
einer <strong>Religion</strong>sgemeinschaft, son<strong>der</strong>n als Volksliedsänger auf.<br />
5 Ibid., 7<br />
6 Ibid., 3<br />
7 Ibid., 5<br />
8 Vgl. ECSD 2525, Stereo, The Gramophone Co. of India Ltd, 1975<br />
11
Art <strong>der</strong> Darbietung<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s singen ihre Lie<strong>der</strong> solo sowie im Duett mit ihren Partnerinnen o<strong>der</strong> mit einem<br />
an<strong>der</strong>en <strong>Baul</strong>. Sie singen auch gerne in zwei Gruppen. <strong>Die</strong> männlichen <strong>Baul</strong>s tanzen gern<br />
beim Singen. Der Tanz hat keine festen Schrittregeln. Der singende <strong>Baul</strong> schreitet graziös<br />
nach vorne und hinten und gestikuliert mit den Händen. Je weiter das Lied voranschreitet,<br />
umso schneller werden die Schritte und zum Schluß dreht er sich mit schnellen Schritten im<br />
Kreise. In diesem Abschnitt for<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Sänger die zuhörenden <strong>Baul</strong>s auf, zusammen mit<br />
ihm den Namen Hari laut zu rufen. So rufen jetzt alle anwesenden <strong>Baul</strong>s „Hari Hari“. Man<br />
glaubt, daß <strong>der</strong> Sänger sich in dieser Phase in <strong>der</strong> Ekstase befindet. <strong>Die</strong>ser Tanz ist bei den<br />
Zuschauern sehr beliebt. <strong>Die</strong> älteren von ihnen sitzen oft beim Singen.<strong>Die</strong> weiblichen <strong>Baul</strong>s<br />
tanzen nicht. Sie singen stehend und gestikulierend. Eine neue Art <strong>der</strong> Darbietung war am<br />
06. 08. 1998 in Detmold zu beobachten. Hier begleitete eine nicht professonelle indische<br />
Tänzerin den Gesang von PuraDas <strong>Baul</strong> und seiner Gruppe. <strong>Die</strong> Gruppe bestand aus<br />
Purnadas <strong>Baul</strong>, seiner spirituellen Partnerin Mañjudasi, seinem Sohn Bapidas <strong>Baul</strong>, <strong>der</strong><br />
Tänzerin und zwei weiteren <strong>Baul</strong>s (?). <strong>Die</strong> Autorin hat in Indien keine Darbietung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s<br />
beobachtet, an <strong>der</strong> eine Tänzerin teilnahm. Auf die Frage <strong>der</strong> Autorin erkärte Mañjudasi,<br />
daß die Tänzerin eine junge Studentin <strong>der</strong> Visva Bharati University, also <strong>der</strong> Universität von<br />
Tagore (s. unten) war, die gerne mitreisen wollte. Da ihr Vater die Flugkarte nach Europa<br />
bezahlte, hatte <strong>der</strong> Gruppenleiter nichts dagegen, daß sie mit <strong>der</strong> Gruppe reiste und an <strong>der</strong><br />
Darbietung teilnahm.<br />
Instrumente<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s begleiten ihren Gesang mit Musikinstrumenten. Am häufigsten benutzen sie<br />
hierfür das Instrument Ektara (das Instrument mit einer Saite) o<strong>der</strong> Dotara (das Instrument<br />
mit zwei Saiten). Sie bauen diese Instrumente selbst. Purnadas <strong>Baul</strong>, <strong>der</strong> gerne in erner<br />
Gruppe singt, zu <strong>der</strong> sein Sohn Bapidas <strong>Baul</strong> und seiner Frau Mañjudasi <strong>Baul</strong> gehören, benutzt<br />
zusätzliche Instrumente, wie Nupur (Zwei ovale Ringe aus Kupfer mit zahlreichen<br />
Kügelchen, die an den Knöcheln getragen werden), Ghunghur (zwei Rasselinstrumente, jedes<br />
aus 21 kleinen Glocken und einer dicken Bauwollschnur gebaut, die an den Knöcheln<br />
getragen wird, ) und Dupki (eine kleine Trommel, die um die Taille gebunden wird). Dugi<br />
(eine kleine tragbare Trommel). Bei seiner Darbietung am 06.08.1998 in Detmold haben<br />
seine Frau Mandira (ein paar kleine kegelformige Scheiben aus Messing), sein Sohn Khamak<br />
(ein Saiteninstrument) und zwei weitere Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe Flöte und Khol (eine<br />
längliche faßähnliche Trommel) gespielt.<br />
Der Stil und die Melodie<br />
Der Stil und die Melodie <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> sind ähnlich wie die bengalische Volksmusik.<br />
Daher gelten die <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> als bengalische Volksmusik, 9 wobei je<strong>der</strong> <strong>Baul</strong> das Lied musikalisch<br />
nach seinem Geschmack interpretiert. <strong>Die</strong> Melodie ist eintönig, die Inhalte interessant<br />
für die Fachwelt.<br />
9 S. Sukumar Ray: Folk-Music of Eastern India, Calcutta, 1988, 81-86<br />
12
Bekleidung<br />
<strong>Die</strong> männlichen <strong>Baul</strong>s tragen einen knöchellangen Rock, ein loses Hemd und ein mantelartiges<br />
Übergewand, das die Knie bedeckt. Oft binden sie ein langes schmales Tuch, das mit<br />
einem Schal verglichen werden kann, um die Hüfte. <strong>Die</strong> traditionellen <strong>Baul</strong>s tragen das indische<br />
Hemd, aber mittlerweile ist auch das europäische Hemd unter den <strong>Baul</strong>s beliebt.<br />
Manche <strong>Baul</strong>s tragen anstatt eines Rockes das Dhuti. Dhuti ist das traditionelle Kleidungsstück<br />
im Bundesstaat West Bengal. <strong>Die</strong>s ist ein ca. vier Meter langes und 1,20 m. breites<br />
nahtloses Tuch mit ca. 1 cm breiter Borte auf beiden Seiten, das um die Hüfte gewickelt<br />
wird. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s wickeln es aber nicht traditionsgemäß mit Falten, son<strong>der</strong>n tragen es wie<br />
einen Rock. Das Lendentuch <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s heißt Kaupina. Das erste Lendentuch des <strong>Baul</strong>s wird<br />
von seinem Guru rituell gereinigt. Viele <strong>Baul</strong>s tragen einen Turban. Alle Kleidungsstücke<br />
dürfen entwe<strong>der</strong> weiß o<strong>der</strong> safran (geruya) sein. Gerua ist auch die Farbe, welche die<br />
hinduistischen Asketen (sannyasi) in Indien tragen. <strong>Die</strong> weiblichen <strong>Baul</strong>s tragen, wie alle<br />
Frauen in West Bengal, eine Bluse und einen Sari. Auch diese sind entwe<strong>der</strong> weiß o<strong>der</strong><br />
orange. <strong>Die</strong> männlichen und weiblichen <strong>Baul</strong>s tragen außerhalb ihrer Wohnung ihre große<br />
weiße o<strong>der</strong> orange Baumwolltasche (ãcla) mit. In dieser Tasche haben sie alles, was sie<br />
unterwegs brauchen könnten, z. B. das eigene heilige Geschirr. <strong>Die</strong> männlichen und weiblichen<br />
Maluidhari-<strong>Baul</strong>s tragen den Rosenkranz aus Basilikum (tulsi), wobei die Angehörigen<br />
<strong>der</strong> Kistidhari-Gruppe sich alle Sorten Rosenkränze umhängen, z. B. Rosenkänze aus<br />
Holz, Glas und Quarz. <strong>Die</strong> weiblichen <strong>Baul</strong>s tragen Armreifen aus Glas und Metall. Manche<br />
weiblichen <strong>Baul</strong>s, welche die Kanthi-badal-Zeremonie vollzogen haben (s. Kapitel 5), tragen<br />
auf ihrem Scheitel die traditionelle rote Farbe (sindura), die zeigt, daß die Frau verheiratet<br />
ist. Alle <strong>Baul</strong>s tragen lange Haare. <strong>Die</strong> männlichen <strong>Baul</strong>s tragen einen muschelartigen Dutt<br />
etwas rechts o<strong>der</strong> links hoch am Hinterkopf. <strong>Die</strong> weiblichen <strong>Baul</strong>s tragen den traditionellen<br />
indischen Dutt.<br />
<strong>Die</strong> finanzielle Lage <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s<br />
Obwohl die <strong>Baul</strong>s in ihren Lie<strong>der</strong>n immer wie<strong>der</strong> die Bedeutungslosigkeit des weltlichen<br />
Vermögens besingen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>), leiden sie doch unter Armut. Denn auch<br />
wenn manche <strong>Baul</strong>s eine fast regelmäßige Einkunft haben, die sie als Bauern, Fischer,<br />
<strong>Die</strong>nstboten o<strong>der</strong> Tagelöhner für ihre Tätigkeit empfangen, gehören sie zu den Armen. Da<br />
ihr Einkommen, für die Lebensunterhaltskosten nicht ausreicht, sind sie immer verschuldet.<br />
Häufig lassen sie sich ihr Gehalt, mindestens aber einen Teil davon, im voraus bezahlen. Da<br />
es aber immer vorausbezahlt werden muß, um die laufenden Kosten zu decken, werden die<br />
Schulden nicht getilgt. Der Sohn erbt die Schulden des Vaters. In Streitfällen entscheidet<br />
das Dorfgericht, das aus den Hindus aus den drei oberen Kasten besteht. Häufig müssen die<br />
Kin<strong>der</strong> einer <strong>Baul</strong>-Familie mitverdienen. Bei Krakheitsfällen und zusätzlichen<br />
Verpflichtungen, wie etwa bei Festen, erhalten sie von den wohlhabenden Dorfbewohner<br />
finanzielle Unterstützung. Manchmal wendet sich <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> vertrauensvoll in seiner Notlage<br />
an die Muttergöttin Kali (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
<strong>Baul</strong>s, die Ihre Musik als Kunst verkaufen und damit relativ gutes Geld verdienen, gehören<br />
zu den Ausnahmen. 10 <strong>Die</strong> Mehrheit <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> sind Almosenempfänger. Man muß sie jedoch<br />
von den gewöhnlichen Bettlern unterscheiden. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s bringen den Weltlichen eine<br />
religiöse Botschaft und empfangen als Gegenleistung dafür die Almosen. Das Leben von<br />
Almosen gilt in Indien als eine Tugend, wenn es aus religösen Gründen geschieht. Es deutet<br />
10 S. den Bericht über Purnendudas <strong>Baul</strong> in Krishnendu Das: The <strong>Baul</strong>s of Bengal, Calcutta, 4-11<br />
13
auf die Besitzlosigkeit und Weltentsagung hin. Auch Caitanya, <strong>der</strong> Urguru <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s, lebte<br />
von den Spenden seiner Anhänger (s. Kapitel 2).<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s üben ihren Almosengang im eigenen Dorf, in den Nachbardörfen und seit einigen<br />
Jahren auch im Zug. Wenn sie einen Zug nehmen, wählen sie die Entfernung so, daß sie<br />
auch am selben Tag wie<strong>der</strong> zurückkommen können. Eine Fahrkarte wird von ihnen nicht<br />
verlangt. Der Ertrag, den sie im Zug erzielen, ist nicht zu verachten, denn mit ihrem Gesang<br />
unterbrechen die <strong>Baul</strong>s die Langeweile <strong>der</strong> Fahrgäste. Hier wird von den Zuhörern nur Geld<br />
gegeben, wobei im Dorf die Almosen aus Geld o<strong>der</strong> Lebensmittel bestehen kann. Da für die<br />
Planung des Haushaltes das Geld vom Vorteil ist, bevorzugen manche jüngere <strong>Baul</strong>s den<br />
Almosengang im Zug anstatt im Dorf. Ältere und traditionelle <strong>Baul</strong>s verachten den<br />
Almosengang im Zug, da diese Art des Almosengangs nicht <strong>der</strong> Tradition entspricht.<br />
Es gibt mittlerweile einige wenige <strong>Baul</strong>s, die als Volksliedsänger bekannt geworden sind.<br />
Neben ihren Almosen, verdienen sie als Gastsänger bei verschiedenen Veranstaltungen. Sie<br />
singen im Radio und treten im Fernsehen auf. Von manchen dieser <strong>Baul</strong>s gibt es auch<br />
Schallplattenaufnahmen. 11 Der Erfolg dieser <strong>Baul</strong>s wird in Indien von den <strong>Baul</strong>s und<br />
<strong>Baul</strong>bewun<strong>der</strong>ern etwas übertrieben dargestellt. In diesem Zusammenhang wird gerne von<br />
Purnadas <strong>Baul</strong> und Debidas <strong>Baul</strong> 12 gesprochen. Es wird angedeutet, daß diese beiden <strong>Baul</strong>s<br />
nicht nur in Indien son<strong>der</strong>n auch in Europa und in den USA (Purnadas <strong>Baul</strong>) erfolgreich<br />
waren. Will man mit dem „Erfolg“ meinen, daß diese Musikaufführungen den <strong>Baul</strong>s selbst<br />
für ihre Verhältnisse viel Geld gebracht haben (1 Rupee = 0,05 Pf.) ist die Aussage korrekt.<br />
Der relative Erfolg von Purnadas <strong>Baul</strong> und Debidas <strong>Baul</strong> ist aber groß in den Augen <strong>der</strong><br />
<strong>Baul</strong>s, die in Armut leben. So kommt es nicht selten vor, daß ein in Europa leben<strong>der</strong> In<strong>der</strong><br />
von den <strong>Baul</strong>s gefragt wird, ob die Organisation eines Konzertes für sie im Westen nicht<br />
möglich sei. Sagt man ihnen, daß in Europa für ihre Musik nicht genügend Interesse besteht,<br />
so glauben sie es nicht und nennen das Beispiel Purnadas <strong>Baul</strong>, <strong>der</strong> keinen Almosengang<br />
geht. Es ist schwierig ihnen begreiflich zu machen, daß heute die indische Musik im Westen<br />
von keinem Bob Dylan o<strong>der</strong> George Harrison geför<strong>der</strong>t wird, und daß <strong>der</strong> heutige Jugend<br />
im Westen Nirvana, die toten Hosen, Rap o<strong>der</strong> Techno hören. <strong>Die</strong> Deutsch-Indische<br />
Gesellschaft in Hannover kann für 1999 Purnadas <strong>Baul</strong> nicht nach Deutschland einladen,<br />
weil sie mit hohem Verlust rechnet. Der günstige deutsche Wechselkurs läßt es für die <strong>Baul</strong>s<br />
in West Bengal so erscheinen, als ob im Westen die Nachfrage für die <strong>Baul</strong>lie<strong>der</strong> groß ist<br />
und daß die <strong>Baul</strong>s hier daher großes Geld machen können.<br />
Das Akhra (die Wohngemeinschaft)<br />
<strong>Die</strong> Wohngemeinschaften <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s werden Akhras bzw. Ashrams genannt. Sie sind mit<br />
einer indischen Großfamilie vergleichbar. Zwei Generationen wohnen hier. <strong>Die</strong> Anerkennung<br />
<strong>der</strong> Autorität <strong>der</strong> älteren und die Fügsamkeit <strong>der</strong> jüngeren Generation sorgt für das<br />
friedliche Zusammenleben. <strong>Die</strong> Lässigkeit und <strong>der</strong> Liberalismus, wovon die meisten Besucher<br />
beeindruckt sind, müssen sich innerhalb dieses Rahmens bewegen. <strong>Die</strong> Bewohner<br />
einer Wohngemeinschaft fühlen sich geistig mit Nityananda, dem Schüler des Urguru Caitanyas<br />
(s. Kapitel 2), verwandt. Da alle <strong>Baul</strong>s mit Nityananda verwandt sind, gehören alle<br />
Wohngemeinschaften zu <strong>der</strong> gleichen Familie (paribar), nämlich zu <strong>der</strong> Familie Nityananda<br />
(nityananda-paribar). <strong>Die</strong>ser Brauch ist offensichtlich an das Gotra-System <strong>der</strong> Kasten-<br />
11<br />
Vgl. Indian Street Musik, The <strong>Baul</strong>s of Bengal, Explorer Series, H-72035 (stereo), Nonesuch Records, New<br />
York<br />
12<br />
Wieviel Purnadas <strong>Baul</strong> für seinen Auftritt am 06.08.98 in Detmold verlangt hat, konnte nicht ermittelt<br />
werden. Debidas <strong>Baul</strong> verdiente 1981 ca. 2000 Rupeen in Europa<br />
14
Hindus angelehnt. Je<strong>der</strong> Hindu aus einer <strong>der</strong> drei oberen Kasten trägt zusätzlich zu seinem<br />
Namen einen Gotra-Namen. Der Gotra-Name zeigt von welchem vedischen Gelehrten seine<br />
Familie ursprünglich abstammt. Alle Hindus, welche den gleichen Gotra-Namen tragen, sind<br />
miteinan<strong>der</strong> verwandt und dürfen deshalb einan<strong>der</strong> nicht heiraten. 13 Das Gefühl, daß sie alle<br />
zu <strong>der</strong> Familie Nityananda gehören, zeigt sich auch in <strong>der</strong> Begrüßungsformel <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s. <strong>Die</strong><br />
<strong>Baul</strong>s grüßen einan<strong>der</strong> nicht mit „Namaskara“ (Salutation), wie es im Bundesstaat West<br />
Bengal üblich ist, son<strong>der</strong>n mit „Jaya guru“ (Heil dem Guru), o<strong>der</strong> „Jaya Nitai“ (Heil dem<br />
Nitai, d. h. Nityananda) o<strong>der</strong> „Jaya Radhe“ (Heil <strong>der</strong> Radha).<br />
In einer Wohngemeinschaft wohnen ausschließlich <strong>Baul</strong>s und ihre spirituellen Partnerinnen.<br />
Kin<strong>der</strong> sind hier nicht erlaubt. <strong>Die</strong> Struktur dieser Wohngemeinschaften hat einen<br />
Familiencharakter. Wie die <strong>Baul</strong>s sich gegenseitig anreden, deutet darauf hin, daß sie diese<br />
als eine Familie betrachten. Der Guru <strong>der</strong> Einrichtung wird als Vater-Guru (baba-gõsai) und<br />
seine Partnerin als Mutter-Guru (ma-gõsai) angesprochen. <strong>Die</strong> Schüler sprechen sich<br />
gegenseitig als Rituelle Brü<strong>der</strong> (guru-bhai) an. Dem entsprechend heißen alle Frauen, außer<br />
<strong>der</strong> Partnerin des Gurus, Rituelle Schwestern (guru-bona). <strong>Die</strong> Partnerin des Schülers wird<br />
vom Guru selbst ausgesucht. Sie wird nicht als die Ehefrau (patni, in West Bengal auch stri)<br />
des Schülers, son<strong>der</strong>n als die Partnerin für die spiritullen Übungen (sadhana-sangini)<br />
bezeichet. Theoretisch wird die Partnerin des Schülers nur nach ihrer religiösen und yogischen<br />
Fähigkeit ausgesucht. Der Partner wird von seiner Partnerin niemals mit Vornamen,<br />
son<strong>der</strong>n immer als Gõsai o<strong>der</strong> Thakur (in diesem Zusammenhang Herr, Guru) angesprochen.<br />
Sie selbst wird mit ihrem Vornamen angesprochen. <strong>Die</strong>ser Brauch zeigt, daß die<br />
Partnerin dem Partner untergeordnet ist. 14 Vor einem Dritten nennt <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> seine Partnerin<br />
nicht mit Vornamen, son<strong>der</strong>n als seine spirituelle Partnerin (sadhana-sangini). <strong>Die</strong> Jüngeren<br />
werden von den Älteren stets mit Vornamen angesprochen, wobei sie selbst die Älteren<br />
immer mit den entsprechenden Bezeichnungen, wie etwa Baba-gõsai, Ma-gõsai etc anreden.<br />
In <strong>der</strong> Wohngemeinschaft fängt für die <strong>Baul</strong>s ein neues Leben an. Alle werden beim Eintritt<br />
in die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong>, und damit auch in die Wohngemeinschaft, mit einem neuen<br />
Namen getauft. Mit dem Eintritt in den Orden haben sie ihrem vorherigen gesellschaftlichen<br />
Leben ein Ende gesetzt. Sie sind jetzt nicht mehr die Söhne <strong>der</strong> Familie X mit diesen und<br />
jenen religiösen o<strong>der</strong> säkularen Verpflichtungen, son<strong>der</strong>n Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong>.<br />
So tragen sie auch nicht mehr die Namen des alten Lebensabschnittes (purvashram). <strong>Die</strong>se<br />
Praxis ist angelehnt an den im Hinduismus allgemein üblichen Gebrauch. Wenn einer seine<br />
Familie verläßt und Asket wird, empfängt er von seinem Guru einen Einweihungsnamen.<br />
Obwohl sie eine Partnerin haben, betrachten die <strong>Baul</strong>s sich selbst als Asketen (gõsai).<br />
Unabhängig von ihrer ursprünglichen Kastenzugehörigkeit erhalten sie jetzt die<br />
Bezeichnung Das, d. h. <strong>Die</strong>ner, zu ihrem neuen Vornamen. So heißen die <strong>Baul</strong>s: Purna-das<br />
<strong>Baul</strong>, Debi-das <strong>Baul</strong>, Nakshatra-das <strong>Baul</strong>, Lakshman-das <strong>Baul</strong> etc. <strong>Die</strong> weiblichen <strong>Baul</strong>s<br />
dürfen eigentlich nicht die Bezeichnung <strong>Baul</strong> benutzen, obwohl es einige tun. Denn sie sind<br />
nur die spirituellen Partnerinnen <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s, Instrumente <strong>der</strong> Adepten, also keine selbständigen<br />
<strong>Baul</strong>s. So heißen sie: Phulamala-dasi, Radharani-dasi etc. Von ihrem Vater-Guru,<br />
Mutter-Guru und <strong>Baul</strong>-Geschwistern werden sie nur mit ihrem neuen Namen angeredet.<br />
Manas Ray bezeichnet den Namensteil Das als Familiennamen. 14 wahrscheinlich, weil das<br />
Wort Das, geschrieben mit dentalem Sa, <strong>Die</strong>ner / Sklave bedeutet und damit die<br />
Zugehörigkeit des Trägers zur Shudra-Kaste offensichtlich macht. <strong>Baul</strong>s, die keine Analphabeten<br />
sind, wie z. B. Purnadas <strong>Baul</strong> schreiben das Wort Das mit dentalem Sa. <strong>Die</strong><br />
13 Vgl. Gobhila-grihyasutra III, 4, 1-4<br />
14 Vgl. Apastambha-kalpasutra, Prashna I, Patala 2, Khanda 8, 15<br />
15
Namen <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s werden von den Hindus <strong>der</strong> oberen Kasten stets mit dentalem Sa geschrieben.<br />
Ganz unmöglich ist die Hypothese von Ray nicht. Allerdings muß bedacht werden,<br />
daß viele Gottgläubige sich gerne Gottes <strong>Die</strong>ner / Sklave nennen. So z. B. gibt es Namen<br />
wie: Rama-das (<strong>Die</strong>ner des Gottes Rama), Kali-das (<strong>Die</strong>ner <strong>der</strong> Göttin Kali) etc. Außerdem,<br />
sind nicht alle, die den Familiennamen Das, geschrieben mit dentalem Sa, also<br />
<strong>Die</strong>ner / Sklave, tragen, <strong>der</strong> Shudra-Kaste zugehörig, wie z. B. <strong>der</strong> Lyriker Jibanananda Das<br />
(1899-1954), o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wissenschaftler Upendrakumar Das. Auf meine Frage antworteten<br />
die <strong>Baul</strong>s, sie sind Caitanyas <strong>Die</strong>ner o<strong>der</strong> Gottes <strong>Die</strong>ner o<strong>der</strong> aber auch <strong>Die</strong>ner ihres Gurus<br />
etc. Sie brachten die Bezeichnung Das jedoch nicht mit ihrer Kastenzugehörigkeit zusammen.<br />
Wahrscheinlich ist die Hypothese von Manas Ray die Projektion <strong>der</strong> Denkweise eines<br />
Hindus aus <strong>der</strong> oberen Kaste. 15<br />
Der Guru ist das Haupt <strong>der</strong> Wohngemeinschaft. Seine Aufgabe besteht darin, daß er seine<br />
Schüler spirituell führt, wobei ihm seine Partnerin assistiert. Beide verrichten keine Haushaltsarbeiten.<br />
<strong>Die</strong> Arbeitsteilung entspricht <strong>der</strong> gewöhnlichen Norm <strong>der</strong> indischen Gesellschaft.<br />
<strong>Die</strong> Männer sind für die harten körperlichen Arbeiten und Frauen für das Waschen<br />
und Kochen zuständig. Am Almosengang nehmen beide teil.<br />
<strong>Die</strong> Wohngemeinschaft bleibt kin<strong>der</strong>frei, denn die Empfängnis ist in <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> offiziell<br />
verboten. Wird die Partnerin schwanger, so gelten Mann und Frau als Gefallene<br />
(aparadhi) und müssen das Akhra verlassen. <strong>Die</strong> Schwangerschaft beweist, daß die beiden<br />
nicht in <strong>der</strong> Lage sind, die tantrischen Rituale auszuüben (s. Kapitel 5). Sie werden von den<br />
Akhra-Bewohnern nicht mehr als <strong>Baul</strong>s anerkannt. So sind sie auch nicht mehr berechtigt in<br />
<strong>der</strong> Einrichtung zu wohnen. <strong>Die</strong> sogenannten Gefallenen betrachten sich selbst aber<br />
weiterhin als <strong>Baul</strong>s. Sie ziehen aus und gründen ihren eigenen Haushalt. Sie behalten ihre<br />
religiösen Ansichten, singen weiterhin die <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> und tragen die <strong>Baul</strong>-Kleidungen. Ob<br />
diese <strong>Baul</strong>s auch die Sexrituale praktizieren, kann nicht in jedem Fall festgestellt werden. So<br />
leben z. B. Purnadas <strong>Baul</strong> und Bisvanathadas <strong>Baul</strong> in einem Einfamilienhaushalt. Beide<br />
haben Kin<strong>der</strong>.<br />
Das eheähnliche Verhältnis mit <strong>der</strong> sadhana-sangini (<strong>der</strong> spirituellen Partnerin)<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s führen keine Ehe im traditionellen Sinne, d. h. sie heiraten nicht eine Frau, um die<br />
Familie zu gründen. Sie nehmen sich eine Partnerin, um die tantrischen Rituale durchführen<br />
zu können. Daher nennen sie ihre Partnerin nicht Ehefrau (patni, in West Bengal auch stri),<br />
son<strong>der</strong>n spirituelle Partnerein (sadhana-sangini). Mit dieser Frau leben sie zusammen.<br />
Theoretisch dürfen sie nicht gleichzeitig mehrere Partnerinnen haben und aus weltlichen<br />
Gründen die Partnerin wechseln. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> erlaubt aber einen Wechsel, wenn er für<br />
die Ausübung <strong>der</strong> Spiritualität nötig ist. So kommt es in <strong>der</strong> Praxis vor, daß ein <strong>Baul</strong><br />
mehrere Frauen hat. Da er aber mit keiner dieser Frauen verheiratet ist, kann hier das<br />
Gesetz nicht eingreifen. Auf diese Weise leben z. B. Gangadhardas <strong>Baul</strong> mit seinen zwei<br />
Partnerinnen im Dorf Pãcda und Sudhirdas <strong>Baul</strong> mit seinen zwei Partnerinnen in Sãithia.<br />
Purnadas <strong>Baul</strong> hat zweimal seine Partnerin gewechselt und lebt jetzt mit seiner dritten<br />
Partnerin in Kalkutta. <strong>Die</strong> Partnerin ist das Besitztum des <strong>Baul</strong>s. Er kann sie nehmen, verlassen<br />
o<strong>der</strong> aber auch verkaufen. Stirbt <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> vor seiner weit jüngeren Partnerin, so muß<br />
sie sich einen an<strong>der</strong>en Partner suchen, will sie weiterhin ein Mitglied <strong>der</strong> <strong>Gemeinschaft</strong><br />
bleiben. <strong>Die</strong>se Abhängigkeit <strong>der</strong> Partnerin von ihrem Partner führt dazu, daß sie im täglichen<br />
Leben eine ihm untergeordnete Rolle spielt. <strong>Die</strong> spirituellen Partnerinnen verschiedener<br />
15 S. Manas Ray: The <strong>Baul</strong>s of Birbhum, Calcutta, 1994, 99<br />
16
<strong>Baul</strong>s in einer Wohngemeinschaft verrichten den Haushalt gemeinsam ohne männliche Hilfe.<br />
Bei den „gefallenen“ <strong>Baul</strong>s arbeitet die spirituelle Partnerin mit Hilfe ihrer Töchter, falls sie<br />
welche hat, im Haushalt.<br />
Idealerweise darf ein Partnerinnenwechsel nur mit <strong>der</strong> Zustimmung des Gurus und ausschließlich<br />
für die spirituellen Zwecke vorgenommen werden. Erst wenn die Partnerin sich<br />
für die tantrischen Übungen ungeeignet gezeigt hat, darf <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> sich an eine zweite wenden.<br />
Er darf aber auf keinen Fall gleichzeitig mehr als eine Partnerin haben. <strong>Die</strong> Beispiele<br />
von Gangadhardas <strong>Baul</strong> etc. zeigen jedoch, daß es in <strong>der</strong> Praxis nicht selten an<strong>der</strong>s aussieht.<br />
Unter den sognnanten gefallenen <strong>Baul</strong>s ist ein gewisser Geschäftssinn zu beobachten. Es<br />
kommt nicht selten vor, daß diese <strong>Baul</strong>s mehrmals eine spirituelle Bindung eingehen (s.<br />
Kapitel 5) und bei <strong>der</strong> Gelegenheit von den Eltern <strong>der</strong> jeweiligen spirituellen Partnerin eine<br />
Mitgift verlangen. Im Todesfall regeln die <strong>Baul</strong>s die Erbschaft im engsten Angehörigenkreis.<br />
Der kulturelle Beitrag<br />
<strong>Baul</strong>s selbst überschätzen den kulturellen Beitrag ihrer Musik. Am deutlichsten wird dies in<br />
zwei folgenden Beispielen:<br />
1. Krishnendu Das behauptet: ”<strong>Baul</strong> composers greatly influenced the Bengali poetry of the<br />
later phase and perhaps the most ardent poet on whom its influence was imense is Gurudev<br />
Tagore (d. h. Rabindranath Tagore).“ 16 Daß Tagore von <strong>der</strong> Philosophie <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong><br />
beeindruckt war, entspricht <strong>der</strong> Wahrheit (s. unten). Aber in seinen Werken wird offensichtlich,<br />
daß die Upanishaden und <strong>der</strong> Caitanya-Vaishnavismus seine religiösen Empfindungen<br />
geprägt haben. Ferner schreibt Krishnendu Das über seinen Großvater Nabanidas<br />
<strong>Baul</strong>, er habe mit seinen Lie<strong>der</strong>n zur Freiheitsbewegung Indiens beigetragen, und daß viele<br />
großen Schriftsteller über ihn auf Englisch und Bengali Bücher geschrieben haben. 17 Auf<br />
Anfrage konnte 1994 die renommierteste Buchhandlung in Kalkutta, Dasgupta, College<br />
Street, Calcutta, keine Information über solche Bücher geben. Auch <strong>der</strong> Beitrag von Nabanidas<br />
zur Unabhängigkeit Indiens konnte durch Interwiews o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Literatur nicht festgestellt<br />
werden. Krishnendu Das schreibt in seinem Buch The <strong>Baul</strong>s of Bengal über die<br />
Lehrerfahrungen und Publikationen seines Vaters Purnadas <strong>Baul</strong>s. 18 Purnadas <strong>Baul</strong> soll<br />
zwischen 1971 und 1978 an <strong>der</strong> Visva-Bharati University, Santiniketan als Gastprofessor<br />
Musik unterrichtet haben. Hier darf erwähnt werden, daß er keinen Schulabschluß hat, für<br />
die Proffessur aber in West Bengal mindestens die M.A. verlangt wird. Es gibt jedoch tatsächlich<br />
Bücher, die Purnadas <strong>Baul</strong> als ihren Autor zitieren. 19<br />
2. Viele <strong>Baul</strong>s glauben, daß ihre Lie<strong>der</strong> und ihre <strong>Religion</strong> in Europa und USA begeisterung<br />
finden (s. oben die Finzielle Lage), was <strong>der</strong> Tatsache nicht entspricht. Deutlich wird diese<br />
Vorstellung in einer Rede von Purnadas <strong>Baul</strong>, <strong>der</strong> behauptet, daß die „Sahibs“ begierig sind<br />
die <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s zu lernen. 20<br />
Es ist offensichtlich, daß manche <strong>Baul</strong>s für sich eine Marktlücke entdeckt haben und diese<br />
Möglichkeit für die Verbesserung ihrer finanziellen Lage nutzen wollen. Es gibt mittlerweile<br />
einzelne <strong>Baul</strong>s, die eine Konzertgruppe aufgebaut haben. Als Beispiel wird hier die Gruppe<br />
16<br />
Krishnendu Das: The <strong>Baul</strong>s of Bengal, Calcutta, 33<br />
17<br />
Ibid., 72<br />
18<br />
Ibid., 10-11<br />
19<br />
Eins davon: Purnadas <strong>Baul</strong>: Banglar baul gan, Kalikata, o. J.<br />
20<br />
S. Manas Ray: The <strong>Baul</strong>s of Birbhum, Calcutta, 1994, 93<br />
17
von Debidas <strong>Baul</strong> beschrieben. Debidas <strong>Baul</strong> wohnt in <strong>der</strong> Siedlung Suripara (Siedlung <strong>der</strong><br />
Alkoholhersteller, Kastenzugehörigkeit: Unberührbare), die in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Stadt Bolpur<br />
liegt. Seine Gruppe nennt er Ranga matir baul sampraday (die Gruppe <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s, die in <strong>der</strong><br />
roten Erde beheimatet sind). <strong>Die</strong> Farbe <strong>der</strong> Erde in und um Bolpur ist tatsächlich rot. <strong>Die</strong><br />
Gruppe besteht aus ihm, zwei an<strong>der</strong>en männlichen und einer weiblichen <strong>Baul</strong> und einem aus<br />
<strong>der</strong> Wäscher-Kaste. Als Leiter und Hauptsänger <strong>der</strong> Gruppe behält Debidas <strong>Baul</strong> 50% des<br />
Ertrages. Der Rest wird gleichmäßig unter den an<strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong>n aufgeteilt. Besorgt einer<br />
<strong>der</strong> Mitarbeiter einen Auftrag, so steht ihm ein höherer Prozentsatz zu. Der Auftraggeber<br />
bezahlt die Gage und übernimmt die Kosten für die Unterbringung und Verpflegung.<br />
Narayan Sengupta aus dem Dorf Surul, ist z. B. jemand, <strong>der</strong> gelegentlich eine <strong>Baul</strong>-Gruppe<br />
für ein bis zwei Tage einlädt.<br />
Ein neuer und interessanter Aspekt ist, daß die Landesregierung von Westbengal die <strong>Baul</strong>s<br />
als Volksliedsänger för<strong>der</strong>t und sie in an<strong>der</strong>e Bundeslän<strong>der</strong> als Repräsantenten <strong>der</strong> Bengali-<br />
Volkslie<strong>der</strong> schickt. 21 <strong>Die</strong> Wirkung solcher Darbietungen auf die Zuschauer bzw. Zuhörer<br />
an<strong>der</strong>er Bundeslän<strong>der</strong> darf aber nicht überschätzt werden. <strong>Die</strong> Bewohner an<strong>der</strong>er Bundesstaaten<br />
verstehen also den Text <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong> nicht. Somit sind für sie auch die Lie<strong>der</strong> uninteressant.<br />
<strong>Die</strong> Abnehmer dieser Ware sind tatsächlich nur die Bengalen aus Westbengal, die<br />
sich für die <strong>Baul</strong>-Kultur interessieren und es gibt nicht viele, die diese <strong>Religion</strong>skultur<br />
schätzen.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s gehören zum festen kulturellen Programm des Paush-mela und Magh-mela (s.<br />
Kapitel 5) <strong>der</strong> Visva-Bharati University, Santiniketan. <strong>Die</strong>se Gegebenheit ist darauf zurückzuführen,<br />
daß Rabindranath Tagore, <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> dieser Universität, die <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong><br />
schätzte und för<strong>der</strong>te (s. unten) und seine Universität diese Tradition aufrechterhält.<br />
<strong>Baul</strong>s und die Politik<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s nehmen nicht aktiv an <strong>der</strong> Politik teil, d. h. sie treten in keine Partei ein und kandidieren<br />
nicht. Sie verhalten sich passiv, wenn es einen Aufstand gibt. Sie demonstrieren<br />
nicht gegen die bestehenden Mißstände. <strong>Baul</strong>s, die ihre finanzielle und damit verbundene<br />
gesellschaftliche Lage verbessern wollen, versuchen ihr Glück als Einzelkämpfer. Bei Purnadas<br />
<strong>Baul</strong> beobachtet man jedoch eine vollkommen neue Ansicht und Anstrengung, welche<br />
die traditionellen <strong>Baul</strong>s ablehnen. Beim Fest Mahotsab (s. Kapitel 5) im Dorf Daskalagram,<br />
wo er seinen Nebenwohnsitz hat, pflegt er wichtige Persönlichkeiten des Distrikt<br />
Birbhum, wie Additional District Magistrate, Chief Medical Officer, Chief Engineer, Chief<br />
Public Relation Officer etc., einzuladen und sie für die Interessen <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> zu<br />
gewinnen. Er for<strong>der</strong>t die <strong>Baul</strong>s auf hohere Gage zu verlangen und nicht im Dorf und Mela<br />
(s. Kapitel 5) ihren „Schatz für 10 Paisa zu verkaufen“. Von <strong>der</strong> Regierung West Bengals<br />
verlangt er beson<strong>der</strong>n Schutz, wie sie den ”scheduled castes“ und ”scheduled tribes“ 22 gibt.<br />
Außerdem soll die Regierung eine <strong>Baul</strong>-Stadt (baul-nagar) gründen,wo Arrangements für<br />
die armen <strong>Baul</strong>s getroffen und die spirituellen Übungen (sadhana) und Musik <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<br />
<strong>Gemeinschaft</strong> geför<strong>der</strong>t werden. Dort soll es einen Unterrichtsraum geben, wo <strong>der</strong> Guru<br />
<strong>Baul</strong>s und Nicht-<strong>Baul</strong>s die Theorie und Praxis <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> beibringt. 23<br />
21 Ibid., 86<br />
22 Detailliert über Scheduled Casts und Scheduled Tribes, die sogenannten unterentwickelten gesellschaftlichen<br />
und ethnischen Gruppen, die von <strong>der</strong> indischen Regierung beson<strong>der</strong>s geför<strong>der</strong>t werden, in: Sarvepalli<br />
Radhakrishnan: Impact of Education on Scheduled Caste Youth in India, New Delhi, 1989<br />
23 Manas Ray: The <strong>Baul</strong>s of Birbhum, Calcutta, 1994, 92-93<br />
18
<strong>Die</strong> Mehrheit <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s halten die Zusammenarbeit mit den Regierungsbeamten für schädlich,<br />
da sie hierdurch die Einmischung <strong>der</strong> Behörden in ihre Privatangelegenheiten befürchten,<br />
die zum Verlust <strong>der</strong> Freiheit führen könnte. Ferner, sie fühlen sich in ihrer Ehre<br />
verletzt, wenn sie nur für das Geld, o<strong>der</strong> nur für mehr Geld singen sollten, da sie ihre Lie<strong>der</strong><br />
als heilig und unverkäuflich betrachten. Sie betonen immer wie<strong>der</strong>, sie seien keine<br />
Schlagersänger, die mit ihrem Gesang Geld verdienen möchten, son<strong>der</strong>n Gottes Botschafter,<br />
die die Gottesliebe preisen möchten. Manche boykottieren deshalb das Mahotsab von<br />
Purnadas <strong>Baul</strong>. 24<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sind <strong>der</strong> Meinung, daß die Wirtschaftspolitik Indiens, welche die Investition aus<br />
dem Ausland und den Import ausländischer Güter för<strong>der</strong>t, unter den einheimischen Herstellern<br />
Armut verursacht. In <strong>der</strong> wahllosen Einführung des westlichen Güter sehen sie nicht<br />
nur die Gefahr <strong>der</strong> kulturellen Entfremdung, son<strong>der</strong>n auch einen Nachteil für die indische<br />
Wirtschaft. (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s verabscheuen zwar die Nachahmung <strong>der</strong> westlichen Kultur, aber sie schätzen den<br />
kulturellen Austausch und sind bereit, von <strong>der</strong> fremden Kultur zu lernen. Sie erinnern sich<br />
dankbar an Rammohan Roy (1772-1833), <strong>der</strong> die westlichen Ideen für Indien passend<br />
bearbeitete und mit Reformen die Möglichkeit für das mo<strong>der</strong>ne Indien schuf (s. Anhang<br />
<strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Mañjudasi, die spirituelle Partnerin von Purnadas <strong>Baul</strong>, hat ein Lied verfaßt, da ein Produkt<br />
sozialistischer Gedanken sein (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). Mañjudasi hat ihren Partner in die<br />
Sowjetunion auf einer Tournee begleitet.<br />
<strong>Die</strong> Freizeitaktivitäten<br />
<strong>Baul</strong>s, welche die Freiheit über alles lieben, lehnen im Zusammenhang <strong>der</strong> Freizeit Zwang<br />
je<strong>der</strong> Art ab. <strong>Die</strong> Bedingungen und Gestaltung ihrer Aktivitäten bestimmen sie selbst. Daher<br />
ist die Gestaltung <strong>der</strong> Aktivitäten jedesmal etwas an<strong>der</strong>es, je nach <strong>der</strong> Vorstellung des<br />
Initiators. Außer den Festen (s. Kapitel 5), die auch einen gewissen Freizeitcharakter haben,<br />
sind die internen Musikkonzerte die einzigen Freizeitaktivitäten <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s. <strong>Die</strong>s hat in erster<br />
Linie sicherlich mit <strong>der</strong> Musikalität <strong>der</strong> <strong>Gemeinschaft</strong> zu tun. Aber es gibt auch einen<br />
an<strong>der</strong>en Grund, warum sie mit Vorliebe gemeinsam musizieren anstatt z. B. ins Kino zu<br />
gehen. <strong>Die</strong> Freizeitaktivitäten <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s dürfen keine Kosten verursachen. Ein Musikkonzert<br />
kostet die <strong>Baul</strong>s nichts. Es findet statt entwe<strong>der</strong> bei einer Wohngemeinschaft (akhra), im<br />
Hause eines gefallenen <strong>Baul</strong>-Bru<strong>der</strong>s, <strong>der</strong> zwar „gefallen“ aber einflußreich ist, o<strong>der</strong> aber<br />
auch in einem abgelegenen Ort des Dorfes, <strong>der</strong> von den Menschen aus den oberen Kasten<br />
nicht beansprucht wird. <strong>Die</strong> Musiker sind die <strong>Baul</strong>s selbst. <strong>Die</strong>s bedeutet, sie brauchen<br />
keinen Saal o<strong>der</strong> Ort zu mieten und keine Gage zu bezahlen. Außer den <strong>Baul</strong>s nehmen an<br />
solchen Veranstaltungen einzelne Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> dre oberen Kasten teil, die ihr Vertrauen<br />
genießen. Solche Konzerte finden am späten Nachmittag o<strong>der</strong> Abend statt, wenn das Tagewerk<br />
getan ist. <strong>Die</strong> Teilnehmer sind Männer, Frauen, Kin<strong>der</strong> und Jugendliche, die später<br />
in die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> eintreten möchten. Frauen, die gut singen können, werden hier<br />
den Männern gleichberechtigt behandelt. Lie<strong>der</strong>, die hier gesungen werden, sind die gleichen,<br />
die auch sonst gesungen werden, wie z. B. beim Betteln. So kann gesagt werden, daß<br />
das Thema <strong>der</strong> Freizeit gleichzeitig die <strong>Religion</strong> dieser <strong>Gemeinschaft</strong> ist. Bezeichnet man die<br />
<strong>Religion</strong> als Beruf, so gehen Beruf und Freizeit in einan<strong>der</strong> über. Hier spiegelt sich <strong>der</strong><br />
24 Ibid., 94<br />
19
Dharma-Begriff des Hinduismus wi<strong>der</strong>, <strong>der</strong> die <strong>Religion</strong> und das tägliche Leben nicht voneinan<strong>der</strong><br />
trennt. <strong>Die</strong> <strong>Religion</strong> ist nicht die Gottesverehrung, das Gebet o<strong>der</strong> das Sakrament,<br />
die zu einer festen Tages- o<strong>der</strong> Jahreszeit praktiziert werden, son<strong>der</strong>n sie muß in allen Lebensbereichen<br />
gelebt werden. <strong>Die</strong> Gesprächsstoffe solcher Nachmittage o<strong>der</strong> Abende beinhalten<br />
durchaus weltlichen Charakter. Es wird über die Preissteigerung und an<strong>der</strong>e Probleme<br />
gesprochen und getratscht. <strong>Die</strong>se Konzerte können Stunden o<strong>der</strong> aber auch die ganze<br />
Nacht dauern. Für eine unbeschwerliche Stimmung sorgt <strong>der</strong> Hanf. Hier wird kräftig Hanf<br />
geraucht. Aber getrunken wird nur Wasser. Manchmal spendiert <strong>der</strong> Gast aus den höheren<br />
Kasten, falls einer anwesend ist, einen kleinen Imbiß.<br />
Das Bild <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s in <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft in West Bengal<br />
<strong>Die</strong> Hindus aus den höheren Kasten erwarten von den Shudras und Kastenlosen, daß sie ihr<br />
Schicksal als Ergebnis ihrer früheren Karmas akzeptieren und sich demütig verhalten.<br />
Erfüllen sie diese Erwartung, so werden sie von den Kastenhindus als Randgruppen <strong>der</strong><br />
Gesellschaft geduldet und nicht verurteilt. Sie dürfen zwar die Veden nicht lernen, die<br />
sechzehn obligatorischen Zeremonien nicht feiern und keine Gottesverehrung (puja) nach<br />
den Bestimmungen <strong>der</strong> heiligen Schriften (shastra) praktizieren (s. Kapitel 2), aber sie<br />
müssen diese als die Autoritäten anerkennen und dürfen sie nicht in Frage stellen. Genau das<br />
tun die <strong>Baul</strong>s nicht. Als Caitanya-Vaisnavs ordnen sie sich dem Kastensystem <strong>der</strong><br />
Dharmashastras nicht unter, stellen die Veden und die traditionellen religiösen Aktivitäten,<br />
wie das Baden im Ganges und die Pilgerfahrt in Frage und praktizieren den tantrischen<br />
Yoga. Was die Beziehung zu einer Frau angeht, haben die <strong>Baul</strong>s bekanntlich eine lockere<br />
Haltung. <strong>Die</strong> Kastenhindus ihrerseits reagieren hierauf irritiert und nennen die <strong>Baul</strong>s Menschen,<br />
die keine Ethik und Moral haben. Als Manas Ray in Materpara in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Stadt<br />
Bolpur Bisvanathdas <strong>Baul</strong> und Debidas <strong>Baul</strong> besuchen wollte und einen Geschäftsmann<br />
nach <strong>der</strong>en Adresse fragte, antwortete dieser, er wüßte nicht wo diese charakterlosen Leute<br />
wohnten. 25 <strong>Die</strong> Antwort des Geschäftsmannes demonstriert die Meinung <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Gesellschaft in West Bengal. Aksaya Kumar Datta behauptet: „Für die spirituellen Übungen,<br />
die sie praktizieren, um das Höchste zu erreichen (paramartha-sadhana), reicht ihnen nicht<br />
<strong>der</strong> Geschlechtsverkehr mit <strong>der</strong> eigenen Partnerin, o<strong>der</strong> auch zwei eigenen Partnerinnen. Ob<br />
in <strong>der</strong> Öffentlichkeit o<strong>der</strong> hinter geschlossenen Türen, sie holen sich mehrere Prostituierte<br />
und Hausfrauen, um ihre spirituellen Übungen (sadhana) zu üben.“ 26 Nagendranath Basu<br />
stellt seine Beobachtung folgen<strong>der</strong>maßen dar: „<strong>Die</strong> Gewohnheiten und Verhaltensweisen<br />
dieser Menschen sind verachtenswert. <strong>Die</strong> Menschen dieser <strong>Gemeinschaft</strong> erkennen das<br />
Kastensystem nicht an. Sie essen und trinken alles. (. . .) Sie sind stets sehr unsauber. (. . .)<br />
Sie haben ihre Akhras in verschiedenen Orten Bengals. In jedem Akhra wohnen zwei bis<br />
drei Avadhuts (hier: männliche <strong>Baul</strong>s) und sie haben mehrere Frauen. Sie geben Menschen<br />
aus allen Kasten die Initiation und nehmen sie in ihre <strong>Gemeinschaft</strong> auf.“ 27 Aparna<br />
Bhattacharya beschreibt die <strong>Baul</strong>s als Leute, die keine soziellen o<strong>der</strong> moralischen<br />
Anweisungen <strong>der</strong> Hindus folgen, das Fasten o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e religiösen Praktiken <strong>der</strong> Hindus<br />
nicht üben, mit mehreren Frauen in einer Wohngemeinschaft wohnen ohne auf das Alter und<br />
auf die Kastenzugehörigkeit heiraten. 28 Das Urteil <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft ist<br />
eindeutig, es sind Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong>, die für sie bestimmte traditionellen Regelungen<br />
<strong>der</strong> hinduistischen Gesellschaft nicht einhalten und daher verachtenswert sind.<br />
25<br />
Ibid., 34<br />
26<br />
Upendranath Bhattacarya: Banglar baul o baul gan, Kalikata, 1981, 61<br />
27<br />
Ibid., 43<br />
28<br />
Aparna Bhattacharya: Religious Movements of Bengal and Their Socio-Economic Ideas, Patna, 1981, 61-63<br />
20
Es gibt jedoch einzelne Menschen aus <strong>der</strong> drei oberen Kasten, die gerade die Freiheitsromantik<br />
und die philosophischen Gedanken <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s schätzen. Rabindranath Tagore war<br />
beeindruckt von zwei Schwerpunkten <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong>: Gott und <strong>der</strong> Mensch lieben sich<br />
gegenseitig, und Gott wohn t im Herzen des Menschen und ist auch deshalb nicht draußen,<br />
son<strong>der</strong>n in einem selbst zu finden. Tagore sah auch die Philosophie <strong>der</strong> Upanishaden,<br />
Brahman manifestiert sich als die Welt, in den <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>n vertreten, da die <strong>Baul</strong>s die<br />
Wahrheit in sich selbst suchen. Er för<strong>der</strong>te die <strong>Baul</strong>s und publizierte zwanzig Lie<strong>der</strong> vom<br />
<strong>Baul</strong> Lalan-sa(h) Phakir. 29 In seinen Tranzdramen Phalguni und Raja stellt Rabindranath<br />
Tagore fiktive <strong>Baul</strong>s vor, die in ihren Lie<strong>der</strong>n die obengenannten Schwerpunkte <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<br />
<strong>Religion</strong> vorstellen. Auch Ksitimohan Sen, ein Freund von Tagore, vertritt die Meinung,<br />
daß die <strong>Baul</strong>s die Philosophie <strong>der</strong> Upanishaden verkünden. Seiner Meinung nach streben die<br />
<strong>Baul</strong>s an, durch den Weg <strong>der</strong> Liebe und <strong>der</strong> Leidenschaft, <strong>der</strong> unter den Adepten als lebendiger<br />
Glaube vorhanden ist, und mit spiritueller Übung das eigene Ego zu verlassen und<br />
sich selbst mit Gott zu vereinigen. 30 <strong>Die</strong> Bewun<strong>der</strong>ung Tagores und Senas, jeweils aus <strong>der</strong><br />
Brahmana- und Kshatriya-Kaste, für die <strong>Baul</strong>s basierte auf zwei Tatsachen. Sie wußten<br />
nicht vom tantrischen Yoga <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong>, und sie glaubten, daß die <strong>Baul</strong>s sich in<br />
ihren Lie<strong>der</strong>n nicht versteckt darstellen.<br />
Eine Nachahmung von Tagore, <strong>der</strong> die Bengaliliteratur heute noch wesentlich beeinflußt,<br />
findet man in <strong>der</strong> Erzählung Manus-lila, vefaßt vom zeitgenössischen Schriftsteller Samares<br />
Majumadar. Der <strong>Baul</strong> dieser Erzählung ist ein gebildeter Mensch, beherrscht die Philosophie<br />
des Caitanya-Vaishnavismus und kennt einige von Rabindranath Tagore verfaßte Lie<strong>der</strong>. 31<br />
Auch Upendranath Bhattacarya hat eine positive Meinung über die <strong>Baul</strong>s und meint <strong>der</strong><br />
tantrische Yoga, den die <strong>Baul</strong>s praktizieren, „ist keine Wollust, son<strong>der</strong>n eine schwierige<br />
Yogaübung. <strong>Die</strong> Vereinigung zwischen Mann und Frau, das wichtigste Ritual, geschieht<br />
nach (<strong>der</strong> Anordnung) ihrer <strong>Religion</strong>.“ 32<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
1. <strong>Die</strong> Kastenzugehörigkeit <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s, d. h. eigentlich die Kastenlosigkeit <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s, gestaltet<br />
die Rahmenbedingungen, in denen sie sich bewegen und entfalten können. <strong>Die</strong>se sind<br />
und können nicht beson<strong>der</strong>s großzügig sein. <strong>Baul</strong>s <strong>der</strong> älteren Generation sind zum großen<br />
Teil Analphabeten. Manche schicken ihre Kin<strong>der</strong> zur Schule. Aber auch diese wenigen<br />
Kin<strong>der</strong>, die eine Schule besuchen, bleiben dort Außenseiter. Zum Beispiel dürfen sie nicht<br />
an einer religiösen Zeremonie im Hause dieser Kastenkin<strong>der</strong> teilnehmen. Es bleibt<br />
abzuwarten und zu beobachten, wie die heutigen <strong>Baul</strong>-Kin<strong>der</strong> in Zukunft als erwachsene<br />
Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft ihre Lage verbessern. Gleichzeitig muß festgehalten werden,<br />
eine <strong>der</strong> wichtigen Voraussetzungen für das Bestehen dieser religiösen Richtung ist das<br />
Nichtgebundensein an die Regeln <strong>der</strong> Dharmashastras.<br />
2. Neben den Maludharis und Kistidharis, gibt es <strong>Baul</strong>s, die sich Udasi o<strong>der</strong> Grihi nennen.<br />
Jede Kategorie hat ihre beson<strong>der</strong>e Eigenschaften. <strong>Die</strong> Udasi-<strong>Baul</strong>s wechseln häufig ihren<br />
Wohnort aus finanzieller Überlegungen. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s selbst bestreiten aber hartnäckig, daß ein<br />
finanzieller Grund sie zum Ortswechsel motiviert. Sie behaupten stets, daß sie dies nur aus<br />
ideologischer Überzeugung tun.<br />
29<br />
Detailliert in: Upendranath Bhattacarya: Banglar <strong>Baul</strong> o <strong>Baul</strong> gan, Kalikata, 1981, 533-545<br />
30<br />
Ibid., 70-73<br />
31<br />
Samares Majumdar: Manav-lila, Desh, Jg. 63, Nr. 1, 1995, 60-75<br />
32<br />
Upendranath Bhattacarya: Banglar baul o baul gan, Kalikata, 1981, 69<br />
21
3. Da die <strong>Baul</strong>s nur durch ihre Lie<strong>der</strong> ihre <strong>Religion</strong> verkünden, haben diese Lie<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />
<strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> die Stellung <strong>der</strong> heiligen Schriften. <strong>Die</strong> Lehre soll jedoch nicht jedem offengelegt<br />
werden, daher sind beson<strong>der</strong>s die Lie<strong>der</strong>, welche den Tantrayoga beschreiben, in einer<br />
Geheimsprache verfaßt worden. <strong>Die</strong> Lie<strong>der</strong> dienen auch als die Vedienstmöglichkeit.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s betrachten aber ihre Lie<strong>der</strong> nicht als Kapital. <strong>Baul</strong>s, die es tun, bilden die Ausnahme.<br />
Für die meisten <strong>Baul</strong>s ist ihre Musik, die sie nicht vermarkten wollen, heilig. <strong>Die</strong><br />
<strong>Baul</strong>s sind an ihrer Musik und Kleidung sofort erkennbar.Trainierte Ohren erkennen von<br />
weitem an <strong>der</strong> eintönigen Melodie und dem Begleitinstrument Ektara, daß irgendwo in erreichbarer<br />
Nähe ein <strong>Baul</strong> seine Lie<strong>der</strong> singt.<br />
4. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s leben in Armut. <strong>Die</strong> Mehrheit lebt von Almosen. Manche <strong>Baul</strong>s glauben, daß<br />
sie ihre Musik teuer verkaufen können, was nicht <strong>der</strong> Wahrheit entspricht. Das Streben nach<br />
Wohlstand ist bei einzelnen <strong>Baul</strong>s zu beobachten, ist aber in <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> nicht<br />
beson<strong>der</strong>s verbreitet. <strong>Die</strong> meisten <strong>Baul</strong>s sind bescheiden. Einzelne <strong>Baul</strong>s haben als<br />
Volksliedssänger ihre finzielle Lage verbessern können. Der Absatzmarkt für diese Musiker<br />
sind die Gebildeten in West Bengal, welche gelegentlich Volkslie<strong>der</strong> hören. Es darf gesagt<br />
werden, was die Gedankenfreiheit <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> unterstützt, nämlich das<br />
Ungebundensein an die von den Dharmashastras vorgeschriebenen religiösen und rituellen<br />
Regeln, verursacht ihren Mitglie<strong>der</strong>n den finanziellen Nachteil. <strong>Die</strong> Mildtätigkeit <strong>der</strong><br />
wohlhabenden Dorfbewohner, etwa bei Krankheitsfällen, hilft ihnen punktuell, verbessert<br />
aber ihre Lage nicht grundsätzlich.<br />
5. <strong>Die</strong> Wohngemeinschaft hat die Struktur und die Eigenschaften <strong>der</strong> indischen Großfamilie.<br />
Das Gemeinwohl steht hier im Mittelpunkt. <strong>Die</strong> Autorität <strong>der</strong> Älteren und die Gehorsamkeit<br />
<strong>der</strong> Jüngeren und Frauen sind die beiden Bedingungen, die die Wohngemeinschaft<br />
funktionsfähig erhalten. Deshalb kann gesagt werden, die Wohngemeinschaft <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s<br />
bietet ihren Mitglie<strong>der</strong>n zwar die soziale Sicherheit, verlangt aber gleichzeitig die bedingungslose<br />
Fügung in die <strong>Gemeinschaft</strong>. Es gibt hier eine strenge Arbeitsteilung zwischen <strong>der</strong><br />
älteren und jüngeren Generation und männlichen und weiblichen Mitglie<strong>der</strong>n.<br />
6. Das eheähnliche Verhältnis <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s mit ihrer spirituellen Partnerin spiegelt im allgemeinen<br />
die Ehe in <strong>der</strong> indischen Gesellschaft. <strong>Die</strong> Partnerin ist das Besitztum des <strong>Baul</strong>s, was<br />
<strong>der</strong> Bestimmung <strong>der</strong> Manusmriti IX entspricht. Sie ist die Haushaltskraft, die für ihre Arbeit<br />
vom <strong>Baul</strong> mit sozialer Sicherheit bezahlt wird. Der <strong>Baul</strong> darf sich einseitig von dieser<br />
Arbeitskraft trennen, ohne eine Verpflichtung einzugehen. Für den Mahayoga (s. Kapitel 5)<br />
wird die spirituelle Partnerin wie ein Instrument benutzt. Erfüllt das Instrument nicht seinen<br />
Zweck, wird es ausgetauscht.<br />
7. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> gelten in Indien nicht als Erzeugnisse <strong>der</strong> Hochkultur, son<strong>der</strong>n als<br />
Volkslie<strong>der</strong>. Wegen <strong>der</strong> Eintönigkeit ihrer Melodie und weil <strong>der</strong> Text schwer zu verstehen<br />
ist, zum Teil wegen <strong>der</strong> Geheimsprache und zum Teil, weil diese im Dialekt verfaßt wurden,<br />
sind die Lie<strong>der</strong> nur in <strong>der</strong> sehr kleinen Fachwelt gefragt. Daher kann man im Zusammenhang<br />
mit den <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>n we<strong>der</strong> von einem großen kulturellen noch kommerziell bedeutsamen<br />
Beitrag sprechen. Für die Studenten <strong>der</strong> hinduistischen Kultur sind jedoch diese Lie<strong>der</strong><br />
hochinteressant, da sie die Kultur einer <strong>Religion</strong>sgemeinschaft vorstellen. In diesem Sinne<br />
leisten die <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> einen großen Beitrag zur indischen Kulturgeschichte.<br />
8. Obwohl die <strong>Baul</strong>s an <strong>der</strong> Tagespolitik nicht teilnehmen, sind sie nicht unpolitisch. Sie<br />
beobachten die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit kritischen Augen und ziehen die<br />
22
Konszequenz daraus, indem sie sich <strong>der</strong> Gegebenheit nicht beugen, son<strong>der</strong>n mit Hilfe ihrer<br />
<strong>Religion</strong> für sich selbst eine Welt schaffen, in <strong>der</strong> sie würdevoll leben können. <strong>Die</strong>se<br />
Handlung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s kann als stille Revolution bezeichnet und mit Mahatma Gandhis<br />
Satyagraha verglichen werden. Allerdings, im Gegensatz zum Satyagraha verän<strong>der</strong>t die<br />
Revolution <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s nicht die Gesamtlage in Indien. Der Mobilmachungsversuch von<br />
Purnadas <strong>Baul</strong> findet unter den <strong>Baul</strong>s keine Mehrheit.<br />
9. <strong>Die</strong> Freizeitaktivitäten <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s sind eine Mischung aus Geselligkeit und Religiosität.<br />
<strong>Die</strong>se Menschen sind von aus England importierter Klubkultur, die in den oberen Schichten<br />
zu beobachten ist, vollkommen unbeeinflußt geblieben. <strong>Die</strong> Kreativität <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s wird bei<br />
ihrer Freizeitskonzerten deutlich. Fast ohne Mittel sind sie in <strong>der</strong> Lage ein künstlerisches<br />
geselliges Beisammensein zu organisieren, das sie in ihrem Glauben bekräftigt und ihnen das<br />
Gefühl <strong>der</strong> Zusammengehörigkeit gibt.<br />
10. Trotz <strong>der</strong> positiven Einstellung einzelner aus den drei oberen Kasten in West Bengal<br />
bleiben die <strong>Baul</strong>s für die Mehrheit <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft Shudras und Kastenlose,<br />
die sich außerhalb <strong>der</strong> Bestimmungen <strong>der</strong> Dharmashastras bewegen, weshalb man sie bei<br />
heiligen Zeremonien meidet. <strong>Die</strong>s wird dadurch deutlich, daß bei heiligen Zeremonien, wie<br />
Hochzeit (bibaha) und Totenzeremonie (Shraddha), die Shudras und Kastenlosen, die sich<br />
den Bestimmungen <strong>der</strong> Dharmashastras unterwerfen, als Randgäste einlädt und bewirtet.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s werden aber zu solchen Anlässen nicht eingeladen o<strong>der</strong> bewirtet.<br />
11. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s weichen von den traditionellen Werten ab und äußern ihre Meinung offen in<br />
ihren Lie<strong>der</strong>n. So entwickeln sie sich zu einer kritisch denkenden Gruppe und behaupten<br />
ihre Selbständigkeit in <strong>der</strong> Gesellschaft. <strong>Die</strong> Vielfalt des Hinduismus bietet den <strong>Baul</strong>s die<br />
Möglichkeit, ungestört nach ihren eigenen religiösen Vorstellungen, Werten und Normen zu<br />
leben. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> ist eine religiöse Richtung, die als ein Mitglid <strong>der</strong> indischen<br />
Gesellschaft ihre Selbständigkeit bewahrt und dadurch den Hinduismus bereichert.<br />
23
Kapitel 2<br />
Shri Caitanya und die Gründung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong><br />
Caitanya öffnete den Ausgeschlossenen das Tor zum klassischen Hinduismus. Aus dieser<br />
Reformbewegung entstand die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong>. <strong>Die</strong>ses Kapitel untersucht die Aspekte<br />
des Caitanya-Vaishnavismus, die mit <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s-<strong>Gemeinschaft</strong> zusammenhängen.<br />
Bestimmungen über Shudras und Kastenlosen in den Dharmashastras<br />
Der Varnashramdharma, das Vierkastensystem des Hinduismus geht auf den Rigveda X, 90<br />
zurück. <strong>Die</strong> Dharmashastras klassifizieren die Hindus nach ihrer Kastenzugehörigkeit. Für<br />
jede Kaste ist ein bestimmter Teil des gesamten Dharma, <strong>der</strong> unter an<strong>der</strong>em die Gesellschaft<br />
funktionsfähig halten soll, verordnet worden. <strong>Die</strong> Beziehung zu Gott, zu Mitmenschen, die<br />
Auswahl des Berufes und an<strong>der</strong>e Lebensumstände sind dieser Verordnung unterworfen. <strong>Die</strong><br />
Selbstverwirklichung ist nur in diesem gegebenen Rahmen möglich. <strong>Die</strong> Bhagavadgita II, 31<br />
versichert, daß <strong>der</strong> Svadharma (<strong>der</strong> eigene Dharma) auch tatsächlich <strong>der</strong> einzige Weg zur<br />
Selbstverwirklichung ist. Svadharma ist nicht etwa <strong>der</strong> Dharma, den einer für sich selbst<br />
ausgesucht o<strong>der</strong> ausgedacht hat, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Dharma, <strong>der</strong> von den Autoritäten einem auf<br />
Grund seiner Kastenzugehörigkeit vorgeschrieben wurde. <strong>Die</strong> Manusmriti verbietet den<br />
Shudras und Kastenlosen das Lernen (IV, 99) und das Anhören (IV, 99) <strong>der</strong> Veden und den<br />
Vollzug <strong>der</strong> vedischen Zeremonien, wie z. B. <strong>der</strong> Upanayana-Zeremonie (II, 36) und legt<br />
das <strong>Die</strong>nen <strong>der</strong> drei höheren Kasten als ihren Dharma fest (II, 91). Aber das <strong>Die</strong>nen, <strong>der</strong><br />
Svadharma <strong>der</strong> Shudras und Kastenlosen konnte/kann ihren <strong>Religion</strong>shunger nicht stillen.<br />
Denn im <strong>Die</strong>nen <strong>der</strong> oberen Kasten besteht keine direkte Beziehung zwischen Gott und<br />
Mensch. <strong>Die</strong>se direkte Beziehung möchte aber ein religiöser Mensch haben, aus welcher<br />
Kaste er auch stammen mag. Daher gab es immer wie<strong>der</strong> Versuche, die Bestimmungen <strong>der</strong><br />
Dharmashastras an<strong>der</strong>s zu interpretieren, zu umgehen o<strong>der</strong> ihnen zu wi<strong>der</strong>sprechen. <strong>Die</strong><br />
Caitanya-Bewegung und die daraus entstandene <strong>Baul</strong>s-<strong>Religion</strong> sind zwei solche Versuche.<br />
<strong>Die</strong> vom Vishnu-Kult und vom Shakti-Kult geleistete Vorarbeit<br />
Da <strong>der</strong> vedische bzw. brahmanische Hinduismus die breite Masse ausschloß, gab es schon<br />
seit früherer Zeit die verschiedenen Richtungen <strong>der</strong> Vishnu- und Shakti-Kult, die den Menschen<br />
eine Alternative bot. Zwei wesentliche Punkte dieser Richtungen sind für diese Arbeit<br />
von Bedeutung: 1. Beide Richtungen beschränkten sich nicht auf die vedischen Literaturen,<br />
son<strong>der</strong>n schufen ihre eigenen heiligen Schriften, die vom vedischen und brahmanischen<br />
Hinduismus abwichen, und 2. sie hielten sich weniger streng an die kastenbezogenen<br />
Bestimmungen <strong>der</strong> Dharmashastras. <strong>Die</strong> Vorarbeit, die diese Kulte geleistet haben, bestand<br />
darin, daß sie die Ausgeschlossenen in ihre Gruppe aufgenommen und die Gesellschaft dadurch<br />
auf das Problem aufmerksam gemacht haben. Sie konnten jedoch diese Menschen in<br />
den Gesamtkomplex Hinduismus nicht integrieren. Der Grund war, daß sie sich entwe<strong>der</strong><br />
trotz allem an das vedische Kastensystem anlehnten, wie <strong>der</strong> Vaishnavismus von Ramanuja<br />
es tat o<strong>der</strong> daß sie die Veden vollkommen mißachteten, wie <strong>der</strong> Vamacara des Shakti-Kultes<br />
es tat. So war eine Reform nötig, die die Philosophie <strong>der</strong> Upanishaden, die Theologie<br />
<strong>der</strong> Puranas und den Humanismus synthesierte. <strong>Die</strong>se Synthese sollte eine <strong>Religion</strong> sein, in<br />
24
<strong>der</strong> sowohl die Hindus aus den drei oberen Kasten, als auch die Shudras und Kastenlosen<br />
ihre eigene <strong>Religion</strong> wie<strong>der</strong>fanden. <strong>Die</strong>s ist Caitanya gelungen.<br />
Shri Caitanya<br />
Kurze Biographie<br />
<strong>Die</strong> authentischte Biographie Caitanyas ist das Shri-shri-caitanya-caritamrita, verfaßt von<br />
Krishnadas Kabiraj (1517-1582). Caitanya wurde im Jahre 1486 in Nabadvip, auch Nadiya<br />
genannt, ca. 120 km nördlich von Kalkutta, in einer Brahmanenfamilie geboren. Er lernte<br />
Sanskrit und an<strong>der</strong>en Wissenschaftszweigen des damaligen Indien wie Philosophie, Astonomie,<br />
Astrologie, Literatur, Grammatik etc. und entdeckte beson<strong>der</strong>e Neigung und Fähigkeit<br />
in <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Nyaya-Philosophie. Caitanya reiste in die heilige Stadt Gaya, die im<br />
heutigen Bundesstaat Bihar liegt, um dort die Opfergabenzeremonie (pindadana) für seine<br />
Ahnen vollzuziehen. Hier lernte er den Asketen (sannyasi) Ishvar-puri kennen. Ishvar-puri<br />
war ein Anhänger <strong>der</strong> Bhakti-Lehre. Auf Caitanyas Bitte gab <strong>der</strong> Asket ihm die Mantra-Initiation<br />
(mantra-diksha), die Caitanya innerlich sehr verän<strong>der</strong>te. Der Gelehrte Caitanya<br />
kehrte nach Nabadvip als ein Krishna-Narr zurück.<br />
Caitanya nahm seine Tätigkeit als Leiter und Lehrer seiner Schule wie<strong>der</strong> auf. Er sah sich<br />
aber bald außerstande, die konventionellen Fächer zu unterrichten, denn seine ganze Konzentration<br />
galt Krishna. So verwandelte er die Schule in einen Ort, an dem die Krishna-<br />
Liebe gelehrt und gelernt wurde. Leute kamen aus <strong>der</strong> Umgebung Nabadvips, um Caitanya<br />
zu sehen und von ihm belehrt zu werden. Caitanya weihte die Willigen in die Krishna-Liebe<br />
ein. Bald hatte er unter seinen Anhängern nicht nur seine Schüler, die jung und unerfahren<br />
waren, son<strong>der</strong>n auch Erwachsene und Gelehrte, wie etwa Advaitacarya, Nityananda, auch<br />
Nitai genannt, die in <strong>der</strong> Lage waren, für die Bewegung selbständig zu arbeiten. Menschen<br />
von <strong>der</strong> neuen Idee zu überzeugen war eine wichtige Arbeit, die Caitanya und seine<br />
Anhänger leisten mußten. Mit vierundzwanzig Jahren verließ Caitanya seine Familie, die aus<br />
seiner Mutter Shacidevi und Frau Vishnupriya bestand und trat in das Asketentum ein und<br />
verbrachte den Rest seines Lebens in <strong>der</strong> Stadt Puri, Bundesstaat Orissa. Puri war ein<br />
idealer Ort für Caitanyas Aktivitäten. Er wohnte hier im Hause des Brahmanen Kashi Misra,<br />
wie <strong>der</strong> König Prataparudra es verordnete. Neben dem Tempel wurde dieses Haus ein<br />
Versammlungsort <strong>der</strong> Caitanya-Anhänger. Der König wurde Caitanyas Schüler. Hiermit<br />
wurden die notwendigen Bedingungen für die Verbreitung <strong>der</strong> neuen Richtung geschaffen.<br />
<strong>Die</strong> unvollendete Biographie gab/gibt Gelegenheit für Spekulationen über Caitanyas Tod.<br />
Manche Gläubigen meinen, Caitanya konnte die Trennung von Krishna nicht mehr ertragen<br />
und umarmte die Jagannatha-Figur im Tempelaltar und diese absorbierte ihren Geliebten. So<br />
löste sich Caitanya in Jagannatha auf. An<strong>der</strong>e glauben, Caitanya sei ins Meer gesprungen,<br />
weil er es für Yamuna, den Fluß in Krishnas Weilort Vrindavan hielt. Neben diesen<br />
Legenden existiert auch <strong>der</strong> nüchterne Verdacht, er sei von einigen Tempelpriestern um<br />
seinen Erfolg beneidet und von ihnen umgebrachtworden. 33<br />
33 Detailliert über Caitanyas Tod in: Svami Tapasyananda: Shri Caitanya Mahaprabhu. His Life <strong>Religion</strong> and<br />
Philosophy, Mylapore, 61-63<br />
25
<strong>Die</strong> von Caitanya eingeführten Reformen<br />
Im Einzelnen führte Caitanya die folgenden Reformen durch:<br />
1. Herstellung <strong>der</strong> direkten Beziehung zwischen Gott und dem Menschen durch Gottes<br />
Lobgesang im Chor (sankirtan) und Ersatz des Sanskrits im Mantra und Gottesverehrung<br />
durch die Muttersprache<br />
<strong>Die</strong> direkte Beziehung zwischen Gott und Mensch ging in <strong>der</strong> postrigvedischen Zeit verloren.<br />
34 Zu Caitanyas Zeit hatte zwar die Opferzeremonie ihre Blütezeit hinter sich, aber sie<br />
spielte immer noch eine wichtige Rolle. <strong>Die</strong> sechzehn obligatorischen Zeremonien, 35 die<br />
zusätzlichen großen und kleinen Zeremonien, die man zu Anlässen o<strong>der</strong> auch einfach, um<br />
Glück zu bringen vollzog und Tempel-Gottesverehrungen (puja), sicherten die Stellung <strong>der</strong><br />
Priester als Verbindungsmänner zwischen Gott und den Menschen. So wurde durch die<br />
Einflußnahme <strong>der</strong> Priester Gott dem Menschen fremd. Es bestand keine direkte herzliche<br />
Beziehung zwischen beiden. <strong>Die</strong> tägliche Gottesverehrung (puja) vor dem Hausaltar war die<br />
einzige Möglichkeit, bei <strong>der</strong> <strong>der</strong> Mensch sich direkt an Gott wenden konnte.<br />
Caitanya zeigte den Menschen die Möglichkeit, wie sie sich ohne Umwege an Gott wenden<br />
und so mit ihm eine direkte vertrauensvolle Beziehung aufbauen konnten. Er führte eine<br />
Gottesverehrung ein, bei <strong>der</strong> man keinen Vermittler brauchte. Sie hieß Sankirtan<br />
(Gotteslobgesang). Man übte / übt Sankirtana stets im Chor. <strong>Die</strong> Texte <strong>der</strong> Gesänge waren<br />
einfach und verständlich. Im Gegensatz zu den traditionellen Mantras, war die Sprache <strong>der</strong><br />
Texte entwe<strong>der</strong> Bengali, die Muttersprache <strong>der</strong> Anhänger o<strong>der</strong> leichtes Sanskrit, dem alle<br />
folgen konnten. Hier zwei Beispiele, die von Caitanya-Vaishnavs in West Bengal oft gesungen<br />
werden:<br />
”Hare Krishna Hare Krishna, Krishna Krishna Hare Hare<br />
Hare Rama Hare Rama, Rama Rama Hare Hare.“<br />
und<br />
„Hari, Haraye namah, Krishna, Yadavaya namah<br />
Gopala, Govinda, Rama, Shri-Madhusudana.“<br />
Übersetzung: Meine Verehrung für Hari, Krishna, dem Yadavavolkzugehörigen, Gopala,<br />
Govinda, Rama und Shri-Madhusudana.<br />
2. Vereinfachung <strong>der</strong> Regelungen für die Gottesverehrung<br />
An<strong>der</strong>s als die Gottesverehrung (puja) im klassischen Hinduismus, benötigte die von Caitanya<br />
eingeführte Gottesverehrung keine rituellen Vorbereitungen und konnte unabhängig<br />
von <strong>der</strong> Tageszeit und vom Ort vollzogen werden. In Shri-shri-caitanya-caritamrita, Antyalila<br />
XX, 17 sagt Caitanya beim Predigen:<br />
34 Detailliert in: Sarvepalli Radhakrishnan: Indian Philosophy, Vol. 1, London, 1977, 128-130<br />
35 Über 16 obligatorischen Zeremonien <strong>der</strong> drei oberen Kasten in: G.R. Sholapurkar: Religious Rites and<br />
Festivals of India, Varanasi, 1990, 21-58<br />
26
„Beim Essen, Liegen, hier und dort können<br />
<strong>Die</strong> Namen (Krishnas) besungen bzw. rezitiert werden.<br />
Es besteht (hierfür) keine Zeit o<strong>der</strong> Ort betreffende Regel.<br />
Der Name (Krishnas) erfüllt jeden Wunsch.“<br />
<strong>Die</strong>se Vereinfachung gab den Shudras und Kastenlosen, die keinen Hausaltar haben und<br />
üblicherweise den Tempel nicht betreten dürfen, die Möglichkeit, bei Bedarf auf unkomplizierte<br />
Art Gottesverehrung zu vollzuziehen.<br />
3. Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von ihrer Kastenzugehörigkeit<br />
a) Caitanya führte die vollkommene Gleichberechtigung aller Kasten in seiner <strong>Gemeinschaft</strong><br />
ein. Sie wurden von Caitanya eingeweiht und in <strong>der</strong> Gruppe als gleichberechtigte Mitglie<strong>der</strong><br />
aufgenommen. <strong>Die</strong> Shudras saßen mitten in <strong>der</strong> Versammlung und nicht getrennt von den<br />
Hindus aus <strong>der</strong> dre oberen Kasten. Candrashekhar 36 und Ray Ramananda, 37 beide Shudras,<br />
gehörten zu seinem engeren Kreis. Er ließ Ray Ramananda seine <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> Krishna-Liebe<br />
zu predigen. 38 Caitanyas weitere nennenswerte Shudra Schüler waren Murari, 39 Haridas, 40<br />
und Sanatan. 41 Er umarmte Shudras und nahm Almosen von ihnen. 42 So öffnete Caitanya<br />
den Shudras das Tor zum Vaishnavismus.<br />
b) Caitanya praktizierte seine Gesang-Gottesverehrung (sankirtan) auch im Jagannatha-<br />
Tempel in Puri. An dieser Gottesverehrung durften alle Schüler teilnehmen. <strong>Die</strong>s bedeutete,<br />
die Shudras, soweit sie Caitanyas Anhänger waren, durften den Tempel betreten und an <strong>der</strong><br />
Gottesverehrung teilnehmen. <strong>Die</strong>s war und ist nicht selbstverständlich in Indien.<br />
c) Caitanyas Schüler aßen gemeinsam, unabhängig von <strong>der</strong>en Kastenzugehörigkeit, die Gott<br />
Jagannatha geweihten und von ihm gesegneten Speisen, die Prasad (Gnade) genannt<br />
werden. Bei solchen Gelegenheiten servierte er das Essen selbst. 43 Caitanya wußte, daß er<br />
seine Kasten-Hindus nicht nur im spirituellen Bereich erziehen, son<strong>der</strong>n sie auch von ihrem<br />
tief verwurzelten Kastendenken befreien mußte, wollte er alle Menschen vor Gott<br />
gleichstellen.<br />
4. För<strong>der</strong>ung des <strong>Gemeinschaft</strong>ssinns und dadurch Abbau <strong>der</strong> Vorurteile<br />
Der Chorgesang und die Gruppenmahlzeit för<strong>der</strong>te den <strong>Gemeinschaft</strong>ssinn <strong>der</strong> Caitanya-<br />
Anhänger. Caitanya ließ sich wahrscheinlich für diesen Zweck noch einige Aktivitäten einfallen.<br />
<strong>Die</strong>se waren das gemeinsame Wasserspiel, 44 die gegenseitige Bemalung mit <strong>der</strong><br />
heiligen Sandelpaste im Jagannatha-Tempel, 45 die gemeinschaftliche Säuberung des Tempelfußbodens<br />
46 und Rollenspiele, bei denen Caitanya mit seinen Schülern Krishnas 47 o<strong>der</strong><br />
Ramas 48 Lebensabschnitte darstellte.<br />
36 Krishnadas Kabiraj: Shri-shri-caitanya-caritamrta, Adilila Vii, 45<br />
37 Ibid., Madhyalila VII, 62-63<br />
38 Ibid., Antyalila V, 85-86<br />
39 Ibid., Madhyalila XI, 149-155<br />
40 Ibid., Madhyalila XI, 159-165<br />
41 Ibid., Antyalila IV, 18-21<br />
42 Ibid., Madhyalila XVII, 60<br />
43 Ibid., Madhyalila XIV, 37-41<br />
44 Ibid., Madhyalila XII, 149<br />
45 Ibid., Madhyalila XI, 208<br />
46 Ibid., Madhyalila XII, 71-134<br />
27
<strong>Die</strong> Gründung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong><br />
<strong>Die</strong> Entstehungs- bzw. Gründungsgeschichte <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> ist nicht schriftlich<br />
festgehalten worden. Daher müssen die Quellen und Überlieferungen untersucht werden.<br />
Nach Caitanyas Tod gab es drei Orte, wo seine fähigen Schüler mit großem Eifer die Krishna-Liebe<br />
verbreiteten. <strong>Die</strong>se sind: Bengal (heute West Bengal und Bangladesh), Vrindavan<br />
im heutigen Bundesstaat Uttar Pradesh und Puri. 49 Für das Thema <strong>Baul</strong> ist <strong>der</strong> Caitanya-Vaishnavismus<br />
in West Bengal von Bedeutung, da die <strong>Baul</strong>s in West Bengal beheimatet<br />
sind. In <strong>der</strong> Post-Caitanya-Periode gab es hier zwei Hauptrichtungen unter den Vaisnavs.<br />
<strong>Die</strong>se waren die Caitanya-orientierten Vaisnavs (caitanya-anugata-vaisnav) und die<br />
orthodoxen smriti-orientierten Vaisnavs (smriti-anugata-vaisnav). 50 <strong>Die</strong> smriti-orientierten<br />
Vaisnavs waren dem Brahmanismus treu und beteiligten sich nicht an <strong>der</strong> Reform.<br />
Was die Treue zum traditionellen Hinduismus betrifft, so gab es auch unter Caitanyas engeren<br />
Schüler Nityananda und Advaitacarya große Meinungsverschiedenheiten. Advaitacarya,<br />
<strong>der</strong> in Shantipur ein Zentrum <strong>der</strong> Krishna-Liebe aufbaute und leitete, war nur in<br />
Ausnahmefällen bereit, einem aus <strong>der</strong> niedrigeren Kaste die Initiation zu erteilen. 51 Hier<br />
waren die Shudras nicht willkommen.<br />
Das Nityananda-Zentrum<br />
Nityananda, <strong>der</strong> acht Jahre älter war als sein Guru Caitanya, stammte aus einer Brahmanenfamilie.<br />
Als Zwölfjähriger begleitete er einen Asketen während seiner Pilgerfahrt durch Indien.<br />
Später wurde er Caitanyas Schüler. Schon zu Caitanyas Lebzeiten kümmerte er sich<br />
um die Verbreitung <strong>der</strong> Krishna-Liebe in Bengal, denn Caitanya, <strong>der</strong> in Puri wohnte, beauftragte<br />
ihn mit dieser Aufgabe. 52 Er gegründet in Khardaha ein Zentrum, wo er als Guru<br />
fungierte.<br />
Folgende Punkte des Nityananda-Zentrums sind interessant für die vorliegende Arbeit:<br />
1. Wie sein Guru hielt Nityananda nichts vom Kastensystem und nahm jeden, <strong>der</strong> es wollte,<br />
in seine <strong>Gemeinschaft</strong> auf. Zum Beispiel, er initierte 1200 Neras and 1300 Neris, die<br />
Subarnabaniks (Juwelier), Muschelverkäufer und an<strong>der</strong>e Shudras und Kastenlosen, weshalb<br />
er von den drei oberen Kasten verachtet wurde. 53<br />
2. Nityananda führte die Praxis des gemeinsamen Essens fort. Am hun<strong>der</strong>tsten Geburtstag<br />
Caitanyas fand im Dorf Khetari mit finanzieller Unterstützung des Raja Santosh Datta eine<br />
große Feier statt. Zu diesem Fest trafen sich hier Vaisnavs aus allen Teilen Bengals. Sie<br />
47<br />
Ibid., Madhyalila XIV, 254<br />
48<br />
Ibid., Madhyalila XV, 33-37<br />
49<br />
Detailliert über die Zentren in: Debidas Bandyopadhyay: Caitanya carcar pãcsho bachar, Kalikata, 1987, in<br />
Bengal: 45, 149-155, in Vrindavan: 146-148 und in Puri: 140-141<br />
50<br />
Detailliert in: Aparna Bhattacharya: Religious Movements of Bengal and Their Socio-Economic Ideas,<br />
Patna, 1981, 8-10<br />
51<br />
Detailliert in: Ibid., 29-31<br />
52<br />
Krishnadas Kabiraj: Shri-shri-caitanya-caritamrita, Madhyalila VII, 82<br />
53<br />
S. Aparna Bhattacharya: Religious Movements of Bengal and Their Socio-Economic Ideas, Patna, 1981, 9-<br />
30<br />
28
sangen hier Loblie<strong>der</strong> (sankirtan) auf Gott und Caitanya und aßen zusammen. Nityananda<br />
nannte dieses Fest Mahotsab. Der Mahotsab wurde hiernach ein fester Bestandsteil <strong>der</strong> religiösen<br />
Übung <strong>der</strong> Caitanya-orientierten Vaisnavs <strong>der</strong> Nityananda-Linie (parampara) in<br />
West Bengal, also auch bei den <strong>Baul</strong>s (s. Kapitel 5).<br />
3. Nityananda tat etwas Ungewohnliches. Er gab die Askese auf und heiratete. Allerdings<br />
holte er vorher die Erlaubnis seines Gurus. Seine beide Ehefrauen waren Basudha Devi und<br />
Jahnavi Devi, die eher als Jahnava Devi bekannt wurde. Im Bezug auf die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong><br />
war dies eine wichtige Tat. Sie zeigte eine neue Richtung. Nityananda war jetzt ein<br />
Mensch, <strong>der</strong> den Freuden des Lebens nicht entsagte und trotzdem Gott erlebte. <strong>Die</strong>s ist ein<br />
Grundsatz <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> (s. Kapitel 3). Er war ein Guru, <strong>der</strong> zusammen mit seiner Frau<br />
ein religiöses Zentrum leitete. Genau nach diesem Muster sind die Wohngemeinschaften<br />
(Akhra) <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s gebaut (s. Kapitel 1).<br />
4. Nityananda ermöglichte seinen Anhängern zu heiraten, aber sich trotzdem als Weltentsager<br />
(vairagi) zu bezeichnen. Auch die <strong>Baul</strong>s leben in eheähnlichem Verhältnis, betrachten<br />
sich aber als Asketen, da sie, wie sie meinen, mit ihren Partnerinnen keine sexuellen<br />
Erlebnisse haben, son<strong>der</strong>n Tantrayoga üben.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s bezeichnen Caitanya als ihren Adiguru (Ur-Guru)<br />
Für <strong>Baul</strong>s ist Caitanya <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> (adiguru) ihrer <strong>Gemeinschaft</strong>. Purnadas <strong>Baul</strong> schreibt:<br />
„Im Kaliyuga ist Mahaprabhu (Großer Gott, gemeint ist Caitanya) <strong>der</strong> Oberste aller<br />
<strong>Baul</strong>s.“ 54 Aber da Caitanya eine Inkarnation Krishnas war, 55 geht die Linie <strong>der</strong> Gurus (guruparampara)<br />
bis zur ersten Inkarnation Krishnas im Satya- bzw. Kritayuga, wie die <strong>Baul</strong>s in<br />
ihren Lie<strong>der</strong>n singen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Da Caitanya <strong>der</strong> Urguru ist, ist ein Huldigungslied (bandana) an Caitanya eröffnet am Anfang<br />
einer <strong>Baul</strong>-Versammlung obligatorisch. In diesen Lie<strong>der</strong>n wird Caitanya gebeten, zu<br />
kommen und an <strong>der</strong> Versammlung teilzunehmen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). <strong>Die</strong>s entspricht<br />
dem Gebrauch <strong>der</strong> allgemeinen Gottesverehrung (puja). 56 In unzähligen Lie<strong>der</strong>n bekennen<br />
sich die <strong>Baul</strong>s als Schüler Caitanyas seiner Schüler Nityananda, Shri-rup Gõsai und Sanatan<br />
(s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Auf Grund <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong>beispiele kann hier festgehalten werden, daß die <strong>Baul</strong>s Caitanya für<br />
den Grün<strong>der</strong> ihrer <strong>Religion</strong>sgemeinschaft halten. Nun muß untersucht werden, wie wahr<br />
diese Behauptung ist.<br />
Caitanya nannte sich selbst <strong>Baul</strong> und wurde von seinem Schüler Advaitacarya als <strong>Baul</strong><br />
bezeichnet<br />
Caitanya nannte sich kurz vor seinem Tode einen großen <strong>Baul</strong>. Der Biograph Krishnadas<br />
Kabiraj schreibt in Shri-shri-caitanya-caritamrita, Antyalila XIV, Caitanya sagte zu seinen<br />
versammelten Schülern:<br />
„Nachdem ich die zehn Sinnesorgane (indriya)<br />
54 Purnadas <strong>Baul</strong>: Banglar baul gan, Kalikata, 4<br />
55 Krishnadas Kabiraj: Shri-shri-caitanya-caritamrita, Adilila I, 4-6<br />
56 Vgl. Svami Mukhyananda: Om, Gayatri and Sandhya, Mylapore, 1-88<br />
29
Zu meinen Schülern gemacht habe<br />
Und mir den Namen ‘<strong>der</strong> große <strong>Baul</strong>’ (maha baul) gegeben habe,<br />
Bin ich mit meinen Schülern dorthin gegangen.<br />
Meinen Körper, den eigenen Wohnsitz,<br />
Habe ich verlassen<br />
Und den materiellen Genuß und großen Wohlstand aufgegeben<br />
Und bin nach Vrindavan gegangen (47).“<br />
Auch wenn das Rätsel, was Caitanya mit <strong>der</strong> Aussage, daß er seinen Körper, den eigenen<br />
Wohnort verließ und nach Vrindavan ging, nicht zu lösen ist, ist hier festzuhalten, daß er<br />
sich in diesen Strophen als den großen <strong>Baul</strong> bezeichnet.<br />
Caitanya nannte sich ein ein weiteres Mal <strong>Baul</strong> (ibid., Antyalila XIX). als er aus Puri seiner<br />
Mutter in Nabadvip durch einen Boten die folgende Nachricht schickte:<br />
„Gehe nach Nadiya und verbeuge dich vor (meiner) Mutter.<br />
Fasse ihre lotusgleichen Füße in meinem Namen (6).<br />
Sage ihr: ,Du denkst (an mich).<br />
Ich werde regelmäßig kommen und deine Füsse verehren (7).<br />
An welchem Tag du mich auch zum Essen einladen willst,<br />
Ich werde an diesem Tag (kommen und) essen (8).<br />
Ich habe dich verlassen und übe nun Askese.<br />
Nachdem ich <strong>Baul</strong> geworden bin (baul haiya), habe ich Dharma zerstört (9).<br />
Bitte rechne mir nicht diese Schuld an.<br />
Ich bin doch dein ergebener Sohn (10).<br />
Ich bin in Nilacal (d. h. Puri), weil du es so befohlen hast.<br />
So lange ich lebe, werde ich Nilacal nicht verlassen können (11).’“<br />
Kurz nachdem Caitanya seiner Mutter den Boten schickte, empfing er selbst eine Nachricht<br />
von seinem Schüler Advaitacarya aus <strong>der</strong> Stadt Santipur. <strong>Die</strong>se lautete folgen<strong>der</strong>maßen, wie<br />
Krishnadas Kabiraj sie in Shri-shri-caitanya-caritamrita, Antyalila XIX darstellt:<br />
„Übergib meinem Herrn (prabhu, lit. Gott) meine Millionen Verbeugungen,<br />
(Und sage ihm,) ich lege die folgende Bitte an seine Füsse (19).<br />
Sage dem <strong>Baul</strong> (gemeint ist Caitanya): ‘<strong>Die</strong> Leute sind Aul geworden.’<br />
Sage dem <strong>Baul</strong> (d. h. Caitanya): ‘Auf dem Markt wird kein Reis mehr verkauft (20).’<br />
Sage dem <strong>Baul</strong>: ‘Es besteht keine Notwendigkeit für Aul.’<br />
Sage dem <strong>Baul</strong>: ‘<strong>Die</strong>s hat <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> schon gemacht bzw. gesagt (21).’“<br />
Der Biograph schreibt weiter, als Caitanya diese Codenachricht (tarja) hörte, lächelte er ein<br />
wenig und sagte, daß Advaitacarya ein großer Anhänger <strong>der</strong> sastrischen Gottesverehrungmethode<br />
war und genau nach den Vorschriften <strong>der</strong> Sastras die Gottesverehrungzeremonie<br />
(puja) übte. Wahrscheinlich wollte er hiermit subtil andeuten, daß zwischen dem liberalen<br />
Guru und seinem orthodoxen Schüler ein wichtiger Meinungsunterschied bestand. Ferner<br />
sagte Caitanya, Advaitacarya war in Codenachrichten versiert, er selbst aber verstünde die<br />
Nachricht nicht. <strong>Die</strong>se Aussage des Gurus versetzte die Anhänger in Erstaunen und <strong>der</strong><br />
Schüler Svarup Gõsai wurde nachdenklich (Antyalila XIX, 23-29). Caitanyas Bemerkung<br />
deutet darauf hin, daß er sich von <strong>der</strong> Aussage seines Schülers distanzieren wollte. Auch<br />
Krishnadas Kabiraj erläutert die Nachricht nicht. Er schreibt nur, daß sich seit diesem Zeit-<br />
30
punkt Caitanyas Gesundheitszustand verschlechtert hätte und das Leiden unter <strong>der</strong> Trennung<br />
von Krishna zweimal soviel geworden wäre (Antyalila XIX, 30).<br />
Caitanyas Nachfolger haben diese Codenachricht folgen<strong>der</strong>maßen entziffert. Advaitacarya<br />
sagte dem Boten: „Sage dem großen Gott (maha-prabhu), <strong>der</strong> durch große Empfindungen<br />
bzw. Stimmungen verrückt geworden ist, daß die Menschen durch die von ihm verbreitete<br />
Liebesreligion (prem-dharma) verwirrt und handlungsunfähig geworden sind. Da sie durch<br />
seine Gnade ohne religiöse Übungen bzw. Zeremonien die (Gottes-)liebe gewinnen, lernen<br />
sie nicht die (vom Shastra) verordneten Zeremonien (sadhana-anusthan). <strong>Die</strong> an Zeremonien<br />
und Liebe-orientierte Vaisnava-<strong>Gemeinschaft</strong> geht langsam ein. In Zukunft wird es keine<br />
<strong>Gemeinschaft</strong> mehr geben, die Menschen in (<strong>der</strong> <strong>Religion</strong>), die Liebe (prem), Hingabe<br />
(bhakti) und religiöse Zeremonien (sadhana) vereinigen, unterweisen und für diese<br />
(<strong>Religion</strong>) Verordnungen treffen kann. Stimmungen und Erscheinungen, die er (d. h. Caitanya)<br />
jetzt zeigt, sind nicht mehr gewinnbringend o<strong>der</strong> nötig, d. h. es gibt keinen Abnehmer<br />
für sie in <strong>der</strong> sterblichen Welt. Der Verbreitung <strong>der</strong> Liebesreligion (prem-dharma) und des<br />
Auskostens eigener zarter Liebe (sva-madhurya) 57 ist genug geschehen. Jetzt wäre es für<br />
das Wohl <strong>der</strong> zukünftigen Welt angebracht, daß er sein Spiel (lila) beendet. Jemand, <strong>der</strong> den<br />
Sinn seiner Liebesreligion (prem-dharma) begriffen hat und durch Empfindungen verrückt<br />
geworden ist, schickt ihm diese Nachricht.“ 58<br />
Es ist offensichtlich, daß Advaitacarya die <strong>Religion</strong> durch Caitanya gefährdet sah. <strong>Die</strong> Bitte<br />
des Schülers, <strong>der</strong> Guru soll sich von <strong>der</strong> Welt verabschieden, kann nur so erklärt werden: In<br />
<strong>der</strong> letzten Phase seines Lebens erlaubte Caitanya Nityananda und (Ray Ramananda, s. unten),<br />
Stil und Praktiken, die für den shastra-orientierten Advaitacarya vollkommen unakzeptabel<br />
war. Advaitacarya fand diese neuen Richtungen so gefährlich, daß er den Tod seines<br />
Gurus wünschte.<br />
Advaitacarya, <strong>der</strong> älter war als Caitanya und <strong>der</strong> sich in <strong>der</strong> Vaisnava-<strong>Gemeinschaft</strong> in seinem<br />
Wohnort Shantipur bei Nabadvip schon profiliert hatte, bevor Caitanya zum Ruhm<br />
kam, sah in Caitanya die große Konkurrenz. Daß Advaitacarya, ein strenger Verfechter des<br />
Kastensystems, nach anfänglichem Mißtrauen Caitanya doch noch als seinen Guru akzeptierte,<br />
59 war wahrscheinlich ein diplomatischer Akt.<br />
Ohne sich mit <strong>der</strong> Beziehung zwischen Caitanya und Advaitacarya tiefgehend zu beschäftigen,<br />
kann in diesem Abschnitt festgestehalten werden, daß Caitanya kurz vor seinem mysteriösen<br />
Tod a) sich selbst <strong>Baul</strong> nennt, und b) von seinem Schüler als <strong>Baul</strong> bezeichnet und<br />
um den Abschied gebeten wurde.<br />
Caitanyas Schüler Ray Ramananda praktizierte Tantrayoga<br />
Noch ein Punkt hängt indirekterweise mit <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong><br />
zusammen. Es ist belegbar, daß zu Caitanyas Lebzeiten in seiner <strong>Gemeinschaft</strong> tantrischen<br />
Yogabungen, die ein wesentlicher Teil <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> sind, praktiziert wurden. Shri-shricaitanya-caritamrita,<br />
Antyalila V, 14-20 berichten, daß Caitanyas Schüler Ray Ramananda<br />
den tantrischen Yoga praktizierte. Daher kann soviel mit Bestimmtheit gesagt werden, daß<br />
Caitanya, <strong>der</strong> auf die Askese großen Wert legte und seinen Schülern befahl, sich von Frauen<br />
57 Vgl. Krishnadas Kabiraj: Shri-shri-caitanya-caritamrita, Adilila I, 6<br />
58 Upendranath Bhattacarya: Banglar baul o baul gan, Kalikata, 1981, 46<br />
59 Vgl. Svami Tapasyananda: Shri Caitanya Mahaprabhu. His Life, <strong>Religion</strong> and Philosophy, Mylapore, 11-12<br />
31
fernzuhalten, 60 in seiner Gemeischaft Anhänger duldete bis för<strong>der</strong>te, die zum Teil einen<br />
an<strong>der</strong>en Vaishnavismus praktizierten als er selbst.<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
<strong>Die</strong> Untersuchung hat zur Erkenntnis folgen<strong>der</strong> Tatsachen geführt:<br />
1. Nityananda, <strong>der</strong> konsequent das Kastensystem mißachtete und Advaitacarya, <strong>der</strong> möglichst<br />
nach <strong>der</strong> Kastenordnung lebte, beide waren Caitanyas engen Schüler. Caitanya, Nityananda,<br />
Advaitacarya und Ray Ramananda - diese vier sind <strong>der</strong> Beweis dafür, daß in <strong>der</strong><br />
Caitanya-<strong>Gemeinschaft</strong> verschiedene Strömungen vorhanden waren.<br />
2. Caitanya wurde in seiner Biographie Shri-shri-caitanya-caritamrita mehrfach als <strong>Baul</strong><br />
bezeichnet.<br />
3. Im Nityananda-Zentrum wurden religiöse und mit <strong>Religion</strong> zusammenhängende Übungen<br />
praktiziert, die heute in <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> zu beobachten sind.<br />
und<br />
4. Caitanya duldete bzw. för<strong>der</strong>te den tantrischen Yoga, die heute die <strong>Baul</strong>s üben.<br />
<strong>Die</strong> genannten Tatsachen führen zu <strong>der</strong> These, daß um Caitanya und / o<strong>der</strong> Nityananda sich<br />
Menschen versammelt hatten, die ihre speziellen Übungen praktizierten. <strong>Die</strong>se Gruppe<br />
mißachtete die Bestimmungen des Shastras und die traditionelle Moralvorstellung <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />
Ihre religiöse Übung bestand hauptsächlich aus Singen, Tanzen, Mahotsab feiern<br />
und tantrarituellen Praktiken. Ihre ungezungene Haltung und zum Teil unkomplizierten<br />
Übungen machten sie beliebt bei den nie<strong>der</strong>en Kasten und Kastenlosen. <strong>Die</strong>se Menschen<br />
nannten sich selbst <strong>Baul</strong>s und / o<strong>der</strong> wurden von den an<strong>der</strong>n als <strong>Baul</strong>s bezeichnet. <strong>Die</strong> Bezeichnung<br />
<strong>Baul</strong> hatte wahrscheinlich mit dem Sanskrit-Wort <strong>Baul</strong>, d. h. närrisch, verrückt,<br />
etwas zu tun, da die Verhaltensweise und Praktiken dieser Gruppe den gewöhnlichen Normen<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft nicht entsprach.<br />
Menschen, die sonst immer ausgeschlossen waren, traten jetzt in den klassischen Hinduismus<br />
ein, indem sie von Caitanya o<strong>der</strong> Nityananda eingeweiht wurden. Auch Mitglie<strong>der</strong> des<br />
Nityananda-Zentrums waren im weiteren Sinne Caitanyas Schüler. <strong>Die</strong> Zahl dieser Mitglie<strong>der</strong><br />
war bald nicht mehr zu übersehen. <strong>Die</strong>s beunruhigte den konservativen Advaitacarya,<br />
<strong>der</strong> dann an Caitanya die Nachricht mit <strong>der</strong> furchtbaren Bitte schickte. Caitanyas<br />
mysteriöser Tod löste diese Gruppe um Caitanya und / o<strong>der</strong> Nityananda nicht auf. Somit ist<br />
auch die Behauptung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s, daß Caitanya ihr Urguru, also <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> ihrer <strong>Religion</strong>sgemeinschaft<br />
war, berechtigt.<br />
60 S. Krishnadas Kabiraj: Shri-shri-caitanya-caritamrita, Antyalila II, 101-165<br />
32
Kapitel 3<br />
<strong>Die</strong> philosophischen Gedanken und die Mystik <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<br />
<strong>Religion</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s haben keine philosophischen Werke verfaßt; ihre Lie<strong>der</strong> jedoch deuten auf <strong>der</strong>artige<br />
Gedanken hin. Im Folgenden werden die Punkte <strong>der</strong> philosophieschen Gedanken und<br />
<strong>der</strong> Mystik <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> dargestellt.<br />
<strong>Die</strong> Ansichten über die Welt und das Leben<br />
Über die Existenz <strong>der</strong> Welt<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s teilen die Meinung des klassischem Hinduismus, daß die aus Raum, Zeit und<br />
Kausalität bestehende Welt nicht selbsterklärlich ist. Es ist die höchste formlose Wahrheit,<br />
die die <strong>Baul</strong>s in ihren Lie<strong>der</strong>n abwechslungsweise Brahman o<strong>der</strong> Gott (Bhagavan, Ishvar)<br />
nennen (s. Kapitel 4), die sich als wahrnehmbare Formen, also als die Welt, manifestiert (s.<br />
Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). Im Gegensatz zu den Advaitavadins und Vishishta-advaitavadins<br />
verneinen die <strong>Baul</strong>s die Existenz <strong>der</strong> Welt nicht. <strong>Die</strong> Welt ist keine Scheinexistenz im nihilistischen<br />
Sinne. <strong>Die</strong> Welt ist nur insofern illusorisch, als sie kein selbständiges Objekt ist.<br />
Sie existiert nur im Zusammenhang mit <strong>der</strong> höchsten Wahrheit. Alle Dinge, die ein Mensch<br />
wahrnimmt, sind Teilaspekte des Ganzen.<br />
Über das Leben<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s betrachten das übliche Leben als Leid (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). <strong>Die</strong>s geschieht<br />
deshalb, weil <strong>der</strong> Mensch die Welt nicht als etwas Ganzes, sieht, son<strong>der</strong>n als etwas, das aus<br />
verschiedenen Teilaspekten besteht. Er sucht sich Teilaspekte aus, die seiner Meinung nach<br />
ihm Freude bringen werden. <strong>Die</strong> Teilaspekte aber sind als Manifestationen <strong>der</strong> höchsten<br />
Wahrheit, also etwas, das einen Anfang hat, vergänglich. Da <strong>der</strong> Mensch sich in vergänglichen<br />
Teilaspekten verhaftet, ist er unglücklich, wenn er von diesen getrennt ist. <strong>Die</strong>s ist <strong>der</strong><br />
Grund, warum ihm die Welt letztendlich doch nur als Leiden erscheint.<br />
Das Leben kann jedoch als Freude ungewandelt werden, wenn <strong>der</strong> Mensch die folgenden<br />
Punkte beachtet:<br />
1. Jedes Objekt, jede Beziehung sind als Gottes Manifestation zu sehen. Hält <strong>der</strong> Mensch in<br />
seinen Gedanken diese Wahrheit wach, führt er ein fröhliches Leben und genießt die Welt.<br />
Er führt kein Asketenleben, bleibt aber trotzdem frei, denn in allen Handlungen erlebt er<br />
Gott (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
33
und<br />
2. Wenn <strong>der</strong> Mensch hinter allem den immer existierenden Gott sieht., In diesem Falle erleidet<br />
er keinen Verlust, denn in Wirklichkeit geht nichts verloren. Das scheinbar Verlorengegangene<br />
existiert weiterhin in Gott (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
<strong>Die</strong> Maya-Theorie, die den Grund des menschlichen Fehlverhaltens erklärt<br />
Auf die Frage, wieso es geschieht, daß <strong>der</strong> Mensch das Vergängliche für das Absolute hält,<br />
obwohl er auf Schritt und Tritt den Gegenbeweis erlebt, warum er die Welt für ein an sich<br />
selbst existierendes Objekt hält, obwohl er doch theoretisch weiß, daß sie nur im Zusammenhang<br />
mit Gott existiert, antworten die <strong>Baul</strong>s, es ist die Maya, die alles so geschehen<br />
läßt. In unzähligen Lie<strong>der</strong>n beschreiben die <strong>Baul</strong>s, wie Maya die Menschen in ihrer Gefangenschaft<br />
hält und sie in die Irre führt (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). Allerdings kann hier Krishna<br />
den <strong>Baul</strong>s helfen, da Maya Krishnas Shakti ist. <strong>Die</strong>se Maya-/Shakti-Theorie haben die<br />
<strong>Baul</strong>s vom Caitanya-Vaishnavismus übernommen. Unten wird diese Theorie kurz vorgestellt.<br />
In diesem Zusammenhang wird hier Gott stets Krishna genannt, da Gott des Caitanya-<br />
Vaishnavismus Krishna ist.<br />
<strong>Die</strong> Caitanya-orientierten Vaisnavs, daher auch die <strong>Baul</strong>s, bezeichnen die Krishna-Maya-<br />
Beziehung als acintya-bhedabhed (gleichzeitig dasselbe und verschieden). Hier wird gern<br />
das Beispiel vom Feuer und seiner Hitze zitiert. Sie sind nicht dasselbe, aber auch nicht<br />
voneinan<strong>der</strong> trennbar. Maya ist nicht etwas, das neben Krishna als die zweite Wahrheit existiert.<br />
Sie existiert in Krishna und nur in Bezug auf Krishna, onwohl ihre Eigendynamik<br />
unübersehbar ist. Sie hat zwei Funktionen: sie verursacht Unwissenheit (avidya) durch<br />
Verhüllung und sie führt den Menschen in die Irre, indem sie ihm die Welt im falschen Licht<br />
erscheinen läßt. Ferner, wird sie von Krishna benutzt, wenn er irgendjemandem etwas<br />
vortäuschen will. Das Bhagavata-purana X, 13, 18-21 erzählt, daß Krishna mit Hilfe seiner<br />
Maya sich als mehrere Kühe und Kuhhirtenjunge manifestiert hat, um Gott Brahma zu<br />
belehren. Das Bhagavata-purana meint aber, daß die Maya zwar den gewöhnlichen<br />
Menschen in die Irre führt, aber dem Aspiranten hilft, um spirituell weiterzukommen. Als<br />
helfende Kraft wird sie Yogamaya genannt, und als die irreführende Mahamaya. Yogamaya<br />
hilft dem Adepten bei <strong>der</strong> Reinigung seiner Seele und <strong>der</strong> Intensivierung seiner Liebe zu<br />
Gott. 61 In den Lie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s findet man den Begriff Yogamaya nicht. <strong>Die</strong>se erwähnen<br />
meistens den Begriff Maya, wobei beim Gespräch festgestellt wird, daß sie auch den Begriff<br />
Mahamaya kennen. Daß die Maya auch als helfend arbeitet, wird we<strong>der</strong> in den Lie<strong>der</strong>n noch<br />
im Gespräch behauptet. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s meinen, daß die Maya den Gedanken des Menschen so<br />
beeinflußt, daß er denkt, das Ziel und <strong>der</strong> Sinn des Lebens ist die weltliche Freude. Der<br />
Mensch kommt durch seine Sinnesorgane mit <strong>der</strong> Welt in Berührung. <strong>Die</strong>s erweckt in ihm<br />
das Verlangen nach diesem und jenem. Er strebt nach dem Gewünschten und versucht das<br />
Unangenehme zu vermeiden. Von seinen Wünschen und Abneigungen getrieben schaukelt<br />
er zwischen Tränen und Lachen. Geblendet von weltlichen Freuden verstrickt er sich im<br />
Netz <strong>der</strong> Welt. Und je mehr er in den Strudel <strong>der</strong> Welt einsinkt, um so größer wird die<br />
Entfernung von Krishna. Er vollbringt immer mehr Taten (karma) um immer mehr Freude<br />
zu erlangen und sammelt so ununterbrochen neue Karmas an, die den Kreislauf <strong>der</strong><br />
Wie<strong>der</strong>geburten aufrechthalten. Der Zustrom <strong>der</strong> neuen Karmas sichert die Wie<strong>der</strong>geburt,<br />
da die getanen Karmas ausgelebt werden müssen. In unzähligen Lie<strong>der</strong>n beschreiben die<br />
61 Detailliert in: Srimad Bhagavatam, ed. und übersetzt von A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada, Tenth<br />
Canto, Part One, Capters 1-13, Los Angeles, 1987, 51-52<br />
34
<strong>Baul</strong>s, wie Maya die Menschen in ihrer Gefangenschaft hält und sie in die Irre führt (s.<br />
Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Warum Gott es zuläßt, daß Maya mit dem Menschen dieses Spiel treibt, wird in den Lie<strong>der</strong>n<br />
nicht gefragt. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s versuchen, alle empirischen Erlebnisse in ihrer subjektiven Welt zu<br />
bearbeiten, ohne gegen Krishna o<strong>der</strong> Maya Kritik vorzubringen und beklagen sich selbst<br />
über die eigene Leichtsinnigkeit (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Prem (die Gottsliebe sowie die göttliche Liebe), <strong>der</strong> Weg zur Befreiung<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s vertreten die Ansicht, daß man sich durch die Gottesliebe, die Caitanya gepredigt<br />
hat, von <strong>der</strong> Maya befreit. Der Caitanya-Vaishnavismus meint, Krishna und Radha sich in<br />
einer Person, nämlich Caitanya, verkörpert haben. Krishna, <strong>der</strong> Genießer, konnte sich selbst<br />
nur durch seine Geliebte Radha genießen. Deshalb verkörperte Krishna sich mit Radha in<br />
<strong>der</strong> Person Caitanyas. 62 Caitanya war zur Hälfte Radha und zur an<strong>der</strong>en Hälfte Krishna.<br />
<strong>Die</strong>se Verkörperung des männlichen Gottes und seiner weiblichen Shakti in einer Person<br />
war rein innerlich. Biologisch war Caitanya einwandfrei ein Mann. Nur in seinem<br />
Bewußtsein war er Krishna und Radha in einem. Als Radha brachte Caitanya seinem Geliebten<br />
Krishna keine Bhakti, die Hingabe eines Untergeordneten, son<strong>der</strong>n Prem, die Liebe<br />
einer verliebten Närrin entgegen. Prem wird im Caitanya-Vaishnavismus höher geschätzt als<br />
Bhakti, Hingabe, da nach seiner Meinung die Liebe zwischen einem Mann und einer Frau<br />
die intensivste Form <strong>der</strong> Liebe sei. Krishnadas Kabiraj Gosvami schreibt in Shri-shricaitanya-caritamrita,<br />
Adilila IV:<br />
„<strong>Die</strong> Liebe eines <strong>Die</strong>ners (dasya), eines Freundes (sakhya),<br />
Der Eltern (vatsalya) und zwischen Mann und Frau (shringar)<br />
Sind die vier Arten <strong>der</strong> Liebe (41)<br />
Je<strong>der</strong> denkt, seine Art sei die beste<br />
Und genießt Krishna auf seine Art (42)<br />
Wenn ich aber genau und unparteiisch (die Arten) untersuche,<br />
(Stelle ich fest,) von allen Arten ist Shringar die süßeste (43).“<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s glauben nur an die vierte Art <strong>der</strong> Liebe. Daher wollen sie Gott, den Mann, als<br />
eine Frau lieben (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). Hierfür sehen die <strong>Baul</strong>s kein Problem, da sie als<br />
Caitanya-Vaisnavs glauben, die Seelen aller Menschen die Manifestationen von Krishnas<br />
Jiva-shakti sind und da Shakti weiblich ist, sind alle Lebewesen, unabhängig von ihrer<br />
biologischen Geschlechtszugehörigkeit, weiblich (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). 63<br />
Ferner streben sie an, die göttliche Vereinigung von Krishna und Radha, die im Caitanyas<br />
Körper stattgefunden hat, im eigenen Körper zu erleben (s. Kapitel 5). Hierfür braucht <strong>der</strong><br />
<strong>Baul</strong> eine weibliche Person, in die er Radha projiziert. <strong>Die</strong> Mitstreiterin ist aber auch<br />
gleichzeitig <strong>der</strong> Wohnort von Gott, hier Krishna (s. Kapitel 4). Daher ist diese Frau Gott<br />
und seine Shakti, bzw. Krishna und Radha in einer Person, wie Caitanya selbst. <strong>Die</strong> Aufgabe<br />
des <strong>Baul</strong>s besteht darin, daß er in dieser Frau die Anwesenheit Gottes sieht und sie in<br />
diesem Sinne liebt. <strong>Die</strong>se Liebe <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s, die anscheinend einer Frau entgegengebracht<br />
wird, ist keine körperliche Liebe (kama), son<strong>der</strong>n göttliche Liebe (prem), die Krishna und<br />
62 S. Krishnadas Kabiraj: Shri-shri-caitanya-caritamrita, Adilila I, 5-6 und IV, 160-164<br />
63 Über diese Theorie des Caitanya-Vaishnavismus in: Svami Tapasyananda: Shri Caitanya Mahaprabhu. His<br />
Life, <strong>Religion</strong> and Philosophy, Mylapore, 89<br />
35
Radha in Vrindavan erlebt haben. Sie ist frei von jeglichem sexuellen Gefühl (s. Anhang<br />
<strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Zwei Paare gelten in <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> als ideale Paare, die Prem verstanden und erlebt<br />
haben. Das eine Paar bildet sich aus dem Vaisnava-Dichter Jayadeva 64 (ca 1100 n. Chr.)<br />
und seiner Frau Padmavati, und das an<strong>der</strong>e ebenfalls aus einem Vaisnava-Dichter Candidas 65<br />
(ca. 1350-1440 n. Chr.) und seiner Geliebten Rajakini (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). Jayadeva<br />
verfaßte auf Sanskrit in Gedichtform das Buch Gitagovinda (Der Gesang über den<br />
Kuhhirtenjungen), in dem er das Prem, die göttliche Liebe, zwischen Krishna und Radha,<br />
beschrieb. Für manche Europär ist dieses Buch ein rein erotisches Werk, 66 aber die Hindus,<br />
hier die <strong>Baul</strong>s, verstehen die Liebesgeschichte von Krishna und Radha als die mystische<br />
Vereinigung <strong>der</strong> individuellen Seele (jivatma) mit Gott (paramatma) (s. Anhang <strong>Baul</strong>-<br />
Lie<strong>der</strong>). 67<br />
Sharira-tattva, Deha-tattva (die mystische Physiologie)<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s vertreten eine komplizierte Theorie <strong>der</strong> mystischen Physiologie, die sie das<br />
Sharira-tattva bzw. das Deha-tattva nennen. Sie glauben, daß das ganze Geheimnis <strong>der</strong> Welt<br />
sich in einem menschlichen Körper verbirgt, und daher <strong>der</strong> Mensch die Wahrheit in seinem<br />
eigenen Körper suchen muß. <strong>Die</strong>ser Grundsatz wird in den Lie<strong>der</strong>n immer wie<strong>der</strong> betont (s.<br />
Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). Unten werden die einzelnen Punkte <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> mystischen<br />
Physiologie vorgestellt.<br />
Das Manava-janma (die Menschgeburt)<br />
Der Mensch spielt in <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> des <strong>Baul</strong>s eine zentrale Rolle, da Gott nur im Menschenkörper<br />
erlebt werden kann. <strong>Die</strong>se <strong>Religion</strong> hat von den Puranas und dem tantrischen Yoga<br />
die Ansicht übernommen, daß für das Gotteserlebnis die recht komplizierten Cakra- und<br />
Nari-Systeme im Körper (s. unten) die technischen Voraussetzungen sind. <strong>Die</strong> Cakras, die<br />
Zentren <strong>der</strong> Transformation, und die Naris, Kanäle, die den Körper mit <strong>der</strong> Lebenskraft<br />
versorgen, sind nur in einem Menschenkörper vorhanden. <strong>Die</strong> Pflanzen und Tiere haben<br />
diese nicht. Deshalb wird in <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> <strong>der</strong> Mensch als die wertvollste Schöpfung<br />
Gottes betrachtet. <strong>Die</strong> Seele muß unzählige Male als Pflanze, Tier und vielleicht sogar als<br />
ein Gott geboren werden, bevor sie einen Menschenkörper erlangt (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
<strong>Die</strong> Reise ist lang und mühsam, aber es lohnt sich, sie gemacht zu haben. Hat die Seele die<br />
Menschgeburt erreicht, soll sie auf keinen Fall das Leben vergeuden, son<strong>der</strong>n die Chance<br />
wahrnehmen und im eigenen Körper Gott suchen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Ein Vergleich zwischem dem Pretakalpa des Garura-purana und den <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> macht<br />
deutlich, daß die Ansichten <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s über die Menschgeburt den Ansichten des klassischen<br />
Hinduismus gleicht. Der Pretakalpa des Garura-purana sagt: „Irgendwann einmal in den<br />
Tausenden und Millionen von Geburten erlangt ein Wesen durch den Schatz seiner guten<br />
Werke menschliches Dasein (XVI, 14),“ 68 und: „Ohne einen [Menschen-] Leib erreicht<br />
64<br />
Über Jayadeva in: Benjamin Walker: Hindu World. An Encyclopedic Survey of Hinduism, Vol 1, London,<br />
1968, 501<br />
65<br />
Über Candidas in: Ibid., 226<br />
66<br />
Ibid., 501<br />
67<br />
Vgl. Svami Tapasyananda: Shri Caitanya Mahaprabhu. His Life, <strong>Religion</strong> and Philosophy, Mylapore, 21 und<br />
88-89<br />
68<br />
E. Abegg (Übers.): Der Pretakalpa des Garuda-Purana, Berlin, 215<br />
36
niemand des Menschen höchstes Ziel; deshalb soll man seinen Leib wie einen Schatz hüten<br />
und gute Werke damit vollbringen (XVI, 17).“ 69<br />
Der Kosmos im menschlichen Körper<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s glauben, daß <strong>der</strong> menschliche Körper den ganzen Kosmos in sich verbirgt (s.<br />
Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). <strong>Die</strong>se Theorie stimmt mit <strong>der</strong> Vorstellung <strong>der</strong> Puranas überein. Der<br />
Pretakalpa des Garura-purana schreibt: "In dem Leibe, wie er in Wahrheit ist, sind alle<br />
Welten, Berge, Kontinente und Meere, die Sonne und die an<strong>der</strong>en Gestirne (XV, 53).“ 70<br />
<strong>Die</strong> Puranas zählen sieben Hauptgebirge, sieben Kontinente, sieben Weltmeere, vierzehn<br />
Welten und neun Planeten. 71 <strong>Die</strong> Namen dieser Gegenstände sind in den verschiedenen<br />
Puranas nicht immer identisch, aber die Zahl sieben ist von allen anerkannt worden. Da die<br />
<strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> zwar häufig von <strong>der</strong> Präsenz des Makrokosmos im eigenen Körper erzählen,<br />
diese Theorie aber niemals ausführlich darlegen, müssen mit Puranas Hilfe die Berge etc. im<br />
Körper identifiziert werden. Sie sind zum Teil geographisch nicht vorhanden. Auch im<br />
Körper sind diese mystischen Gegenstände nicht sichtbar. Nur ein fortgeschrittener Yogi<br />
kann sie sehen.<br />
Das Pretakalpa des Garura-purana gibt eine detallierte Aufstellung dieser Gegenstände im<br />
Körper im Kapitel XV:<br />
<strong>Die</strong> sieben Berge<br />
„In dem [mystischen] Dreieck 72 erhebt sich <strong>der</strong> Berg Meru, in <strong>der</strong> unteren Ecke desselben<br />
<strong>der</strong> Mandara, in <strong>der</strong> Ecke rechts <strong>der</strong> Kailasa und in <strong>der</strong> Ecke links <strong>der</strong> Himacala (60);<br />
an <strong>der</strong> oberen Seite <strong>der</strong> Nishadha, an <strong>der</strong> zur rechten <strong>der</strong> Gandhamadana, an <strong>der</strong> zur linken<br />
<strong>der</strong> Ramana: dies sind die sieben Weltberge (61).“ 73<br />
<strong>Die</strong> sieben Kontinente<br />
„In den Knochen befindet sich Jambudvipa, im Mark [Gehirn] Shakadvipa, im Fleisch liegt<br />
Kushadvipa und in den Naris (s. unten) Krauncadvipa (62);<br />
in <strong>der</strong> Haut Salmalidvipa, in sämtlichen Körperhaaren Gomedadvipa; in den Nägeln findet<br />
man Pushkaradvipa. (<strong>Die</strong>s sind die sieben Kontinente.) Und nun folgen die Weltmeere<br />
(63):“ 74<br />
<strong>Die</strong> sieben Weltmeere<br />
„Ksharoda [Salzwassermeer] ist im Harn, Kshiroda [Milchmeer] in <strong>der</strong> Milch, Surodhani<br />
[Schnapsmeer] im Schleim, Ghritasagara [Buttermeer] im Mark [und Gehirn] (64);<br />
69 Ibid., 215<br />
70 Ibid., 206<br />
71 Vgl. W. Kirfel: <strong>Die</strong> Kosmographie <strong>der</strong> In<strong>der</strong>, Bonn, 1920, 23-61, 128 und 144<br />
72 Gemeint ist das Dreieck, das sich in <strong>der</strong> Mitte des Muladhara-cakra befindet. Detailliert in: Harish Johari:<br />
Chakras, Körperzentren <strong>der</strong> Transformation, Basel, 1992, 56-61 und 65<br />
73 E. Abegg (Übers.): Der Pretakalpa des Garuda-Purana, Berlin, 1921, 208<br />
74 Ibid., 208<br />
37
Rasodadhi [Saftmeer] findet sich im Chylus [rasa], im Blut ist Dadhisagara [Quarkmeer],<br />
Svadudaka [Süßwassermeer] ist im Halszäpfchen zu erkennen, o Sohn <strong>der</strong> Vinata (65)!“ 75<br />
<strong>Die</strong> Sonne und die sieben Planeten<br />
„Im Nada 76 ist die Sonne, und im Bindu 77 <strong>der</strong> Mond; in den Augen ist Mars [Kuja] zu<br />
erkennen, im Herzen ist Merkur [Jña], wie bekannt (66);<br />
in <strong>der</strong> Vishnustätte (vishnu-cakra) 78 findet sich Jupiter [Guru], im Samen [Sukra] die Venus,<br />
im Nabel Saturn [Manda], im Antlitz Rahu, wie bekannt (67).<br />
Im Bereich des Vayu 79 ist Ketu: im Körper ist <strong>der</strong> Planetenkreis (68).“ 80<br />
Das Brahmanda (Weltei)<br />
Laut hinduistischer Kosmogonie, die in den Puranas enthalten ist, ist das Weltei<br />
(brahmanda) durch die Erde in zwei Teile - die Himmelwelten und die Unterwelten - geteilt.<br />
Es gibt sieben Himmelwelten und sieben Unterwelten. 81 <strong>Die</strong>se ganzen vierzehn Welten<br />
befinden sich in einem Menschen, wie uns die Lie<strong>der</strong> erzählen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
<strong>Die</strong>se sind die folgenden:<br />
<strong>Die</strong> sieben Himmelwelten<br />
1.Bhurloka: Bhurloka ist die Erde mit ihren Kontinenten, Meeren und Höllen.<br />
2. Bhuvarloka: Bhuvarloka liegt zwischen <strong>der</strong> Erde und <strong>der</strong> Sonnenbahn. <strong>Die</strong>se wird von<br />
<strong>der</strong> Sonne und dem Mond beleuchtet.<br />
3. Svarloka: Svarloka liegt zwischen <strong>der</strong> Sonnenbahn und dem Polarstern. <strong>Die</strong> Sonne, <strong>der</strong><br />
Mond, die Sterne und die Planeten gehören zu dieser Welt. Svarloka ist <strong>der</strong> allgemeine<br />
Himmelskörper.<br />
4. Maharloka: Maharloka ist die Welt <strong>der</strong> Heiligen, <strong>der</strong>en Lebensdauer eine ganze<br />
Schöpfungsperiode (kalpa) beträgt.<br />
5. Janarloka: Janarloka ist <strong>der</strong> Wohnort <strong>der</strong> Söhne Brahmas. Laut Shiva-purana sind sie<br />
Sanaka, Sananda, Sanatana, Kapila, Asuri, Vodhu und Pañcashikha.<br />
75<br />
Ibid., 208<br />
76<br />
Nada in diesem Zusammenhang bedeutet <strong>der</strong> mystische Klang, <strong>der</strong> durch das Zusammensein von Shiva und<br />
Shakti im Körper entsteht. Shiva und Shakti befinden sich zusammen im Muladhara-cakra jeweils als<br />
Svayambhu-linga und Kundalini-shakti. Detailliert in: Harish Johari: Wege zum Tantra, Freiburg im Breisgau,<br />
1987, 51<br />
77<br />
Bindu in diesem Zusammenhang bedeutetdie männliche Energie im statischen Zustand. Detailliert in:<br />
Upendrakumar Das: Shastramulak bharatiy shakti-sadhana, Bd. 1, Kalikata, 1984, 366-369<br />
78<br />
Vishnu-cakra ist ein mystischer unsichtbarer Kreis in <strong>der</strong> Handfläche, s. M. Monier-Williams: A Sanskrit-<br />
English Dictionary, Oxford, 1964, 999<br />
79<br />
Vayu (Wind) bedeutet hier die fünf Arten von Prana (Lebenskraft), detailliert in Swami Gambhirananda (Ed.<br />
und Übers.): Brahma-sutra-bhasya of Sri Shankaracarya, Calcutta, 1993, 540<br />
80<br />
E. Abegg (Übers): Der Pretakalpa des Garuda-Purana, Berlin, 209<br />
81<br />
S. W. Kirfel: <strong>Die</strong> Kosmographie <strong>der</strong> In<strong>der</strong>, Bonn, 1920, 128-143<br />
38
6. Tapoloka: Tapoloka ist die Welt <strong>der</strong> Meditation. Hier wohnen Götter, die Elemente,<br />
Sinnesorgane und die Materie (s. unten) beherrschen.<br />
7. Satyaloka: Satyaloka ist die Brahma-Welt, die Welt <strong>der</strong> Wahrheit. Hier wohnen Götter,<br />
die nicht mehr sterben. Hierhin kommen die Enthaltsamen (brahmacari), die die absolute<br />
Wahrheit (satya) erkannt haben. <strong>Die</strong> Yogis trinken hier den Yoga-Nektar (yogamrita).<br />
<strong>Die</strong> ersten drei Welten sind vergänglich, die drei letzten dagegen unvergänglich; die dazwischen<br />
liegende Maharloka ist von gemischtem Charakter. Sie überlebt die Zerstörung<br />
(pralaya) am Ende einer Schöpfungsperiode (srishti), wird jedoch von den Göttern verlassen.<br />
<strong>Die</strong> Stellen <strong>der</strong> Himmelwelten im Körper<br />
Pretakalpa des Garura-purana placiert diese Himmelwelten im Körper im Kapitel XV folgen<strong>der</strong>maßen:<br />
"Bhurloka ist im Nabel, Bhuvarloka darüber; Svarloka findet sich im Herzen, Mahas<br />
[Maharloka] im Halse (58);<br />
Janaloka ist im Munde, Tapoloka an <strong>der</strong> Stirn, Satyaloka im Brahmarandra (<strong>der</strong> Mittelpunkt<br />
im Schädel) (59).“ 82<br />
<strong>Die</strong> Aussage des <strong>Baul</strong>s Krishnendu Das<br />
<strong>Die</strong> vom <strong>Baul</strong> Krishnendu Das aufgeführte Liste <strong>der</strong> sieben Himmelwelten ist identisch mit<br />
<strong>der</strong> hier schon erwähnten, nur er präsentiert sie in einer an<strong>der</strong>en Reihenfolge. Seine Liste<br />
lautet: „Bhuh, Bhubah, Svah, Jana, Mahah, Tapah and Satya.“ 83 Krishnendu Das sagt nicht,<br />
wo genau welche Welt sich im Körper befindet.<br />
<strong>Die</strong> sieben Unterwelten<br />
<strong>Die</strong> Puranas berichten, die sieben Unterwelten, die die untere Hälfte des Welteis bilden,<br />
liegen etagenweise aufeinan<strong>der</strong>. <strong>Die</strong> Namenslisten in verschiedenen Puranas variieren. <strong>Die</strong><br />
Unterwelten dürfen nicht mit <strong>der</strong> Hölle verwechselt werden, wo die Verstorbenen die Strafe<br />
für ihre schlechten Karmas erleiden. <strong>Die</strong> Unterwelten sind reich und schön. „<strong>Die</strong><br />
Sonnenstrahlen erzeugen hier Licht, aber keine Hitze, und die Mondstrahlen leuchten, ohne<br />
Kälte zu erzeugen. Liebliche Wäl<strong>der</strong>, Flüsse, Seen mit Lotusgruppen, das Singen <strong>der</strong> Kokila<br />
und an<strong>der</strong>er Vögel, reizende Klei<strong>der</strong> mit Schmucksachen, duftende Salben, die Töne <strong>der</strong><br />
verschiedenen Musikinstrumente, (. . .) bereiten den Bewohnern dieser Räume Genuß, und<br />
selbst ein Erlöster würde hier noch Freude empfinden.“ 84 Hier wohnen die Asuras, auch<br />
Danavas und Daityas genannt, die mächtigen Feinde und Halbbrü<strong>der</strong> <strong>der</strong> Götter. 85<br />
82 E. Abegg (Übers.) Der Pretakalpa des Garuda-Purana, Berlin, 1921, 207<br />
83 Krishnendu Das: The <strong>Baul</strong>s of Bengal, Calcutta, 64<br />
84 W. Kirfel: <strong>Die</strong> Kosmographie <strong>der</strong> In<strong>der</strong>, Bonn, 1920, 145<br />
85 Detailliert in: Eckard Schleberger: <strong>Die</strong> Indiesche Götterwelt, Darmstadt, 1997, 163<br />
39
<strong>Die</strong> Stellen <strong>der</strong> Unterwelten im Körper<br />
<strong>Die</strong> Bezeichnungen <strong>der</strong> Unterwelten und ihre Placierung in verschiedenen Körperteilen<br />
variieren in verschiedenen Schriften. Der Pretakalpa des Garura-purana zählt und placiert in<br />
Kapitel XV die sieben Unterwelten folgen<strong>der</strong>maßen:<br />
„An <strong>der</strong> Fußsohle ist Tala, das merke, an <strong>der</strong> oberen Fläche <strong>der</strong> Füße Vitala; in den Knien<br />
Sutala, das wisse, in den Schenkeln Mahatala (56);<br />
in den Hüften Talatala, in <strong>der</strong> Schamgegend Rasatala, in den Lenden Patala: das sind die<br />
bekannten sieben Welten (57).“ 86<br />
<strong>Die</strong> Aussage von <strong>Baul</strong> Krishnendu Das<br />
<strong>Baul</strong> Krisnendu Das nennt die folgenden Unterwelten, ohne jedoch diese Unterwelten im<br />
Körper zu placieren: Tal, Atal, Bital, Sutal, Talatal, Mahatal and Rasatal. 87<br />
<strong>Die</strong> Aussage <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s über ihre eigene Erfahrung<br />
<strong>Die</strong> Frage, ob <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> die vierzehn Welten im eigenen Körper gesehen o<strong>der</strong> wahrgenommen<br />
hat, wird von den <strong>Baul</strong>-Gurus immer positiv beantwortet. Auf die Bitte <strong>der</strong> Autorin<br />
konnte kein <strong>Baul</strong> es genau, o<strong>der</strong> annähernd genau beschreiben, was er in seinem Körper<br />
gesehen hat. Wenn man die <strong>Baul</strong>s mit Fragen allzusehr belästigt, bekommt man die Antwort,<br />
man solle ins Labor kommen und selbst die Versuche vornehmen.<br />
<strong>Die</strong> vierundzwanzig Tattvas<br />
Zahlreiche Lie<strong>der</strong> singen von <strong>der</strong> Prakriti, von den vierundzwanzig Tattvas, drei Gunas,<br />
zehn Indriyas (fünf Wahrnehmungsfunktionen, genannt Jñanendriya und fünf ausführende<br />
Körperteile, genannt Karmendriya), und fünf Elementen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). <strong>Die</strong>s<br />
zeigt, daß die mystische Physiologie nicht nur vom Yoga, son<strong>der</strong>n auch vom Sankhya-<br />
System 88 beeinflußt ist. Da die Lie<strong>der</strong> die Punkte nur erwähnen, ohne sie zu erläutern,<br />
müssen ihre Aussagen mit Hilfe des Sankhya-Systems verstanden werden. Ohne ausführlich<br />
auf das Sankhya-System einzugehen, werden hier die Punkte erläutert, die zum Verstehen<br />
<strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> beitragen.<br />
Sankhya zählt zwei Urprinzipien: Purusha (Bewußtsein) und Prakriti (Materie). Purusha ist<br />
unverän<strong>der</strong>lich, unsterblich und unendlich. Purusha ist <strong>der</strong> Atma, <strong>der</strong> beim Tode den verbrauchten<br />
Körper verläßt, um sich in einem neuen, den getanen Karmas entsprechenden,<br />
Körper nie<strong>der</strong>zulassen. Der Tod des Körpers trifft den Purusha nicht. Er bedeutet für ihn<br />
lediglich einen Wohnortwechsel. Der Purusha ist rein in seiner Natur. Obwohl er ständig mit<br />
<strong>der</strong> Prakriti (Materie) in Berührung steht, bleibt er von ihr unbeeinflußt. Prakriti enthält in<br />
sich drei Gunas (Eigenschaften), aus denen alles Materielle in dieser Welt besteht. <strong>Die</strong>se drei<br />
Gunas sind: Sattva, Rajas und Tamas. Alle Menschen enthalten diese drei Gunas, und sind<br />
je nach <strong>der</strong> Prädominanz eines <strong>der</strong> drei Gunas sattvika, rajasika o<strong>der</strong> tamasika in ihrem<br />
86 E. Abegg (Übers.): Der Pretakalpa des Garuda-Purana, Berlin, 1921, 207<br />
87 Vgl. Krishnendu Das: The <strong>Baul</strong>s of Bengal, Calcutta, 64<br />
88 Über das Sankhya-System s. Sarvepalli Radhakrishnan: Indian Philosophy, Vol 2, London, 1977, 248-335<br />
40
Wesen und Charakter. <strong>Die</strong> folgende Strophe in <strong>der</strong> Bhagavadgita beschreibt, wie die Gunas<br />
auf den Menschen wirken: „Sattva führt zur Freude, Rajas zur Aktivität, o Bharata (gemeint<br />
ist Arjuna), wobei Tamas jedoch Wissen verschleiert und zur Trägheit führt (Bhagavadgita<br />
XIV, 9).“ Wenn die Gunas in <strong>der</strong> Prakriti sich im vollkommenen Gleichgewicht befinden, ist<br />
sie inaktiv. Sie verliert aber ihr Gleichgewicht, wenn sie mit dem Purusha in Berührung<br />
kommt. <strong>Die</strong>s ist auch <strong>der</strong> Zeitpunkt, in dem ihre Entfaltung als vierundzwanzig Tattvas<br />
beginnt. <strong>Die</strong>s geschieht in folgen<strong>der</strong> Reihenfolge:<br />
<strong>Die</strong> vyakta Prakriti (manifestierte Prakriti) → Buddhi (Intellekt), auch Mahat (<strong>der</strong> kosmische<br />
Intellekt) genannt → Ahankara (Ich-Bewußtsein) → fünf Tanmatras („Feinelemente“<br />
Elemente des Geräusches, Tastens, Geruchs, <strong>der</strong> Form / Farbe und Geschmacks) → Manas<br />
(Geist) → fünf Jnanendriyas (Sinnesorgane: die Funktionen vom Sehen, Hören, Riechen,<br />
Schmecken und Berühren) → fünf Karmendriyas (ausführende Körperteile: Zunge, Füße,<br />
Hände, Ausscheidungsorgane und Reproduktionsorgane) und → fünf Dhatus, auch Bhutas<br />
bzw. Mahabhutas (Großelemente: Erde, Wasser, Wind, Feuer, Äther) genannt.<br />
Jede Kategorie ist feiner als die darauffolgende. <strong>Die</strong>s ist in Kürze die Theorie <strong>der</strong> Tattvas.<br />
<strong>Die</strong> Gelehrten aus dem Caitanya-Vaishnavismus teilen Prakriti in Para-prakriti bzw. Svarupa-prakriti<br />
und Apara-prakriti bzw. Bahiranga-prakriti. <strong>Die</strong> erste ist Sat, Cit, Ananda<br />
(Existenz, Bewußtsein, Glückseligkeit) und die zweite ist Maya. 28 <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s kennen jedoch<br />
diese feinen Unterschiede <strong>der</strong> Prakriti nicht. Für sie ist die Prakriti Gottes Shakti, die mit<br />
Maya (s. oben) identisch ist. In ihren Lie<strong>der</strong>n erwähnen die <strong>Baul</strong>s vierundzwanzig Tattvas<br />
im menschlichen Körper (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Ripus (Feinde) und Darajas / Duyaras (Türen)<br />
Es gibt noch weitere Details im Körper, mit denen sich die <strong>Baul</strong>s gedanklich beschäftigen.<br />
<strong>Die</strong> sechs Ripus (Feinde) im eigenen Körper, Kama (Sinnenfreude), Krodha (Zorn), Lobha<br />
(Habgier), Moha (Verblendung), Mada (Rausch) und Matsarya (Neid), werden in Lie<strong>der</strong>n<br />
als Wi<strong>der</strong>sacher dargestellt. <strong>Die</strong>se warten wie <strong>Die</strong>be o<strong>der</strong> Räuber auf die günstige Gelegenheit,<br />
wenn die <strong>Baul</strong>s unachtsam werden, damit sie alle ihre spirituellen Bemühungen<br />
zunichte machen können. Auffallend ist ihre Heimtücke (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s singen auch von neun Öffnungen, die <strong>der</strong> Körper hat (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
<strong>Die</strong>se sind: die Ohren, Augen, Nasenlöcher, <strong>der</strong> Mund, Anus und das Geschlechtsorgan.<br />
Der <strong>Baul</strong> nennt sie in seinen Lie<strong>der</strong>n Darja, Duyar, d. h. Türen. Durch die Öffnungen dringt<br />
die Außenwelt in den Menschen ein, lockt ihn an und lenkt ihn von Gott ab. Außerdem,<br />
durch die Öffnungen, beson<strong>der</strong>s durch das Geschlechtsorgan, verliert <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> wertvolle<br />
Energie, die er zurückhalten muß, um die Kundalini-shakti (s. unten) in seinem Körper zu<br />
erwecken. <strong>Die</strong> Yoga-Übungen verleihen dem <strong>Baul</strong> die Fähigkeit die Öffnungen zu schließen.<br />
Während <strong>der</strong> Yoga-Übung muß er in <strong>der</strong> Lage sein, die neuen Öffnungen zu schließen,<br />
mit seiner ganzen Konzentration die Kundalini-shakti im Muladhara-cakra (s. unten) zu<br />
wecken und sie zum Ajña-cakra (s. unten) zu schicken, wo sie sich mit Gott vereinigt. In<br />
<strong>der</strong> Vereinigung zwischen Gott und Kundalini-shakti erlebt <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> seine eigene mystische<br />
Vereinigung mit Gott (s. Kapitel 5). Wenn er nicht in <strong>der</strong> Lage ist, die Öffnungen zu<br />
schließen, dringt während <strong>der</strong> Übung die Außenwelt in ihn ein, die Maya beherrscht seinen<br />
Gedanken und er verliert die Energie, indem diese durch die Öffnungen den Körper verlassen<br />
und in die Außenwelt dringen. <strong>Die</strong>s macht die Wirkung <strong>der</strong> Yoga-Übung zunichte. <strong>Die</strong><br />
41
Kundalini-shakti schläft weiterhin im Muladhara-cakra, <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> befindet sich weiterhin<br />
unter Mayas Herrschaft und erlebt Gott nicht.<br />
<strong>Die</strong> Theorie <strong>der</strong> mystischen Bedeutung <strong>der</strong> neun Öffnungen ist alt und wird auch in den<br />
Upanishaden und in <strong>der</strong> Bhagavadgita vertreten. Katha-upanisad II, ii, 1 zählt elf Türen.<br />
<strong>Die</strong>se sind die oben erwähnten plus <strong>der</strong> Nabel. <strong>Die</strong> Bhagavadgita V, 13 beschreibt den Zustand<br />
eines Menschen, <strong>der</strong> seinen Körper als das Gehäuse benutzt und ihn vollkommen beherrscht,<br />
folgen<strong>der</strong>maßen:<br />
„Ein Körperbesitzen<strong>der</strong> (dehi, d. h. Mensch), <strong>der</strong> sich durch seinen Gedanken von allen<br />
Aktivitäten zurückgezogen hat, lebt fröhlich in <strong>der</strong> Stadt <strong>der</strong> neun Türen, ohne etwas zu tun<br />
o<strong>der</strong> auch eine Tat zu veranlassen.“<br />
<strong>Die</strong> Öffnungen sollen nicht nur für die passive Funktion, Schließung, damit zwischen <strong>der</strong><br />
Außen- und Innenwelt kein Austausch stattfindet, trainiert werden, son<strong>der</strong>n sie müssen den<br />
Adepten auch aktiv unterstützen, indem sie durch die Maya verblendet ihm die Welt nicht<br />
falsch vermitteln, son<strong>der</strong>n das Licht des Wissens in sich scheinen lassen. So sagt Krishna in<br />
<strong>der</strong> Bhagavadgita XIV, 11:<br />
„Wenn an allen Türen dieses Körpers das Licht <strong>der</strong> Intelligenz scheint, dann soll (man)<br />
wissen, daß (in diesem Körper) Sattva prädominant ist."<br />
Es ist eindeutig, daß die <strong>Baul</strong>s die menschlichen Gefühle, welche die Ripus darstellen, als<br />
ein Hin<strong>der</strong>nis auf dem Wege des Gotteserlebnis sehen. <strong>Die</strong> Öffnungen sorgen für den<br />
Austausch mit <strong>der</strong> Außenwelt. Der <strong>Baul</strong>, lernt die Theorie <strong>der</strong> neun Öffnungen <strong>der</strong> Bhagavadgita<br />
von seinem Guru und gibt sie seinem Schüler weiter. (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>)<br />
Naris (Kanäle im Körper)<br />
Ein weiterer wichtiger Aspekte <strong>der</strong> mystischen Physiologie sind die Naris im Körper. Naris<br />
sind die Kanäle, die im Körper das Versorgungsnetz bilden. Der Yoga vertritt die Meinung,<br />
daß <strong>der</strong> Körper mit einer großen Anzahl von Kanälen versehen ist. <strong>Die</strong>se führen dem Körper<br />
die Lebenskraft (prana) zu und verteilen sie im ganzen Körper. <strong>Die</strong> Zufuhr und Verteilung<br />
geschieht in jedem Körper, jedoch nicht optimal. Das optimale Ergebnis kann durch<br />
korrekte Atemübungen, die <strong>der</strong> Yoga vorschreibt, erzielt werden. Hathayoga-pradipika I,<br />
39 zählt zweiundsiebzigtausend Kanäle im Körper. Shiva-samhita II, 13-16 zählen insgesamt<br />
dreihun<strong>der</strong>tundfünftausend Kanäle. Sharada-tilaka I, 43 schreibt: „Es gibt unzählige<br />
Kanäle.“ Es ist offensichtlich, daß es verschiedene Meinungen über die Gesamtzahl <strong>der</strong><br />
Naris gibt.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> machen keine einheitlichen Angaben über die Gesamtzahl <strong>der</strong> Naris. Im<br />
Gespräch behaupten die <strong>Baul</strong>s, es gäbe Hun<strong>der</strong>te, Tausende, Millionen von Naris im Körper,<br />
ohne jedoch etwas Näheres und Genaueres darüber zu sagen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>)<br />
<strong>Die</strong> zehn wichtigsten Naris im Tantra<br />
Das Tantra nennt zehn wichtigen Naris, die mit den zehn Öffnungen des Körpers verbunden<br />
sind. 89 <strong>Die</strong> neun Öffnungen sind für jeden Menschen wahrnehmbar. <strong>Die</strong> neun Naris mit den<br />
89 Vgl. Harish Johari: Chakras, Körperzentren <strong>der</strong> Transformation, Basel, 1992, 29-43<br />
42
neun Öffnungen sind: Ira-nari mit dem linken Nasenloch, Pingala-nari mit dem rechten<br />
Nasenloch, Gandhari-Nari mit dem linken Auge, Hastijihva-nari mit dem rechten Auge,<br />
Yashasvini-nari mit dem linken Ohr, Pusha-nari mit dem rechten Ohr, Alambusa-nari mit<br />
dem Mund, Kuhu-nari mit den Genitalien und Shankhini-nari mit dem Anus. <strong>Die</strong> zehnte<br />
Öffnung ist die Fontanelle. <strong>Die</strong> Sushumna-nari ist mit dieser Öffnung verbunden. <strong>Die</strong> zehnte<br />
Öffnung bleibt normalerweise zu. Sie öffnet sich nur dann, wenn die Seele beim Tod den<br />
Körper durch die Fontanelle verläßt. <strong>Die</strong>s geschieht nur bei den Erleuchteten Yogis.<br />
<strong>Die</strong> drei wichtigsten Naris in <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong><br />
Für die <strong>Baul</strong>s sind die Sushumna-nari, die Ira-nari und die Pingala-nari die wichtigsten aller<br />
Kanäle. <strong>Die</strong> Sushumna-nari fließt senkrecht vom Muladhara-cakra bis zum Sahasrara-cakra<br />
durch die Wirbelsäule. Unterwegs durchquert sie die an<strong>der</strong>en Cakras (s. unten). Bei Nicht-<br />
Yogis bleibt Sushumna-nari mit Schleim und Galle verstopft und läßt nichts durch <strong>Die</strong> Iraund<br />
Pingala-nari, die mehrfach die Sushumna-nari umwinden, fließen jeweils links und<br />
rechts von <strong>der</strong> Sushumna-nari. Sushumna, Ira und Pingala enden jeweils in <strong>der</strong> Fontanelle,<br />
im linken Nasenloch und im rechten Nasenloch. <strong>Die</strong> Naris werden in den Lie<strong>der</strong>n manchmal<br />
mit den heiligen Flüssen Sarasvati, Ganges und Yamuna verglichen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-<br />
Lie<strong>der</strong>), die sich im Muladhara-cakra einer Frau treffen und während <strong>der</strong> Menstruation dort<br />
für die Flut sorgen (s. Kapitel 5). Im Muladhara-cakra (s. unten) sind die drei Naris<br />
miteinan<strong>der</strong> verbunden, und werden daher in diesem Status Yuktaveni, d. h. miteinan<strong>der</strong><br />
verbundene Strömungen, genannt. Wenn sie das Muladhara-cakra verlassen, trennen sie<br />
sich. Im Ajña-cakra (s. unten) treffen sie sich wie<strong>der</strong>, sind aber hier nicht miteinan<strong>der</strong> verbunden,<br />
Daher werden sie in diesem Status Muktaveni, d. h. die voneinan<strong>der</strong> befreite<br />
Strömung, genannt. <strong>Die</strong> drei Kanäle werden für den tantrischen Yoga benötigt (s. Kapitel<br />
5). Außerdem führt die korrekte Versorgung <strong>der</strong> Lebenskraft durch die Kanäle dazu, daß<br />
<strong>der</strong> Mensch gesund lebt und die Harmonie zwischen <strong>der</strong> Außen- und Innenwelt erlangt.<br />
Gesundheit ist die indirekte und Geistesharmonie die direkte Voraussetzung für das Gotteserlebnis.<br />
Nur ein gesun<strong>der</strong> Körper ist imstande, die Anstrengungen <strong>der</strong> Yoga-Übungen<br />
durchzustehen. <strong>Die</strong> Harmonie des Geistes ist wie<strong>der</strong>um notwendig, um Gott zu erleben. Ein<br />
unruhiger Geist ist nicht in <strong>der</strong> Lage, Gott zu empfangen. <strong>Die</strong> korrekte Versorgung setzt<br />
gereinigte Kanäle voraus, die normalerweise mit Galle und Schleim verstopft sind.<br />
Hathayoga-pradipika II schreibt: In ihren Lie<strong>der</strong>n stellen die <strong>Baul</strong>s hauptsächlich Ira-, Pingala-<br />
und Sushumna-nari vor (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>)<br />
Cakras (die Zentren) und die Kundalini-shakti im Körper<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s glauben, daß <strong>der</strong> menschliche Körper mehrere Zentren in sich birgt. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s<br />
nennen diese Kotha (Zimmer, Etagen) o<strong>der</strong> Cakra. <strong>Die</strong>se Zentren im Körper sind unsichtbar.<br />
Eine chirurgische Sektion kann diese Zentren nicht nachweisen. Jedes Zentrum ist <strong>der</strong><br />
Sitz bestimmter Aspekte des Bewußtseins. Durch die Aktivierung dieser Zentren ist es<br />
möglich, die mysteriösen, verborgenen Kräfte im eigenen Körper zu entdecken, was für das<br />
Gotteserlebnis unbedingt nötig ist. <strong>Die</strong>se Kräfte sind in allen Menschenkörpern immer vorhanden,<br />
nur bei einem Laien bleiben sie ungenutzt. Das Ziel des <strong>Baul</strong>s ist es, mit Hilfe dieser<br />
Kräfte die Nähe Gottes zu erreichen. Gott ist das kosmische Bewußtsein (paramatma), <strong>der</strong><br />
Mensch das individuelle Bewußtsein (jivatma). Da diese Zentren die bis dahin unentdeckten<br />
Kräfte im Körper in Bewegung setzen und die transzendentale Begegnung des kosmischen<br />
und individuellen Bewußtseins ermöglichen, werden sie als Antriebskräfte des menschlichen<br />
Körpers betrachtet und mit Wagenrä<strong>der</strong>n verglichen. Der <strong>Baul</strong> vergleicht diese Zentren mit<br />
dem Lotus (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). <strong>Die</strong> Farben <strong>der</strong> Blütenblätter in verschiedenen Zentren<br />
43
sind verschieden. <strong>Die</strong> Anzahl <strong>der</strong> Blütenblätter deutet auf die Anzahl <strong>der</strong> unsichtbaren<br />
Kanäle (nari), mit denen die Cakras verbunden sind. Jedes Zentrum wird von einer an<strong>der</strong>en<br />
Luft (vayu) beherrscht. Hier soll erwähnt werden, daß im Hinduismus zahlreiche<br />
voneinan<strong>der</strong> abweichende Theorien über die Cakras und <strong>der</strong>en Bedeutungen gibt. Hier wird<br />
nur die Vorstellung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s berücksichtigt.<br />
<strong>Die</strong> Zählung <strong>der</strong> Zentren fängt unten an. So befindet sich das erste Zentrum, das Muladhara-cakra,<br />
zwischen dem Anus und den Genitalien gefolgt vom Svadhisthana-cakra in den<br />
Genitalien, Manipura-cakra im Nabel, Anahata-cakra im Herzen, Vishuddha-cakra in <strong>der</strong><br />
Kehle, Ajña-cakra zwischen den Augenbrauen und Sahasrara-cakra, in <strong>der</strong> Fontanelle.<br />
Für die <strong>Baul</strong>s sind das Muladhara-cakra, Ajña-cakra und Sahasrara-cakra von großer Bedeutung,<br />
weil in den ersten beiden Cakras Gott sich mit seiner Shakti trifft (s. Kapitel 5) und<br />
das letzgenannte Gottes Wohnort ist. Außerdem ist das Ajña-cakra <strong>der</strong> Sitz des Gurus (s.<br />
Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Im Muladhara-cakra schläft die Kundalini-shakti. <strong>Die</strong> Kundalini-shakti ist in diesem Zusammenhang<br />
die weibliche Energie Gottes. Das Wort Kundali bedeutet: gewunden. Sie wird<br />
Kundalini-shakti genannt, weil sie sich, während sie schläft, wie eine Schlange windet. Sie<br />
wohnt im Muladhara-cakra getrennt von Gott, <strong>der</strong> im Ajña-cakra und auch im Sahasraracakra<br />
wohnt. Solange Kundalini-shakti getrennt von Gott im Muladhara wie eine<br />
gewundene Schlange schläft, ist für den Menschen das Gotteserlebnis nicht möglich. Deshalb<br />
muß <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> sie durch yogische Atemübungen aufwecken. Wenn sie aufwacht, will sie<br />
unverzüglich nach oben zu Gott. Wie weit sie aber vorankommt, hängt davon ab, wie weit<br />
die Sushumna-nari (s. oben) gereinigt ist. Ist die Sushumna-nari gereinigt worden, schießt<br />
Kundalini-shakti bis zum Ajña-cakra und vereinigt sich dort mit Gott. In dieser Vereinigung<br />
zwischen Gott und seiner Shakti erlebt <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> Gott. Ira- und Pingala-nari haben einen<br />
Einfluß auf Kundalini-shaktis Bewegung, obwohl sie als Gottes Energie durch die<br />
Sushumna-nari fließt. 90<br />
Da die Lie<strong>der</strong> nichr ausführlich über die Kundalini-shakti beschreiben, werden hier einige<br />
Strophen Hathayoga-pradipikas, die sehr genau die Theorie <strong>der</strong> Kundalini-shakti <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<br />
<strong>Religion</strong> vorstellen, zitiert. Im Kapitel 3 schreibt diese heilige Schrift:<br />
„<strong>Die</strong> Kundalini-shakti schläft<br />
In <strong>der</strong> Höhle (d.h. im Muladhara-cakra).<br />
(Sie) befreit den Yogi<br />
Hält aber den Unwissenden gefangen<br />
(Im Kreislauf <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten).<br />
Wer dies weiß, <strong>der</strong> wird frei sein (107).<br />
Kundalini, die eine komplizierte Form hat (kutilakara),<br />
Wird als eine Schlage beschrieben.<br />
Wer diese Shakti in Bewegung setzt,<br />
Der wird ohne Zweifel befreit (108).<br />
Ira-(nari) ist die Bhagavati-ganga (d. h. Ganges),<br />
Pingala-nari ist (<strong>der</strong> heilige Fluß) Yamuna.<br />
Zwischen Ira und Pingala (sitzt)<br />
<strong>Die</strong> junge Frau Kundalini (110).<br />
90 Vgl. Hathayoga-pradipika IV, 18<br />
44
Packe die Schlange am Schwanz<br />
(Und) wecke die Schlafende.<br />
Hat die Shakti den Schlaf abgeschüttelt,<br />
Richtet sie plötzlich ihren Schlund nach oben (111).“<br />
Das Buch empfiehlt verschiedene Atemübungen, die Kundalini-shakti erwecken. Das Sharada-tilaka-tantra<br />
XXV, 64 schreibt, daß die Kundalini-shakti Gott nicht im Ajña-cakra,<br />
son<strong>der</strong>n im Sahasrara trifft. Augenscheinlich bestehen in dieser Hinsicht verschiedene<br />
Meinungen. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s glauben jedoch, daß das Treffen im Ajña-cakra stattfindet.<br />
Der Hauptgewicht des mystischen Konzepts über die Naris und Cakras <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong><br />
liegt an folgenden Punkten: Kundalini-shakti schläft im Muladhara-cakra, wacht auf durch<br />
Atemübungen des Yogis, bewegt sich nach oben durch die Sushumna-nari, vereinigt sich<br />
mit Gott im Ajña-cakra und diese Vereinigung spendet dem Menschen Glückseligkeit. Der<br />
<strong>Baul</strong> hält sich an diesen Schwerpunkten fest und will nicht viel Theoretisches über das<br />
komplizierte Nari- o<strong>der</strong> Cakra-System des Yogas und Tantras wissen. <strong>Die</strong> Bedeutung des<br />
Nari-und Cakra-Systems reduziert sich für ihn auf die Aktivitäten <strong>der</strong> Sushumna-nari,<br />
Muladhara- und Ajña-cakra und die Kundalini-shakti, ohne <strong>der</strong>en Mitwirkung er Gott nicht<br />
erleben kann. So wird in den Lie<strong>der</strong>n hauptsächlich nur auf diese Punkte eingegangen (s.<br />
Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Granthis (Knoten) im Körper<br />
Es gibt drei, wie<strong>der</strong>um unsichtbare Granthis, d. h. Knoten im Körper, die nach drei Göttern<br />
genannt werden. <strong>Die</strong>se sind: Brahma-granthi, Vishnu-granthi und Rudra-granthi. <strong>Die</strong><br />
Granthis befinden sich jeweils in <strong>der</strong> Nabelgegend, <strong>der</strong> Herzgegend und zwischen zwei<br />
Augenbrauen, wo sich auch das Ajña-cakra befindet. Der Brahma-granthi, genannt nach<br />
dem Schöpfungsgott Brahma, befindet sich in <strong>der</strong> Nabelgegend, da diese Gegend die Welt<br />
<strong>der</strong> Namen (nama) und Formen (rupa) darstellt. Der Vishnu-granthi befindet sich in <strong>der</strong><br />
Herzgegend. <strong>Die</strong>ser Knoten motiviert den Menschen, alles Positive zu erhalten. Da dieser<br />
Granthi einen zum Bewahren bewegt, wird er nach Gott Vishnu, dem Erhalter, genannt.<br />
Obwohl dieser Knoten den Menschen zur positiven Tat motiviert, hält er ihn doch fern von<br />
Gott, denn jede mit Motivation getane Tat hält den Kreis des Karmas - Tat - Folge -Tat -<br />
aufrecht. Der Rudra-granthi befindet sich im Stirnbereich. <strong>Die</strong>ser Knoten wird nach Rudra,<br />
Gott <strong>der</strong> Zerstörung, genannt, weil <strong>der</strong> Mensch, <strong>der</strong> diesen Knoten gelöst hat, auch gleichzeitig<br />
alle materiellen und spirituellen Bindungen gelöst und sich mit Brahman / Gott vereinigt<br />
hat. <strong>Die</strong> drei Knoten muß man sich wie drei Hürden im Hin<strong>der</strong>nislauf vorstellen. <strong>Die</strong><br />
Kundalini-shakti steigt höher und löst einen Knoten nach dem an<strong>der</strong>en. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sehen zu,<br />
daß die Kundalini-shakti den letzten Knoten nicht löst, damit <strong>der</strong> Mensch seine scheinbar<br />
separate Existenz bewahrt. <strong>Die</strong> Dualität ist nötig, um Gott zu genießen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-<br />
Lie<strong>der</strong>). Hathayoga-pradipika IV schreibt, was geschieht, wenn die Kundalini-shakti die<br />
Rudra-granthi löst:<br />
„Ist <strong>der</strong> Rudra-Knoten gelöst,<br />
Steigt <strong>der</strong> Atem bis zu Gottes heiligen Wohnort (76).<br />
Hier wird <strong>der</strong> Geist eins (mit Gott).<br />
(D. h. hier löst sich <strong>der</strong> Geist des Yogis im Brahman auf.)<br />
<strong>Die</strong>s wird Rajayoga genannt.<br />
Er ist jetzt <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong> Schöpfung und Zerstörung.<br />
Nun wird <strong>der</strong> Yogi zum Gott (Ishvar) (77).“<br />
45
Es gibt einzelne, sehr wenige Lie<strong>der</strong>, die die Kundalini-shakti nicht nur bis zum Ajña-cakra<br />
schicken wollen, son<strong>der</strong>n bis zum Sahasrara-cakra (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>, Lied ). <strong>Die</strong>s<br />
bedeutet jedoch, daß <strong>der</strong> Yogi im Brahman aufgeht. Er behält keine scheinbar separate Existenz,<br />
die er braucht, um Gott zu genießen.<br />
Candra / Cãd (die Monde im Körper)<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s vertreten die Meinung, daß sich im Körper vierundzwanzigeinhalb Candras bzw.<br />
Cãd, Monde und noch einmal acht Monde verstecken. <strong>Die</strong> vierundzwanzigeinhalb Monde<br />
verteilen sich im Körper folgen<strong>der</strong>maßen: zehn Monde in zehn Fingernägeln, zehn in den<br />
zehn Zehennägeln, in den beiden Wangen jeweils einer, einer in <strong>der</strong> Unterlippe, einer in <strong>der</strong><br />
Zunge und ein halber Mond auf <strong>der</strong> Stirn. <strong>Die</strong> acht Monde sind vorhanden: im Mund einer,<br />
in beiden Brüsten jeweils einer, in beiden Händen jeweils einer, im Brustkorb einer, im<br />
Nabel einer und im Geschlechtsorgan einer. <strong>Die</strong> Lie<strong>der</strong> erzählen von den Monden ohne<br />
diese zu entschlüsseln (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s erläutern jedoch die Lie<strong>der</strong><br />
bereitwillig, wenn man sie danach fragt.<br />
Mukti (die Befreiung) in <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong><br />
Das Ziel <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> ist die Mukti (Befreiung). Das, was die <strong>Baul</strong> sich unter Befreiung<br />
vorstellen, entspricht dem Befreiungskonzept des Caitanya-Vaishnavismus. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s<br />
glauben, daß ein befreiter Mensch 1. vom Kreislauf <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten befreit ist und 2.<br />
ewig in Gottes Nähe weiterlebt. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s teilen die Meinung <strong>der</strong> Tantriks, daß wenn die<br />
Kundalini-shakti eines Adepten das Sahasrara-cakra erreicht, <strong>der</strong> Adept selbst zum Gott<br />
(ishvar) wird (Hathayoga-pradipika IV, 76-77). Im Gegensatz zu den Tantriks, wollen die<br />
<strong>Baul</strong>s sich nicht in <strong>der</strong> höchsten Wahrheit auflösen, da sie dann ihre separate Existenz verlieren<br />
und daher Gott nicht mehr genießen können. In ihren Lie<strong>der</strong>n warnen die <strong>Baul</strong>s davor,<br />
daß <strong>der</strong> Adept bei <strong>der</strong> Yogaübung die Kundalini-shakti nicht das Sahasrara-cakra betreten<br />
läßt, son<strong>der</strong>n sie im Ajña-cakra festhält, da dies die letzte Stufe <strong>der</strong> Dualität ist (s.<br />
Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Obwohl das Ziel <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s mit dem Ziel des Caitanya-Vaishnavismus identisch ist, ist doch<br />
<strong>der</strong> Weg, <strong>der</strong> die <strong>Baul</strong>s zu diesem Ziel führt, ein an<strong>der</strong>er als <strong>der</strong> des Caitanya-Vaishnavismus.<br />
Der Weg des Caitanya-Vaishnavismus ist die Gottesliebe. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s jedoch glauben,<br />
daß nur ein bestimmter tantrischer Yoga einen Menschen zum Ziel führt (s. Kapitel 5).<br />
Durch diesen Yoga erlebt <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> Gott im eigenen Körper. <strong>Die</strong>ses Erlebnis befreit ihn vom<br />
Kreislauf <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten und ermöglicht ihm Gottes Nähe für die Ewigkeit. Obwohl<br />
die Lie<strong>der</strong> keine Aussage über den Himmel machen, ist es eindeutig, daß die <strong>Baul</strong>s an<br />
Goloka glauben, den Himmel des Caitanya-Vaishnavismus, wo die befreiten Krishna-Anhänger<br />
in Krishnas Gesellschaft (parikara) leben. Denn sie glauben, daß ein Befreiter nach<br />
seinem Tod in Gottes Nähe leben wird.<br />
Auch wenn <strong>der</strong> tantrische Yoga zum Ziel führt, ohne Gottesliebe ist dieser Yoga nicht<br />
praktizierbar. Der <strong>Baul</strong> muß Gott so lieben, wie Radha Krishna geliebt hat. Hier wird wie<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Caitanya-Vaishnavismus-Aspekt <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> deutlich. <strong>Die</strong> Intensität dieser<br />
Liebe ist die erste Voraussetzung für die spirituelle Disziplin <strong>der</strong> Caitanya-orientierten<br />
Vaisnavs, also auch für die <strong>Baul</strong>s. Candidas hat in seinen Lie<strong>der</strong>n diese Liebe vorgestellt (s.<br />
Anhang Lie<strong>der</strong> von Candisdas). Der Zustand <strong>der</strong> Gottesnärrin Radha gilt als <strong>der</strong> ideale<br />
Zustand bei den <strong>Baul</strong>s. <strong>Die</strong> Gottesliebe soll überwältigend sein, damit sie die Welt verges-<br />
46
sen. Nur dann werden sie in <strong>der</strong> Lage sein, sich vollkommen auf Gott zu konzentrieren und<br />
den tantrischen Yoga zu üben, <strong>der</strong> sie dann befreit.<br />
In ihren Lie<strong>der</strong>n machen die <strong>Baul</strong>s keine Aussage darüber, was mit einem befreiten<br />
Menschen geschieht, <strong>der</strong> noch einige Jahre auf <strong>der</strong> Welt leben muß, um seine alten Karmas<br />
auszuleben. Während <strong>der</strong> Gespräche wurde es aber deutlich, daß sie ihre Gurus für befreite<br />
Menschen halten. <strong>Die</strong>s bedeutet, daß sie an die Theorie des Jivanmuktas glauben. Jivanmukta<br />
ist jemand, <strong>der</strong> schon befreit ist, aber noch einige Jahre auf <strong>der</strong> Erde leben und leiden<br />
muß, um seine alten Karmas auszuleben. Neue Karmas bleiben jedoch wirkungslos, da<br />
er die Wahrheit erfahren hat.<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
1. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> hat philosophische Gedanken, jedoch keine systematische Philisophie,<br />
wie z. B. das Advaitavada o<strong>der</strong> Vishishta-advaitavada. <strong>Die</strong> philosophieschen Gedanken<br />
und die <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> ist eine Zusammenstellung verschiedener<br />
Vorstellungen und Theorien verschiedener Richtungen des Hinduismus, wobei die Einflüsse<br />
vom Caitanya-Vaishnavismus und Tantra die größten sind.<br />
2. <strong>Die</strong> philosophischen Gedanken und die <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> befähigt ihre<br />
Anhänger, <strong>der</strong> objektiven Welt eine vollkommene subjektive Interpretation zu verleihen und<br />
introvertiert in dieser subjektiven Welt relativ friedlich zu leben. Sie verleiht ihren<br />
Anhängern die Kraft zu glauben, daß vor Gottes Auge sie den den drei oberen Kasten<br />
gleichwertig sind. Ihre <strong>Religion</strong> gibt den <strong>Baul</strong>s ein Ziel vor, für das es sich lohnt zu arbeiten<br />
und zu leben.<br />
3. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> steht <strong>der</strong> Welt mit einer positiven Haltung gegenüber. <strong>Die</strong> Welt ist nur<br />
dann ein Jammertal, wenn sie getrennt von Gott gesehen wird. <strong>Die</strong> Aufgabe des Menschen<br />
ist nicht die Askese, son<strong>der</strong>n alles als die Manifestation Gottes zu betrachten. Daher braucht<br />
er auf nichts zu verzichten, kann alles genießen, ohne sich an die Erscheinungsformen zu<br />
klammern.<br />
4. <strong>Die</strong> Gottesliebe (prem) und die mystische Physiologie (sharira-tattva, deha-tattva) sind<br />
zwei Schwerpunkte <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong>, wobei <strong>der</strong> erstgenannte vom Caitanya-Vaishnavismus<br />
und <strong>der</strong> letztgenannte vom Tantra beeinflußt sind. <strong>Die</strong> Lehre und Praxis <strong>der</strong> Liebe ist<br />
eng mit <strong>der</strong> mystischen Physiologie verbunden. <strong>Die</strong> Kenntnisse über die mystische Physiologie<br />
inst die Voraussätzung für die Praxis dieser <strong>Religion</strong>.<br />
5. Ferner, sind in diesem Zweig <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> alle wichtigen Aspekte des Hinduismus, wie<br />
Brahman (die höchste Wahrheit), Ishvar (Gott), Atma (individuelle Seele), Maya (falsche<br />
Auffassung <strong>der</strong> Welt), Karma, Wie<strong>der</strong>geburt, Yuga (Schöpfungszyklen) zu finden.<br />
47
Kapitel 4<br />
<strong>Die</strong> Gottesbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sind Dualisten. Sie glauben an Gott, aber sie haben keine systematische Theorie<br />
von Ishvar o<strong>der</strong> Bhagavan des Vishishta-advaitavada. Gott <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s ist eine unsystematische<br />
Zusammenstellung von Kenntnissen, die sie von ihrem Guru vermittelt bekommen<br />
haben und die sie durch Beobachtung ihrer Umwelt, Teilnahme an Diskussionen und Hören<br />
<strong>der</strong> professionellen und halbprofessionellen Prediger in Dörfern erworben haben. <strong>Die</strong>se<br />
Zusammenstellung enthält viele Wie<strong>der</strong>sprüche in sich. Daher kann hier von Gottesbil<strong>der</strong><br />
gesprochen werden, die neben einan<strong>der</strong> stehen.<br />
Das von den Puranas beeinflußte Gottesbild<br />
<strong>Die</strong> Puranas haben einen unübersehbaren Einfluß auf das Gottesbild <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong><br />
aus. <strong>Die</strong> Puranas sind die Veden <strong>der</strong> einfachen Hindus. Als smritis sind diese Bücher für die<br />
Shudras und Kastenlosen nicht verboten. <strong>Die</strong> Puranas gehören zu den populärsten<br />
Erzählstoffen Indiens, die zu den religiösen und säkularen Anlässen, auf den Jahrmärkten<br />
und als Gutenachtgeschichten erzählt werden. Es gibt keinen von <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> geprägten<br />
Kulturzweig, sei es <strong>der</strong> populäre traditionelle indische, wie Yatra, Pala (Theater) o<strong>der</strong> Kabir<br />
gan (Ballade), sei es <strong>der</strong> von Europa eingeführte, wie die Filmindustrie, <strong>der</strong> nicht von den<br />
Puranas durchdrungen ist. <strong>Die</strong> mündliche Überlieferung und die audiovisuelle Darstellung<br />
sorgen dafür, daß die Legenden <strong>der</strong> Puranas am Leben erhalten bleiben und alle<br />
Volksschichten erreichen. Mit viel Phantasie und dramatischer Dichtkunst erzählen sie von<br />
den Heldentaten und Liebesgeschichten <strong>der</strong> Götter, von den Errungenschaften und Lebensläufen<br />
<strong>der</strong> Heiligen, den Geschichten <strong>der</strong> königlichen Linien mit all ihrer Glorie, Intrige<br />
und Schicksalsschlägen, Kosmogonie, von den obligatorischen Pilgerfahrten und Bußen und<br />
von vielen an<strong>der</strong>en Dingen. <strong>Die</strong> Legenden in den Puranas sind oft so sehr ineinan<strong>der</strong><br />
verstrickt, daß <strong>der</strong> Leser häufig den Faden verliert, aber dies beeinflußt nicht den Gesamteindruck,<br />
<strong>der</strong> zum Schluß übrig bleibt: Gott ist allmächtig und erhaben, in seinen<br />
Händen liegt das Schicksal des Menschen. Er ist anthropomorph. Als die allmächtige, liebevolle,<br />
aber auch strenge Autorität trägt er sie die Verantwortung für die Welt, sorgt für<br />
Ordnung und Gerechtigkeit, belohnt den Guten und bestraft den Bösen. Obwohl das<br />
Karma-Gesetz anerkannt wird, bestimmt Gott den Lauf <strong>der</strong> Welt. Er plant und führt durch,<br />
was für die Welt gut ist. Er nimmt die Sache selbst in die Hand, wenn die Welt einmal in<br />
Unordnung gerät. <strong>Die</strong> Hauptgötter sind auch die Beschützer an<strong>der</strong>er Götter, <strong>der</strong>en Herrschaft<br />
über das Himmelreich immer wie<strong>der</strong> von ihren Wi<strong>der</strong>sachern, den Asuras, bedroht<br />
wird. Parallel zu den bildhaften Darstellungen haben die Puranas ihre Hauptgötter philosophisch<br />
analysiert und diese mit dem Brahman <strong>der</strong> Upanishaden gleichgesetzt. Das formlose<br />
Brahman erscheint als Gott Vishnu, Shiva o<strong>der</strong> Göttin Kali. So sind die puranischen Götter<br />
identisch mit dem formlosen Brahman <strong>der</strong> Upanishaden. <strong>Die</strong> Götter sind reine Erscheinungsbil<strong>der</strong>,<br />
sie existieren nur im Zusammenhang mit Brahman. <strong>Die</strong> Lie<strong>der</strong> demonstrieren,<br />
daß die <strong>Baul</strong>s diese Lehre <strong>der</strong> Puranas kennen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
48
<strong>Die</strong> Beziehungen des <strong>Baul</strong>s mit Gott<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s projizieren ihre Familien-Beziehungen, wie etwa die Mutter-Kind- und die Vater-<br />
Kind-Beziehung, und die gesellschaftlichen Beziehungen auf Gott. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s verhalten sich<br />
distanzierter, wenn sie Gott als Vater beschreiben, als wenn sie Gott als Mutter beschreiben<br />
(s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). Im Zutrauen zu Gott, <strong>der</strong> Mutter und <strong>der</strong> Distanziertheit zu Gott,<br />
dem Vater spiegelt sich die patriarchalische Gesellschaft. Ferner, die Zutraulichkeit zu Gott,<br />
<strong>der</strong> Mutter, ist vom Tantra und dem Kali-Kult von Ramakrishna in West Bengal beeinflußt.<br />
<strong>Baul</strong>s, die als Tagelöhner, Fischer, Bauern etc. arbeiten, beschreiben Gott auch als ihren<br />
Herrn (prabhu), dem sie für alles dankbar sind (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). <strong>Die</strong> Unterwürfigkeit,<br />
welche die Lie<strong>der</strong> vorstellen, die Gott als den Herrn beschreiben, ist auch die, welche<br />
die Shudras und Kastenlosen in <strong>der</strong> indischen Gesellschaft den Herren aus den drei oberen<br />
Kasten entgegenbringen.<br />
Gott und Götter verhalten sich wie die Dorfbewohner<br />
Gott <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s ist aber, außer daß er allmächtig ist, den Menschen sehr ähnlich. Er findet<br />
Freude an denselben Sachen wie <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> selbst, z. B. an <strong>der</strong> Vereinigung mit <strong>der</strong> Partnerin,<br />
wie Krishna mit seiner weiblichen Energie Radha (s. unten), o<strong>der</strong> am Hanfrauchen, wie<br />
Shiva. Oft ist Gott in den Lie<strong>der</strong>n ein einfacher Mensch, ein Nachbar, den die <strong>Baul</strong>s in ihrem<br />
Dorf kennen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>)<br />
Das vom Tantra beeinflußte Gottesbild<br />
Viele Lie<strong>der</strong> schreiben Gott für den Hinduismus ungewöhnliche Aktivitäten zu. <strong>Die</strong> Aktivitäten<br />
kann Gott nur in einem weiblichen Körper durchführen. In einem männlichen Körper<br />
ist er gezwungen, sich relativ passiv zu verhalten. Hier eine kurze Darstellung <strong>der</strong> Aktivitäten<br />
Gottes: Gott wohnt im Sahasrara-cakra, das sich im Schädel einer Frau befindet.<br />
Wenn diese Frau ihre Menstruation bekommt, kommt Gott von seinem Wohnsitz herunter,<br />
um seine Shakti, die im Beckenplexus wohnt und in dieser Zeit lebhaft wird, zu treffen. Um<br />
herunter zu kommen benutzt er den Kanal Sushumna-nari (s. Kapitel 3) als Weg. Im<br />
Beckenplexus vereinigt er sich mit ihr auf mystische Weise und wird dadurch glücklich. Er<br />
weilt hier drei Tage lang. Am vierten Tag kehrt er zu seinem Wohnort zurück. Während<br />
seines Aufenthaltes im Beckenplexus wird er unaufmerksam. Der zielgerichtete <strong>Baul</strong> nutzt<br />
diese Gelegenheit, um ihn zu fangen (s. Kapitel 5). Zahlreiche Lie<strong>der</strong> beschreiben dieses<br />
Treffen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
<strong>Die</strong> Reise des Menschen des Herzens und sein Treffen mit <strong>der</strong> weiblichen Energie im Bekkenplexus<br />
ist eine umgedrehte Interpretation des tantrischen Maithun, wonach Shakti, die<br />
sich im Beckenplexus eines Menschen befindet, senkrecht aufsteigt und Shiva, im Sahasrara-cakra<br />
o<strong>der</strong> im Ajña-cakra trifft. 91 <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s kennen die tantrischen Schriften nicht.<br />
Da Bengal aber einer <strong>der</strong> Standorte des Tantra ist, leben die <strong>Baul</strong>s nicht ganz unbeeinflußt<br />
von ihm. Es ist eine natürliche Folge, daß sie von ihrem Umfeld tantrische Lehren und<br />
Übungen aufnehmen. Da <strong>der</strong> Wissenstransfer nicht sachkundig geschieht, werden die tantrischen<br />
Lehren zum Teil richtig, zum Teil aber auch falsch vermittelt. <strong>Die</strong> Theorie des<br />
91 Vgl. Sharada-tilaka-tantra XXV, 64<br />
49
Treffens ist ein Produkt des lückenhaften Wissens vermischt mit Phantasie. Zahlreiche<br />
Lie<strong>der</strong> stellen diese Aktivitäten Gottes dar (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Auch die Theorie <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong>, Gott wohnt im Sahasrara-cakra, zeigt den Einfluß<br />
Tantras auf das Gottesbild <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong>. Das Tantra glaubt, daß Shiva im Sahasrara-cakra<br />
wohnt. Zahlreiche Lie<strong>der</strong> beschreiben diese Theorie (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
<strong>Die</strong>ser vom Tantra beeinflußte Gott ist eine Nachahmung von Shiva <strong>der</strong> Shakti-Verehrer. In<br />
den tantrischen Schriften trifft zwar Shiva als <strong>der</strong> Ehemann und Lehrer <strong>der</strong> Shakti auf,<br />
befindet sich aber in ihrer Macht. In seinem Unterricht, den er im Mahanirvana-tantra Shakti<br />
erteilt, macht er es deutlich, daß Shakti die eigentliche Herrscherin <strong>der</strong> Welt ist. Das Devimahatmya<br />
I, 82-87 verkünden, daß Shakti Brahma, Vishnu und Shiva geschaffen hat. Der<br />
tantrische Gott <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> befindet sich soweit in <strong>der</strong> Macht von Shakti, daß 1) er zu<br />
einer bestimmten Zeit sie besuchen muß, um eine bestimmte Art <strong>der</strong> Glückseligkeit zu<br />
erleben, daß 2) er nicht in <strong>der</strong> Lage ist, ohne die Shakti diese Glückseligkeit zu erleben. Ein<br />
weiterer Schwachpunkt dieses Gottes besteht darin, daß er während seines Zusammenseins<br />
mit Shakti die Konzentration und Aufmerksamkeit verliert und sich von dem <strong>Baul</strong> fangen<br />
läßt. <strong>Die</strong>se Eigenschaften unterscheiden den tantrischen Gott <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s von dem von den<br />
Puranas beeinflußten Gott, <strong>der</strong> als <strong>der</strong> mütterliche o<strong>der</strong> väterliche Manifestation Brahmans<br />
ihre Kin<strong>der</strong> schützt o<strong>der</strong> für die Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Welt sorgt. Der tantrisch beeinflußte<br />
Gott <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s verhält sich den Menschen gegenüber gleichgültig. <strong>Die</strong> Motivation seiner<br />
Aktivitäten ist die Eigenliebe.<br />
Das vom Caitanya-Vaishnavismus beeinflußte Gottesbild<br />
<strong>Die</strong> Vaisnava-Dichter Jayadeva 92 und Candidas 93 haben Krishna von seinem Vishvarupa-<br />
Bild in <strong>der</strong> Bhagavadgita XI getrennt und ihn zu einem in seiner Shakti Radha verliebten<br />
Gott gemacht. <strong>Die</strong> Liebe zu Radha ist Haupteigenschaft dieses Krishna, seine Heldentaten<br />
und seine Rolle als Herrscher <strong>der</strong> Welt, spielen bei Jayadeva und Candidas eine untergeordnete<br />
Rolle. Caitanya, <strong>der</strong> Jayadeva und Candidas schätzte, verehrte diesen Krishna und<br />
gab seinen Anhängern ihn als <strong>der</strong>en Gott weiter. Caitanyas Gott ist eindeutig <strong>der</strong> Geliebte<br />
von Radha. Da die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> aus <strong>der</strong> Caitanya-Bewegung entstanden ist, beeinflußt<br />
die Liebesgeschichte von Krishna und Radha das Gottesbild <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong>. <strong>Die</strong><br />
Geschichte wird von Candidas in Shri-krishna-kirtan folgen<strong>der</strong>maßen erzählt: Krishna war<br />
das Pflegekind vom Kuhhirten Nanda und seiner Frau Yashoda, die in Vrindavan lebten.<br />
Von <strong>der</strong> Mutter verwöhnt, verhätschelt und zum Selbstbewußtsein erzogen, übernahm<br />
Krishna bald die Führung <strong>der</strong> Jugendlichen im Dorf. Zur gleichen Zeit wurde Vishnus Shakti<br />
als Tochter eines Kuhhirtenehepaares in Vrindavan geboren. <strong>Die</strong> Eltern nannten ihre<br />
Tochter Radha. <strong>Die</strong> Caitanya-orientierten Vaisnavs meinen, daß Gott drei Shaktis hat. <strong>Die</strong>se<br />
sind: Sandhini-shakti, Samvit-shakti und Hladini-shakti und entsprechen Gottes drei<br />
Eigenschaften, nämlich Sat (Existenz), Cit (Bewußtsein) und Ananda (Glückseligkeit). <strong>Die</strong><br />
Hladini-shakti ist die Energie, durch die Gott sich selbst genießt. Radha ist die Personifikation<br />
<strong>der</strong> Hladini-shakti. 94 Im heiratsfähigen Alter wurde Radha mit einem Hermaphroditen,<br />
dem Kuhhirten Aihana verheiratet. Aihana bestimmte seine alte Tante Barayi zur Aufsichtsperson<br />
für seine junge Frau. Unter Aufsicht von Barayi ging Radha mit an<strong>der</strong>en Kuh-<br />
92<br />
Über Jayadeva s. Benjamin Walker: Hindu World. An Encyclopedic Survey of Hinduism, Vol. 1, London,<br />
1968, 501<br />
93<br />
Ibid., 226<br />
94<br />
Über Krishnas Shaktis in: Svami Tapasyananda: Shri Caitanya Mahaprabhu. His Life, <strong>Religion</strong> and<br />
Philosophy, Maylapore, 81-87<br />
50
hirtenfrauen im Dorf jeden Tag zum Markt, um dort die Milchprodukte zu verkaufen. Der<br />
Kuhhirt Krishna indessen hütete die Kühe seiner Eltern. Eines Tages, auf dem Rückweg<br />
nach Hause, verlor Barayi Radha, die sich mit bei den jungen Kuhhirtenfrauen aufhielt. Barayi<br />
ging zu Krishna, <strong>der</strong> mit seinen Kühen in <strong>der</strong> Nähe war und fragte, ob er Radha gesehen<br />
hätte. Da aber Krishna bis zu diesem Zeitpunkt Radha noch nicht gekannt hatte, mußte<br />
Barayi ihm Radha beschreiben. <strong>Die</strong> Beschreibung von Radhas Schönheit führte dazu, daß<br />
Krishna sich in sie verliebte. Barayi mußte ihm ein Zusammentreffen mit Radha versprechen.<br />
Barayi brachte Radha die Nachricht, daß Nandas Sohn sich in sie verliebt hätte und ihre<br />
Gesellschaft wünschte. Radha lehnte eine Liebesbeziehung mit <strong>der</strong> Begründung ab, daß sie<br />
verheiratet sei. Krishnas unbändige Liebe zur Radha führte dazu, daß er wie<strong>der</strong>holt<br />
versuchte, Radha zu überreden. Auch Barayi schickte er als seine Botin. Auf Radhas täglichem<br />
Marktgang bot er sich ihr als Gepäckträger an, um ihre Liebe zu gewinnen. Er erniedrigte<br />
sich und bettelte um ihre Zuneigung. Trotz aller Bemühung blieb Krishna erfolglos.<br />
Daß Gott sich in seine Schöpfung Mensch verliebt und ohne seine Gegenliebe unglücklich<br />
bleibt, ist ein neuer Aspekt, den Caitanya in den Hinduismus eingeführt hat. <strong>Die</strong>ser Krishna<br />
ist nicht <strong>der</strong> erhabene Krishna <strong>der</strong> Bhagavadgita o<strong>der</strong> <strong>der</strong> übergeordnete Vishnu <strong>der</strong> Puranas.<br />
Er ist <strong>der</strong> Geliebte, dem man mit glühen<strong>der</strong> Passion entgegenkommt. Um Radha für<br />
sich zu gewinnen, erdachte sich Krishna eine Möglichkeit. Er baute sich eine Flöte. Auf<br />
dieser Flöte spielte er den mystischen Ton Om. 95 Der mystische Ton wirkte auf Radha in<br />
wun<strong>der</strong>barer Weise. Was Krishnas ganze Bemühung nicht bewirken konnte, wurde leicht<br />
mit dem Ton Om erzielt. Sobald Radha Krishnas Flötenspiel hörte, entflammte in ihrem<br />
Herzen die unbändige, leidenschaftliche Liebe für ihn. Ab jetzt wurde Krishna zu ihrem<br />
Lebensinhalt. <strong>Die</strong> Meinung <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> ihrer angeheirateten Familie kümmerte sie<br />
nicht. Trotz des Verbotes und wie<strong>der</strong>holter Strafen, die ihr von ihrer Schwiegermutter<br />
aufgezwungen wurden, traf sie sich heimlich mit Krishna. Am Ufer des Flusses Yamuna in<br />
den Gärten von Vrindavan kosteten sie ihre Liebe aus. <strong>Die</strong> bengalische Vaisnava-Literatur<br />
ist reich an Beschreibungen dieser Szenen. 96 Radhas ganze Gedanken, ihr ganzes Leben galt<br />
nun <strong>der</strong> Liebe zu Krishna. Das Flötenspiel von Krishna, das in Radha, die hier die Menschen<br />
verkörpert, die Liebe zu Gott erweckt hat, spielt in <strong>der</strong> Vaisnava-Literatur eine zentrale<br />
Symbolrolle. Gott liebt seine Schöpfung Mensch. Wenn <strong>der</strong> Mensch aus Unwissenheit Gott<br />
vergißt, gibt Gott Hilfestellung, damit er zu ihm zurückfindet. <strong>Die</strong> Melodie <strong>der</strong> Flöte ist<br />
Gottes mystische Berührung, die für Radha unwi<strong>der</strong>stehlich war.<br />
Vergleicht man Krishna <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> mit Krishna <strong>der</strong> oben zitierten Legende, stellt man<br />
fest, daß <strong>der</strong> Krishna <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s mit dem Krishna <strong>der</strong> Caitanya-Vaisnava-Literatur identisch<br />
ist. Als Caitanya-Vaisnavs finden die <strong>Baul</strong>s gerade eine beson<strong>der</strong>e Freude Gott als Krishna<br />
darzustellen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
<strong>Die</strong> Beziehung zwischen dem <strong>Baul</strong> und seinem Gott Krishna<br />
Als Caitanya-Vaisnavs glauben die <strong>Baul</strong>s, daß alle Menschen, ob Mann o<strong>der</strong> Frau, Shaktis<br />
sind. Daher projizieren die <strong>Baul</strong>s Radha auf sich selbst. <strong>Die</strong>s bedeutet, die <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong><br />
projiziert die verbotene Liebe zwischen Mann und Frau auf Gott und sich selbst. <strong>Die</strong>s entspricht<br />
genau <strong>der</strong> Beziehung zwischen Gott und dem Menschen im Caitanya-Vaishnavismus,<br />
wie sie von Krishnadas Kabiraj in Shri-shri-caitanya-caritamrita, Adilila, IV dargestellt<br />
wird. <strong>Die</strong> Liebesbeziehung zwischen Gott und dem Menschen beruht auf Gegenseitigkeit.<br />
Daher befindet sich <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> hier auf <strong>der</strong>selben Ebene wie Gott. Hier herrscht die<br />
95 Über Om in: Svami Mukhyananda: Om, Gayatri and Sandhya, Mylapore, 1-3, 9-16, 27 und 36-37<br />
96 Vgl. Khagendra Nath Mitra (Ed.): Vaisnava-padavali, Kalikata, 1996, 1-108<br />
51
Gleichberechtigung. Gott und <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> teilen die gleichen Empfindungen und sind gefühlsmäßig<br />
abhängig voneinan<strong>der</strong> (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
In ihren Lie<strong>der</strong>n beklagen sich die <strong>Baul</strong>s, daß ihre Liebe zu Krishna nicht intensiv genug ist.<br />
Der Leser wir hier darauf aufmerksam gemacht, daß die <strong>Baul</strong>s in solchen Fällen sich oft als<br />
eine Frau betrachten und sich mit Radha identifizieren, die mit ihrer Freundin spricht (s.<br />
Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Gott, <strong>der</strong> Purusha<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s nennen Gott unter an<strong>der</strong>em Purusha, den Mann, den Menschen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-<br />
Lie<strong>der</strong>). Er ist bewegungslos. Weil er kein Konglomerat ist, steht er über den Gunas, den<br />
Eigenschaften <strong>der</strong> Prakriti. 97 Da er von den Gunas frei ist, ist er <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburt nicht<br />
unterworfen. Wie<strong>der</strong>geburt erleidet nur <strong>der</strong>, <strong>der</strong> in sich die drei Gunas beinhaltet. Weil er<br />
die Gunas transzendiert, ist er formlos. <strong>Die</strong> Glückseligkeit (anandam) des Purusha ist nicht<br />
vergleichbar mit <strong>der</strong> weltlichen vergänglichen Freude, die ein Produkt <strong>der</strong> Zusammenkunft<br />
<strong>der</strong> Prakriti und <strong>der</strong> individuellen Seele (jivatma) ist. <strong>Die</strong> Glückseligkeit des Purushas ist<br />
unvergänglich. Obwohl Purusha in einem menschlichen Körper wohnt, ist er niemals dem<br />
Leid unterworfen. Purusha bleibt von allen Verän<strong>der</strong>ungen, denen <strong>der</strong> Mensch unterworfen<br />
ist, unangetastet. Der Kontakt mit dem menschlichen Körper führt lediglich dazu, daß Purusha<br />
sich blitzartig im Ajña-cakra reflektiert. Der <strong>Baul</strong> nimmt diese Reflexion wahr und<br />
erlebt Gott (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). <strong>Die</strong> Freude des Gotteserlebnisses des <strong>Baul</strong>s ist aber<br />
nicht dauerhaft. Der <strong>Baul</strong> erlebt Gott, wie man den Blitz wahrnimmt. <strong>Die</strong> Natur dieses<br />
Lichtes ist rein (sattvika) und nicht mit dem gewöhnlichen Licht zu vergleichen. Der Vergleich<br />
des Paramatma, <strong>der</strong> kosmischen Seele, mit dem Licht ist im Sankhya-System festzustellen.<br />
98 Offen bleibt die Frage, ob die <strong>Baul</strong>s an die Existenz mehrerer Purushas glauben,<br />
wie das Sankhya-System es tut, o<strong>der</strong> ob sie die Meinung vertreten, daß <strong>der</strong> eine Purusha<br />
sich vervielfältigt und gleichzeitig in mehreren Körpern wohnt. <strong>Die</strong> Lie<strong>der</strong> geben uns keine<br />
Auskunft hierüber. In den Gesprächen wollten die <strong>Baul</strong>s sich nicht auf eine dieser Sichtweisen<br />
festlegen. <strong>Die</strong>s zeigt, daß sie gleichzeitig an zwei wi<strong>der</strong>sprüchliche Theorien glauben,<br />
an die Theorie des Advaita-vedanta 99 - das eine Brahman manifestiert sich als viele<br />
Seelen (atma) - und an die vom Sankhya-System dargestellte Theorie - es existieren voneinan<strong>der</strong><br />
unabhängig mehrere Purushas. <strong>Die</strong> Lie<strong>der</strong> präsentieren keine zufriedenstellende<br />
Synthese bei<strong>der</strong> Theorien. In ihren Lie<strong>der</strong>n beschreiben die <strong>Baul</strong>s Gott als den Bewohner<br />
des Sahasrara-cakra (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>)<br />
Gottes Wohnort<br />
In zahlreichen Lie<strong>der</strong>n behaupten die <strong>Baul</strong>s, Gott wohne nicht draußen im Tempel, son<strong>der</strong>n<br />
im Menschenkörper. Deshalb kann man ihn nur in einem Menschenkörper suchen und finden<br />
(s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). Der genaue Wohnort des Gottes is <strong>der</strong> Sahasrara-cakra (s.<br />
Kapitel 3). <strong>Die</strong>se Feststellung beeinflußt die <strong>Religion</strong> weitgehend. Auf Grund dieser Theorie<br />
verlieren die religiösen Zeremonien, wie Gottesverehrung vor dem Altar, o<strong>der</strong> das Baden im<br />
Ganges, für die <strong>Baul</strong>s ihre Bedeutung. Idealerweise sollte ein <strong>Baul</strong> auf alle Rituale<br />
verzichten, außer auf den ritualen Yoga und sich vollkommen auf Gott im menschlichen<br />
Körper konzentrieren.<br />
97<br />
Über die Prakriti, ihrer Gunas und die Entstehung <strong>der</strong> Welt s. Sarvepalli Radhakrishnan: Indian Philosophy,<br />
Vol. 2, London, 1977, 259-277<br />
98<br />
Vgl. Surendra Nath Dasgupta: History of Indian Philosophy, Vol. 1, Delhi, 1975, 212 und 239<br />
99<br />
Über Advaita-vedanta s. Sarvepalli Radhakrishnan: Indian Philosophy, Vol. 2, London, 1977, 445-658<br />
52
<strong>Die</strong> höchste Wahrheit erscheint als Gott <strong>der</strong> fremden <strong>Religion</strong>en<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s glauben, daß die höchste Wahrheit nicht nur in Form hinduistischer Götter, son<strong>der</strong>n<br />
auch als Gott frem<strong>der</strong> <strong>Religion</strong>en erscheint (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Untersuchungergebnisse<br />
1. <strong>Die</strong> Gottesbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> zeigen gute Kenntnisse <strong>der</strong> Krishna-Theorie des<br />
Caitanya-Vaishnavismus, Kenntnisse <strong>der</strong> Shiva-Shakti-Theorie des Tantra. Allerdings wird<br />
aus den Lie<strong>der</strong>n nicht offensichtlich, ob die <strong>Baul</strong>s die Maithun-Theorie des Tantra absichtlich<br />
umdrehen, o<strong>der</strong> ob sie es tun, weil sie 1. das Tantra doch nicht so gut kennen und<br />
2. vage Kenntnisse von <strong>der</strong> Brahman-Theorie <strong>der</strong> Upanishaden und Purusha-Theorie des<br />
Sankhya haben. Der Ishvar des Advaita-vedanta ist hier nicht vertreten.<br />
2. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> hat kein einheitliches Bild von <strong>der</strong> höchsten Wahrheit, son<strong>der</strong>n mehrere<br />
Bil<strong>der</strong>, die diese darstellen. Jedes Bild hat seinen beson<strong>der</strong>en Schwerpunkt. <strong>Die</strong> verschiedenen<br />
Gottesbil<strong>der</strong> stellen Gott sehr verschieden dar.<br />
a) Der von Tantra uns Sankhya beeinflußte Gott verhält sich dem Leid <strong>der</strong> Menschen gegenüber<br />
gleichgültig, wobei <strong>der</strong> vom Tantra beeinflußte Gott von seiner Shakti abhängig ist.<br />
b) Der von den Puranas beeinflußte Gott ist anthropomorph und autoritär, aber auch vertrauensvoll.<br />
Er kann gleichzeitig an verschiedenen Orten als verschiedene Götter, z. B.<br />
Krishna, Kali etc., erscheinen. <strong>Die</strong>se Götterformen von Gott sind jedoch keine Fiktionen,<br />
son<strong>der</strong>n Tatsachen. Gott bzw. die obengenannten Götter sind omnipotent, omnipräsent und<br />
omniszient.<br />
c) Der vom Caitanya-Vaishnavismus beeinflußte Gott, <strong>der</strong> als Krishna verehrt wird, kommt<br />
von seinem Thron herunter und erkennt den Menschen als seinen Partner und gibt ihm die<br />
Hilfestellung.<br />
3. Gott <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> ist zum Teil das Ebenbild des Menschen, d. h. in ihm sind<br />
menschliche Schwächen zu finden, somit unterscheidet er sich von Bhagavan des Vishishtaadvaitavada.<br />
Er spiegelt zum Teil die Dorfgesellschaft wie<strong>der</strong>.<br />
4. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sind gleichzeitig Poly- und Monotheisten im hinduistischen Sinne, wie<br />
Anhänger vieler an<strong>der</strong>er Richtungen des Hinduismus. Sie kennen die Ishta-devata(Wunschgott)-Theorie<br />
des Hinduismus und besingen in ihren Lie<strong>der</strong>n ihren<br />
Wunschgott.<br />
5. Gott <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s ist flexibel, vielfältig, und daher interessant. Der <strong>Baul</strong> findet sich mit allen<br />
Variationen Gottes zurecht.<br />
53
Kapitel 5<br />
Feste, Rituale, Guru und die spirituelle Partnerin<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s üben Kritik an die Zeremonien und Rituale des klassischen Hinduismus (s. Anhang<br />
<strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). Untersucht man aber die <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong>, stellt man fest, daß die <strong>Baul</strong>s<br />
feste und Riruale feiern, die vom Caitanya-Vasnavismus und Tantrismus beeinflußt sind.<br />
Unten werden diese vorgestellt. Es ist schwierig, die Feste von den Ritualen zu trennen, da<br />
auch die Feste einige Ritualcharaktere enthalten. Hier wird das als Fest bezeichnet werden,<br />
das in <strong>der</strong> Öffenlichkeit stattfindet, und als Ritual das, das in <strong>der</strong> geschlossenen Gesellschaft<br />
stattfindet. <strong>Die</strong>ses Kriterium ist auch deshalb gewählt worden, weil die <strong>Baul</strong>-Tradition im<br />
allgemeinen verlangt, daß auch Nichteingeweihte an den Festen, aber nur die <strong>Baul</strong>s an den<br />
Ritualen teilnehmen dürfen. Einzelne Feste und Rituale <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s werden unten vorgestellt.<br />
Da die Gesamtzahl <strong>der</strong> Feste und Rituale groß ist, werden die Untersuchungsergebnisse von<br />
einzelnen Punkten am Ende des behandelnden Punktes dargestellt.<br />
<strong>Die</strong> Melas (Treffen), die Feste<br />
Das Mela (Treffen) ist ein traditionelles Dorffest in Indien. Im Bundesstaat West Bengal<br />
gibt es große und kleine Treffen, wo die Menschen <strong>der</strong> Dörfer miteinan<strong>der</strong> in Kontakt<br />
kommen und ihre Gedanken austauschen. Das Treffen wurde von verschiedenen religiösen<br />
Richtungen in Anspruch genommen, um unter den Menschen die eigenen Gedanken zu<br />
verbreiten. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sehen hierin die Möglichkeit, ihre <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> Gottesliebe zu praktizieren<br />
und den Nicht-<strong>Baul</strong>s vorzustellen. Unten sind die wichtigsten Melas <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s vorgestellt.<br />
<strong>Die</strong> Melas sind die einzigen Feste <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong><br />
Das Jayadeva-mela, auch Jayadeva-kenduli-mela genannt<br />
Der Anlaß<br />
Das bedeutendste Mela für die <strong>Baul</strong>s ist das Jayadeva-mela, auch Jayadeva-kenduli-mela<br />
genannt. Das Mela wird im Gedenken an den Lyriker Jayadeva 100 (ca 1100 n. Ch.) gefeiert.<br />
Jayadeva, <strong>der</strong> in einer Brahmanenfamilie im Dorf Kenduli geboren wurde, war einer <strong>der</strong> fünf<br />
Juwelen (pañca-ratna) des königlichen Hofes vom König Lakshmana-sena (ca. 1179-<br />
1207). 101 <strong>Die</strong> Legende erzählt, daß an einem bestimmten Tag des Jahres Ganges einen<br />
seiner Arme nach Kenduli geschickt, damit Jayadeva in diesem heiligen Fluß baden konnte.<br />
Zu diesem Anlaß findet an diesem Tag das Jayadeva-kenduli-mela statt.<br />
Zeit, Ort und allgemeine Beschreibung<br />
Das Jayadeva-kenduli-mela findet am letzten Tag des Monats Paush (paush-sankranti, auch<br />
makar-sankranti genannt), gegen Mitte Januar im Dorf Kenduli, auch Kendubilla genannt,<br />
am Fluß Ajay, Distrikt Birbhum statt. Das Fest dauert vier Tage. <strong>Die</strong> Gläubigen behaupten,<br />
daß dieses Treffen seit seit 800 Jahren stattfindet. Im Januar, zur Zeit des Treffens, ist <strong>der</strong><br />
100<br />
Über Jayadeva s. Benjamin Walker: Hindu World. An Encyclopedic Survey of Hinduism, Vol. 1, 1968, 500-<br />
502<br />
101<br />
<strong>Die</strong> fünf Juwelen vom König Lakshmana-sena waren: Jayadeva, Govardhanacarya, Sarana, Umapati und<br />
Kabiraj. Vgl. P.C. Roy Choudhury: Temples and Legends of Bengal, Bombay, 1988, 94<br />
54
Fluß Ajay an manchen Stellen trocken. Hier und am Ufer des Flusses bauen die Leute ihre<br />
provisorischen Zelte auf. Das Zentrum des Treffens ist <strong>der</strong> Tempel Radha-vinoda-mandir,<br />
auch Jayadeva-mandir genannt. <strong>Die</strong> Gläubigen behaupten, daß die heiligen Figuren von<br />
Krishna und Radha im Tempel diejenigen sind, vor denen Jayadeva selbst seine<br />
Gottesverehrung (puja) verrichtete. Während des Treffens werden hier Tag und Nacht die<br />
Strophen aus dem Gitagovinda gesungen. <strong>Die</strong> Teilnehmer versuchen, möglichst in <strong>der</strong> Nähe<br />
des Tempels einen Platz zu finden, was freilich nicht allen gelingt. Das Dorf ist während des<br />
Treffens mit Menschenmengen gefüllt und vom Treffen beherrscht. <strong>Die</strong> Dorfschulen bleiben<br />
nur theoretisch geöffnet. <strong>Die</strong> tief verwurzelte Religiösität <strong>der</strong> aktiven Teilnehmer und<br />
Besucher des Treffens bestimmet die Atmosphäre des Jayadeva-kenduli-mela.<br />
Wie viele religiöse Feste <strong>der</strong> Hindus, bleibt das Jayadeva-kenduli-mela nicht frei von Geselligkeit<br />
und Heiterkeit. Das Treffen hat auch einen gewissen Volksfestcharakter. <strong>Die</strong>s<br />
macht das Mela interessant und lockert die Atmosphäre. Hier gibt es Imbisse aller Preisklassen,<br />
Stände mit Gebrauchsgegenständen und billiger Kleidung. <strong>Die</strong> Dorfbewohner<br />
können hier preisgünstig einkaufen und sich so mit den notwendigen Dingen für das ganze<br />
Jahr eindecken. Es gibt hier auch Souvenirläden, die bei <strong>der</strong> Gelegenheit ein gutes Geschäft<br />
machen. Der Zirkus und die Zauberkünstler sorgen für Unterhaltung. Müßten die Besucher<br />
sich tagelang ununterbrochen auf die <strong>Religion</strong> im strengeren Sinne konzentrieren, hielten die<br />
meisten Menschen es nicht durch. So aber können sie sich zwischendurch eine Pause<br />
gönnen und immer wie<strong>der</strong> auf die Gottesliebe zurückkommen. <strong>Die</strong> Dorfbewohner und Zugereisten<br />
machen einen lebensfrohen Eindruck, sie schlen<strong>der</strong>n durch das Treffen, besuchen<br />
den Tempel und genießen die vielfältigen Darbietungen des Mela.<br />
Weil die Anzahl <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s beim Jayadeva-kenduli-mela sehr groß ist, wird es im Volksmund<br />
in West Bengal auch als das <strong>Baul</strong>-mela bezeichnet.<br />
<strong>Die</strong> organisierte Darstellung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>slie<strong>der</strong><br />
Bis vor 1982 wurde das Jayadeva-kenduli-mela ausschließlich von <strong>der</strong> lokalen religiösen<br />
Organisation Nimbarkya-Asthiyal 102 und ebenfalls dem lokalen säkularen kulturellen Verein<br />
Jayadeva Smriti Club, d. h. Jayadeva Memorial Club) organisiert. Seit 1982 hat ein von <strong>der</strong><br />
Landesregierung West Bengals beauftragtes Komitee die Organisation <strong>der</strong> offiziellen<br />
Darbietungen <strong>der</strong> Vishnuitischen Kultur übernommen. <strong>Die</strong> Angehörigen des Komitees sind<br />
akademische Mitarbeiter <strong>der</strong> Visva-Bharati University, Santiniketan, regionale Politiker und<br />
Beamte, Jugendliche aus <strong>der</strong> Gegend und Purnadas <strong>Baul</strong>. Purnadas <strong>Baul</strong> vertritt die <strong>Baul</strong>-<br />
<strong>Gemeinschaft</strong>. Um die Kultur <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> zu präsentieren, errichtet das Komitee<br />
eine Bühne, auf <strong>der</strong> die eingeladenen <strong>Baul</strong>s ihre Lie<strong>der</strong> singen. Purnadas <strong>Baul</strong> stellt die Liste<br />
<strong>der</strong> einzuladenden <strong>Baul</strong>s auf. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s singen auf <strong>der</strong> Bühne bis 21.00 Uhr. <strong>Die</strong><br />
Aufführung gilt als eine Attraktion, befriedigt aber we<strong>der</strong> das Publikum noch die <strong>Baul</strong>s<br />
selbst. <strong>Die</strong> eingeladenen <strong>Baul</strong>s geben sich in <strong>der</strong> Öffentlichkeit zufrieden, unter vier Augen<br />
äußern sie sich aber kritisch über das Komitee. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s fühlen sich in ihrer Freiheit eingeschränkt,<br />
weil das Komitee ihnen ein festes Programm vorschreibt. Im einzelnen besteht<br />
ihre Kritik aus folgenden Punkten:<br />
1. Purnadas <strong>Baul</strong> macht Geschäfte mit <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>n, er kennt die Sorgen <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s nicht<br />
und kann deshalb die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> auch nicht repräsentieren.<br />
102 Über Nimbarkya-Asthiyal s. R.G. Bhandarkar: Vaisnavism, Saivism and Minor Religious Systems,<br />
Strassburg, 1913, 62-66<br />
55
2. Es dürften nicht nur die eingeladenen <strong>Baul</strong>s auf <strong>der</strong> Bühne singen, son<strong>der</strong>n alle, die es<br />
wollen, wie es beim Mela <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s üblich ist.<br />
3. Sie finden das Programm gezwungen und künstlich Sie möchten so lange und so viele<br />
Lie<strong>der</strong> singen, wie sie es wollen und nicht, wie das Komitee es bestimmt. Eine <strong>Baul</strong>-Frau<br />
sagte <strong>der</strong> Autorin: „Meine Seele ist nicht befriedigt, wenn ich nur zwei o<strong>der</strong> drei Lie<strong>der</strong><br />
singe.“<br />
<strong>Die</strong> selbständige Darstellung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>lie<strong>der</strong><br />
<strong>Die</strong> vom Komitee nicht eingeladenen <strong>Baul</strong>s lassen sich nicht dadurch stören, daß das Komitee<br />
sie ausschließt. Daher gibt es neben <strong>der</strong> organisierten Darstellung <strong>der</strong> Kultur <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<br />
<strong>Gemeinschaft</strong> mehrere Zelte <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s, wo man sie in ihrer natürlichen Atmosphäre<br />
beobachten kann. Manche bauen kleine Zelte, an<strong>der</strong>e wohnen unter einem Baum. Wo sie<br />
auch wohnen, sie bilden immer eine Gruppe. Hier singen sie ihrer Lie<strong>der</strong> nach Herzenslust<br />
und zeigen so ihre Verehrung für Jayadeva, Caitanya, Krishna und Radha, an<strong>der</strong>e Götter<br />
und die Heiligen des Caitanya-Vaishnavismus. Es kommt vor, daß einer die Gruppe wechselt,<br />
aber kein <strong>Baul</strong> bleibt einsam. <strong>Die</strong> Gruppe kocht und ißt gemeinsam. Es wird rein vegetarisch<br />
gespeist. <strong>Die</strong> gemeinsame Mahlzeit hat im Caitanya-Vaishnavismus eine alte<br />
Tradition. Caitanya zwingte seine Anhänger aller Kasten miteinan<strong>der</strong> zu essen, damit die<br />
kastenbezogenen Vorurteile abgebaut werden konnte (s. Kapitel 2). Obwohl dieser Grund<br />
für die <strong>Baul</strong>s entfällt, da sie nicht zu unterschiedlichen Kasten gehören, ist die gemeinsame<br />
Mahlzeit bei einem Fest für sie obligatorisch. Auf die Frage, ob sie damit die Gleichberechtigung<br />
aller Menschen vor Gottes Auge demonstrieren wollten, antworteten die <strong>Baul</strong>s,<br />
sie praktizierten dieses Ritual, weil ihr Urguru Caitanya es so bepfohlen hätte. Hier beobachtet<br />
man die blinde Ausübung eines Rituals, das seinen ursprünglichen Grund verloren<br />
hat.<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
Was die <strong>Baul</strong>s hier machen, religiöse Lie<strong>der</strong> singen und gemeinsam essen, um Jayadeva zu<br />
huldigen, könnten sie überall tun, also auch an ihren Wohnorten. Dennoch gibt es zwei<br />
Gründe, warum dieses Treffen für sie so wichtig ist, und warum sie am Jayadeva-kendulimela<br />
teilnehmen. <strong>Die</strong>se sind unten dargestellt.<br />
1. Das Dorf Kenduli ist ein Wallfahrtsort (tirtha) für die <strong>Baul</strong>s.<br />
Für die Vaisnavs ist Vrindavan <strong>der</strong> Hauptwallfahrtsort. 103 Im Vishnu-purana VI, 8 steht geschrieben,<br />
wenn jemand in Mathura (Vrindavan liegt in Mathura Distrikt) am zwelften Tag<br />
des Monats Jyaistha (Mai-Juni) im Fluß Yamuna badet erntet große Belohnung.<br />
<strong>Die</strong> Tatsache, daß die <strong>Baul</strong>s nach Kenduli fahren, um an einem festgelegten Tag dort mit<br />
Gesang und gemeinsamer Mahlzeit Jayadeva und an<strong>der</strong>en (s. oben) ihre Verehrung zu zeigen,<br />
ist ein Beweis dafür, daß sie in Anlehnung am klassischen Hinduismus, hier am Vaishnavismus,<br />
eine Pilgerfahrt nach Kenduli unternehmen.<br />
103 Über Vrindavan s. Debidas Bandyopadhyay: Caitanya-carcar pãcsho bachar, Kalikata, 1987, 146-148<br />
56
2. Hier findet <strong>der</strong> Gedankenaustausch zwischen den <strong>Baul</strong>s aus verschiedenen Dörfern statt,<br />
wobei sie sich gegenseitig bestätigen und dadurch neue Kräfte gewinnen. <strong>Die</strong>se brauchen<br />
sie, um die materielle und gesellschaftliche Benachteiligung im täglichen Leben zu ertragen.<br />
Das Kartabhaja-mela<br />
<strong>Die</strong> Kartabhaja(Menschen, die ihren Guru verehren)-<strong>Religion</strong>sgemeinschaft ist eine Caitanya-Vaisnava-<strong>Religion</strong>sgemeinschaft<br />
in West Bengal, die die Veden und das Kastensystem<br />
nicht anerkennt und einmal im Jahr ein großes Mela feiert. Darin begegnen sich die<br />
Ansichten <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s und <strong>der</strong> Kartabhajas.<br />
Anlaß, Zeit, Ort und die allgemeine Beschreibung<br />
Am Vollmond im Monat Phalgun (Februar-März) spielte Krishna mit seiner Geliebten<br />
Radha und den Gopis, den Freundinnen Radhas, in Vrindavan das Spiel <strong>der</strong> Farben (dolpurnima),<br />
auch Holi genannt. 104 Zu diesem Anlaß findet im Dorf Ghospara, Distrikt 24<br />
Paragans jedes Jahr am Vollmond im Monat Phalguna (Februar-März) das Karta-bhaja-mela<br />
statt.<br />
Das Treffen findet auf dem Grundstück <strong>der</strong> Kartabhaja-<strong>Gemeinschaft</strong> steht. <strong>Die</strong> Veranstalter<br />
sind die Kartabhajas. <strong>Die</strong>Teilnehmer des Treffens zahlen die Gebühr für die Übernachtung<br />
auf dem Gelände. Allerdings werden Leute, die dazu nicht in <strong>der</strong> Lage sind, geduldet.<br />
Zum Kartabhaja-mela finden Gottesverehrung (puja) für Krishna, Radha, Caitanya, Ramsharan<br />
Pal, den Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> genannten <strong>Religion</strong>sgemeinschaft und an<strong>der</strong>en Heiligen und<br />
Gurus <strong>der</strong> <strong>Religion</strong>sgemeinschaft statt. Auf dem Grundstück befindet sich ein Teich, an<br />
dessen magische Heilungskräfte geglaubt wird. Hier baden manch kranke Kartabhajas.<br />
<strong>Die</strong>ser Brauch ist unter den <strong>Baul</strong>s nicht verbreitet. <strong>Die</strong> religiösen Aktivitäten <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s beschränken<br />
sich hier auf das Singen und die gemeinsamen Mahlzeiten.<br />
Darstellung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>lie<strong>der</strong><br />
Beim Kartabhaja-mela gibt es keine organisierte Darstellung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>lie<strong>der</strong>. <strong>Baul</strong>s, die als<br />
Besucher am Treffen teilnehmen, übernachten entwe<strong>der</strong> in ihren Zelten o<strong>der</strong> unter den<br />
Bäumen in verschiedenen Gruppen. Dort, wo sie sich aufhalten, singen sie ihre Lie<strong>der</strong>, kochen<br />
und essen gemeinsam. Ihre Verehrung gilt Gott / Götter, Caitanya, einigen Heiligen<br />
des Caitanya-Vaishnavismus und dem eigenen Guru, aber nicht Ramsharan Pal und den<br />
Kartabhaja-Gurus.<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
1. Beide Punkte des Jayadeva-kenduli-mela sind in Bezug auf das Kartabhaja-mela festzustellen.<br />
104 Über Dol-purnima bzw. Holi s. Om Lata Bahadura: The Book of Hindu Festivals and Ceremonies, New<br />
Delhi, 1996, 40-51<br />
57
2. <strong>Die</strong> Tatsache, daß die <strong>Baul</strong>s am Mela einer an<strong>der</strong>en <strong>Religion</strong>sgemeinschaft des Caitanya-<br />
Vaishnavismus teilnehmen, zeigt, daß die <strong>Baul</strong>s bereit sind mit an<strong>der</strong>en Caitanyaorientierten<br />
Vaisnavs Gedanken auszutauschen<br />
3. Daß die <strong>Baul</strong>s hier Ramsharan Pal und die Kartabhaja-Gurus nicht verehren zeigt, daß<br />
trotz einiger Gemeinsamkeiten die <strong>Baul</strong>s und Kartabhajas getrennte Wege gehen.<br />
Das Paush-mela (das Treffen im Monat Paush) und das Magh-mela (das Treffen im<br />
Monat Magh)<br />
Anlässe<br />
Zwei weitere Treffen, bei denen sich viele <strong>Baul</strong>s versammeln, sind das Paush-mela und das<br />
Magh-mela. Der Anlaß des Treffens Paush-mela ist die Aushändigung <strong>der</strong> akademischen<br />
Urkunden an die Absolventen <strong>der</strong> Universität Visva-Bharati. Während des Feiers Maghmela<br />
werden Certifikate für gesundheitliche und landwirtschaftliche Leistungen an die<br />
Universitätsstudenten und Dorfbewohner verliehen. Beide Treffen sind keine religiösen<br />
Treffen, son<strong>der</strong>n Kulturveranstaltungen, wo Tanz, Musik, Literatur etc. dargeboten werden.<br />
Zeit, Ort und die allgemeine Beschreibung<br />
Wie die Namen andeuten, findet das Paush-mela (das Treffen im Monat Paush) im Dezember<br />
und das Magh-mela (das Treffen im Monat Magh) im Februar statt. Der Veranstalter<br />
<strong>der</strong> Treffen ist die Visva-Bharati University, Santiniketan. Beide Melas dauern drei Tage,<br />
finden auf dem Universitätscampus statt und Alle <strong>Baul</strong>s aus <strong>der</strong> Umgebung sind hier herzlich<br />
willkommen. <strong>Die</strong> Verwaltung stellt den <strong>Baul</strong>s einen Platz zur Verfügung, wo sie ihre<br />
Zelte aufbauen können. Manchmal werden sie in einem <strong>der</strong> Verwaltungsgebäuden untergebracht.<br />
<strong>Die</strong> Übernachtung ist kostenlos und die Verpflegung übernimmt die Universität.<br />
Von den beiden Treffen ist das Paush-mela das größere und berühmtere. Wegen seiner<br />
kulturellen Angebote wird es von Menschen aus ganz Indien besucht.<br />
An<strong>der</strong>s als beim Jayadeva-mela, haben die Anlässen des Paush-mela und Magh-mela mit <strong>der</strong><br />
<strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> nichts zu tun. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sind hier Künstler, die ihre Lie<strong>der</strong><br />
darbieten. <strong>Die</strong> Einladung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s zu diesen Treffen geschieht deshalb, weil Tagore, <strong>der</strong><br />
Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Universität, <strong>Baul</strong>lie<strong>der</strong> schätzte (s. Kapitel 1). Auf die Frage, ob die <strong>Baul</strong>s sich<br />
<strong>der</strong> Tatsache bewußt wären, daß sie hier eine künstlerische, aber keine religiöse Funktion<br />
erfüllten, wurde geantwortet, daß sie die Sache nicht so sähen. Sie meinten, sie verkündeten<br />
die Botschaft <strong>der</strong> Krishna-Liebe, und wo sie auch sängen, wollten sie nur diese verkünden.<br />
Auf die Frage, ob sie wüßten, daß sie für die Besucher eine Attraktion seien, antworteten<br />
sie mit ja. Es ist ihnen jedoch nicht klar, daß sie für die Besucher eher eine Kuriosität, nicht<br />
aber große Künstler sind.<br />
<strong>Die</strong> Darstellung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>lie<strong>der</strong><br />
Im Pausa- und Magh-mela dürfen die <strong>Baul</strong>s nur nach dem Programm <strong>der</strong> Organisatorin ihre<br />
Lie<strong>der</strong> singen. Für die Darbietung wird eine Bühne bereitgestellt, auf <strong>der</strong> nacheinan<strong>der</strong> je<strong>der</strong><br />
<strong>Baul</strong> ein Lied singt. Bis vor dreizehn Jahren war es üblich, daß die <strong>Baul</strong>s nach Herzenslust<br />
so viele Lie<strong>der</strong> singen konnten, wie sie wollten. Jetzt erlaubt ihnen die Organisatorin dies<br />
nicht. Grundsätzlich wird einem <strong>Baul</strong> nicht mehr als ein Lied auf einmal erlaubt. Eine<br />
selbständige Darstellung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>lie<strong>der</strong>, wie beim Jayadeva-mela erlaubt die Universität<br />
58
nicht. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s haben auch nicht die Möglichkeit, wie etwa beim Jayadeva-kenduli-mela,<br />
sich in verschiedene Gruppen aufzuteilen, da sie alle zusammen wohnen müssen, wie es die<br />
Universität ihnen vorschreibt. Da die <strong>Baul</strong>s allgemein für ihr Hanfrauchen und ihre lockere<br />
Beziehung zu Frauen bekannt sind, befinden sie sich während <strong>der</strong> Treffen unter strenger<br />
Aufsicht <strong>der</strong> Universität. Da die Verpflegung von <strong>der</strong> Universität übernommen wird, kochen<br />
die <strong>Baul</strong>s hier nicht selbst. Das Ritual des gemeinsamen Mahlzeit wir jedoch auch hier<br />
praktiziert.<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
1. Daß das Paush-mela und das Magh-mela mit <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>gemeinschaft nichts zu<br />
tun haben, son<strong>der</strong>n Kulturveranstaltungen sind, bedeutet, daß die <strong>Baul</strong>s hier nicht für ihren<br />
Gott / ihre Götter und die Heiligen singen. Sie tun es hier für das Publikum. Hier geht <strong>der</strong><br />
unsprüngliche Sinn und Zweck <strong>der</strong> Gottesverehrung mit Gesang (sankirtan) verloren (s.<br />
Kapitel 2).<br />
2. Da die <strong>Baul</strong>s hier a) nicht ungezwungen in verschiedenen Gruppen wohnen, b) nur nach<br />
vorgeschriebenen Regeln ihre Lie<strong>der</strong> singen und c) nicht selbst kochen dürfen, kann gesagt<br />
werden, daß die <strong>Baul</strong>s hier nur begrenzt ihre <strong>Religion</strong> ausüben dürfen.<br />
3. <strong>Die</strong> strenge Aufsicht <strong>der</strong> Visva-Bharati University führt zur Unzufriedenheit <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s,<br />
die sich in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen.<br />
4. We<strong>der</strong> beim Paush-mela noch beim Magh-mela spielen die <strong>Baul</strong>s eine so wichtige Rolle,<br />
wie etwa beim Jayadeva-kenduli-mela. Im Gegensatz zum Jayadeva-kenduli-mela besteht<br />
hier kein enger Kontakt zwischen dem einfachen Volk und den <strong>Baul</strong>s.<br />
5. Im Gespräch wird deutlich, daß manche <strong>Baul</strong>s das Paush- und Magh-mela als eine Möglichkeit<br />
sehen, durch ihre künstlerische Fähigkeiten positiv aufzufallen, was <strong>der</strong> Anfang einer<br />
Volkssängerkarriere sein könnte. Der erfolgreiche Purnadas <strong>Baul</strong>s meinte diese Möglichkeit,<br />
als er von <strong>der</strong> Möglichkeit sprach, die das Paush-mela den <strong>Baul</strong>s bietet.<br />
6. <strong>Die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Melas für die <strong>Baul</strong>s ist groß. Was die <strong>Baul</strong>s in den Melas tun, ist die<br />
gemeinsame Ausübung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> durch die <strong>Baul</strong>s, die zu verschiedenen Ashrams<br />
gehören. Hier findet eine beson<strong>der</strong>e Art <strong>der</strong> Gottesverehrung statt, die eine <strong>der</strong> vielen Variationen<br />
des Caitanya-Vaishnavismus ist. <strong>Die</strong> drei Kriterien von Caitanyas Gottesverehrung<br />
- 1. Gottes Lobgesang (sankirtana), 2. Unabhängigkeit <strong>der</strong> Tageszeit und 3. Unabhängigkeit<br />
von einem Tempel o<strong>der</strong> Hausaltar - sind in <strong>der</strong> Gottesverehrung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s bei diesen<br />
Treffen vorhanden. Ferner praktizieren die <strong>Baul</strong>s hier mit <strong>der</strong> gemeinsamen Mahlzeit<br />
unbewußt einen weiteren Schwerpunkt des Caitanya-Vaishnavismus: alle Menschen sind<br />
vor Gottes Augen gleich. <strong>Die</strong> Treffen Jayadeva-kenduli-mela und Kartabhaja-mela sind zusätzlich<br />
noch eine Pilgerfahrt für die <strong>Baul</strong>s. Aber welches Treffen es auch sein mag und wo<br />
es auch stattfindet, überall dürfen die <strong>Baul</strong>s fröhlich einige Tage nach ihrer <strong>Religion</strong>, ihren<br />
Sitten und Gebräuchen verbringen. <strong>Die</strong>se Zeit sind die wenigen kostbaren Tage des Jahres,<br />
an denen sie von den täglichen Sorgen befreit sind, sich gegenseitig bestätigen und neue<br />
Kräfte sammeln.<br />
59
Rituale<br />
Der Mahotsab, im Dialekt: Macchab (<strong>Die</strong> große Feier)<br />
Der Hintergrund und <strong>der</strong> heutige Stand in <strong>der</strong> Stadt Nabadvip, im Zentrum des<br />
Caitanya-Vaishnavismus<br />
Der Ursprung des Mahotsab <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> geht zurück zum Cida-Mahotsab, das<br />
von Nityananda in seinem religiösen Zentrum in Panihati gefeiert wurde (s. Kapitel 2). Einer<br />
<strong>der</strong> Schwerpunkte des Mahotsab im Nityananda-Zentrum lag auf dem Gedankenaustausch<br />
zwischen den Gelehrten unter sich und zwischen den Gelehrten und den Gläubigen. <strong>Die</strong>s<br />
verlieh dem Fest den Charakter einer religiösen Konferenz.<br />
Heute wird Mahotsab von allen Zweigen des Caitanya-Vaishnavismus gefeiert. Das<br />
Hauptzentrum <strong>der</strong> Feier ist die Stadt Nabadvip, <strong>der</strong> Geburtsort von Caitanya. Hier gibt es<br />
unzählige Vaisnava Tempel mit Klöstern, die getrennt voneinan<strong>der</strong> zum Geburtstag von<br />
Caitanya und an<strong>der</strong>en Heiligen den Mahotsab feiern. Daher gibt es in Nabadvip gleichzeitig<br />
mehrere Mahotsabs in verschiedenen Tempeln. Das Fest dauert mehrere Tage und hat vier<br />
Schwerpunkte:<br />
1. Zeremonielle Verehrung (puja) von Krishna, Radha, Caitanya und an<strong>der</strong>en Heiligen in<br />
den Tempeln,<br />
2. religiösen Gespräche und die Audienz <strong>der</strong> Heiligen und Fortgeschrittenen,<br />
3. Gottes Lobgesang und Namensgesang im Chor in den Tempeln<br />
und<br />
4. die gemeinsame Mahlzeit von Angehörigen aller Kasten.<br />
Anlaß, Zeit, Ort und die allgemeine Beschreibung des Mahotsab <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s<br />
Das Fest Mahotsab soll möglichst mehrmals, mindestens aber einmal im Jahr im Andenken<br />
an den Urguru Caitanya gefeiert werden. Meistens feiern die <strong>Baul</strong>s es nur einmal im Jahr, da<br />
das Fest für sie kostspielig ist. Denn an<strong>der</strong>s als bei den Melas müssen die <strong>Baul</strong>s hier selbst<br />
die Kosten <strong>der</strong> Feier tragen. Das beliebteste Datum für den Mahotsab ist <strong>der</strong> Geburtstag des<br />
Mahaprabhu (großer Guru) Caitanyas o<strong>der</strong> gelegentlich auch <strong>der</strong> Geburtstag von<br />
Nityananda. <strong>Die</strong> Geburtstage fallen jeweils auf den Vollmond des Monats Phalgun (Februar-<br />
März) und auf den dreizehnten Tag nach dem Vollmond im Monat Magh (Januar-Februar).<br />
Im Gegensatz zu den Priestern und Gläubigen in den Tempeln in Nabadvip, feiern die <strong>Baul</strong>s<br />
das Fest nur einen Tag. Der Veranstalter <strong>der</strong> Feier ist immer ein <strong>Baul</strong>, <strong>der</strong> zu diesem Anlaß<br />
möglichst viele Glaubensbrü<strong>der</strong> zu seiner Wohngemeinschaft einlädt, wo das Fest gefeiert<br />
wird. <strong>Die</strong> Tradition verbietet den <strong>Baul</strong>s zum Mahotsab die Nichteingeweihten einzuladen.<br />
Es gibt jedoch mittlerweile einige sehr wenige <strong>Baul</strong>s (die Autorin weiß von insgesamt drei<br />
<strong>Baul</strong>s), die Nichteingeweihte eingeladen haben. Sie begründen ihre Handlung mit <strong>der</strong><br />
Erklärung, daß ihre <strong>Religion</strong> die <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> Menschenverehrung sei. Der Mahotsab gibt<br />
ihnen die Gelegenheit, Menschen mit Speise zu dienen. Der Grund war nach <strong>der</strong> Meinung<br />
<strong>der</strong> Autorin ein an<strong>der</strong>er. <strong>Die</strong> eingeladenen Nicheingeweihten, die zu einer <strong>der</strong> drei oberen<br />
60
Kaste gehörten, gaben ihren Gastgebern eine großzügige Spende für ihre<br />
Wohngemeinschaft. Traditionelle und ältere <strong>Baul</strong>s verurteilen die Mißachtung <strong>der</strong><br />
überlieferten Werte.<br />
<strong>Die</strong> Schwerpunkte<br />
Der Mahotsab <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> enthält drei folgenden Schwerpunkte:<br />
1. Ein wichtiger Aspekt dieser Feier sind die Fachgespäche über die <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> Gottesliebe.<br />
Bedenkt man die Tatsache, daß die <strong>Baul</strong>s keine heiligen Schriften haben und daher<br />
alle speziellen Anweisungen mündlich von Gurus und Fortgeschrittenen an die Jüngeren<br />
weitergegeben werden, wird die Bedeutung dieser Gespräche verständlich. <strong>Die</strong>s ist auch <strong>der</strong><br />
Grund, warum manche <strong>Baul</strong>s behaupten, daß die Fachgespräche <strong>der</strong> Hauptgrund seien,<br />
warum sie die Einladung zum Mahotsab annehmen. Außerdem, gibt es hier Erfahrungs- und<br />
Gedankenaustausch. So kann ein <strong>Baul</strong> seinen eigenen Stand mit dem eines an<strong>der</strong>en<br />
vergleichen und seine Bemühung überprüfen. Obwohl <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> immer unter <strong>der</strong> Leitung<br />
seines Gurus steht, sind diese Fachgespräche beim Mahotsab eine zusätzliche Bereicherung<br />
für ihn. Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang für die Anfänger und noch<br />
nicht weit fortgeschrittenen <strong>Baul</strong>s ist die Gesellschaft <strong>der</strong> Heiligen und Fortgeschrittenen<br />
(sadhu-sanga). <strong>Die</strong> Heiligen können ihre mystische Kraft auf die an<strong>der</strong>en übertragen (s.<br />
unten unter Diksha, Initiation). Daher warten die jüngeren <strong>Baul</strong>s geduldig darauf, daß sie<br />
ein Heiliger o<strong>der</strong> Fortgeschrittener mystisch belehrt und ihnen hilft. <strong>Die</strong>s geschieht während<br />
einer Audienz. Während des Festes versuchen die jungen <strong>Baul</strong>s, möglichst viel mit den<br />
Heiligen und Fortgeschrittenen zu verkehren.<br />
2. Da am Mahotsab keine Institution beteiligt ist, haben die <strong>Baul</strong>s die Möglichkeit, ungezungen<br />
und nach Herzenslust ihre Lie<strong>der</strong> zu singen.<br />
3. <strong>Die</strong> gemeinsame Mahlzeit, die sowohl am Anfang, wie auch am Ende <strong>der</strong> Feier stattfinden<br />
kann, ist ein religiöser Akt. Hier wird rein vegetarisch gegessen. Meistens besteht die<br />
Mahlzeit aus einem Eintopf aus Reis und Linsen und Gemüse. <strong>Die</strong> warme Mahlzeit für die<br />
Gäste wird vom Gastgeber organisiert und finanziert. Den Glaubensbrü<strong>der</strong>n mit einer guten,<br />
möglichst warmen Mahlzeit dienlich zu sein, ist eine wichtige Sache für die <strong>Baul</strong>s. Sie<br />
nennen die Bewirtung Seba, <strong>Die</strong>nst. Es ist erwähnenswert, daß <strong>der</strong> Geber hier <strong>der</strong> <strong>Die</strong>ner<br />
ist. Der Geber <strong>Baul</strong> ist glücklich, daß er Gott im Menschen mit <strong>der</strong> Speise dient. Jemanden<br />
bewirten ist nicht zur Stillung seines Hungers. Es ist die Verehrung (puja) Gottes in einem<br />
Menschenkörper. Mit <strong>der</strong> Bewirtung dient <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> Gott.<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
1. Der Mahotsab ist eine vereinfachte Variation des Mahotsab Festes, das in Nabadvip gefeiert<br />
wird. Der Schwerpunkt 1 des Mahotsab in Nabadvip wird im Mahotsab <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<br />
<strong>Gemeinschaft</strong> vermißt, wobei die Schwerpunkte 2, 3 und 4 des Mahotsab in Nabadvip im<br />
Fest <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> vertreten sind. Mit dem Mahotsab pflegen die <strong>Baul</strong>s eine alte Tradition des<br />
Caitanya-Vaishnavismus.<br />
2. Der Mahotsab ist die große Feier <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>gemeinschaft mit dem Charakter einer <strong>Religion</strong>skonferenz,<br />
wo die noch nicht Fortgeschrittenen hoffen, daß sie von den Fortgeschrittenen<br />
die mystische Kraft auf sich übertragen bekommen.<br />
61
3. <strong>Die</strong> <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s ist die Rückkehr von Gott im Tempel zu Gott in den Menschen.<br />
Verbindet man dieses Prinzip mit <strong>der</strong> Tatsache, daß die <strong>Baul</strong>s in Armut leben, so wird verständlich,<br />
warum die Bewirtung <strong>der</strong> Glaubensbrü<strong>der</strong> mit einer guten warmen Mahlzeit in <strong>der</strong><br />
<strong>Baul</strong>gemeinschaft hoch geschätzt wird.<br />
Malsa-bhog (die Opferung <strong>der</strong> Speise im Tontopf)<br />
Das gespaltene Verhältnis <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> zur Puja (Gottes-verehrung)<br />
<strong>Die</strong> Puja ist eine zeremonielle Verehrung Gottes, die einfach o<strong>der</strong> kompliziert sein kann, in<br />
<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gläubige sich gefühlsmäßig und zeremoniell Gott annähert. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s haben eine<br />
gespaltene Beziehung zur Gottesverehrung (puja). <strong>Die</strong>s wird deutlich dadurch, daß sie einerseits<br />
in ihren Lie<strong>der</strong>n Puja und ähnliche Zeremonien kritisieren, an<strong>der</strong>erseits selbst eine<br />
vereinfachte Form <strong>der</strong> Puja des Caitanya-Vaishnavismus praktizieren. <strong>Die</strong> wi<strong>der</strong>sprüchlichen<br />
Aussagen von Purnadas <strong>Baul</strong> in ein und demselben Buch macht dieses gespaltenes<br />
Verhältnis deutlich. Er schreibt hier: a) „Sie (d. h. die <strong>Baul</strong>s) üben keine Puja mit Feierlichkeit.<br />
(Sie) bauen keinen Tempel, um dort vor Göttern und Göttinnen Puja zu vollziehen,“<br />
105 b) „<strong>Die</strong> vaisnavistischen <strong>Baul</strong>s verfassen Lie<strong>der</strong> über Radha und Krishna und verehren<br />
(Gott mit diesen Lie<strong>der</strong>n). Sie stellen in ihrer Wohngemeinschaft die Figur (vigraha)<br />
des Mahaprabhu, des großen Gottes auf, (gemeint ist Caitanya) und verehren (ihn),“ 106 und<br />
c) „Im Zimmer von Gaur (d. h. Caitanya) und Nitai (d. h. Nityananda) vollziehen sie (d. h.<br />
die <strong>Baul</strong>s) Puja mit fünf Gegegständen (pañca-tattva, s. unten).“ 107<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s nennen ihre Opfergabezeremonie Malsa-bhog, das zu verschiedenen Gelegenheiten<br />
praktiziert wird. Der Begriff Malsa-bhog bedeutet im Zusammenhang mit <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<br />
<strong>Religion</strong> die Opfergabe in Tontöpfen.<br />
<strong>Die</strong> Puja-Zeremonie <strong>der</strong> drei oberen Kasten<br />
Für die tägliche Puja vor dem Hausaltar für Vishnu / Krishna benötigt ein Hindu aus den<br />
drei oberen Kasten werden fünf Dinge (pañca-tattva). 108 <strong>Die</strong>se sind: Duft, Blumen, Weihrauch,<br />
Lampe und Speise. <strong>Die</strong>se symbolisieren jeweils die solide, d. h. die physische, die<br />
flüssige, d. h. die astralische, die gasartige, d. h. die geistige, die leuchtende, d. h. die<br />
himmlische und die ätherische, d. h. die seelische (atma) Kondition <strong>der</strong> Materie. Außerdem,<br />
werden für die Puja an Vishnu bzw. Krishna weiße Sandelpaste und Tulsi-Blätter, 109 die für<br />
die Vaisnavs heilig ist, gebraucht. Vaisnava-Göttern und -Heiligen darf keine rote Blume<br />
geopfert werden. Alle diese Dinge werden vom Verehrer selbst o<strong>der</strong> beauftragten Priester<br />
Gott geopfert. Während er diese Dinge opfert, rezitiert er relevante Sanskrit-Ma-ntras. <strong>Die</strong><br />
Person, welche die Zeremonie vollzieht, darf ein Mann o<strong>der</strong> eine Frau sein. <strong>Die</strong> oben<br />
genannten Panca-tattvas dürfen nicht mit den Panca-tattvas, fünf Dingen des Tantras<br />
verwechselt werden. <strong>Die</strong> Panca-tattvas, welche die Tantriks für ihre Puja an Göttin Kali<br />
benötigen, sind: Wein (madya), Fleisch (mamsa), Fisch (matsa), gebratene Speise aus Getreide<br />
(mudra) und sexuelle Vereinigung mit einer Frau (Maithun). 110 Weil alle Wörter mit<br />
105<br />
Purnadas <strong>Baul</strong>: Banglar <strong>Baul</strong> gan, Kalikata, 7<br />
106<br />
Ibid., 7<br />
107<br />
Ibid., 7<br />
108<br />
Vgl. Shrisa Chandra Vasu: The Daily Practice of The Hindus, New Delhi, 1991, 128-135<br />
109 Ibid., 134-135<br />
110 Vgl. Mahanirvana-tantra VI, 1-14<br />
62
dem Buchstaben Ma anfangen, werden die Pañca-tattvas auch Pañca Ma-kara, die fünf Mas<br />
genannt.<br />
<strong>Die</strong> aufwendigste Puja <strong>der</strong> Caitanya-Vaisnavs und <strong>der</strong> Tantriks in West Bengal ist die Zeremonie<br />
mit 16 Upacaras (Sachen). 111 <strong>Die</strong>se sind: das Wasser zum Füßewaschen, das Wasser<br />
für die Opferung (arghya), das Wasser für die Mundspülung vor dem Essen, das Wasser<br />
zum Baden, Kleidung, Schmuck, Parfum, Blumen, Weihrauch, Lampe, Speise, Wasser für<br />
die Mundspülung nach dem Essen, Getränk (für die Vaisnavs) / Wein (für die Tantriks),<br />
Betelblatt, Wasser für die Opfergabe (tarpana) und die zeremonielle Verbeugung.<br />
<strong>Die</strong> Caitanya-Vaisnavs in West Bengal vollziehen sowohl mit fünf Tattvas als auch mit<br />
sechzen Dingen ihre Puja-Zeremonie und nennen Malsa-bhog. In jedem Tempel <strong>der</strong> Caitanya-Vaisnavs<br />
wird das Malsa-bhog praktiziert, und alle Besucher werden hier mit <strong>der</strong><br />
Gott geopferten Speise bewirtet. <strong>Die</strong> Caitanya-Vaisnavs aus den drei oberen Kasten benutzen<br />
für ihr Malsa-bhog Töpfe und Schüsseln aus Messing, Stein und Ton.<br />
Das Malsa-bhog, die Gottesverehrung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong><br />
Anlaß<br />
Im Vergleich zu den verschiedenen Puja-Zeremonien <strong>der</strong> Hindus aus den drei oberen Kasten<br />
ist das Malsa-bhog <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> eine einfache Zeremonie, die weniger als eine<br />
Stunde dauert. Das Malsa-bhog wird zu verschiedenen Anlässen gefeiert, z. B. zum Kanthibadal<br />
und Shraddha (s. unten).<br />
Ort und Götter / Heilige<br />
Da die <strong>Baul</strong>s keinen Tempel haben, wird die Zeremonie in einem Zimmer des Wohnhauses<br />
einer Wohngemeinschaft vollzogen. Meistens wird hierfür das Zimmer des Gurus <strong>der</strong><br />
Wohngemeinschaft gewählt. Hier werden Caitanya und einige seiner Schüler, z. B. Nityananda,<br />
Advaitacarya, Gadadhar, Shrivas und oft <strong>der</strong> verstorbene Guru des jetzigen Gurus<br />
<strong>der</strong> Wohngemeinschaft verehrt. Gewöhnlich wird hierfür keine Götterbil<strong>der</strong>, Götterfigur<br />
o<strong>der</strong> Yantra gebraucht.<br />
<strong>Die</strong> Pañca-tattva und <strong>der</strong> Verlauf <strong>der</strong> Zeremonie<br />
<strong>Die</strong> Pañca-tattva, fünf Dinge, welche sie bei dieser Gelegenheit ihren Göttern und Heiligen<br />
opfern, sind: Duft, dies kann die weiße Sandelpaste o<strong>der</strong> auch saubare Erde sein, fünf Sorten<br />
Blumen, Tulsiblätter, Weihrauch und Speise. Es wird keine rote Blume, Fleisch o<strong>der</strong><br />
Fisch geopfert. Ein Krug voller Gangeswasser wird für das Malsa-bhog benötigt, um die<br />
fünf Dinge damit zu besprühen und zu reinigen. Ist es nicht möglich, das Gangeswasser zu<br />
besorgen, nehmen die <strong>Baul</strong>s das Wasser aus einem naheliegenden Teich o<strong>der</strong> Fluß. <strong>Die</strong><br />
Speise besteht aus Cira (ungekochter plattgedrückter Reis), Gur (eingedicker Zuckerrohrsaft),<br />
Dudh (Milch), Dai (Joghurt) und Ghi (Butterfett). <strong>Die</strong> Lebensmittel werden vermischt<br />
und in fünf Tonschüsseln gefüllt. Möchte <strong>der</strong> Guru <strong>der</strong> Wohngemeinschaft seines eigenen<br />
Gurus bei dieser Gelegenheit auch gedenken, wird eine sechste Schüssel mit <strong>der</strong> Speise<br />
vorbereitet. <strong>Die</strong> Schüsseln werden auf den sauberen Fußboden gestellt. Der Guru <strong>der</strong><br />
Wohngemeinschaft übernimmt hier die Funktion des Priesters. Er legt je einTulsiblatt<br />
111 Ibid., VI, 78-79<br />
63
(Ocymum sanctum) auf jede Schüssel und besprüht die Speise mit dem Wasser. <strong>Die</strong>s kann<br />
mit <strong>der</strong> Reinigung <strong>der</strong> fünf Dinge bei <strong>der</strong> Puja <strong>der</strong> drei oberen Kasten verglichen werden. 112<br />
Jetzt opfert <strong>der</strong> Guru die Speise zuerst seinem eigenen Guru und dann Caitanya und seinen<br />
Schülern. Auch die Sandelpaste und die Blumen werden ihnen geopfert. Hierfür gibt es<br />
keine feste Reihenfolge. Während <strong>der</strong> Guru die Opferzeremonie vollzieht, murmelt er laut<br />
o<strong>der</strong> lautlos seine persönlichen Mantras auf Bengali. Für jede „Gottheit“ und jeden Heiligen<br />
hat er einen an<strong>der</strong>en Mantra. <strong>Die</strong>se Mantras können seine eigene Schöpfung sein o<strong>der</strong> er<br />
kann sie von seinem Guru erhalten haben. Wenn <strong>der</strong> Guru <strong>der</strong> Wohngemeinschaft annimmt,<br />
daß die „Götter“ und „Heiligen“ spirituell gespeist haben, ist die Opfergabe beendet. Nun<br />
heißt die Speise nicht mehr einfach Essen, son<strong>der</strong>n Prasad, Gnade o<strong>der</strong> Mahaprasad, die<br />
große Gnade. Der Prasad wird vom Guru unter den Anwesenden verteilt, wie einst Caitanya<br />
an seine Schüler den Mahaprasad verteilte (s. Kapitel 2). Der Maha-prasada wird von den<br />
<strong>Baul</strong>s mit großem Respekt gegessen.<br />
Untersuchunsergebnisse<br />
1. Das Malsa-bhog <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s ist eine vereinfachte Version des Malsa-bhog <strong>der</strong> Caitanya-<br />
Vaisnavs <strong>der</strong> drei oberen Kasten in West Bengal, da beide die folgenden Punkte enthalten:<br />
a) Von Beiden wird die Gabe, die aus Speise und an<strong>der</strong>en Dinge besteht, zeremoniell Gott /<br />
Göttern und Heiligen geopfert.<br />
b) <strong>Die</strong> Pañca-tattvas (fünf Dinge), welche die <strong>Baul</strong>s zu diesem Anlaß opfern, findet man in<br />
<strong>der</strong> Liste <strong>der</strong> Dinge, welche die Caitanya-Vaisnavs bei ihrem Malsa-bhog Gott etc. opfern.<br />
c) <strong>Die</strong> Reinigung <strong>der</strong> Dinge vor <strong>der</strong> Opfergabe wird sowohl beim Malsa-bhog <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> wie<br />
auch beim Malsa-bhog <strong>der</strong> Caitanya-Vaisnavs aus den drei oberen Kasten vorgenommen.<br />
Obwohl die Einzelheiten sich voneinan<strong>der</strong> unterscheiden, sind doch die Grundgedanken<br />
beim Malsa-bhog und bei <strong>der</strong> Puja gleich, es dürfen nur rituell gereinigte Gaben geopfert<br />
werden und daher wird das Ritual vollzogen.<br />
2. Da die Malsa-bhog <strong>der</strong> drei oberen Kasten eine Variation von Puja ist, ist auch das<br />
Malsa-bhog <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> eine Variation <strong>der</strong> Puja-Zeremonie des klassischen<br />
Hinduismus, die die <strong>Baul</strong>s in ihren Lie<strong>der</strong>n so sehr kritisieren. Der <strong>Baul</strong>guru übernimmt hier<br />
die Stellung des Priesters im klassischen Hinduismus.<br />
3. Das Vorhandensein einerseits <strong>der</strong> Kritik an Puja an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> Puja zeigt das<br />
gespaltene Verhältnis, das die <strong>Baul</strong>s in diesem Bereich haben.<br />
Das Kanthi-badal (<strong>der</strong> Austausch <strong>der</strong> Ketten)<br />
Obwohl zwischen <strong>der</strong> Heiratsprozedur <strong>der</strong> drei oberen Kasten und dem Kanthi-badal (<strong>der</strong><br />
Austausch <strong>der</strong> Ketten) <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> erhebliche Unterschiede bestehen, wird bei<br />
näherem Ansehen deutlich, daß die <strong>Baul</strong>s in diesem Zusammenhang mehrere ähnliche<br />
Grundvorstellungen haben, wie die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> drei oberen Kasten. Ein Vergleich zwischen<br />
den beiden ist dort notwendig, um festzustellen, wo die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> direktero<strong>der</strong><br />
indirekterweise von den Dharmashastras beeinflußt ist und wo dies nicht <strong>der</strong> Fall ist.<br />
112 Vgl. Shrisa Chandra Vasu: The Daily Practice of The Hindus, New Delhi, 1991, 139-142, s. auch<br />
Mahanirvana-tantra V, 206-261<br />
64
Unten werden die einzelnen Punkte des Kanthi-badal und <strong>der</strong> Heiratszeremonie <strong>der</strong> drei<br />
oberen Kasten, soweit es in diesem Zusammenhang nötig ist, vorgestellt.<br />
Der Grund für das Kanthi-badal<br />
Das Kanthi badala zwischen einem <strong>Baul</strong> und seiner zukünftigen spirituellen Partnerin findet<br />
dann statt, wenn <strong>der</strong> Guru des <strong>Baul</strong>s <strong>der</strong> Meinung ist, daß sein Schüler die Enthaltsamkeit<br />
beenden und den tantrischen Yoga üben soll. <strong>Die</strong>s bedeutet, daß die <strong>Baul</strong>s sich nicht aus<br />
weltlichen Gründen eine Partnerin nehmen, son<strong>der</strong>n weil sie diese für die Ausübung ihrer<br />
<strong>Religion</strong> benötigen. Neben von den Dharmashastras sind die <strong>Baul</strong>s in diesem Punkt auch<br />
vom Tantra (s. unten) beeinflußt worden. <strong>Die</strong> Tantriks benötigen für ihre Zeremonien mit<br />
den fünf Dingen auch Frauen.<br />
<strong>Die</strong> Vorstellung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s, daß man sich eine Frau nimmt, um die <strong>Religion</strong> zu ptraktizieren,<br />
entspricht <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> Dharmashastras (Baudhayana-Dharmashastra Prasna I, Adhyay<br />
11, Kandika 21, 2). Allerdings gibt es laut Dharmashastras auch einen an<strong>der</strong>en wichtigen<br />
Grund, warum ein Mann heiraten soll. <strong>Die</strong> Frau soll ihm Söhne gebären. Männliche<br />
Nachkommen sind wichtig für den Seelenfrieden <strong>der</strong> Verstorbenen (Manusmriti III, 37,<br />
Vashishtha-Dharmashastra XVII, 1-5). <strong>Die</strong> Dharmashastras verlangen die aktive Assistenz<br />
<strong>der</strong> Frau bei <strong>der</strong> Zeremonie. Dort, wo sie es nicht kann, soll sie die Möglichkeit dafür<br />
schaffen, daß die Zeremonie vollzogen werden kann. <strong>Die</strong>s tut sie, indem sie einen Sohn<br />
gebiert. Daher darf gesagt werden, daß laut Dharmashastras ein Hindu heiratet, damit die<br />
religiösen Zeremonien vollzogen werden können.<br />
<strong>Die</strong> drei Schritte des Brahma-Ritus, die die Dharmashastras für die Hindus aus den drei<br />
oberen Kasten festgelegt haben<br />
<strong>Die</strong> Dharmashastras genehmigen acht Arten von Heirat (Baudhayana-Dharmashastra,<br />
Prasna I, Adhyay 11, Kandika 20, 1-9). Heute heiraten die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> drei oberen Kasten<br />
nach dem Brahma-Ritus. 113 Der Brahma-Ritus ist zweifellos ein komplizierter Prozess,<br />
<strong>der</strong> die Braut und den Bräutigam zu Eheleuten erklärt und ihnen das ethische und<br />
moralische Gerüst und die Ernsthaftigkeit, die mit einer Ehe verbunden sind verleiht. Der<br />
Ritus besteht insgesamt aus über vierzig Zeremonien, die in drei Schritten vollzogen werden.<br />
<strong>Die</strong>se sind: 1. Das Aussuchen des / zukünftigen Schwiegersohnes / <strong>der</strong> Schwiegertochter,<br />
2. Vollzug <strong>der</strong> Hochzeitszeremonie vor dem heiligen Feuer (Agni) im Hause <strong>der</strong><br />
Braut und 3. Vollzug <strong>der</strong> Posthochzeitszeremonie im Hause des Bräutigams. Das Mitgift<br />
<strong>der</strong> Braut spielt beim Brahma-Ritus eine wichtige Rolle.<br />
<strong>Die</strong> zwei Schritte des Kanthi-badal<br />
<strong>Die</strong> Zeremonie des Kanthi-badal ist im Vergleich zum Brahma-Ritus schlicht und wird in<br />
zwei Schritten vollzogen. Es bestehen jedoch Ähnlichkeiten zwischen den beiden, wie unten<br />
deutlich wird<br />
113 Eine Studie über den Brahma-Ritus: Chanchal Kumar Chatterjee: Studies in The Rites and Rituals of<br />
Hindus Marriage in Ancient India, Calcutta, 1978<br />
65
Der 1. Schritt: Das Aussuchen <strong>der</strong> Partnerin für den Schüler<br />
<strong>Die</strong> Pflichten und Rechte <strong>der</strong> Eltern, die ihre Kin<strong>der</strong> nach dem Brahma-Ritus verheiraten,<br />
übernimmt hier <strong>der</strong> Guru des <strong>Baul</strong>s. Er sucht für seinen Schüler die passende spirituelle<br />
Partnerin. Hierbei spielen, im Gegensatz zum Brahma-Ritus, die Kaste, das Gotra, das Horoskop<br />
und die Jungfräulichkeit <strong>der</strong> Kandidatin keine Rolle. Auf den guten Ruf <strong>der</strong> Familie<br />
wird nicht viel Wert gelegt. Allerdings wird auf das Aussehen und Alter <strong>der</strong> Frau geachtet.<br />
Schon hier wird deutlich, daß sich die Wertvorstellungen <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s von den Ansichten <strong>der</strong><br />
Hindus aus den drei oberen Kasten unterscheiden. In diesem Zusammenhang darf erwähnt<br />
werden, das Baudhayana-Dharmashastra, Prasna I, Adhyay 11, Kandika, 20, 14 macht die<br />
Aussage, daß die Vaishyas und Shudras im Bezug auf die Auswahl <strong>der</strong> Frau nicht wählerisch<br />
sind. <strong>Die</strong> Partnerin wird nach dem Gesichtspunkt <strong>der</strong> Zweckmäßigkeit selektiert. Sie<br />
muß für die Ausübung des tantrischen Yoga des Schülers geeignet sein. Nachdem <strong>der</strong> Guru<br />
sich die zukünftige Partnerin seines Schülers in ihrem Elternhaus angesehen und sich durch<br />
Gespräche mit ihren Eltern von ihren yogischen Fähigkeiten überzeugt hat, legt er zusammen<br />
mit den Eltern <strong>der</strong> Frau einen Tag für den Austausch <strong>der</strong> Ketten fest. Im Gegensatz<br />
zum Brahma-Ritus, darf dies zu je<strong>der</strong> Jahres- und Tageszeit stattfinden. In dieser Vorbereitungsphase<br />
verhält sich <strong>der</strong> Schüler ähnlich wie ein Sohn <strong>der</strong> oberen Kasten. Er verläßt<br />
sich auf die Entscheidung seines Gurus und gehorcht ihm. Mit dem Aussuchen und <strong>der</strong><br />
Festlegung des Datums ist die erste Phase des Austausches <strong>der</strong> Ketten beschritten.<br />
Der 2. Schritt: <strong>Die</strong> Zeremonie vor dem Guru<br />
Der Hauptteil <strong>der</strong> Zeremonie findet vor dem Guru des Schülers entwe<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Wohngemeinschaft<br />
des Kandidaten o<strong>der</strong> im Hause <strong>der</strong> Kandidatin statt, wozu die Bewohner <strong>der</strong><br />
Wohngemeinschaft und die <strong>Baul</strong>s aus <strong>der</strong> näheren Umgebung eingeladen werden. Der <strong>Baul</strong><br />
und seine zukünftige Partnerin beugen sich vor dem Guru des <strong>Baul</strong>s, <strong>der</strong> ihnen Anweisungen<br />
zum gemeinsamen spirituellen Leben gibt. Er schmiert Sandelpaste nacheinan<strong>der</strong> auf<br />
Stirn, Bauch, Herz, Hals, die rechte Körperseite, den rechten Arm, die rechte Schulter, die<br />
linke Körperseite, den linken Arm, die linke Schulter, Rücken und Hüfte <strong>der</strong> Kandidaten.<br />
Vor dem Guru tauschen beide ihre Ketten aus Tulsi-Holz aus. <strong>Die</strong> Zeremonie wird von<br />
Bengali-Mantras begleitet.Das heilige Feuer wird hier nicht angezündet. Der <strong>Baul</strong> und seine<br />
Partnerin begrüßen den Guru, indem sie seine Füße fassen. <strong>Die</strong>s entspricht den Anweisungen<br />
<strong>der</strong> Manusmriti II, 71-72. <strong>Die</strong> Kanthibadal-Zeremonie kann soweit erweitert<br />
werden, daß <strong>der</strong> Schüler hier auch die Initiation zum Tantrayoga (s. unten) empfängt. In<br />
diesem Fall findet die Zeremonie hinter geschlossener Tür nur unter <strong>der</strong> Anwesenheit des<br />
Gurus, seiner Partnerin und bei<strong>der</strong> Kandidaten statt. Nachdem die Kanthi-badal-Zeremonie<br />
vollzogen ist, gehören <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> und seine Partnerin zusammen. Der Guru des <strong>Baul</strong>s wird<br />
jetzt auch <strong>der</strong> Guru seiner Partnerin, die nun ein Mitglied <strong>der</strong> Wohngemeinschaft geworden<br />
ist. Sie nimmt, wie die an<strong>der</strong>en Frauen <strong>der</strong> Wohngemeinschaft, die den Frauen zugedachten<br />
Rechte und Pflichten wahr. Das Kanthi-badal wird mit einer gemeinsamen Mahlzeit abgeschlossen.<br />
Vor <strong>der</strong> Teremonie haben die Frauen <strong>der</strong> Wohngemeinschaft ein vegetarisches<br />
Mahl vorbereitet, das aus zwei Haupgerichten, 1) einem Eintopf aus Reis und Linsen und 2)<br />
Gemüse besteht. <strong>Die</strong> Speise wird jetzt vom Guru an Caitanya und an<strong>der</strong>en (s. oben Malsabhog)<br />
geopfert. Nachdem man annimmt, daß Caitanya und die an<strong>der</strong>en die Speise geistig<br />
verzehrt haben, wird sie vom Guru an die Anwesenden verteilt. Nun essen alle mit großer<br />
Freude das heilige Mahl. Hiernach wird erzählt und gesungen. Das Ereignis erhält nun eine<br />
feierliche Atmosphäre. Normalerweise versammeln sich alle beim Guru am Vormittag, so<br />
daß sie gegen Mittag ihre Mahlzeit zu sich nehmen können. <strong>Die</strong> Feier dauert bis zum<br />
66
Nachmittag. Manchmal wird dann Tee serviert. Am Abend, wenn es dunkel wird, verabschieden<br />
sich die Gäste. Das Kanthi-badal wird gewöhnlich von den Spenden wohlhaben<strong>der</strong><br />
Dorfbewohnern finanziert.<br />
<strong>Die</strong> Nachahmung des Brahma-Ritus durch einen <strong>Baul</strong><br />
Manas Ray hat unter den <strong>Baul</strong>s eine Hochzeit beobachtet, die in Anlehnung an den Brahma-<br />
Ritus vollzogen wurde. 114 Der <strong>Baul</strong>, welcher so das Kanthi-badal vollzog, heißt<br />
Radheshyamdas <strong>Baul</strong> und wohnt im Dorf Kundola. <strong>Die</strong> Ähnlichkeiten mit dem Brahma-<br />
Ritus bestehen in folgenden Punkten:<br />
1. Der Austausch <strong>der</strong> Ketten fand im Elternhaus <strong>der</strong> zukünftigen Partnerin im Dorf Guskara,<br />
in <strong>der</strong> Abwesenheit des Gurus statt. Wer hier die Funktion des Gurus übernahm, sagt<br />
Ray nicht.Hierzu waren, wie beim Brahma-Ritus, Verwandte und Freunde <strong>der</strong> Frau, sowie<br />
Freunde des <strong>Baul</strong>s eingeladen. <strong>Die</strong>s entspricht dem zweiten Teil des Brahma-Ritus.<br />
2. Am Abend des Tages, an dem das Kanthi-badal stattfand, kehrte <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> mit seiner<br />
Partnerin nach Hause zurück. Am nächten Tag gab es bei ihm ein Festessen. Hierzu waren<br />
die Verwandten und Freunde von ihm und seiner Partnerin eingeladen. <strong>Die</strong>se Nachfeier<br />
entspricht dem dritten Teil des Brahma-Ritus, <strong>der</strong> im Hause des Bräutigams stattfindet.<br />
3. Nach landesüblicher Sitte hat <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> von den Eltern <strong>der</strong> Partnerin als Mitgift ein Fahrrad<br />
verlangt, was ihm auch gegeben wurde. Ray berichtet von noch einem <strong>Baul</strong> namens<br />
Gangadhara-Das <strong>Baul</strong>, <strong>der</strong> für seinen Sohn als Mitgift ein Fahrrad und ein Radio ver -<br />
langte. 115 <strong>Die</strong>s entspricht <strong>der</strong> mitgiftbezogene Sitte des Brahma-Ritus. Der Autorin selbst<br />
sind solche Handlungen unter <strong>Baul</strong>s nicht bekannt. Das Geschäft mit <strong>der</strong> Mitgift kann nicht<br />
dort florieren, wo strenge Armut herrscht.<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
1. Da das Kanthi-badal nicht nach dem Brahma-Ritus vollzogen wird, vermissen die Hindus<br />
in dieser Zeremonie den religiösen Hintergrund und daher auch die moralische Legitimation.<br />
Für sie ist das Kanthi-badal nur die Legalisierung <strong>der</strong> sexuellen Beziehung. Es wohnen in<br />
Indien Angehörige verschiedener <strong>Religion</strong>en. Sie haben ihre religionsbezogenen Sitten und<br />
Gebräuche, die von <strong>der</strong> indischen Gesellschaft und vom indischen Gesetz anerkannt<br />
werden. 116 Was die Hindus betrifft, so erkennt das indische Gesetz Mann und Frau als<br />
Eheleute an, wenn sie entwe<strong>der</strong> nach dem Brahma-Ritus o<strong>der</strong> standesamtlich heiraten. Das<br />
Kanthi-badal wird dahervom indischen Gesetz nicht als Hochzeit anerkannt. Deshalb<br />
können die <strong>Baul</strong>s mit mehreren Frauen ein eheähnliches Verhältnis haben. Es ist auch leicht<br />
für sie, die ältere Partnerin zu verlassen, um sich eine neue zu nehmen (s. Kapitel 1). In<br />
diesem Falle müssen sie <strong>der</strong> früheren Partnerin keinen Unterhalt zahlen, da sie mit ihr nicht<br />
verheiratet waren.<br />
2. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s selbst bezeichnen das Kanthi-badal nicht als „Hochzeit“. <strong>Die</strong> Partnerin wird<br />
stets spirituelle Partnerin (sadhana-sangini) und nicht Ehefrau (patni, in West Bengal auch<br />
114<br />
Vgl. Mans Ray: The <strong>Baul</strong>s of Birbhum, Calcutta, 1994, 43<br />
115<br />
Ibid., 43<br />
116<br />
Vgl. Chanchal Kumar Chatterjee: Studies in The Rites and Rituals of Hindu Marriage in Ancient India,<br />
1978, 161-170<br />
67
stri) genannt, mit <strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> die verbotene Liebe zwischen Krishna und Radha erleben<br />
möchte (s. Kapitel 1 und 3).<br />
3. Das Kanthi-badal legalisiert die Beziehung zwischen dem <strong>Baul</strong> und seiner Partnerin in <strong>der</strong><br />
<strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong>.<br />
Polygamie unter den <strong>Baul</strong>s<br />
Manche etwas älteren <strong>Baul</strong>s nehmen sich gerne eine zweite o<strong>der</strong> dritte Partnerin, weil sie<br />
gut singen kann. Durch ihre künstlerischen Fähigkeiten kann sie ihrem Partner beim Brotverdienen<br />
helfen. Es kommt nicht selten vor, daß ein älterer <strong>Baul</strong> seine älter gewordene<br />
Partnerin verläßt und sich eine jüngere Partnerin nimmt, o<strong>der</strong> auch beide behält. <strong>Die</strong>se <strong>Baul</strong>s<br />
mißachten die Tradition <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong>, nach <strong>der</strong> <strong>der</strong> Partnerwechsel theoretisch<br />
nur mit Zustimmung des Gurus möglich sein (s. Kapitel 1) darf. <strong>Baul</strong>s, die aus weltlichen<br />
Gründen die Partnerin wechseln, sind meistens älter und selbständiger. Sie regeln solche<br />
Sachen ohne die Führung ihres Gurus.<br />
Der Caricandra(Vier-Monde)-Ritus<br />
Caricandra, die vier Monde, ist ein sehr eigenartiges Ritual, das in <strong>der</strong> Gesellschaft auf<br />
Ablehnung stößt. <strong>Die</strong> vier Monde sind Stuhl, Urin, Ausfluß <strong>der</strong> Partnerin und Samen des<br />
<strong>Baul</strong>s, die jeweils mit den vier Elementen Erde, Wasser, Feuer und Wind verglichen werden.<br />
Das fünfte Element Äther, denn <strong>der</strong> Hinduismus zählt fünf Elemente, 117 fehlt hier. Es ist<br />
auffallend, daß die <strong>Baul</strong>s im Zusammenhang mit dem Ritual Caricandra meinen, daß <strong>der</strong><br />
Körper aus vier Elementen besteht, sonst aber in ihren Lie<strong>der</strong>n von fünf Elementen singen<br />
(s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Caricandra wird in verschiedenen Wohngemeinschaften <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s in verschieden Abständen<br />
geübt. Manche tun es alle vierzehn Tage, an<strong>der</strong>e alle drei Monate und wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e alle<br />
sechs Monate. Üblicherwerse werden <strong>der</strong> Samen des <strong>Baul</strong>s und die Flüssigkeit von seiner<br />
Partnerin gemischt und von beiden getrunken und <strong>der</strong> Stuhl und Urin vom Partner / von <strong>der</strong><br />
Partnerin auf den Körper geschmiert. In manchen Wohngemeinschaften wird nur <strong>der</strong> Samen<br />
getrunken. Einige <strong>Baul</strong>s rezitieren beim Trinken Bengali-Mantras wie: „Om Mahaprabhu<br />
(gemeint ist Caitanya), ich bin glücklich, wenn du glücklich bist, ich sage das, was du durch<br />
mich sagst, ich esse das, womit du mich fütterst, ich existiere durch deine Gnade.“ Sie<br />
erhalten solche Mantras von ihrem Guru. <strong>Die</strong> Mantras sind in verschiedenen<br />
Wohngemeinschaften verschieden. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s meinen, daß <strong>der</strong> Körper durch dieses Ritual<br />
ein Teil <strong>der</strong> Elemente zurückgewinnt, die er durch Ausscheidung verliert. Ferner, <strong>der</strong> Samen<br />
hält sie jung und gesund und hat eine mystische Wirkung auf den <strong>Baul</strong> und seine Partnerin.<br />
Worin genau diese mystische Wirkung sich zeigt, konnten die <strong>Baul</strong>s <strong>der</strong> Autorin nicht<br />
sagen. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s versicherten jedoch, daß <strong>der</strong> Caricandra-Ritus ihnen beim Gottsuchen hilft.<br />
Der Caricandra-Ritus bei an<strong>der</strong>en Caitanya-Vaisnavs<br />
Es gibt weitere <strong>Religion</strong>sgemeinschaftendes Caitanya-Vaishnavismus in West Bengal, die<br />
den Caricandra-Ritus auf ihrer Weise praktizieren. <strong>Die</strong>se sind: Paltudasi (die <strong>Religion</strong>sgemeinschaft<br />
von Gottes Sklavin Paltu), Apapanthi (die Anhänger von Apa), Satnami (die<br />
Anhänger des wahren Namens) und Vijamargi (die Verehrer vom Samen). <strong>Die</strong> drei Erstge-<br />
117 Vgl. Sarvepalli Radhakrishnan: Indian Philosophy, Vol. 2, London, 1977, 273<br />
68
nannten nehmen die vier Exkremente ein, nachdem sie diese mit Mantras gereinigt haben.<br />
Sie nennen das ReinigungShritual Gayatri-Zeremonie (gayatri-kriya). <strong>Die</strong>se hat jedoch mit<br />
dem eigentlichen Gayatri-mantra im Rgveda III, 62, 10 nichts zu tun. 118 <strong>Die</strong> Vijamargis<br />
verehren den Samen, weil alles Leben aus ihm entsteht. Der Samen ist <strong>der</strong> Schöpfer <strong>der</strong><br />
Welt. <strong>Die</strong> Vijamargis mischen den Samen eines <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sekte, <strong>der</strong> als ein Heiliger<br />
gilt, mit Milch, Honig, Butterfett und Joghurt. <strong>Die</strong> Mischung wird in einem Behälter<br />
aufbewahrt und auf den Altar in ihrem Versammlungsraum gestellt. <strong>Die</strong> Gläubigen verrichten<br />
die Puja vor dem Alter und trinken anschließend die Mischung. Sie vollziehen das<br />
Ritual am dreizehnten Tag nach Neumond. <strong>Die</strong> vier genannten GlaubenShrichtungen bestehen<br />
aus den Shudras und Kastenlosen und erkennen das Kastensystem nicht an. 119<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
1. Der hohe Stellenwert des Zeugungsgliedes und damit indirekterweise des Samens im<br />
Hinduismus wird durch die Verehrung des Lingas bewiesen. Der Glaube, daß man durch<br />
den Verlust des Samens seine Kräfte verliert, wird von <strong>der</strong> Manusmriti vertreten. Sie empfiehlt<br />
daher den Verlust dieses kostbaren Gutes zu vermeiden (Manusmriti II, 180-181). <strong>Die</strong><br />
Einnahme des Samens und die Beschmierung mit Kot und Urin verstößt jedoch eindeutig<br />
gegen die Vorstellung <strong>der</strong> Dharmashastras (Manusmriti V, 134-135). Daß man durch die<br />
Einnahme des vom Körper ausgestoßenen Stoffes einen weltlichen o<strong>der</strong> spirituellen Gewinn<br />
erzielen kann, ist offensichtlich eine beson<strong>der</strong>e Denkweise einiger Caitanya-orientierten<br />
<strong>Religion</strong>sgemeinschaften in West Bengal, wozu auch die <strong>Baul</strong>s gehören.<br />
2. <strong>Die</strong> Einnahme von Samen hängt jedoch mit dem Caitanya-tattva (s. unten) zusammen.<br />
3. <strong>Die</strong> Beschmiereung mit Kot und Urin könnte aus dem Glauben an ihrer Heilkraft entstanden<br />
sein. Im Allgemeinen glauben die Hindus an die Heilkraft des Kuhdungs und Kuhurins.<br />
Der Mahayoga (<strong>der</strong> große Yoga)<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s können Gott nur mit dem Mahayoga erreichen. Unten sind die Aspekte dieses<br />
Yogas vorgestellt.<br />
Das Caitanya-tattva<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s glauben, daß im menschlichen Körper Gott, das männliche Prinzip, und Shakti,<br />
seine weibliche Energie, wohnen. Sie nennen dieses Phänomen Caitanya-tattva. Caitanya,<br />
<strong>der</strong> zur Hälfte Krishna und zur Hälfte seine Geliebte Radha war (s. Kapitel 2), war das beste<br />
Beispiel dieses Phenomens. Gott und seine weibliche Energie manifestieren sich im<br />
menschlichen Körper jeweils als Samen (shukra) und Ausfluß <strong>der</strong> Frau (rajah). Grundsätzlich<br />
ist im Oberkörper eines Menschen <strong>der</strong> Samen, also die männliche Komponente, und im<br />
Körperteil ab dem Nabel nach unten <strong>der</strong> Ausfluß, also die weibliche Energie, dominant. In<br />
einem männlichen Körper ist <strong>der</strong> Samen und in einem weiblichen Körper <strong>der</strong> Ausfluß das<br />
vorherrschende Prinzip. Das Caitanya-tattva macht es möglich, daß die Vereinigung Gottes<br />
118<br />
Über die Gayatri-Zeremonie <strong>der</strong> drei oberen Kasten in: Svami Mukhyananda: Om Gayatri and Sandhya,<br />
Mylapore, 1-88<br />
119<br />
Über die Glaubensgemeinschaften Paltudasi, Apapanthi und Satnami s. Upendranath Bhattacarya: Banglar<br />
<strong>Baul</strong> o <strong>Baul</strong> gan, Kalikata, 1981, 426-428<br />
69
mit seiner Shakti in einem weiblichen Körper stattfinden kann, ohne die <strong>der</strong> Mahayoga<br />
erfolglos geblieben wäre.<br />
Der Zeitpunkt für den Mahayoga<br />
Obwohl Gott und Shakti in jedem menschlichen Körper wohnen, bietet nur <strong>der</strong> weibliche<br />
Körper Gott die Möglichkeit, seine Geliebte regelmäßig zu treffen. Gewöhnlich schläft die<br />
Shakti (s. Kapitel 3). Während eine Frau ihre Menstruationsblutung hat, wird sie wach und<br />
ist paarungsbereit. In dieser Zeit kommt Gott vom Sahasrara-cakra, das auf dem Scheitelpunkt<br />
des Schädels placiert ist, durch den Sushumna-Kanal, <strong>der</strong> durch die Wirbelsäule<br />
fließt, herunter und vereinigt sich mit ihr im Muladhara-cakra (s. Kapitel 4). <strong>Die</strong>se Vereinigung<br />
ist nicht nur ihre geistige, son<strong>der</strong>n auch die sexuelle Vereinigung. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sind <strong>der</strong><br />
Meinung, daß die geistige Vereinigung ohne die sexuelle Vereinigung nicht möglich ist. <strong>Die</strong><br />
sinnliche Vereinigung steigert sich in die geistige Verschmelzung bei<strong>der</strong> in einem. Zahlreiche<br />
Lie<strong>der</strong> beschreiben das Liebesspiel Gottes mit <strong>der</strong> Shakti während <strong>der</strong> Menstruation (s.<br />
Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Da Gott nur während <strong>der</strong> Menstruation im Muladhara-cakra <strong>der</strong> Frau erscheint, sind die<br />
Tage <strong>der</strong> Menstruation <strong>der</strong> beste Zeitpunkt, in dem man Gott „erwischen“ o<strong>der</strong> „fangen“<br />
kann. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s nennen daher diese Zeit die Zeit des Menschenfangs (manus-dhara). Sie<br />
fangen Gott mit Hilfe des Mahayoga, <strong>der</strong> aus mehreren Teilübungen besteht und eindeutig<br />
ein tantrisches Ritual ist. Der dritte Tag <strong>der</strong> Menstruation ist hierfür am besten geeignet. <strong>Die</strong><br />
<strong>Baul</strong>s bezeichnen die Tage <strong>der</strong> Menstruation, manchmal auch nur den ersten Tag <strong>der</strong><br />
Menstruation als Neumond (amavasya). Während <strong>der</strong> Blutung, die in den Lie<strong>der</strong>n die Flut<br />
(joyar) und Überschwemmung (banya) genannt wird (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>), dominiert die<br />
sexuelle Liebe (kama) die Frau. <strong>Die</strong> sexuelle Liebe wird mit <strong>der</strong> Finsternis des Neumondes<br />
verglichen. Trotzdem ist diese Sinnlichkeit <strong>der</strong> Frau nicht zu verurteilen. Denn indirekterweise<br />
ist sie die Empfindung <strong>der</strong> Kundalini-Shakti im Muladhara-cakra, und gerade<br />
diese Eigenschaft <strong>der</strong> Shakti zieht Gott an. Da Gott an den Tagen <strong>der</strong> sexuellen Liebe, also<br />
in den Tagen des finsteren Neumonds im Muladhara-cakra <strong>der</strong> Frau erscheint, singen die<br />
<strong>Baul</strong>s vom Aufgehen des Vollmondes, d. h. <strong>der</strong> Erscheinung Gottes, in <strong>der</strong> Finsternis des<br />
Neumondes. <strong>Die</strong> drei Menstruationstage werden von den <strong>Baul</strong>s verschieden genannt. In<br />
manchen Lie<strong>der</strong>n werden diese Tage nach den heiligen Flüssen Ganges, Yamuna und Sarasvati<br />
(s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>), in an<strong>der</strong>en die Unbedeutende (sadharani), die Ausgeglichene<br />
(samanjasya) und die am Ziel Angekommene (samartha) genannt. Am ersten Tag ist<br />
das Sekret giftig (garal-ras), am zweiten Tag mittelmäßig giftig (sambhu-ras) und am dritten<br />
Tag nektarartig (amrita-ras). <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s meinen, daß in diesen drei Tagen in einem<br />
weiblichen Körper drei Blumen blühen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>), welche dem Yogi das<br />
höchste Glück spenden. In <strong>der</strong> Strömung erscheint Gott wie ein Fisch (min) im Wasser.<br />
Solange die Blutung hält, weilt er im Muladhara-cakra. Am Ende <strong>der</strong> Menstruation verläßt<br />
er das Muladhara-cakra und kehrt durch den Sushumna-Kanal zum Sahasrara zurück. <strong>Die</strong><br />
<strong>Baul</strong>s sollen wie die guten Fischer vorsichtig und fachmännisch zum richtigen Zeitpunkt den<br />
Fisch, d. h. Gott, fangen. Verpassen sie den Zeitpunkt, so gelingt <strong>der</strong> Fang nicht. Gott<br />
fangen ist eines <strong>der</strong> beliebtesten Themen <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>lie<strong>der</strong> (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
<strong>Die</strong> Übung und <strong>der</strong> Erfolg: Mahasukh<br />
Für den Mahayoga benötigen die <strong>Baul</strong>s eine Partnerin. <strong>Die</strong> Übung fängt mit <strong>der</strong> sinnlichen<br />
Liebe (kama) an und wird durch den Yoga zur spirituellen Liebe (prem) entwickelt. <strong>Die</strong><br />
Natur des menstrualen Sekrets ist die sexuelle Liebe, die des Samens die spirituelle Liebe.<br />
70
Durch die Vereinigung bei<strong>der</strong> wird aus Sinnlichkeit (kama) die spirituelle Liebe (prem). <strong>Die</strong><br />
<strong>Baul</strong>s vergleichen ihre Methode mit dem Quirlen <strong>der</strong> Milch, das Butter erzeugt.<br />
Je<strong>der</strong> <strong>Baul</strong> übt den Mahayoga streng geheim. Der Mahayoga fängt mit <strong>der</strong> Verehrung <strong>der</strong><br />
Vagina <strong>der</strong> Partnerin an und dauert drei Tage lang. <strong>Die</strong> Verehrungszeremonie wird oft mit<br />
vom Guru gelehrten o<strong>der</strong> vom Übenden selbst ausgedachten Mantras begleitet. Der Yoga<br />
wird jeden Abend ca. zwei Stunden nach dem Abendessen praktiziert. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s glauben,<br />
daß um diese Zeit <strong>der</strong> Partner durch den Ira-nari und die Partnerin durch die Pingala-nari (s.<br />
Kapitel 3) einatmet und daher diese Zeit für die Übung günstig ist. Warum diese beson<strong>der</strong>e<br />
Atemsituation für die Übung notwendig ist, wird nicht erklärt. In den Schriften über Yoga<br />
werden die Ira-nari mit dem Mond und die Pingala-nari mit <strong>der</strong> Sonne verglichen. 120 <strong>Die</strong><br />
erste Nari ist friedlich und ruhig und die zweite energisch und lebhaft. <strong>Die</strong> Vermutung <strong>der</strong><br />
Autorin, ob die <strong>Baul</strong>s glauben, daß diese Gegensätze sich ergänzen, wurde von den <strong>Baul</strong>s<br />
nicht bestätigt. <strong>Die</strong> erwähnte Atemsituation hält ungefähr an<strong>der</strong>thalb Stunden. In dieser Zeit<br />
muß <strong>der</strong> rituelle Koitus vollzogen werden. Während des Rituals identifizieren sich die<br />
Übenden mit Krishna und seiner Geliebten Radha. Es gibt genaue Anweisungen für die<br />
Übung. Da die <strong>Baul</strong>s keine Schriften verfassen, werden die Anweisungen mündlich vom<br />
Guru an den Schüler weitergegeben. <strong>Die</strong> Übung ist ein ritueller Geschlechtsverkehr mit<br />
vielen Details. <strong>Die</strong> einzelnen Handlungen sollen die Übenden in Stimmung bringen, was für<br />
den Erfolg des Mahayoga notwendig ist. Eine wichtige Voraussetzung für diese Übung ist<br />
die Bereitwilligkeit <strong>der</strong> Partnerin. <strong>Die</strong>s bedeutet, daß die Partnerin hier mit ihrer Zustimmung<br />
von ihrem Partner für die Übungszwecke als ein Instrument benutzt wird. Zwei<br />
Dinge, die Atemübung, welche die <strong>Baul</strong>s während des Koitus üben, und die Zurückhaltung<br />
des Samenergusses, sind die wichtigsten Aspekte dieser Übung. <strong>Die</strong> Atemübung besteht aus<br />
dem Einatmen (puraka), dem Anhalten des Atems (kumbhaka) und dem Ausatmen (recaka).<br />
<strong>Die</strong>s ist die standisierte Atemübung Pranayama, die ein Hindu <strong>der</strong> oberen Kasten jeden Tag<br />
üben soll, während er laut o<strong>der</strong> lautlos den Gayatri-mantra (Rgvada III, 62, 10) rezitiert. 121<br />
<strong>Baul</strong>s, die den Rgvada nicht kennen, rezitieren während <strong>der</strong> Übung die verschiedenen<br />
Namen Krishnas und Radhas o<strong>der</strong> die Mantras, welche sie von ihrem Guru bekommen<br />
haben. Während <strong>der</strong> Übung atmet <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> je nach Bedarf mal mit dem linken, mal mit dem<br />
rechten Nasenloch. <strong>Die</strong>se Technik hilft dem Übenden bei <strong>der</strong> Zurückhaltung des Samens.<br />
Der <strong>Baul</strong> darf ihn nicht verlieren. Wird es für ihn schwierig den Samen zurückzuhalten, so<br />
soll er eine <strong>der</strong> zwei Yogaübungen, Mulabandha und Asvini-mudra, anwenden (Hathayogapradipika<br />
III, 61-69). Hiernach soll <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> Aropa üben, falls nötig. Aropa bedeutet die<br />
Sicht auf etwas Bestimmtes konzentrieren. Der <strong>Baul</strong> muß seine Gedanken nach und nach<br />
auf den Nabel, das Herz, die Brust, den Hals, Mund, die Nase, Augen, den Platz zwischen<br />
zwei Augenbrauen, Kopf und Gott konzentrieren. <strong>Die</strong> Übung Aropa wird auch Nehar<br />
(sehen), genannt. <strong>Die</strong> letzte Übung, welche <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> üben muß, heißt Vajroli-mudra<br />
(Hathayoga-pradipika III, 83-91). <strong>Die</strong>se Übung verlangt, daß <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> mit seinem<br />
Geschlechtsorgan seinen Samen und den Erguß seiner Partnerin in seinem Gliede sammelt.<br />
Ist dies getan, hat <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> den Mahayoga erfolgreich abgeschlossen und empfindet das<br />
Mahasukh (die große Glückseligkeit) als Belohnung. <strong>Die</strong> Glückseligkeit entspringt aus <strong>der</strong><br />
Vereinigung <strong>der</strong> Seele (atma) des <strong>Baul</strong>s mit Gott. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s vergleichen diesen Zustand mit<br />
dem eines Menschen, <strong>der</strong> in einer Leiche lebt (jyante mara, jiyante mara), da in diesem Falle<br />
<strong>der</strong> Körper des erfolgreichen <strong>Baul</strong>s leblos wird, aber seine Seele die Glückseligkeit<br />
empfindet. In zahlreichen Lie<strong>der</strong> stellen die <strong>Baul</strong>s den Mahayoga vor (s. Anhang <strong>Baul</strong>-<br />
Lie<strong>der</strong>).<br />
120 Vgl. Harish Johari: Chakras, Körperzentren <strong>der</strong> Transformation, Basel, 1992, 36-39<br />
121 Vgl. Svami Tapasyananda: Om, Gayatri and Sandhya, Maylapore, 54-55<br />
71
Untersuchungsergebnisse<br />
1. Sachlich gesehen, vereinigt <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> seinen Samen und den Gott seiner Partnerin, <strong>der</strong> sich<br />
im Ausfluß <strong>der</strong> Frau befindet in seinem eigenen Körper und bezeichnet dies als Gotteserlebnis.<br />
Es wird nicht gesagt, was mit dem Gott, <strong>der</strong> im Sahasrara des <strong>Baul</strong>s sitzt, geschieht.<br />
Da aber die <strong>Baul</strong>s glauben, daß Gott sich als Samen manifestiert, ist <strong>der</strong> Samen<br />
wahrscheinlich in diesem Moment Gott des übenden <strong>Baul</strong>s. Wenn dies <strong>der</strong> Fall ist, dann<br />
vereinigt <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> seinen Gott mit dem Gott seiner Partnerin, und erlebt dadurch Gott.<br />
Hierfür ist ein Geschlechtsverkehr notwendig, da Gott <strong>der</strong> Partnerin sich in diesem Zeitpunkt<br />
im Muladhara-cakra <strong>der</strong> Partnerin befindet. <strong>Die</strong>s erfor<strong>der</strong>t jedoch zwei Götter, einen,<br />
<strong>der</strong> im Sahasrara des männlichen Körpers wohnt und sich als Samen manifestiert, und einen<br />
an<strong>der</strong>en, <strong>der</strong> sich in dieser Zeit im Muladhara-cakra <strong>der</strong> Partnerin befindet. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s<br />
betonen aber, daß es nur einen Gott gibt, <strong>der</strong> sich als mehrere Götter manifestiert. Also<br />
vereinigt <strong>der</strong> Übende zwei Manifestationen Gottes miteinan<strong>der</strong>. <strong>Die</strong> Frage bleibt jedoch<br />
unbeantwortet, warum es notwendig ist, zwei Manifestationen Gottes miteinan<strong>der</strong> zu vereinigen,<br />
damit <strong>der</strong> Mensch sein persönliches Gotteserlebnis erfährt. <strong>Die</strong>se Frage wird in den<br />
Lie<strong>der</strong>n nicht beantwortet. Auch die <strong>Baul</strong>s konnten dies <strong>der</strong> Autorin nicht erklären. Auf<br />
Fragen antworten sie, daß ihr Guru, <strong>der</strong> selbst Gott erlebt hat, ihnen dieses über Gott gesagt<br />
und ihnen die Übungen beigebracht hat. Der Guru kennt die Wahrheit und seine Worte<br />
können nicht falsch sein. Sie brauchen die Theorie nicht zu verstehen, son<strong>der</strong>n nur des<br />
Gurus Anweisungen zu folgen. Nur so können sie selbst auch eines Tages die Wahrheit<br />
erkennen und Gott erleben.<br />
2. Der Mahayoga <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> ist eine Variation des Maithun, <strong>der</strong> letzte Teil des<br />
Rituals mit Pañca-tattva (fünf Dingen, Wein, Fleisch, Fisch, geröstetem o<strong>der</strong> gebratenem<br />
Getreide und dem Koitus) des Tantra (Referenz). Das Mahanirvana-tantra IV, 39 nennt den<br />
Vorteil des Rituals mit Panca-tattva im Gegensatz zum Raja-yoga und Bhoga (Genuß) und<br />
sagt: „Dort, wo die Fülle von Erlebnissen vorhanden ist, kann man nicht vom Yoga<br />
(gemeint ist <strong>der</strong> Rajayoga) sprechen, und dort, wo Yoga praktiziert wird, kann man nichts<br />
erleben, aber <strong>der</strong> Kaula (Tantrika) erlebt beides.“ In ihren Lie<strong>der</strong>n vertretten die <strong>Baul</strong>s die<br />
Meinung des Mahanirvana-tantra und singen in ihren Lie<strong>der</strong>n, daß sie keine Askese üben,<br />
son<strong>der</strong>n Gott und die Welt gleichzeitig genießen möchten (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). Der<br />
Mahayoga ermöglicht ihnen dies.<br />
3. Wie die Tantriks glauben die <strong>Baul</strong>s, daß dies kein sinnlicher Genuß, son<strong>der</strong>n die hohe<br />
Spiritualität ist, und, daß ihr Ritual für die meisten schwer verständlich ist und versuchen<br />
daher diese ritualbezogenen Übungen geheimzuhalten. Sie äußern sich in ihren Lie<strong>der</strong>n über<br />
den Mahayoga in einer Geheimsprache. <strong>Die</strong>se Lie<strong>der</strong> werden daher von den Nichteingeweihten<br />
ganz an<strong>der</strong>s verstanden, als die <strong>Baul</strong>s es meinen und bedürfen deshalb <strong>der</strong> Erläuterung.<br />
4. Zwei US-Amerikanerinnen, die 1994 im Dorf Sriniketan, Dist. Birbhum, mit einigen<br />
<strong>Baul</strong>s zusammenlebten, sagten <strong>der</strong> Autorin auf Anfrage, daß für sie <strong>der</strong> Mahayoga ein sexuelles<br />
Erlebnis war. <strong>Die</strong> Leblosigkeit des Körpers eines <strong>Baul</strong>s, <strong>der</strong> nach dem Mahayoga<br />
Gott im eigenen Körper erlebt, ist ähnlich wie die Beschreibung des Zustandes eines Menschen<br />
<strong>der</strong> Orgasmus erlebt hat, die man in den Studien von Alfred C. Kinsey: „Kinsey Report.<br />
Das sexuelle Verhalten <strong>der</strong> Frau“ und „Kinsey Report. Das sexuelle Verhalten des<br />
Mannes“. Kinsey schreibt, daß in diesem Zustand eine echte Anästhesie <strong>der</strong> Sinnesorgane<br />
72
eintreten kann, 122 und, daß <strong>der</strong> Orgasmus auch ohne einen Samenausstoß stattfin -<br />
den(kann). 123 <strong>Die</strong>s geschieht unter an<strong>der</strong>em bei Männern, die bewußt ihre Genitalmuskeln<br />
zusammenziehen können. 124 <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s ejakulieren nicht und üben Yoga mit Hilfe <strong>der</strong> Genitalmuskeln,<br />
um den Samen zurückzuhalten, wenn sie die Befürchtung haben, daß es zu<br />
einem Samenausstoß kommen könnte. <strong>Die</strong>s bedeutet, wenn die <strong>Baul</strong>s vom Gotteserlebnis<br />
nach dem Mahayoga sprechen, halten sie den Höhepunkt ihres sexuellen Erlebnisses für das<br />
Gotteserlebnis.<br />
Diksha (die Initiation)<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s erhalten von ihrem Guru drei aufeinan<strong>der</strong>folgende Dikshas (Initiationen). <strong>Die</strong>se<br />
sind die Mantra-diksha (die Initiation zum Mantra), die Shiksha-diksha (die Initiation zum<br />
Tantrayoga) und die Sannyasa-diksha, auch Vairagya-diksha genannt (die Initiation zur<br />
Askese). Den Tag und die Uhrzeit <strong>der</strong> Zeremonien legt <strong>der</strong> Guru fest, wobei die Stellung<br />
<strong>der</strong> Sterne und Planeten keine Rolle spielen. Es ist erwähnenswert, daß das Mahanirvanatantra<br />
für die Initiation mit dem Brahmamantra keine Stern- o<strong>der</strong> Planetenkonstellation<br />
vorsieht. 125 Gewöhnlich vollziehen die Hindus wichtige Zeremonien an bestimmten Tagen,<br />
wenn die Sterne und Planeten günstig stehen. 126 Alle Initiationen finden im geschlossenen<br />
Raum statt.<br />
<strong>Die</strong> Mantradiksha<br />
Mit <strong>der</strong> Mantradiksa wird ein Mensch zum Mitglied <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>gemeinschaft. Manche<br />
Wohngemeinschaften verlangen eine eintägige Fastenzeit <strong>der</strong> Beteiligten vor dem Ritual.<br />
<strong>Die</strong> Zeremonie wird morgens früh vollzogen, nachdem die Beteiligten gebadet haben. Unmittelbar<br />
vor <strong>der</strong> Zeremonie darf nur Tee o<strong>der</strong> Wasser getrunken, aber nichts gegessen<br />
werden. <strong>Die</strong> Initiation findet in einem geschlossenen Raum statt, in dem nur <strong>der</strong> Guru und<br />
<strong>der</strong> künftige Schüler anwesend sind. Der Guru nimmt etwas Sandelpaste auf einem Blatt <strong>der</strong><br />
heiligen Tulsi-Pflanze und beschmiert damit den Kopf, die Stirn, den Hals, das Herz, den<br />
Oberbauch und den Nabel des Kandidaten Hierbei rezitiert <strong>der</strong> Guru verschiedene Mantras<br />
o<strong>der</strong> die Namen Krishnas, Caitanyas und seiner Schüler. In <strong>der</strong> Fontanelle, <strong>der</strong> Stirn, in<br />
Hals, Herz und Nabel befinden sich jeweils das Sahasrara-cakra, Ajña-cakra, Vishuddhacakra,<br />
Anahata-cakra und Manipura-cakra (s. Kapitel 3). Danach flüstert er dem Schüler<br />
das Initiationsmantra ins Ohr, das <strong>der</strong> Schüler später zum Meditieren benötigen wird. Bei<br />
<strong>der</strong> Erteilung des Initiationsmantras hält <strong>der</strong> Guru seinen Daumen o<strong>der</strong> Zeigefinger<br />
zwischen die Augenbrauen des Schülers, da sich hier bekanntlich das Weisheitsauge<br />
befindet. Alle Mantras sind auf Bengali, <strong>der</strong> Muttersprache <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s, verfaßt.<br />
Der Schüler ist hierdurch ein Mitglied <strong>der</strong> <strong>Gemeinschaft</strong> geworden. Er erhält nun einen Ordensnamen,<br />
<strong>der</strong> stets mit dem Wort Das, <strong>Die</strong>ner, beendet. Vor dem Initiationsritual hat <strong>der</strong><br />
Kandidat eigenhändig das Malsa-bhog vorbereitet. Entwe<strong>der</strong> vor o<strong>der</strong> nach dem Ritual<br />
vollzieht <strong>der</strong> Guru die Malsa-bhog-Zeremonie. Aus Anlaß <strong>der</strong> Initiation lädt <strong>der</strong> Kandidat<br />
<strong>Baul</strong>s aus seinem Bekanntenkreis ein, die während <strong>der</strong> Zeremonie auf dem Hof warten.<br />
Nachdem die Mantradiksa vollzogen ist, kommen <strong>der</strong> Guru und Schüler aus dem Zimmer<br />
heraus und treten auf den Hof, wo die Gäste dem neuen <strong>Baul</strong> gratulieren. Alle essen zu-<br />
122<br />
Alfred C. Kinsey: Das sexuelle Verhalten <strong>der</strong> Frau, Berlin, 1963, 465-468<br />
123<br />
Ibid., 468<br />
124<br />
Alfred C. Kinsey: Das sexuelle Verhalten des Mannes, Berlin, 1964, 134-135<br />
125<br />
Arthur Avalon: Tantra of the Great Liberation, Mahanirvana-tantra, London, 1913, 191<br />
126<br />
Vgl. V.A.K. Ayer: Hindu Sastras and Samskaras, Bombay, 1993, 29-34<br />
73
sammen das vorher Gott geopferte Essen. Nach <strong>der</strong> Mahlzeit singen und tanzen die Anwesenden,<br />
was eine fröhliche Atmosphäre erzeugt. Am Nachmittag verabschieden sich die<br />
Gäste.<br />
<strong>Die</strong> Shikshadiksha<br />
Wenige Wochen nach <strong>der</strong> Mantradiksa findet die Shiksha-diksha, die Initiation zum Tantrayoga,<br />
statt. Zu diesem Zweck hat <strong>der</strong> Guru für seinen Schüler schon eine spirituelle<br />
Partnerin ausgesucht und es findet das Kanthi-badal statt (s. oben). Anwesend sind hier nur<br />
<strong>der</strong> Guru, seine spirituelle Partnerin und Schüler jeweils mit <strong>der</strong> Partnerin. Nun zeigt <strong>der</strong><br />
seinem Schüler die Tantrayogaübungen, wobei ihm seine Partnerin behilflich ist. Nach <strong>der</strong><br />
Vorführung <strong>der</strong> Übungen erhält <strong>der</strong> Schüler vom Guru die Unterbekeildung Kaupin. Hiermit<br />
ist das Initiationsritual beendet. <strong>Die</strong> Teilnehmer des Rituals verlassen das Zimmer und<br />
begeben sich auf den Hof, wo die Bewohner <strong>der</strong> Wohngemeinschaft und die eingeladenen<br />
<strong>Baul</strong>s mit ihren Partnerinnen aus den Nachbarwohngemeinschaften auf sie warten. <strong>Die</strong><br />
Versammelten begrüßen und beglückwünschen den Schüler und seine Partnerin. Der Guru<br />
vollzieht die Malsa-bhog-Zeremonie (s. oben). Das vorher Caitanya und an<strong>der</strong>en geopferte<br />
Festessen wird serviert. Nach <strong>der</strong> Mahlzeit wird, wie bei allen Festen, gesungen und getanzt.<br />
<strong>Die</strong> Sannyasa-diksha<br />
<strong>Die</strong> Sannyasa-diksha, die Initiation zur Askese, folgt <strong>der</strong> Shiksha-diksa. Sie verläuft ohne<br />
Festlichkeit. In einem geschlossenem Raum muß <strong>der</strong> Schüler mit Hilfe seiner Partnerin beim<br />
Guru gewisse Prüfungen ablegen, je nach <strong>der</strong>en Qualität <strong>der</strong> Guru ihn zum Asketen erklärt.<br />
Fällt er bei <strong>der</strong> Prüfung durch, so darf er sie wie<strong>der</strong>holen. Zu dieser Diksha findet kein<br />
Malasa-bhog o<strong>der</strong> keine Abschlußfeier mit dem Festessen statt. Nicht alle <strong>Baul</strong>s nehmen die<br />
Sannyasa-diksha, da sie befürchten, daß sie die Prüfung nicht bestehen werden.<br />
<strong>Die</strong> Unkosten, welche bei den Initiationen entstehen, tragen die wohlhabenden Dorfbewohner.<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
1. <strong>Die</strong> Dikshazeremonien machen die Einflüsse des Caitanya-Vaishnavismus und Tantra<br />
deutlich, wobei die Mantra-diksha mehr von <strong>der</strong> erstgenannten und die Shiksha-diksa mehr<br />
von <strong>der</strong> zweitgenannten Richtung geprägt ist.<br />
2. Daß die <strong>Baul</strong>s hierbei im Gegensatz zum klassischen Hinduismus nicht auf die Stellung<br />
<strong>der</strong> Sterne und Planeten achten, entspricht ihrer Tradition, die man auch bei an<strong>der</strong>en Ritualen<br />
feststellt.<br />
Shraddha (das Totenzeremonie)<br />
<strong>Die</strong> Leiche eines Verstorbenen wird von seiner Partnerin mit Senföl o<strong>der</strong> Butterfett (ghi)<br />
eingerieben, gebadet, gekleidet und mit Sandelpaste und Tulsi-Blätter (Basilikum) geschmückt.<br />
Hierbei helfen ihr die an<strong>der</strong>en Mitbewohnerinnen <strong>der</strong> Wohngemeinschaft. Während<br />
die Frauen die Leiche für das Begräbnis vorbereiten, graben die Männer das Grab in<br />
einer Ecke des Wohngrundstückes aus. Sie begraben die Leiche nicht auf dem staatlichen<br />
Friedhof. Wenn die Männer mit dem Ausgraben fertig sind, mischt <strong>der</strong> älteste Schüler des<br />
74
Gurus etwas Salz mit Erde und streut die Mischung auf den Boden des Grabes. Jetzt decken<br />
die Frauen die Leiche mit einem weißen Tuch zu und die Männer setzen sie ins Grab. <strong>Die</strong><br />
Leiche sitzt im Grab mit dem Gesicht nach Osten. Man stellt vor ihr sieben bis vierzehn<br />
Schüsseln mit Speisen in <strong>der</strong> Art des Malsa-bhogs (s. oben), Wasser, indische Zigarren<br />
(biri), Gãja (Hanf), eine Wasserpfeife, gekochten Tee, eine Öllampe und Räucherstäbchen<br />
hin, als ob <strong>der</strong> Verstorbene diese weiterhin benötigen würde. Nach <strong>der</strong> Beerdigung nehmen<br />
alle ein Bad und ziehen frische Kleidung an. Nun wird ein einfaches Essen serviert, Eintopf<br />
aus Reis und Linsen mit Gemüse. Das gemeinsame Essen nach dem Begräbnis wird<br />
Kadamacchab (das vorläufige große Fest) genannt. In dieser Nacht schlafen die Teilnehmer<br />
des Rituals nicht. Sie entzünden vor dem Grab eine Öllampe und singen die ganze Nacht.<br />
Am BegräbniShritual nehmen die Mitglie<strong>der</strong>, Bekannten und Freunde <strong>der</strong><br />
Wohngemeinschaft teil. Einen Monat lang entzünden die <strong>Baul</strong>s täglich eine Öllampe und<br />
Räucherstäbchen vor dem Grab. An manchen Abenden singen sie davor. Nachdem die<br />
einmonatige Trauerzeit beendet ist, treffen sich alle, die am Begräbnis teilgenommen haben,<br />
in <strong>der</strong> Wohngemeinschaft des Verstorbenen und feiern das Essensfest Birahamacchab, (das<br />
große Fest <strong>der</strong> Trauernden). Das Menü bleibt gleich. Bezüglich <strong>der</strong> Unreinheit nach dem<br />
Tod eines Verwandten<br />
<strong>Die</strong> Manusmriti nennt verschieden lange Fristen <strong>der</strong> unreinen Periode, die nach dem Tod<br />
eines Verwandten eintritt, für verschiedene Kasten. Nach dieser Anweisung sollen die<br />
Shudras einen Monat lang unrein bleiben (V, 83). Auf die Frage, warum sie gerade einen<br />
Monat lang Trauer halten, antworten die <strong>Baul</strong>s, daß dies ihre Sitte sei und vertreten ihre feste<br />
Überzeugung, daß dies mit den Bestimmungen <strong>der</strong> Dharmashastras nichts zu tun hat.<br />
Unkosten, die durch das Totenritual entstehen, tragen die wohlhabenden Dorfbewohner.<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
1. <strong>Die</strong> Hindus von allen Kasten verbrennen die Leichen <strong>der</strong> Verstorbenen. <strong>Die</strong> Dharmashastras<br />
geben Instruktionen zur Verbrennung <strong>der</strong> Leiche. 29 die <strong>Baul</strong>s aber begraben ihre<br />
Toten. Warum die <strong>Baul</strong>s hier von <strong>der</strong> landesüblichen Sitte abweichen, ist nicht mit Sicherheit<br />
zu klären. Möglich ist es aber, daß sie hier <strong>der</strong> Vorschrift des Tantras folgen. Das Mahanirvana-tantra<br />
VIII, 284 meint, daß die Leiche eines Asketen nicht verbrannt, son<strong>der</strong>n in<br />
<strong>der</strong> Erde o<strong>der</strong> im Fluß begraben werden soll. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s als Mitglie<strong>der</strong> eines Ordens sind im<br />
tantrischen Sinne Asketen. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s selbst betrachten sich als Asketen die durch den Mahayoga<br />
nicht ihre Sinnlichkeit befriedigen, son<strong>der</strong>n Gott erleben wollen. Auch die Virashaivas<br />
in Südindien begraben die Leiche ihrer Mitglie<strong>der</strong>. 127 Ein Gedankenaustausch zwischen<br />
den <strong>Baul</strong>s und den Virashaivas ist jedoch auszuschließen, da die <strong>Baul</strong>s von <strong>der</strong> Existenz<br />
<strong>der</strong> Virashaivas nichts wissen. Es kann jedoch hier festgehalten werden, daß sowohl<br />
das Tantra als auch einige vom Tantra beeinflußten <strong>Religion</strong>sgemeinschaften die Leichen<br />
ihrer Angehörigen beerdigen, was den Einfluß des Tantras auf diese <strong>Religion</strong>sgemeinschaften<br />
vermuten läßt.<br />
2. Der Einfluß von den Dharmashastras ist bei <strong>der</strong> Einhaltung <strong>der</strong> Frist für die unreine Zeit<br />
ist festzustellen, was die <strong>Baul</strong>s jedoch bestreiten.<br />
127 Vgl. S.C. Nandimath: A Handbook of Virasaivism, Delhi, 1979, 49-54<br />
75
Guru<br />
Das Gotteserlebnis ist die einzige Qualifikation, die einen zur Ausübung des Guruamtes<br />
berechtigt. <strong>Die</strong> Behauptung des Gurus, daß er Gott erlebt hat, muß für den Gottsuchenden<br />
glaubhaft sein. Der Guru und <strong>der</strong> zukünftige Schüler prüfen einan<strong>der</strong>, bevor sie sich füreinan<strong>der</strong><br />
entscheiden. Theoretisch dürfen beide Geschlechter als Guru fungieren, aber in <strong>der</strong><br />
Praxis sind es unter den <strong>Baul</strong>s nur die Männer, die ein Guruamt ausüben.<br />
Ein Mensch darf sich nur dann als <strong>Baul</strong> bezeichnen, wenn ihm vorher von einem Guru <strong>der</strong><br />
<strong>Baul</strong>gemeinschaft die beson<strong>der</strong>e Initiation (diksha) dieser Glaubensrichtung erteilt worden<br />
ist. <strong>Die</strong>s entspricht <strong>der</strong> Aussage <strong>der</strong> Manusmriti II, 144-145, die sagt, daß <strong>der</strong> Guru für<br />
seinen Schüler wie seine Eltern, ja sogar wichtiger als <strong>der</strong> leibliche Vater ist, da <strong>der</strong> leibliche<br />
Vater einem nur das Leben auf <strong>der</strong> Erde schenkt, aber <strong>der</strong> Guru einem die Veden lehrt und<br />
ihn dadurch das unendliche Leben schenkt. Der Guru zeigt den <strong>Baul</strong>s den Weg zu Gott.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s haben keine heiligen Schriften. Des Gurus Worte sind für sie die heiligen<br />
Schriften und seine Instruktionen die praktischen Anleitungen, denen sie bedingungslos<br />
folgen müssen. <strong>Die</strong> Yogaübungen werden den Schülern vom Guru persönlich beigebracht.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s glauben, daß sie ohne die intensive Betreuung vom Guru Gott nicht erreichen<br />
können. Der Guru muß jeden Schritt seiner Schüler beobachten und sie rund um die Uhr<br />
betreuen. Jegliches Detail bezüglich des spirituellen Lebens <strong>der</strong> Schüler wird vom Guru<br />
bestimmt, <strong>der</strong> von Fall zu Fall unterschiedlich entscheiden darf, da die Schüler verschieden<br />
veranlagt sind. Deshalb sollen die Schüler zusammen mit dem Guru in <strong>der</strong>selben Wohngemeinschaft<br />
wohnen. In ihren Lie<strong>der</strong>n setzen die <strong>Baul</strong>s ihren Guru mit Gott gleich (s. Anhang<br />
<strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
<strong>Baul</strong> Anirvana vergleicht die Guru-Schüler-Beziehung mit <strong>der</strong> Mutter-Kind-Beziehung. Sie<br />
entwickelt sich zu einer vollkommenen Harmonie zwischen den beiden, bis sie in ihren<br />
Empfindungen eins werden. <strong>Die</strong>se Empfindung kann den Schüler so sehr beeinflussen, daß<br />
er keine separate Identität mehr hat. Er spricht auch von einer mystischen Macht des Gurus,<br />
die er für das spirituelle Fortkommen, sowie die letztendliche Befreiung des Schülers benutzt.<br />
Er vergleicht die Übertragung dieser mystischen Kraft vom Guru zum Schüler mit <strong>der</strong><br />
Tötung des letzteren durch <strong>der</strong> ersten, da dieser Transfer den letzten Rest des Ego im<br />
Schüler vernichtet. Durch den Tod seines Egos wird <strong>der</strong> Schüler selbst zum Guru und wird<br />
<strong>der</strong> Geist des Gurus dienen. Ferner meint <strong>Baul</strong> Anirvana, daß <strong>der</strong> Guru seinem Schüler nicht<br />
die letzte Wahrheit enthüllt. <strong>Die</strong>se muß <strong>der</strong> Schüler selbst erkennen. Der Guru lehrt seinen<br />
Schüler ein Zehntel von dem, was er weiß, da er sonst einem leeren Topf gleicht. 128 <strong>Die</strong>se<br />
Aussage entspricht dem Glauben <strong>der</strong> Hindus in West Bengal, daß Ramakrishna erst in<br />
seinem Sterbebett seinem Schüler Swami Vivekananda den Kern des Initiationsmantras<br />
offenbart hat. Es wird erzählt, einige Tage vor seinem Tode rief Ramakrishna Swami Vivekananda<br />
(damals noch Narendranath Datta) und bat seine an<strong>der</strong>en Schüler, sie allein zu<br />
lassen. Er betrachtete seinen Schüler voll Zärtlichkeit und fiel in tiefer Meditation (samadhi).<br />
Auch Vivekananda verlor das Bewußtsein. Als er wie<strong>der</strong> zu sich kam, sagte Ramakrishna zu<br />
ihm unter Tränen, daß er ihm alles gegeben und nun selbst nichts mehr hatte. 129<br />
128 Vgl. Shri Anirvan: Letters from a <strong>Baul</strong>, Calcutta, 1983, 53-63<br />
129 Vgl. Sollange Lemaitre: Ramakrischna, Reinbek bei Hamburg, 1981, 140-147<br />
76
Untersuchungsergebnisse<br />
1. <strong>Die</strong> Tatsache, daß man ohne die erhaltene Initiation nicht zur <strong>Baul</strong>gemeinschaft gehören<br />
darf, erhöht die Position des Gurus, die ohnehin in <strong>der</strong> hinduistischen Tradition hoch ist.<br />
2. <strong>Die</strong> Aufgabe des Gurus macht ihn zur höchsten Autorität für seine Schüler. <strong>Die</strong> Tatsache,<br />
daß die Theorien und die praktischen Übungen <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> nicht in schriftlicher Form<br />
festgehalten worden sind (wobei gesagt werden muß, daß die <strong>Baul</strong>s Analphabeten sind),<br />
und daher die Schüler dieser <strong>Religion</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> auf den Unterricht und die<br />
Anweisungen des Gurus vollkommen angewiesen sind, macht die Schüler von ihrem Guru<br />
total abhängig, die aus dieser Abhängigkeit erst dann befreit sind, wenn sie selbst als Gurus<br />
fungieren. <strong>Die</strong>s erklärt auch die Gegebenheit, daß die <strong>Baul</strong>s ihren Guru Gott gleichsetzen<br />
und glauben, daß sie ohne ihren Guru Gott nicht erleben können.<br />
3. <strong>Die</strong> Theorie <strong>der</strong> Übertragung <strong>der</strong> mystischen Kräfte des Guru auf seinen Schüler ist als<br />
Vergleich zu verstehen. Der Schüler ergibt sich bedingungslos seinem Guru, <strong>der</strong> seine Persönlichkeit<br />
vollständig umformt, so daß <strong>der</strong> Schüler nur noch nach <strong>der</strong> Vorstellung des Gurus<br />
denkt und handelt. Als Gegenleistung garantiert <strong>der</strong> Guru ihm das Gotteserlebnis.<br />
Sadhana-sangini (die spirituelle Partnerin)<br />
<strong>Die</strong> Tatsache, daß die <strong>Baul</strong>s ohne ihre spirituelle Partnerin den Tantrayoga nicht üben können,<br />
verleiht <strong>der</strong> spirituellen Partnerin Achtung in <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>gemeinschaft. <strong>Die</strong> Partnerin ist<br />
nicht die Verführerin, die den Mann von Gott ablenkt, wie die Frau häufig im klassischen<br />
Hinduismus dargestellt wird, 130 son<strong>der</strong>n die Person, die dem Mann bei <strong>der</strong> Suche nach Gott<br />
hilft.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s betonen in ihren Lie<strong>der</strong>n immer wie<strong>der</strong>, daß eine Frau etwas wertvolles ist, und<br />
da alle Menschen, also auch die Männer die Manifestation <strong>der</strong> Shakti sind, sind prinzipiell<br />
alle Menschen Frauen. Daher empfehlen sie sich selbst und ihren Glaubensbrü<strong>der</strong>n, daß sie<br />
sich wie eine Frau fühlen sollen (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>). Außerdem, da Gott männlich ist,<br />
muß man ihn mit dem Gefühl und mit <strong>der</strong> Intensität einer Frau lieben. <strong>Die</strong> Gopis, die Kuhhirtinnen<br />
in Vrindavan, am Wohnort Krishnas, gaben hierfür das Beispiel <strong>der</strong> wahren Liebe<br />
(s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s vergleichen ihre Partnerin mit Radha und Shakti (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>), das den<br />
Einfluß des Caitanya-Vaishnavismus und des Tantra auf die <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> deutlich macht.<br />
<strong>Die</strong> hohe Stellung <strong>der</strong> Frau ist im Caitanya-Vaishnavismus zu beobachten. <strong>Die</strong>ser meint, daß<br />
Krishna sich nur durch seine Geliebte Radha vollständig genießen konnte. Deshalb ist<br />
Krishna als Caitanya geboren worden, <strong>der</strong> gleichzeitig eine Inkarnation Krishnas und<br />
Radhas war (s. Kapitel 2). Daher ist die Stellung Radhas in diesem Zweig des Hinduismus<br />
hoch. Sie wird manchmal höher gestellt als Krishna. Auch die Tantriks unterordnen Shiva<br />
<strong>der</strong> Shakti, seiner weiblichen Energie. 131<br />
Wegen ihrer positiven Einstellung zur spirituellen Partnerin, haben die <strong>Baul</strong>s in diesem Zusammenhang<br />
keine doppelte Moral. Wenn <strong>der</strong> Mann seine Sinnesorgane nicht beherrschen<br />
130 Mahendranath Gupta: Shri-shri-ramakrishna-kathamrita, Bd. 1, Kalikata, 1993, 65-66<br />
131 Vgl. Upendrakumar Das: Shastramulak bharatiya shakti-sadhana, Bd. 1, Kalikata, 1984, 332-355<br />
77
kann, so ist das sein eigenes Versagen. Er muß sich durch Eigeninitiative von <strong>der</strong> Sinnlichkeit<br />
befreien, will er Gott erleben (s. Anhang <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
1. Für die Übung des Mahayoga ist die spirituelle Partnerin für den <strong>Baul</strong> ein unverzichtbares<br />
Instrument. <strong>Die</strong>s erhöht die Stellung <strong>der</strong> spirituellen Partnerin in <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong>.<br />
2. <strong>Die</strong> Stellung <strong>der</strong> spirituellen Partnerin in <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> ist durch Caitanya-<br />
Vaishnavismus und Tantra positiv beeinflußt.<br />
3. <strong>Die</strong> hohe Stellung <strong>der</strong> spirituellen Partnerin ist nicht allgemein auf die Stellung <strong>der</strong> Frau in<br />
<strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> übertragbar. Im täglichen Leben übt die spirituelle Partnerin eine<br />
dem <strong>Baul</strong> untergeordnete Rolle (s. Kapitel 1).<br />
78
Schluß<br />
Der Hinduismus hat schon sehr frühzeitig seine Angehörigen durch das Kastensystem in<br />
fünf Kategorien eingeteilt. <strong>Die</strong>se in Abstufung klassifizierten Kategorien sind: die Angehörigen<br />
<strong>der</strong> Brahmanenkaste, die Angehörigen <strong>der</strong> Kshatriyakaste, die Angehörigen <strong>der</strong> Vaishyakaste,<br />
die Angehörigen <strong>der</strong> Shudrakaste und die Kastenlosen. <strong>Die</strong> heiligen Schriften<br />
Dharmashastras untersagen den Shudras und Kastenlosen, den Hinduismus so zu praktizieren,<br />
wie die drei oberen Kasten es tun. <strong>Die</strong>s bedeutet, daß die Shudras und Kastenlosen<br />
nicht die Veden lernen dürfen, nicht den Tempel betreten und an <strong>der</strong> Gottesverehrung teilnehmen<br />
dürfen und nicht die vedischen Zeremonien vollziehen dürfen. Somit ist die Möglichkeit,<br />
den Hinduismus vollständig zu praktizieren, eingeschränkt.<br />
Das Kastenstensystem wird mit <strong>der</strong> Karma-Theorie begründet. Hat man im letzten Leben<br />
o<strong>der</strong> in mehreren vergangenen Leben gute Taten (karma) getan, wird man den Taten entsprechend<br />
in einer <strong>der</strong> oberen Kasten geboren. Waren die alten Karmas schlecht, wird man<br />
als Shudra o<strong>der</strong>, was noch schlimmer ist, als Kastenloser geboren. Hiermit ist die Kastenzugehörigkeit<br />
durch die Geburt festgelegt. <strong>Die</strong>s bedeutet, daß man im jetzigen Leben seine<br />
Kastenzugehörigkeit nicht verbessern kann.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sind entwe<strong>der</strong> Shudras o<strong>der</strong> Kastenlose. Sie sind fast ohne Ausnahme Analphabeten.<br />
Daß man hier und da ein Buch findet, das von einem <strong>Baul</strong>s verfaßt worden sein soll,<br />
darf einen nicht irritieren. Denn es findet sich schon jemand, <strong>der</strong> kostenlos für einen <strong>Baul</strong> ein<br />
Buch verfaßt und dann diesen <strong>Baul</strong> als den Verfasser dieser Publikation nennt. Automatisch<br />
stellt sich hier die Frage, wie die <strong>Baul</strong>s ihre Lie<strong>der</strong> verfassen und wer diese Lie<strong>der</strong> schriftlich<br />
festhält, wenn sie Analphabeten sind. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s verfassen ihre Lie<strong>der</strong> tatsächlich selbst. Sie<br />
können diese aber selbst nicht schriftlich festhalten. <strong>Die</strong>s tun die Literaten in Indien. Sie tun<br />
dies entwe<strong>der</strong>, weil sie sich für die Lie<strong>der</strong> interessieren o<strong>der</strong> weil sie von den <strong>Baul</strong>s darum<br />
gebeten werden, da jede Wohngemeinschaft <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s bei sich ein solches Manuskript<br />
aufbewahren möchte. <strong>Die</strong>se Manuskripte sind ihre heiligen Schriften. Rabindranath Tagore<br />
und Upendranath Bhattacarya haben <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> gesammelt und publiziert, weil sie diese<br />
interessant fanden. Es gibt jedoch nur einige wenige solcher Lie<strong>der</strong>kollektionen, da die<br />
Nachfrage sehr gering ist.<br />
Da die <strong>Baul</strong>s keinen Schulabschluß haben, sind sie auch finanziell benachteiligt. Sie arbeiten<br />
als Tagelöhner, Bauern, Fischer etc. o<strong>der</strong> als religiöse Musiker, die für ihren Gesang mit<br />
Geld o<strong>der</strong> Naturalien bezahlt werden. Man erkennt die <strong>Baul</strong>s an ihrer Kleidung und ihrer<br />
Musik. Es gibt zwei Kategorien von <strong>Baul</strong>s, die Maluidharis und die Kistidharis. <strong>Die</strong><br />
Maluidharis haben immer eine ovale ausgehöhlte Kokosnußschale und die Kistidharis haben<br />
immer eine längliche ausgehöhlte Kokosnußschale bei sich. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s wohnen in<br />
Wohngemeinschaften. Das Oberhaupt <strong>der</strong> Wohngemeinschaft ist <strong>der</strong> Guru. Auch seine spirituelle<br />
Partnerin genießt eine gewisse Autorität. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s wohnen zusammen mit ihren<br />
spirituellen Partnerinnen unter <strong>der</strong> Aufsicht des Gurus. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s dürfen keine Kin<strong>der</strong> zeugen,<br />
denn die spirituelle Partnerin ist nur für den Zweck des Tantrayoga da, nicht aber, <strong>der</strong><br />
Sinnlichkeit wegen. Wird die Partnerin schwanger, so ist dies ein Beweis dafür, daß <strong>der</strong><br />
betreffende <strong>Baul</strong> <strong>der</strong> Sinnlichkeit nachgegeben hat. In diesem Falle müssen <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> und<br />
seine Partnerin die Wohngemeinschaft verlassen. <strong>Die</strong> spirituelle Partnerin eines <strong>Baul</strong>s wird<br />
von seinem Guru ausgesucht.<br />
79
Es gibt einige <strong>Baul</strong>s und einzelne Intellektuelle in Indien, die den kulturellen Beitrag <strong>der</strong><br />
<strong>Baul</strong>s überschätzen, da die <strong>Baul</strong>s auch Lie<strong>der</strong>macher sind. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> sind jedoch<br />
melodisch monoton und thematisch uninteressant für die Mehrheit. Außerdem sind die<br />
Lie<strong>der</strong> oft in einer Geheimsprache verfaßt, da die Texte vielfach mit dem Tantrayoga zusammenhängen<br />
und die <strong>Baul</strong>s nicht möchten, daß die Nichtbauls über ihre religiösen Praktiken<br />
so genau Bescheid wissen. Berücksichtigt man die Tatsache, daß die Melodien <strong>der</strong><br />
Lie<strong>der</strong> monoton sind und die Texte unverständlich, so ist es nachvollziehbar, daß die <strong>Baul</strong>-<br />
Lie<strong>der</strong> in Indien keine große Nachfrage haben. Hinzu kommt noch, daß Bengali eine von<br />
vielen Sprachen Indiens ist. Dabei verfassen die <strong>Baul</strong>s ihre Lie<strong>der</strong> nicht einmal auf Hochbengali,<br />
son<strong>der</strong>n in verschiedenen Dialekten <strong>der</strong> Bengali-Sprache. Es gibt nur sehr wenige<br />
Intellektuelle im Bundesstaat West Bengal, Indien, die sich für die <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> interessieren.<br />
Von einem Beitrag <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong> zur Kultur Indiens kann nur in eingeschränktem Sinne<br />
gesprochen werden. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sind äußerst friedliche Menschen. Sie interessieren sich nicht<br />
für Politik.<br />
Caitanya (1486-1533 n. Chr.) ermöglichte den Shudras und Kastenlosen eine Integration in<br />
den klassischen Hinduismus mit seiner Reformbewegung. Caitanya war ein erfolgreicher<br />
Gelehrter aus <strong>der</strong> Brahmanenkaste. Seine Liebe zu Krishna befreite ihn von den orthodoxen<br />
Ansichten, die besagten, daß man die Veden kennen müßte, um Gott zu erreichen. Zunächst<br />
in seinem Geburtsort Nabadvip, Bundesstaat West Bengal, und später in Puri, Bundesstaat<br />
Orissa, predigte Caitanya, daß um Krishna, d. h. Gott, erreichen zu können das Lernen <strong>der</strong><br />
Veden nicht nötig sei. Man müsse Krishna inbrünstig lieben. Er ersetzte die komplizierten<br />
vedischen Zeremonien durch Krishnas Lobgesang und Krishnas Namensrezitation. <strong>Die</strong><br />
Lie<strong>der</strong> für den Lobgesang wurden auf Bengali, verfaßt. <strong>Die</strong>se ersetzten die traditionellen<br />
Mantras, die auf Sanskrit verfaßt worden waren und daher für das einfache Volk<br />
unverständlich blieben. Er lehnte das Kastensystem ab, da vor Gott alle Menschen gleich<br />
sind. So schuf Caitanya in Bengal und Orissa eine neue Form des Vaishnavismus, die<br />
Caitanya-orientierter Vaishnavismus genannt wird. <strong>Die</strong> Anhänger dieser Richtung des<br />
Hinduismus erkennen das Kastensystem nicht an, was soviel bedeutet, daß in ihren Tempeln<br />
die Shudras und Kastenlosen genauso willkommen sind, wie die drei oberen Kasten. <strong>Die</strong>s<br />
war eine große Errungenschaft für die Shudras und Kastenlosen. Ferner durften sie mit<br />
Gottes Lobgesang und Namensrezitation Gottesverehrung praktizieren. Es war für sie kein<br />
Hin<strong>der</strong>nis mehr, daß sie die Sanskrit-Mantras we<strong>der</strong> rezitieren durften noch konnten. Aus<br />
dieser Reformbewegung ist die <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> entstanden. Deshalb nennen die <strong>Baul</strong>s<br />
Caitanya ihren Urguru. Um Caitanya sammelten sich allerdings auch orthodoxe Brahmanen<br />
aus dem heutigen West Bengal, wahrscheinlich, weil Caitanya einfach zu erfolgreich war<br />
und daher nicht ignoriert werden durfte. Der Führer <strong>der</strong> Orthodoxen war Advaitacarya, <strong>der</strong><br />
in seinem Zentrum weiterhin in einer mil<strong>der</strong>en Form das Kastensystem aufrechterhielt.<br />
An<strong>der</strong>s sah es im Zentrum von Nityananda aus, den Caitanya mit <strong>der</strong> Verbreitung seiner<br />
Lehre in West Bengal beauftragte. Nityananda lehnte das Kastensystem ab, wie sein Lehrer<br />
es tat, und nahm viele Shudras und Kastenlose bei sich auf. Es ist anzunehmen, daß um<br />
Caitanya und / o<strong>der</strong> Nityananda sich viele Shudras und Kastenlose gesammelt haben, die<br />
sich <strong>Baul</strong>s nannten. Auch Caitanya wurde von seinem Schüler Advaitacarya <strong>Baul</strong> genannt.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s ist die <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> Gottesliebe. <strong>Die</strong>se Liebe ist jedoch eine beson<strong>der</strong>e<br />
Art <strong>der</strong> Gottesliebe. Gott wird hier nicht als Gottvater, son<strong>der</strong>n als <strong>der</strong> Geliebte verstanden.<br />
<strong>Die</strong> Basis dieses Konzepts ist die göttliche Liebe zwischen Krishna und seiner<br />
Geliebten Radha. Krishna war Vishnus Inkarnation. Wie Krishna in <strong>der</strong> Bhagavdgita verkündet,<br />
erscheint er in dieser Welt, um die Guten zu retten und die Bösen zu bestrafen,<br />
immer wie<strong>der</strong>, wenn die Rechtsaffenheit (dharma) vom Untergang bedroht wird und die<br />
80
Nichtrechtschaffenheit (adharma) das Übergewicht bekommt. So wurde Vishnu als Kri-shna<br />
geboren um die Rechtschaffenheit wie<strong>der</strong>herzustellen. Krishna wuchs im Kuhhirtendorf<br />
Vrindavan als Kuhhirtenjunge auf. Hier lernte er Radha, die Frau eines Kuhhirten kennen.<br />
<strong>Die</strong> verbotene Liebe zwischen Krishna und Radha dient als die Basis <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong><br />
Gottesliebe bei den <strong>Baul</strong>s. <strong>Die</strong> göttliche Liebe zwischen Krishna und Radha war deshalb so<br />
intensiv, weil sie eben verboten war. So wie Radha Krishna liebte, möchten die <strong>Baul</strong>s Gott<br />
lieben.<br />
In <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> und den philosophischen Gedanken <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s ist auch die Lehre <strong>der</strong> Upanishaden<br />
vertreten. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s glauben, daß die Welt eine Manifestation von Brahman ist.<br />
<strong>Die</strong> Theorie <strong>der</strong> Maya ist den <strong>Baul</strong>s ebenfalls vertraut. <strong>Die</strong> Maya ist eine Eigenschaft Gottes,<br />
die die Welt als etwas Absolutes erscheinen läßt. Dabei hat die Welt nur im Zusammenhang<br />
mit Gott eine Existenz. Von <strong>der</strong> Maya verleitet klammern die Menschen sich an<br />
vergängliche Dinge und lassen sich von Gott ablenken. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s glauben an die mystische<br />
Physiologie, die deutliche Einflüsse des Tantra und des Yoga zeigt. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s behaupten,<br />
daß <strong>der</strong> menschliche Körper in sich verschiedene Geheimnisse birgt. So sind sie davon<br />
überzeugt, daß im Körper sich die vierzehn Welten, Energiezentren (cakra), Kanäle (nari),<br />
welche die Lebenskraft verteilen, Gott und seine weibliche Energie, die Kundalini-shakti,<br />
befinden. Allerdings können nur die fortgeschrittenen Yogis diese Beson<strong>der</strong>heiten wahrnehmen.<br />
Für alle an<strong>der</strong>en bleiben sie unentdeckt. Ferner gibt es sechs Feinde im eigenen<br />
Körper: Sinnesfreude, Zorn, Habgier, Verblendung, Rausch und Neid. <strong>Die</strong>se hin<strong>der</strong>n die<br />
<strong>Baul</strong>s bei ihrer Suche nach Gott. Durch die neun Öffnungen: die Ohren, Augen, Nasenlöcher,<br />
den Mund, das Geschlechtsorgan und den Anus, verlieren die <strong>Baul</strong>s Energien. Daher<br />
müssen sie bei <strong>der</strong> Yogaübung diese regulieren, damit sie nicht unnötig Energien verlieren.<br />
Außerdem befinden sich im Körper vierundzwanzigeinhalb Monde und noch einmal acht<br />
Monde. <strong>Die</strong> vierundzwanzigeinhalb Monde verteilen sich folgen<strong>der</strong>maßen: zehn Monde in<br />
den zehn Fingernägeln, zehn in den zehn Zehennägeln, in den beiden Wangen jeweils einer,<br />
einer in <strong>der</strong> Unterlippe, einer in <strong>der</strong> Zunge und ein halber Mond auf <strong>der</strong> Stirn. <strong>Die</strong> acht<br />
Monde verstecken sich im Körper folgen<strong>der</strong>maßen: im Mund einer, in beiden Brüsten bzw.<br />
Brustwarzen jeweils einer, in beiden Händen jeweils einer, im Brustkorb einer, im Nabel<br />
einer und im Geschlechtsorgan einer. Ferner versteckt sich im menschlichen Körper <strong>der</strong><br />
Kosmos. <strong>Die</strong> mystische Physiologie <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s ist nicht nur vom Tantra und vom Yoga,<br />
son<strong>der</strong>n auch vom Sankhya-System beeinflußt. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s singen von Prakriti (dem weiblichen<br />
Urprinzip), von vierundzwanzig Tattvas (Dingen), drei Gunas (Eigenschaften), zehn<br />
Indriyas (fünf Wahrnehmungs- und fünf Ausführungsorganen) und fünf Elementen, sowie<br />
von Purusha, den sie Gott gleichstellen, was das Sankhya-System nicht tut. Da die <strong>Baul</strong>s die<br />
Philosophie des Sankhya nicht systematisch lernen, haben sie eine konfuse Vorstellung von<br />
den genannten Begriffen, wie ihre Lie<strong>der</strong> bezeugen.<br />
Das Gottesbild <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s ist wi<strong>der</strong>sprüchlich. Hier finden wir neben den Theorien <strong>der</strong><br />
Upanishaden hausgemachte Thesen. Der persönliche Gott ist die Manifestation des formlosen<br />
Brahman, <strong>der</strong> höchsten Wahrheit. Gott ist <strong>der</strong> Vater, die Mutter und <strong>der</strong> Geliebte. Wenn<br />
einem Ungerechtigkeit wi<strong>der</strong>fährt, kann man sich an Gottvater o<strong>der</strong> Gottmutter wenden.<br />
Gott ist <strong>der</strong> Geliebte, den man so lieben kann, wie Radha Krishna geliebt hat. <strong>Die</strong>se Liebe<br />
gleicht <strong>der</strong> Ekstase. Interessant ist, daß die <strong>Baul</strong>s Gott einen Menschen nennen. Als Mensch<br />
hat Gott einige Schwäche, die man bei den Menschen beobachtet. Z. B. ist er zwar souverän<br />
und unbeeinflußbar von den weltlichen Ereignissen, gleichzeitig ist er so verliebt in seine<br />
weibliche Energie, Kundalini-Shakti, daß man sagen kann, daß er von ihr abhängig ist. Gott<br />
wohnt im menschlichen Körper, genau gesagt im Zentrum Sahasrara-cakra. <strong>Die</strong> Kundalinishakti<br />
wohnt im Zentrum Muladhara-cakra. Das Sahasrara-cakra befindet sich in <strong>der</strong><br />
81
Fontanelle und das Muladhara-cakra im Beckenplexus. Gott fühlt sich ständig von seiner<br />
Shakti angezogen. Einmal im Monat kommt er herunter von seinem Wohnort und trifft die<br />
Shakti im Muladhara-cakra. Es ist eindeutig, daß das Gottesbild <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s ein Produkt<br />
lückenhafter Kenntnisse über die Upanishaden und Puranas ist, gemischt mit den eigenen<br />
Empfindungen. So ist er einmal das formlose Brahman <strong>der</strong> Upanishaden, ein an<strong>der</strong>es Mal<br />
<strong>der</strong> souveräne Gottvater bzw. die Gottmutter <strong>der</strong> Puranas und ein weiteres Mal ein<br />
gewöhnlicher Mann. Vor allem aber ist <strong>der</strong> Gott <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s <strong>der</strong> Geliebte. Das Gottesbild <strong>der</strong><br />
<strong>Baul</strong>s, die Caitanya-orientierte Vaisnavs sind, ist vom Bild <strong>der</strong> Liebe zwischen Krishna und<br />
seiner Geliebten Radha am stärksten geprägt. Radha, die Ehefrau eines an<strong>der</strong>en, liebte<br />
Krishna leidenschaftlich. Krishna erwi<strong>der</strong>te dieser Liebe mit <strong>der</strong> gleichen Intensität. <strong>Die</strong><br />
Lie<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s drücken diese Passion aus, die Gott und <strong>der</strong> Mensch füreinan<strong>der</strong><br />
empfinden.<br />
Als Shudras und Kastenlosen dürfen die <strong>Baul</strong>s nicht die Feste <strong>der</strong> oberen Kasten feiern. <strong>Die</strong>s<br />
hin<strong>der</strong>t sie aber nicht, ihre Feste auf ihre Weise zu feiern. Vergleicht man die Feste und<br />
Rituale <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s mit den Festen und Ritualen <strong>der</strong> Brahmanas, Kshatriyas und Vaishyas, so<br />
stellt man fest, daß die Festlichkeiten <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s vereinfachte Formen <strong>der</strong> Festlichkeiten <strong>der</strong><br />
oberen Kasten sind. Interessant ist jedoch, daß obwohl die <strong>Baul</strong>s gerne Feste feiern,<br />
Gottesverehrung praktizieren und Pilgerfahrten machen, sie heftige Kritik an diesen<br />
religiösen Praktiken üben. Gewöhnlich, aber nicht immer, verzichten sie auf Götterbil<strong>der</strong>.<br />
Bei einigen <strong>Baul</strong>s, wie z. B. bei Purnadas <strong>Baul</strong>, wohnhaft in Kalkutta sowie im Dorf<br />
Daskala-grama und Naksatradas <strong>Baul</strong>, wohnhaft im Dorf Ahmedpur, beobachtet man eine<br />
wachsende Zuneigung zu Götterbil<strong>der</strong>n. Caitanya gilt bei den <strong>Baul</strong>s als die Inkarnation von<br />
Krishna und seiner Geliebten Radha in einer Person. Purnadas <strong>Baul</strong> und seine<br />
Glaubensbrü<strong>der</strong> vollziehen vor dem Bildnis Caitanyas Gottesverehrung auf traditionelle<br />
Weise, d. h. mit Speise, Blumen, Weihrauch etc. Sie nennen diese Art <strong>der</strong> Verehrung Malsabhog,<br />
die Opferung <strong>der</strong> Speise im Tontopf. Das Malsa-bhog wird zu verschiedenen<br />
Anlässen praktiziert, z. B. bei <strong>der</strong> Kanthi-badal-Zeremonie und <strong>der</strong> Totenzeremonie.<br />
<strong>Die</strong> Melas, d. h. Treffen, sind die wichtigsten Feste <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s. Das größte Treffen ist das<br />
Jyadeva-kenduli-mela, das gegen Mitte Januar im Dorf Kenduli, auch Kenduvilla genannt,<br />
stattfindet. Der Lyriker Jayadeva (ca. 1100 n. Chr.) wird von den <strong>Baul</strong>s als einer ihrer Vorgänger<br />
verehrt. Jayadeva verfaßte den Gedichtband Gitagovinda, <strong>der</strong> über die göttliche<br />
Liebe zwischen Krishna und Radha berichtet. <strong>Die</strong>se Gedichte werden in vielen Vishnuitischen<br />
Tempeln, beson<strong>der</strong>s in den Tempeln <strong>der</strong> Caitanya-orientierten Vaisnavs, gesungen.<br />
Jayadeva lebte und verfaßte Gitagovinda in Kenduli. Im Dorf Kenduli erlangte Jayadeva die<br />
Erleuchtung. Einmal im Jahr treffen sich die <strong>Baul</strong>s hier, um durch Gesang und gemeinsame<br />
Mahlzeit Jayadeva ihre Verehrung entgegenzubringen. <strong>Die</strong> gemeinsame Mahlzeit, an <strong>der</strong><br />
alle Anhänger Caitanyas unabhängig von ihrer Kastenzugehörigkeit teilnehmen, wurde von<br />
Caitanya selbst eingeführt. Er wollte damit gegen die Bestimmung <strong>der</strong> Dharma-shastras, die<br />
den Angehörigen <strong>der</strong> drei oberen Kasten eine gemeinsame Mahlzeit mit den Shudras und<br />
den Kastenlosen verbieten, da sie sonst dadurch unrein werden, demonstrieren. Unter<br />
Caitanyas Anhängern befanden sich Angehörige aller Kasten, daher war die gemeinsame<br />
Mahlzeit sinnvoll. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s aber sind selbst Shudras und Kastenlose. Wenn sie gemeinsam<br />
essen, dann speisen sie unter sich. Hier entfällt <strong>der</strong> Grund, warum Caitanya wollte, daß seine<br />
Anhänger miteinan<strong>der</strong> essen. <strong>Die</strong> gemeinsame Mahlzeit ist jedoch eine Tradition <strong>der</strong><br />
Caitanya-orientierten Vaisnavs und wird auch heute noch praktiziert. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s pflegen<br />
diese Tradition als Caitanya-orientierte Vaisnavs. Weitere nennenswerte Treffen sind das<br />
Kartabhaja-mela, das Paush-mela und das Magh-mela. Das Kartabhaja-mela ist ein<br />
religiöses Treffen <strong>der</strong> <strong>Religion</strong>sgemeinschaft <strong>der</strong> Kartabhajas, Verehrer des Gurus. Es findet<br />
82
im Monat Phalgun (Februar-März) im Dorf Ghosapara, Distrikt 24 Pargans, statt. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s<br />
sind hier zahlende Gäste. Das Paush-mela und das Magh-mela sind zwei säkulare Feiern, die<br />
von <strong>der</strong> Visva-Bharati University im Ort Santiniketan organisiert werden. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sind<br />
hier geladene Gäste, <strong>der</strong>en Übernachtung und Verpflegung die Universität übernimmt. Auch<br />
beim Kartabhaja-mela, beim Paush-mela und beim Magh-mela bestehen die religiösen<br />
Aktivitäten <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s im Singen und in <strong>der</strong> gemeinsamen Mahlzeit, wie beim Jayadevakenduli-mela.<br />
Ein wichtiges Ritual <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> ist <strong>der</strong> Mahotsab, die große Feier. Das Fest soll<br />
möglichst mehrmals, mindestens aber einmal im Jahr im Andenken an den Urguru Caitanya<br />
gefeiert werden. Da die <strong>Baul</strong>s selbst die Kosten <strong>der</strong> Feier tragen, feiern sie nur einmal im<br />
Jahr den Mahotsab. Neben dem Gesang und <strong>der</strong> gemeinsamen Mahlzeit spielen hier<br />
Fachgespräche eine wichtige Rolle. Da die <strong>Baul</strong>s hier ungestört ihre Fachgespräche führen<br />
wollen, dürfen bei <strong>der</strong> großen Feier nur <strong>Baul</strong>s anwesend sein. <strong>Die</strong> Fachgespräche verleihen<br />
dem Fest den Charakter einer Konferenz.<br />
Etwas eigenartig ist das Ritual Caricandra, das Ritual <strong>der</strong> vier Monde. <strong>Die</strong> vier Monde sind<br />
Stuhl, Urin, Ausfluß <strong>der</strong> Partnerin und Samen des <strong>Baul</strong>s, die jeweils mit den vier Elementen<br />
Erde, Wasser, Feuer und Wind verglichen werden. Das Ritual besteht darin, daß die <strong>Baul</strong>s<br />
zusammen mit ihrer Partnerin die vier Monde einnehmen bzw. auf den Körper schmieren.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s glauben, um Gott zu erleben müsse man den Tantrayoga üben. Um den Tantrayoga<br />
zu üben, benötigen sie eine Partnerin. Der Yoga muß während <strong>der</strong> Menstruation <strong>der</strong><br />
Partnerin praktiziert werden. <strong>Die</strong> Übung, die mit <strong>der</strong> sexuellen Vereinigung mit <strong>der</strong><br />
Partnerin anfängt, endet mit dem Gotteserlebnis des Übenden, so glauben die <strong>Baul</strong>s. Da <strong>der</strong><br />
Tantrayoga den Geschlechtsverkehr einbezieht, wird er in <strong>der</strong> Gesellschaft heftig kritisiert<br />
und als Sex im Namen <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> angesehen.<br />
<strong>Die</strong> vorliegende Studie stellt den Hintergrund und die heutige Lage <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong><br />
dar. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> wird sich in Zukunft sicherlich von ihrem heutigen Zustand<br />
unterscheiden. Denn Indien strebt nach <strong>der</strong> Industrialisierung. <strong>Die</strong> Industrialisierung wird<br />
auf das Kastensysten einen großen Einfluß ausüben, was schon heute offensichtlich wird.<br />
Als Beispiel können hier die Essensgewohnheiten in <strong>der</strong> Stadt genannt werden. <strong>Die</strong> Dharmashastras<br />
verbieten den drei oberen Kasten, mit den Shudras und den Kastenlosen zu<br />
speisen. In den Großstädten in Indien wird diese Regel im öffentlichen Leben oft nicht eingehalten<br />
werden. <strong>Die</strong> große Arbeitslosigkeit zwingt die Angehörigen <strong>der</strong> oberen Kasten,<br />
eine für die Shudras bestimmte Arbeit zu verrichten. Brahmanen, Kshatriyas und Vaishyas,<br />
die solche Tätigkeiten ausüben, essen auch in <strong>der</strong> Mittagspause zusammen mit ihren Kollegen<br />
aus <strong>der</strong> Shudra-Kaste und mit den Kastenlosen. Das strenge Kastensystem ist aber eine<br />
<strong>der</strong> Ursachen, warum es zur Bildung <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> kam. Da die Shudras und Kastenlosen<br />
durch die Kastenordnung vom klassischen Hinduismus ausgeschlossen wurden,<br />
mußten sie für sich selbst eine <strong>Religion</strong>sgemeinschaft bilden, damit sie ihren Hinduismus<br />
praktizieren konnten. Löst sich aber das Kastensysten durch die Industrialisierung auf, was<br />
wünschenswert ist, wird es für die Shudras und Kastenlosen nicht mehr nötig sein, sich außerhalb<br />
des klassischen Hinduismus zu organisieren. In diesem Falle werden sie den Hinduismus<br />
so ausüben, wie die an<strong>der</strong>en Kasten es tun. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> wird dann eine<br />
weitere Richtung des klassischen Hinduismus darstellen.<br />
83
<strong>Die</strong> Theorie<br />
<strong>Die</strong> Untersuchung führt zu folgen<strong>der</strong> Theorie. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s, welche Shudras und Kastenlose<br />
sind und deshalb vom klassischen Hinduismus ausgeschlossen bleiben, haben eine selbständige<br />
religiöse Strömung im Rahmen des großen Überbegriffs Hinduismus entwickelt.<br />
<strong>Die</strong>se Strömung wird von <strong>der</strong> Autorin als die <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> bezeichnet.<br />
<strong>Die</strong> zwei Eckpfeiler dieser <strong>Religion</strong> sind <strong>der</strong> Caitanya-Vaishnavismus und das Tantra. <strong>Die</strong><br />
<strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> nimmt zwar Inhalte vom klassischen Hinduismus, ordnet<br />
sich aber ihm nicht unter. Sie legt die Aussagen bzw. die Offenbarungen des klassischen<br />
Hinduismus nach eigenem Verständnis aus, was für einen Außenstehenden nicht zwingend<br />
ist. Auch die Moral dieser <strong>Religion</strong> ist eine an<strong>der</strong>e als sie in <strong>der</strong> Manu-smriti, dem maßgebenden<br />
Gesetzbuch <strong>der</strong> Hindus, dargestellt wir. Denn die Moral <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<br />
<strong>Gemeinschaft</strong> legt nicht die klassische hinduistische Überzeugung zugrunde, daß die Interessen<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft in den eigenen Handlungen <strong>der</strong>art zu berücksichtigen ist, daß im<br />
extremen Fall sogar die gesellschaftlichen Interessen zu Ungunsten eigener Interessen geför<strong>der</strong>t<br />
werden sollen (vgl. Manusmriti, III und X), son<strong>der</strong>n vertritt die Moral <strong>der</strong> individuellen<br />
Glückseligkeit. <strong>Die</strong> individuelle Glückseligkeit ist im individuellen Gotteserlebnis zu<br />
finden. Jedes Mittel, das dieses Zweck erfüllt, ist <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> recht.<br />
Deshalb versteht sie die Benutzung <strong>der</strong> Partnerin beim Tantrayoga nicht als einen<br />
moralischen Verstoß gegen die allgemeine Wertvorstellung. <strong>Die</strong> <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong><br />
ist auch eine Befreiungsbewegung. Im Gegensatz zu einer politischen Befreiungsbewegung<br />
versucht sie nicht, die Bedingungen im Umfeld zu verän<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n für<br />
ihre Anhänger eine subjektive Welt zu schaffen, in <strong>der</strong> sie sich geborgen fühlen und die<br />
menschliche Würde bewahren konnen. Daher hat für die <strong>Baul</strong>s ihre <strong>Religion</strong> einen beson<strong>der</strong>en<br />
Stellenwert. Ohne ihre <strong>Religion</strong> könnten sie sich nicht als eine beson<strong>der</strong>e Gruppe organisieren<br />
und wären daher von den Slumbewohnern nicht zu unterscheiden. Ihre <strong>Religion</strong><br />
gibt ihnen die Identität, die sie von den gewöhnlichen Armen, denen die indische Gesellschaft<br />
keine Achtung entgegenbringt, unterscheiden.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> ist ein Objekt, das die subjektive Welt einer <strong>Religion</strong>sgemeinschaft darstellt.<br />
Sie möchte es ihren Anhängern ermöglichen, das, was ihrer Meinung nach göttlich ist,<br />
in ihrem Körper und in dieser Welt zu erfahren. <strong>Die</strong>se <strong>Religion</strong> entspringt aus dem tiefen<br />
Glauben, daß <strong>der</strong> Mensch eigentlich zu einer höheren Gattung gehört und vergöttlicht so<br />
den Menschen. Sie meint, daß <strong>der</strong> Sinn des menschlichen Lebens nicht im menschlichen,<br />
son<strong>der</strong>n im spirituellen Leben besteht und setzt dies als das Ziel des Menschenlebens.<br />
84
Selbstdarstellung<br />
Anhang: <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong><br />
1<br />
Welche Lebensart wird als<br />
<strong>Die</strong> Lebensform eines <strong>Baul</strong>s bezeichnet?<br />
Was ist (sein) Leben, was ist er, wo ist er geboren?<br />
Mit physischer und geistiger Übung<br />
Streben die <strong>Baul</strong>s<br />
Das zu erlangen, was die Ursache des Lebens ist;<br />
Menschen, welche die höchste Wahrheit<br />
Des Lebens suchen,<br />
Werden <strong>Baul</strong>s genannt.<br />
Das Leben selbst ist <strong>der</strong> Pilgerort,<br />
(Das Leben selbst ist) die <strong>Religion</strong> und <strong>der</strong> Weg -<br />
<strong>Die</strong>s ist die Ansicht <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s.<br />
Manche sagen: „<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sind Materialisten.<br />
Sie verehren Gott<br />
Nicht nach traditionellen Methoden.<br />
Sie suchen auch nicht<br />
Nach <strong>der</strong> Befreiung (vom Kreislauf <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten).“<br />
Der bescheidene Duddu antwortet darauf:<br />
„Das Leben selbst ist (die Manifestation)<br />
Der höchsten Warhheit.“<br />
Kritische Lie<strong>der</strong><br />
Über die heiligen Schriften und Rituale des klassischen Hinduismus<br />
2<br />
Gott Hari hat sich als Mensch manifestiert.<br />
Mit festem Glauben findet man seine Addresse.<br />
Je mehr du die Veden und den Vedanta liest,<br />
Um so größer wird dein Zweifel.<br />
3<br />
Du hast die vier Veden, die vierzehn heiligen Schriften<br />
<strong>Die</strong> neue Grammatik und Regeln für Komposita gelesen,<br />
Aber nicht die Wahrheit erkannt.<br />
So bleibst du im Kreis <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten gefesselt.<br />
4<br />
<strong>Die</strong> Veden kennen<br />
Gottes wahre Natur nicht,<br />
Wie Gott in diesem menschlichen Körper<br />
Sein Spiel spielt.<br />
85
5<br />
<strong>Die</strong> Veden lehren nicht<br />
<strong>Die</strong> Gottesverehrung <strong>der</strong> Liebe.<br />
Verrichtet man jeden Tag die Gottesverehrung<br />
(Nach vedischen Anweisungen),<br />
So erlangt man (dadurch) nur vergängliche Freude.<br />
6<br />
Hier habe ich dieses Glück erlangt,<br />
Wo soll ich noch hin?<br />
Ich habe ein zerbrochenes Boot gekriegt,<br />
Mein Leben vergeht beim Wasserschöpfen.<br />
„Wem gehöre ich, wer gehört mir“<br />
(<strong>Die</strong>se Lehre <strong>der</strong> Veden) läßt das Wahre nicht erkennen.<br />
<strong>Die</strong> Wolken <strong>der</strong> vedischen Lehre verdunkeln (den Himmel),<br />
<strong>Die</strong> Sonne (des Wissens) scheint nicht.<br />
7<br />
Gott Hari manifestiert sich in mir.<br />
Mit <strong>der</strong> Hingabe deines Herzens<br />
Wirst du seine Adresse<br />
Herausfinden.<br />
Je mehr du die Veden und den Vedanta liest,<br />
Um so größer wird dein Zweifel.<br />
8<br />
Was wissen die Veden vom tiefen Sinn<br />
des Spiels Gottes,<br />
Das er in diesem (menschlichen) Körper spielt?<br />
<strong>Die</strong> Veden begründen alles mit fünf Elementen<br />
Und die Gelehrten predigen (diese Theorie).<br />
<strong>Die</strong> Wahrheit über den Menschen<br />
Ist die Essenz allen Spiritualismus.<br />
<strong>Die</strong> Liebe kann nicht durch die Veden gelernt werden.<br />
9<br />
<strong>Die</strong> heiligen Schriften beinhalten<br />
Alle (Instruktionen).<br />
Sie sind mit (großer) Konzentration<br />
Geschrieben.<br />
Aber, wo ist die Tür meines Herzens<br />
Und wo wohnt <strong>der</strong> König meines Herzens?,<br />
(Das sagen sie nicht).<br />
Ich schleppe die Last <strong>der</strong> Bücher<br />
Mit mir herum<br />
Und vergesse mich selbst dabei.<br />
10<br />
(Wisse,) daß die heiligen Schriften,<br />
Pilgerfahrt, Rechtschaffenheit etc.<br />
86
Nur Äußerlichkeiten<br />
Der eigentlichen Wahrheit sind.<br />
Der Kern <strong>der</strong> Wahrheit lautet:<br />
Der Mensch ist <strong>der</strong> (wahre) Schatz.<br />
Keine Zeremonien, keine Übungen,<br />
Keine Arten <strong>der</strong> Gottesverehrung<br />
O<strong>der</strong> <strong>der</strong> (Namens-)rezitationen mit Hilfe eines Rosenkranzes,<br />
Haben einen höheren Wert<br />
Als <strong>der</strong> Mensch.<br />
11<br />
Durch welche spirituellen Übungen kann ich<br />
Den Tod beenden?<br />
<strong>Die</strong> <strong>Religion</strong> und das Wesen <strong>der</strong> Veden<br />
Führen doch nur zum Todesgott.<br />
Das Schenken, das Gelübde,<br />
<strong>Die</strong> asketischen Übungen<br />
Und die Feueropferzeremonie<br />
Erzeugen zwar Ergebnisse guter Taten,<br />
Aber sobald die Ergebnisse ausgelebt sind,<br />
Muß man zurückwan<strong>der</strong>n, zurückkommen.<br />
12<br />
Du hast die lebendige Göttin Kali in deinem Hause<br />
Nicht beachtet.<br />
Du verehrst die Figur (<strong>der</strong> Göttin Kali im Tempel),<br />
Und bist dadurch blind geworden.<br />
Gott im Menschen kennst du nicht,<br />
Und verehrst die Puppe aus Stroh.<br />
Sage Bru<strong>der</strong>, sage, o mein Lieber,<br />
Was hast du dadurch erreicht?<br />
Wie dumm sind doch die Hindus,<br />
Daß sie nicht wissen, wo die Göttin tatsächlich wohnt!<br />
Sie verehren Tag und Nacht die Götterfigur<br />
Vergeblich!<br />
13<br />
Um ihn zu erlangen,<br />
Verrichten manche Leute Opferzeremonien<br />
und machen Pilgerfahrten;<br />
O<strong>der</strong> sie fasten,<br />
Manch an<strong>der</strong>e üben Askese,<br />
An<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong>um essen nur vegetarisch.<br />
Ich habe in meinem Herzen hierüber<br />
Nachgedacht.<br />
Hari selbst hat sich<br />
Als die Welt manifestiert.<br />
Ob es <strong>der</strong> Ozean ist o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Tropfen,<br />
In allem zeigt er sich mit seiner Schönheit.<br />
87
14<br />
<strong>Die</strong> anstrengende Pilgerfahrt<br />
Ist nur eine Verwirrung des Geistes.<br />
Kann die spirituelle Übung<br />
Ohne Liebe zu Govinda erfolgreich werden?<br />
Über das Kastensystem<br />
15<br />
In erster Linie ist <strong>der</strong> Mensch ein Mensch,<br />
Seine <strong>Religion</strong>s- und Kastenzugehörigkeit sind zweitrangig.<br />
Wären die <strong>Religion</strong>s- und Kastenzugehörigkeiten erstrangig,<br />
Hätte auch ein Säugling sie erkannt.<br />
Das, was das Kind in seiner Umgebung sieht und hört,<br />
Lehrt es, ob es ein Hindu o<strong>der</strong> Muslim o<strong>der</strong> Christ ist.<br />
Es lernt zu unterscheiden und in seinem Herzen werden<br />
Gewalttätigkeit und Haß geboren.<br />
Mit (Gewalttätigkeit und Haß) wird es nicht geboren.<br />
Das Kind kennt den Unterschied<br />
Zwischen den Berührbaren und Unberührbaren<br />
O<strong>der</strong> dem Richtigen und Falschen nicht.<br />
Bru<strong>der</strong>, es lernt, was man ihm beibringt<br />
Wenn es älter wird.<br />
<strong>Die</strong> Kasten und <strong>Religion</strong>en sind<br />
<strong>Die</strong> Kreationen <strong>der</strong> Menschheit.<br />
Gott o<strong>der</strong> die Natur hat sie<br />
Nicht erschaffen.<br />
Der bescheidene Duddu sagt: ‘Wann werden die Menschen<br />
Sich umarmen?’<br />
16<br />
Bru<strong>der</strong>, wen verwirfst du,<br />
Weil er aus <strong>der</strong> niedrigeren (Kaste) stammt?<br />
Vielleicht ist Kanai aus Vraja<br />
In diesem Menschen erschienen.<br />
<strong>Die</strong> Tage, in denen du die Menschen als Shudra,<br />
Candal o<strong>der</strong> Bagadi (Kastenlosen in West Bengal) bezeichnest,<br />
Sind gezählt.<br />
<strong>Die</strong>se Tage werden bald<br />
Zur Vergangenheit gehören.<br />
Ich sehe es deutlich.<br />
Der, den du als niedrig und wertlos bezeichnest<br />
Und angeekelt von dir wegschiebst,<br />
Wird heute oben sitzen.<br />
Ich sehe es deutlich.<br />
Das Kaliyuga ist gekommen.<br />
Jetzt werden die Großen und Kleinen gleich.<br />
<strong>Die</strong>s hofft Duddu<br />
Und vergießt ständig Freudentränen.<br />
88
17<br />
Man hat das Kastensystem erschaffen<br />
Und dadurch Indien<br />
Zu einem Krematorium gemacht.<br />
Alle Kayasthas ( d. h. Kshatriya) und Brahmanen<br />
Halten nur noch das (Kastensystem)<br />
Für die größte Wahrheit.<br />
Ob Shudras, o<strong>der</strong> Buddhisten, o<strong>der</strong> Kastenlose o<strong>der</strong> Muslime,<br />
Alle sind doch Kin<strong>der</strong> einer Mutter (gemeint ist Indien).<br />
<strong>Die</strong> Seele all dieser (Menschen)<br />
Sind mit dem Boden Indiens verbunden.<br />
Aber das sieht keiner.<br />
Man hat den Zaun <strong>der</strong> Kasten gezogen<br />
(Und damit die Menschen voneinan<strong>der</strong> getrennt),<br />
Und so Gott von seiner Heimat vertrieben.<br />
Man hat den Menschen beiseite gelegt.<br />
Und nun verehren sie die Götterbil<strong>der</strong>.<br />
18<br />
O mein Herz, lasse dich nicht vom Kastensystem<br />
Beeinflussen.<br />
<strong>Die</strong>s wird nur deinen Dharma, dein Karma<br />
Und den Sinn deines Lebens vernichten.<br />
<strong>Die</strong> Teufel, unehrliche Leute<br />
Und die Barbaren haben sich zusammengetan<br />
Und das Kasten- und Gotra-system erfunden,<br />
Um die Schöpfung (Gottes) zu zerstören.<br />
Sie haben die Leute eingewickelt,<br />
<strong>Die</strong> Betrüger.<br />
Sie treiben das Geschäft mit dem Kastensystem.<br />
<strong>Die</strong>s ist nicht schwer zu verstehen.<br />
Ein Gott, <strong>der</strong> das Kastensystem vorschreibt,<br />
Ist kein Gott, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Teufel.<br />
Der bescheidene Duddu singt:<br />
„Wann wird diese Unsitte vorbei sein?“<br />
19<br />
Nur weil (Indien) mit dem Kastensystem<br />
Verseucht war,<br />
Konnten die Englän<strong>der</strong> in diesem Land<br />
König werden.<br />
Hindus, Buddhisten, Jainas, Muslime<br />
Haben sich gegenseitig gehaßt und sind deshalb umgekommen.<br />
Deshalb konnte <strong>der</strong> christliche Missionar<br />
(Hier) die <strong>Religion</strong> Christi verbreiten.<br />
Millionen In<strong>der</strong><br />
Haben sich miteinan<strong>der</strong> nicht vertragen.<br />
Deshalb konnte nur eine Handvoll Englän<strong>der</strong><br />
sich hier ausbreiten.<br />
89
20<br />
Alle in dieser Welt fragen<br />
Nach <strong>der</strong> Kastenzugehörigkeit Lalanas.<br />
Lalana sagt: ’Woran sieht man<br />
<strong>Die</strong> Kaste (eines Menschen)?<br />
Ich habe es nicht<br />
Feststellen können.’<br />
Durch Beschneidung wird man zum Muslim,<br />
(Aber) welche Bestimmung gibt es für die Frauen?<br />
<strong>Die</strong> Opferschnur weist den Brahmanen aus,<br />
Wie erkenne ich (aber) die Brahmanin?<br />
Der eine trägt die (Gebets)kette (<strong>der</strong> Hindus),<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e eine Gebetskette (<strong>der</strong> Muslime)<br />
Kann dies sie etwa in verschiedenen Kasten einordnen?<br />
Wer trägt beim Gehen o<strong>der</strong> Kommen<br />
Das Kastenzeichen?<br />
Wenn das (Regen)wasser in den Brunnen fällt,<br />
Heißt es Brunnenwasser,<br />
Wenn das (Regen)wasser in den Ganges fällt,<br />
Heißt es Gangeswasser.<br />
(Aber) ursprünglich waren sie das gleiche Wasser,<br />
Nicht (zwei) verschiedene.<br />
Nur <strong>der</strong> Behälter macht sie zu verschiedenen (Wassern).<br />
<strong>Die</strong> Welt redet von <strong>der</strong> Kaste.<br />
Hier und da sind die Menschen stolz auf ihre Kaste.<br />
Lalan hat seine Kastenzugehörigkeit<br />
Auf sieben Märkten verkauft.<br />
21<br />
Jagannatha, Gott <strong>der</strong> Rechtschaffenheit,<br />
Kümmert sich nicht darum,<br />
Ob einer ein Kastenhindu o<strong>der</strong> ein Kastenloser ist.<br />
Er ist dem Gottergebenen untergeben.<br />
Alle, die den Kastenunterschied machen,<br />
Und korrupt sind,<br />
Dürfen ihm nicht näher kommen.<br />
Wenn ich meine Kaste nicht hinwerfe,<br />
Bekomme ich nicht Hari.<br />
Was soll ich da auf meine Kaste stolz sein?<br />
Was soll ich da sagen: „Faß mich nicht an ?“<br />
Lalan sagt: „Wenn ich die Kaste<br />
In meine Hände bekäme,<br />
Verbrennte ich sie im Feuer.“<br />
Über die Wirtschaftslage, Gesellschaft und Regierung<br />
22<br />
Hari, wann habe ich denn Zeit<br />
Deinen Namen zu rezitieren?<br />
90
Ich bin (ständig) beschäftigt<br />
Mit den an<strong>der</strong>en Sachen.<br />
Ich nehme mir vor, früh am Morgen<br />
Deine Glorie zu singen.<br />
(Aber) da wacht <strong>der</strong> Junge auf<br />
Und schreit gepeinigt durch den Hunger.<br />
Und sobald ich mich<br />
Mit dem Rosenkranz hinsetze,<br />
O lieber Hari, Kommt die Frau<br />
Und das (hübsche) Mondgesicht redet<br />
Wie ein Wasserfall.<br />
Sie sagt: „O Lakshmikanta, <strong>der</strong> Reis ist alle.“<br />
Und ich lege sofort den Rosenkranz beiseite.<br />
Ich denke, beim Essen werde ich (lautlos)<br />
Deine Namen rezitieren.<br />
Nun höre ich aber<br />
Den Gläubiger kommen<br />
Und aus ist es mit dem Essen.<br />
23<br />
Alle wollen nur das Geld.<br />
Ein Mann ohne Geld ist unwichtig.<br />
Ohne das Geld<br />
Ist es schwierig, auf <strong>der</strong> Welt zu leben.<br />
<strong>Die</strong> Mutter sagt am Ende des Monats:<br />
„Du hast mir die hun<strong>der</strong>t Rupien<br />
Nicht gegeben.<br />
(Also) darfst du (hier) nicht mehr wohnen.“<br />
Hier und dort wan<strong>der</strong>e ich<br />
Und suche Geld, Geld (und) Geld!<br />
Ich gehe zum Flußufer<br />
Und denke: „Ich bringe mich um.“<br />
24<br />
Wer weiß, was unser Karma fruchtet!<br />
Der Markt ist rationiert.<br />
Das Öl ist rationiert,<br />
Der Zucker ist rationiert,<br />
<strong>Die</strong> Regierung rationiert sogar die Menschen!<br />
Das Fleisch kostet zehn Rupien das Kilo.<br />
Der Fisch sogar fast zwölf (Rupien).<br />
Das Getreide kriegt man nicht unter sechs (Rupien das Kilo).<br />
Als <strong>der</strong> Brahmane sah, daß ein paar Eier acht Paisa kostet,<br />
Hat er sich selbst Hühner (zum Eierlegen) besorgt !<br />
Wir leben in einem unabhängigen Land<br />
Und essen rationiertes Essen!<br />
Einige fahren Motorrä<strong>der</strong>,<br />
Und die an<strong>der</strong>en gehen zu Fuß!<br />
Einige fahren Autos,<br />
Und die an<strong>der</strong>en gehen zu Fuß!<br />
91
Der traurige Hari sagt:<br />
„Woher diese Mißwirtschaft?<br />
Welche Krankheit hat uns befallen?“<br />
25<br />
Der modebewußte Herr Ray,<br />
Trägt eine Armbanduhr.<br />
Seine Haare hat er zurückgekämmt.<br />
Aber nur drei Paisa klingeln in seiner Hosentasche!<br />
Obwohl sein Magen knurrt,<br />
Hält er eine Zigarette zwischen seinen Lippen!<br />
Er arbeitet in einem Büro für 120 Rupien im Monat,<br />
Und kann nicht damit seine neun Töchter und drei Söhne füttern.<br />
Er ging zu seinen Schwiegereltern.<br />
Aber auch dort war <strong>der</strong> Reistopf leer!<br />
Er sah sogar seinen Schwiegervater nicht.<br />
Man sagte ihm, daß er nicht zu Hause war!<br />
26<br />
Brü<strong>der</strong>, seht euch nur den Markt an!<br />
Er ist voll mit ausländischen Gütern!<br />
Unsere Kauf- und Tauschgeschäfte<br />
Und die Verbesserung <strong>der</strong> Wirtschaft<br />
Bestimmen die Fremden.<br />
Wir hatten unser tolles Geschirr<br />
Aus Messing und Bronze<br />
Wir behalfen uns mit Bananenblättern.<br />
Nun haben die Emailwaren<br />
Uns den Kopf verdreht,<br />
Nun blüht das Emailgeschäft.<br />
Der Wun<strong>der</strong>stein (parash-pathar) wird hier<br />
Nicht mehr bewun<strong>der</strong>t.<br />
<strong>Die</strong> Tassen sind angeschlagen.<br />
Instabile, wertlose, leichte Sachen<br />
Werden für den doppelten Preis gekauft.<br />
Zu Hause gibt es nichts zu beißen,<br />
Aber schick angekleidet<br />
Laufen sie hier und dort.<br />
Ach! <strong>Die</strong> Armut des Vaterlandes nimmt nicht ab,<br />
Aber man kauft sich<br />
<strong>Die</strong> aus dem Westen importierten Gegenstände<br />
Und Kleidung.<br />
Lieber nehme ich die min<strong>der</strong>wertigen Waren<br />
Aus dem Vaterland<br />
Als die hochwertigen Produkte<br />
Aus dem Ausland.<br />
(<strong>Baul</strong>) Visarada kann es nicht lassen,<br />
Er weint bitterlich<br />
Und lebt irgendwie.<br />
92
Erläuterung: <strong>Die</strong> Wohlhabenden im Bundesstaat West Bengal benutzen das traditionelle<br />
Geschirr aus Messing und Bronze. <strong>Die</strong> Armen dagegen helfen sich mit Geschirr aus Ton,<br />
Bananenblättern und Blättern aus Nutzholzbäumen. Da Messing und Bronze intensive<br />
Pflege brauchen, neigen heutzutage die Wohlhabenden dazu, anstatt dieser Metalle<br />
rostfreien Stahl zu benutzen. Der Wun<strong>der</strong>stein (parash-pathar) ist ein Märchenstein. Alles,<br />
was er berührt, wird zum Gold.<br />
27<br />
O Brü<strong>der</strong>, warum habt ihr euch fortwährend so verän<strong>der</strong>t?<br />
O ihr seid in <strong>der</strong> arischen Linie geboren<br />
Und habt trotzdem alles vergessen!<br />
Wie ist denn das bloß geschehen,<br />
Daß ihr Wissen und Intelligenz<br />
Verloren habt?<br />
Ihr habt euere eigene Kultur verworfen,<br />
Aber was habt ihr dafür gekriegt?<br />
Ihr verbrachtet Tag und Nacht im sinnlichen Genuß.<br />
In eurem Tanz, Gesang und Theater<br />
Zeigt ihr euch merkwürdig (fremd).<br />
Unnütz lauft ihr in Gruppen herum<br />
Und kaut dabei Betelblätter.<br />
Nicht einmal wenn ihr den Tag voll ausgelebt habt,<br />
Denkt ihr an euer Vaterland!<br />
Der einheimische Weber<br />
Und <strong>der</strong> Tischler sterben vor Hunger,<br />
Aber ihr sucht nur ausländische Waren.<br />
Trotz <strong>der</strong> Geburt in <strong>der</strong> arischen Linie<br />
Habt ihr nicht gelernt, euer Vaterland zu lieben.<br />
Du zeigst dich stolz,<br />
Daß du englische Romane liest.<br />
Und verwirfst die Literatur,<br />
Welche die arischen Weisen verfaßt haben.<br />
Wir weinen bitterlich,<br />
Wenn wir diese deine Verhaltensweise sehen.<br />
Erläuterung: In sogenannten gebildeten Schichten Indiens beobachtet man die Nachahmung<br />
<strong>der</strong> westlichen Konsumkultur, welche die In<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> eigentlichen europäischen Kultur<br />
verwechseln. <strong>Die</strong>s wird in den Hindi-Filmen, die nach dem Hollywood-Muster in Mumbai,<br />
Indien gedreht werden, am deutlichsten sichtbar.<br />
28<br />
Das Volk stirbt erbarmungslos!<br />
Kraftlos durch die Krankheit, leblos durch die Steuern<br />
Und erledigt durch das Gerichtsverfahren -<br />
<strong>Die</strong>s ist sein Leben.<br />
29<br />
<strong>Die</strong> Regierenden meinen mit Stolz,<br />
Daß sie zivilisiert sind.<br />
Warum aber herrscht dann dieser Zustand?<br />
93
Mutter, ich habe Angst in diesem Kaliyuga,<br />
Daß sie mich vielleicht verhaften, (wenn ich sie kritisiere)<br />
Und ins Gefängnis sperren, wie einen <strong>Die</strong>b.<br />
Aber Mutter, wem außer dir<br />
Werde ich den Schmerz meines Herzens erzählen?<br />
Ein Lied über den Reformer Rammohan Roy (1772-1833)<br />
30<br />
Wohin bist du gegangen, Ramamohana,<br />
O du, <strong>der</strong> Schmuck Indiens?<br />
Denke ich an deine Tugenden,<br />
So wird mein Herz trübe.<br />
Du warst rechtschaffen, reinherzig,<br />
Versiert in verschiedenen heiligen Schriften,<br />
Weise, reich an Liebe,<br />
Ein großer Dichter und (seelisch) verwandt mit allen.<br />
Du hast mit großem Elan gearbeitet,<br />
Um die Witwenverbrennung zu beenden<br />
Und so dem schwachen Geschlecht zu helfen<br />
Und um die Misere Indiens zu beseitigen.<br />
Um den Dharma zu üben<br />
Hast du zu Fuß den Himalaya überquert,<br />
Und so dem Menschen Unmögliches vollbracht.<br />
Um den Dharma zu verbreiten,<br />
Hast du das Meer überquert<br />
Und im Ausland ohne es zu bedauern dein Leben geopfert.<br />
Eines Tages werden die Menschen in aller Welt<br />
Liebevoll deinen liebgewordenen Namen erwähnen.<br />
Ein Lied über die Bauern in West Bengal<br />
31<br />
O du mein goldenes Bengal!<br />
O du Bauer, mein Freund, mein Bru<strong>der</strong>!<br />
O du Bauer, mein Bru<strong>der</strong>!<br />
Unser Leben rettet<br />
Deine goldene Ernte.<br />
Im Sommer, in <strong>der</strong> Regenzeit,<br />
Im Herbst und Winter<br />
Bist du nach Meinung aller Bürger<br />
Der Held.<br />
Nirgends auf <strong>der</strong> Welt<br />
Kann man ohne dich leben.<br />
In deiner Tat und in deiner Rechtschaffenheit<br />
Bist du groß.<br />
Wir nehmen uns ein Beispiel an dir<br />
Und schreiten voran.<br />
94
Ein Lied, das den Weltgeist verkündet:<br />
32<br />
Wir sind die <strong>Baul</strong>s aus (West) Bengal.<br />
Wir singen für alle Menschen,<br />
Wir <strong>Baul</strong>s aus (West) Bengal<br />
<strong>Die</strong> blaue Donau ist meine Jamuna,<br />
Und <strong>der</strong> Hudson mein Vrindavan.<br />
Du wirst mich in Kalkutta sehen,<br />
Und in Toronto und London<br />
Wirst du meine Stimme hören.<br />
Wir sind die <strong>Baul</strong>s aus (West) Bengal.<br />
Derselbe Mensch hat mehrere Namen,<br />
Und <strong>der</strong>selbe Spieler mehrere Spiele.<br />
<strong>Die</strong> Liebe ist ein Wun<strong>der</strong>,<br />
Womit man das Leben gewinnen kann.<br />
Höre meine Stimme!<br />
Wir sind die <strong>Baul</strong>s aus (West) Bengal.<br />
Über Caitanya<br />
In Anlehnung an Krishnas 108 Namen, nennen die Caitanya-Vaisnavs in West Bengal<br />
Caitanya mit 108 verschiedenen Namen. <strong>Die</strong> beliebtesten darunter sind: Gaur, Gauranga,<br />
Gaur-cãd, Gaur-candra, Gaur-hari, Gora, Gora-cãd, Maha-prabhu, Shaci-nandan, Shricaitanya<br />
etc.<br />
33<br />
O du Kanai, warum bist du als Gaur geboren?<br />
O dein Kopfschmuck, die Pfauenfe<strong>der</strong>,<br />
Deine schiefe lässige Haltung,<br />
<strong>Die</strong> Krone und die Flöte, O Kanai, wo hast du sie versteckt?<br />
Im Satyayuga hast du als Shri-hari<br />
So viele Spiele gespielt.<br />
O, du bist für deinen Anhänger Prahlada<br />
Als Halb-Mann-Halb-Löwe (nara-simha) erschienen<br />
Und seinen Vater getötet.<br />
Im Tretayuga bist du als Shri-rama geboren<br />
(Und hast den Dämon) Ravana getötet.<br />
(Du) hast<br />
Zusammen mit den menschenähnlichen Affen<br />
Den Ozean gebändigt<br />
(Und deine Frau) Sita befreit, O Kanai.<br />
Im Dvaparayuga hast du im Hause Nandas<br />
Butter gestohlen und gegessen.<br />
Du bist als Devakis Sohn geboren<br />
(Aber) Yashoda „Mutter“ gerufen.<br />
In den Hainen hast du Kühe geweidet.<br />
Im Kaliyuga (bist) du als Gaurnga (geboren)<br />
Und Jagai und Madhayi gerettet.<br />
95
O, du hast Kaupin getragen<br />
Und jedem (die <strong>Religion</strong> des) (Krishna-)namens(gesang) geschenkt.<br />
Kanai, du hast dich als Bettler gekleidet.<br />
Kanai, warum bist du als Gaur geboren?<br />
Erläuterung: Das Lied stellt verschiedene Inkarnationen von Krishna <strong>der</strong> Caitanya-Vaisnavs<br />
in West Bengal vor. Kanai, Krishna, wurde im Kaliyuga als Gaur bzw. Gaurnga, <strong>der</strong><br />
Hellhäutige, ein weiterer Name von Caitanya, geboren. <strong>Die</strong> Geschichte von Prahlada in:<br />
Vishnu-purana I, 17-20. <strong>Die</strong> Geschichte von <strong>der</strong> Inkarnation Rama erzählt das Epos<br />
Ramayana. <strong>Die</strong> Legende von Krishna, dessen leibliche Mutter Devaki war, <strong>der</strong> aber bei<br />
seinen Pflegeeltern dem Kuhhirt Nanda und seiner Frau Yashoda in Vrindavan aufwuch, in:<br />
Vishnu-purana V-XXXVIII. <strong>Die</strong> Legende von Jagai und Madhai, die vor <strong>der</strong> Begegnung<br />
mit Caitanya ein lasterhaftes Leben führten, in: Svami Tapasyananda: Shri Caitanya. His<br />
Life, <strong>Religion</strong> and Philosophy, Maylapore,17-18. Kaupina ist ein kurzes Tuch, das viele<br />
Asketen in Indien um ihre Hüfte wickeln. Der Verfasser des Liedes meint, Caitanya habe<br />
sich als Bettler gekleidet, weil er von Spenden lebte, s. Krishnadas Kabiraj: Shri-shricaitanya-caritamrita<br />
Madhyalila und Antyalila.<br />
34<br />
Ob Gaur noch einmal geboren wird?<br />
Man kann den Menschen noch so sehr verehren,<br />
Gaurcãd hat sein Spiel beendet.<br />
Er kam einmal nach Nadiya.<br />
Er wurde als ein Mensch geboren.<br />
So lehrte Gott (im Menschengestalt)<br />
<strong>Die</strong> <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> Liebe hier und dort<br />
Und kehrte zurück in sein Heim (gemeint ist <strong>der</strong> Himmel).<br />
<strong>Die</strong> <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> vier Yugas<br />
Und <strong>der</strong> Veden<br />
Ließ er beiseite<br />
Und lehrte Shrirupa (ein Schüler von Caitanya)<br />
<strong>Die</strong> <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> Liebe,<br />
<strong>Die</strong> viel tiefsinniger ist als die Veden.<br />
35<br />
Komme, o Gaur-candra (d. h. Caitanya),<br />
Zusammen mit (deinem) Bru<strong>der</strong> Nitai (d. h. Nityananda).<br />
(Wir) werden mit Herzensfreude mit dir<br />
Im Chor singen und tanzen.<br />
Gora (d. h. Caitanya),<br />
(Der du), <strong>der</strong> Geliebte <strong>der</strong> Welt bist<br />
Und die Herzen <strong>der</strong> Heiligen gestohlen hast,<br />
Lasse dich von Radhas Liebe begeistern,<br />
So daß du kommst und dich im Staube wälzst.<br />
Du, <strong>der</strong> Mond von Nadiya,<br />
Laß Nada (d. h. Nadiya) hinter dir<br />
(Und) komme in den Herzenstempel<br />
(Deiner) Anhänger.<br />
Ich werde Gaur (d. h. Caitanya)<br />
Mit meinen (eigenen) Augen sehen<br />
96
(Und) das Ziel dieser Menschengeburt erreichen.<br />
Wer „Cad-Gaur“ (d. h. <strong>der</strong> Mond Caitanya) ruft,<br />
Vor wem soll er am Ufer <strong>der</strong> Welt Angst haben?<br />
(Der Dichter) Dvijabhusan sagt: „Hoffentlich erreiche ich die roten Füße,<br />
<strong>Die</strong> einen ans an<strong>der</strong>e Ufer bringen.“<br />
Erläuterung: Götter und ihre Inkarnationen haben rote bzw. rötliche Füße. Daher hatte auch<br />
Caitanya rote Füße. <strong>Die</strong>s ist eine <strong>der</strong> zweiunddreißig Merkmale eines Heiligen (mahapurusha-lakshana).<br />
<strong>Die</strong> zweiunddreißig Merkmale sind: <strong>Die</strong> fünf Großen: Nase, Arm,<br />
Unterkiefer, Augen und Knie; die fünf Feinen:Haut, Kopfhaare, Fingerglie<strong>der</strong>, Zähne und<br />
Körperhaare; die sieben Roten: <strong>Die</strong> Augenenden, Fußsohle, Handfläche, Fontanelle, Lippen,<br />
Zunge und Nägel; die sechs Gutgebauten: Brust, Schulter, Nägel, Nase, Hüfte und Mund;<br />
die drei Kleinen: Hals, Oberschenkel und Geschlechtsorgan; die drei Breiten: Hüfte, Stirn<br />
und Brust und die drei Tiefen: Nabel, Stimme und Intelligenz. Über Maha-purusha-laksana<br />
siehe Krishnadas Kabiraj: Shri-shri-caitanya-caritamrita, Adilila XIV, 15<br />
36<br />
Nur mit reinem ungeteiltem Geist<br />
Kann man dort eintreten,<br />
In den Hof des Gaur-cãd (d. h. Caitanya),<br />
In den Hof des Nitai-cãd (d. h. Nityananda).<br />
Mit einem geteilten Geist wirst du in Schwierigkeiten geraten,<br />
O du Narr, und wirst nicht ans Ufer kommen.<br />
Zehn mal vier macht vierzig Sera,<br />
Und vierzig Sera macht ein Mana.<br />
Wenn da auch (nur) ein Rati o<strong>der</strong> ein Masa fehlt,<br />
Nimmt <strong>der</strong> Kaufmann (die Ware) nicht.<br />
Siehe, Radharani ist die Chefin <strong>der</strong> Transportabteilung.<br />
Sie wiegt und bringt einen hinüber.<br />
Der Holzfäller kennt die Juwelen nicht.<br />
Nur <strong>der</strong> Juwelier kennt die Juwelen.<br />
O du Narr, die an<strong>der</strong>en kennen sie nicht.<br />
Der Gold-Kaufmann kennt Gold.<br />
Er nimmt es nach dem er es gereinigt und gerieben hat.<br />
Am Eingang stehen Shri-rupa-gõsai und Sanatan.<br />
Sie sind große Kaufleute <strong>der</strong> Liebe<br />
Im Markt <strong>der</strong> Glückseligkeit.<br />
Sie wiegen (den Geist des Ankömmlings) mit <strong>der</strong> Wage<br />
Und nehmen einen nur nach <strong>der</strong> Prüfung auf.<br />
Erläuterung: Sera, Mani, Rati, Masa sind traditionelle Gewichtseinheiten in West Bengal.<br />
37<br />
Komm, gehen wir zur Gaurngas Schule.<br />
Gehen wir alle, um dort zu lernen.<br />
Dort werden die Legende von Hari<br />
Und die Bhagavadgita gelehrt.<br />
Der liebesspen<strong>der</strong> Nitai unterrichtet dort.<br />
97
38<br />
Was für eine Sitte hat Gaur<br />
In Nadiya eingeführt!<br />
Ungewöhnliche Werte,<br />
Ungewöhnliche Sitten!<br />
Man bekommt Angst vor diesen!<br />
<strong>Die</strong> traditionellen Normen des Dharma und Adharma (Nicht-Dharma)<br />
Sind hierin kein bißchen vertreten.<br />
Er singt nur das Loblied <strong>der</strong> Liebe.<br />
Dem Kasten-System folgt er nicht.<br />
(Er) hat alle Menschen gleich gemacht.<br />
39<br />
Kommt, schaut es euch an,<br />
Gora hat eine neue Richtung (wörtl.: Stimmung, bhava)<br />
Eingeführt.<br />
Den Kopf hat er kahl geschoren<br />
Und um den Hals ein Tuch gehängt,<br />
An <strong>der</strong> Hüfte trägt er ein kurzes Tuch.<br />
Gora lacht, weint -<br />
Seine Stimmungen (bhava) sind unzählig.<br />
(Er) ruft ständig aus: ‘O du mit den Armen Mitfühlen<strong>der</strong>!’<br />
(Er) antwortet nicht auf Fragen.<br />
Hat (er) etwa seinen Schatz verloren?<br />
Er hat den langen (eleganten) Umhang<br />
Weggeworfen<br />
Und trägt (jetzt)<br />
Das kurze Lendentuch.<br />
Selbst (in Krishna) vernarrt,<br />
Hat er alle Welt<br />
Zu Vernarrten gemacht.<br />
O, was für ein Spiel im Kaliyuga!<br />
Was für eine wun<strong>der</strong>bare <strong>Religion</strong>!<br />
40<br />
Ob Gaur jemals wie<strong>der</strong><br />
Zurückkehrt?<br />
Man kann diesem Menschen<br />
Noch so viel Verehrung entgegenbringen,<br />
Gaurcãd ist schon fertig.<br />
Einmal kam er nach Nadiya.<br />
Er erschien als ein Mensch.<br />
Er verschenkte (Gottes)liebe hier und da<br />
Dann kehrte Gott in seinen Wohnort zurück.<br />
(Er führte) Gottes Lobgesang und an<strong>der</strong>e Sachen (ein).<br />
Er ließ die Veden Veden sein.<br />
(Er) hat den Weg des Genusses,<br />
Der geheimer ist als die (Lehre <strong>der</strong>) Veden,<br />
(Seinen Schüler) Shri-rupa gelehrt.<br />
98
Ob Advaita Gõsai<br />
Gaur wie<strong>der</strong> nach Nadiya holt?<br />
Lalan sagt: „Wer erfaßt in dieser Welt<br />
Den Barmherzigen?“<br />
41<br />
O Gaur, fahre mich zum Ufer dieser Welt.<br />
Ich bin schlecht und weiß nicht wie man dich anbetet.<br />
Aber Gaur, alle sagen, dein Namenslobgesang<br />
Läßt den Stein im Wasser schwimmen.<br />
So habe ich deinen Namen ausgerufen<br />
Und bin ins Wasser gesprungen.<br />
Wenn ich im tiefen Wasser ertrinke,<br />
Wird das dir Schande bringen.<br />
<strong>Die</strong> Welt ist ein unendlich tiefer Fluß<br />
Und mein Boot ist zerbrochen.<br />
Ich mache mir Sorgen, was wird.<br />
Wohin ich auch schaue, ist es dunkel.<br />
<strong>Die</strong> Geschichten <strong>der</strong> Puranas erzählen,<br />
Du bist <strong>der</strong> Freund <strong>der</strong> Hilflosen,<br />
Du hast unzählige (Menschen) gerettet.<br />
Gangadhara hat einen Wunsch,<br />
Daß er nie wie<strong>der</strong> in dieser Welt geboren wird,<br />
Daß er nicht immer wie<strong>der</strong> die Qual <strong>der</strong> Welt erleidet.<br />
Ich möchte beim Sterben den Namen Hari<br />
Auf den Lippen haben,<br />
Damit ich nicht<br />
Wie<strong>der</strong>geboren werde.<br />
Lie<strong>der</strong>, die philosophische Gedanken enthalten<br />
42<br />
Als es keinen Himmel, Wind und keine Wolken gab,<br />
Da war auch keine Sonne, kein Mond.<br />
Kein Brahma, Vishnu o<strong>der</strong> Shiva.<br />
Sag mir dann,<br />
Wie kam vom Formlosen<br />
<strong>Die</strong>se Form?<br />
Sag mir, O Barmherziger,<br />
Wie haben damals<br />
Purusha and Prakriti Formen gewonnen?<br />
Was bedeutet Schöpfung?<br />
Welche sind ihre Eigenschaften ?<br />
Welche Elemente hat sie?<br />
Haben die Elemente das Bewußtsein, o<strong>der</strong> nicht?<br />
Sarada sagt:<br />
Ich sitze hier und wun<strong>der</strong>e mich darüber,<br />
Woher kommt diese Welt?<br />
O Guru, sage mir<br />
Wer hat diese Welt erschaffen?<br />
99
43<br />
O mein vernarrtes Herz<br />
Singe voller Freude das Lob von Hari.<br />
Sei es <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong>, sei es <strong>der</strong> Freund,<br />
Niemand gehört einem.<br />
Behauptest du das Gegenteil,<br />
Wo bleiben sie denn (wenn man gestorben ist)?<br />
Wo bleiben das Haus, <strong>der</strong> Wagen (und) die Pferdekutsche?<br />
Wenn du gestorben bist, gibt es für dich nur eine zerrissene Matte,<br />
Einen Wasserkrug und ein Seil aus Reisstroh.<br />
Deine Geliebte, die du über alles geliebt hast,<br />
Wird dich mit Beschmierung des Kuhkotes verabschieden.<br />
Zwei Tage wird sie um dich weinen.<br />
Große Tränen werden fließen.<br />
Dann wird sie aber deine Koffer und Kisten öffnen.<br />
Und, wenn du ihr etwas hinterlassen hast,<br />
Bist du gerettet,<br />
Sonst sind (rückwärts gerechnet)<br />
Vierzehn Generationen deiner Linie schon hier erledigt.<br />
Erläuterung: In Indien werden bei den Hindus die Leichen je nach <strong>der</strong> finanziellen<br />
Möglichkeit <strong>der</strong> Verwandten des Verstorbenen auf einem prunkvollen Bett mit Blumen<br />
bedeckt o<strong>der</strong> aber auch auf einer billigen Tragbahre aus Bambus zum Krematorium<br />
transportiert. Wird die Leiche auf eine Tragbahre transportiert, so wird sie während des<br />
Transportes in ein Tuch o<strong>der</strong> in eine Bambusmatte gewickelt und mit einem Seil aus<br />
Reisstroh an <strong>der</strong> Tragbahre festgebunden. Zu solchen Anlässen wird in den Gegenden, wo<br />
<strong>der</strong> Ganges nicht neben dem Krematorium fließt, in einem Krug das Gangeswasser<br />
mitgenommen. Das Wasser des heiligen Ganges braucht man für die Zeremonien im<br />
Krematorium. Beim Fehlen des Gangeswassers wird das Wasser eines an<strong>der</strong>en Flußes,<br />
möglichst aber aus einem an<strong>der</strong>en heiligen Flußes genommen (vgl. Vashishtha-<br />
Dharmashastra III, 26). Bei einem Todesfall wird das Haus und die Familie des<br />
Verstorbenes unrein (vgl. Vashishtha-Dharmashastra IV, 16-29) Über die Reinigung mit<br />
dem Kuhkot siehe Vashishtha-Dharmashastra III, 56.<br />
44<br />
Könnte <strong>der</strong> Unfaßbare erfaßt werden,<br />
So wäre seine faßbare Form (d. h. die Welt) verständlich.<br />
(Seine) Gestalt (d. h. die Welt) könnte (dann) analysiert<br />
(Und er) durch die spirituelle Übung erreicht werden.<br />
Welche sind die Formen des Unfaßbaren,<br />
Sag' mir, o (du mein) vergeßlicher Geist.<br />
Welche Erscheinungsform soll (ich) für die spirituelle Übung wählen?<br />
Eine Entscheidung (hierfür) ist noch nicht getroffen.<br />
Er ist formlos, ohne Form,<br />
Gelobt sei er als (die formvolle) Welt.<br />
(Er) ist <strong>der</strong> Vater <strong>der</strong> Götter,<br />
Gandharvas, Menschen, von allen.<br />
Daß ich diesen Vater finde,<br />
Wann werde ich dazu fähig sein?<br />
100
45<br />
Mein Zopf bleibt so,<br />
Wie er ist.<br />
Ich werde meine Haare<br />
Nicht naßmachen.<br />
Ich werde platschen, planschen,<br />
Aber nicht das Wasser berühren.<br />
Hierlang und dalang,<br />
Hierhin und dorthin<br />
Werde ich schwimmen.<br />
Ich werde ins Wasser tauchen<br />
Und nicht aufs Gerede<br />
Hören.<br />
Ich werde genießen,<br />
Aber trotzdem nicht leiden.<br />
Gõsai Rasaraj sagt:<br />
‘Höre du Frau,<br />
<strong>Die</strong> Schönheit dieses (Genusses)<br />
Macht einen sprachlos.’<br />
Ich werde nicht treu sein,<br />
Aber auch nicht untreu.<br />
Trotz (<strong>der</strong> Untreue) werde ich<br />
Meinen Mann nicht betrügen!<br />
46<br />
O du unaufmerksam gewordene Hausfrau,<br />
Wohin gehst du heute,<br />
Auf dem Bett liegend,<br />
Das von den Trägern aus (deiner) Kaste getragen wird?<br />
In Schweiß gebadet hast du deinen Haushalt gepflegt!<br />
Aha! Du hast Krüge voller Öl und Butterfett gehortet.<br />
Schmuck aus Gold und Silber,<br />
Geschirr, Krug, Schüssel,<br />
Hier die Bettgestelle, Betten, Matten,<br />
(Alles) hast (du immer) ordentlich aufgeräumt.<br />
<strong>Die</strong> Vorratskammer, in <strong>der</strong> die Töpfe,<br />
Große und noch größere Krüge standen,<br />
Hast du (immer) abgeschlossen,<br />
Hier hast du die flachen und tiefen Körbe<br />
(Ordentlich an <strong>der</strong> Wand) aufgehängt.<br />
Alle für den Haushalt notwendige Gebrauchsgegenstände!<br />
Nichts hast du unbesorgt sein lassen.<br />
Aha! Mit wieviel Mühe auf dich nehmend<br />
Hast du alles nach und nach besorgt!<br />
Deine Haushaltsgegenstände<br />
Hast du gehütet wie dein (eigenes) Leben.<br />
Wegen Angst vor Verschwendung<br />
Hast du niemandem (etwas) anzufassen erlaubt.<br />
Wenn einer (dich) um etwas gebeten hat,<br />
101
Hast du es (ihm) niemals gegeben.<br />
Obwohl genug da war,<br />
Hast du gesagt, alles wäre knapp<br />
Und hast dich dabei nicht geschämt.<br />
Immer hast du gesagt 'Mein, mein.'<br />
Heute ist nichts mehr dein geblieben.<br />
Aha! Du hast dich umsonst<br />
Mit <strong>der</strong> Last des schweren Schlüsselbundes geplagt.<br />
Der Narr (d. h. <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>) sagt: „Hari, Hari,<br />
Du gehst und läßt alles hinter dir.<br />
Deine so sehr geliebten vollen Krüge -<br />
Nimm doch zwei Stück mit.“<br />
47<br />
Maya schluckt die Lebewesen <strong>der</strong> Welt<br />
Mit (ihrer) Magnetmaschine.<br />
Das Lebewesen vergißt (die Wahrheit),<br />
Wenn es sie sieht.<br />
Nur wenige vergessen Shiva nicht.<br />
Für das Lebewesen gibt es<br />
Keine Rettung vor dieser Maschine.<br />
(<strong>Die</strong> Maya) fängt das Lebewesen<br />
Und trinkt seinen Saft mit Freude.<br />
<strong>Die</strong> Motte fliegt zum Feuer<br />
Ohne an den Tod zu denken.<br />
<strong>Die</strong> Anziehungskraft <strong>der</strong><br />
Magnetmaschine ist so stark,<br />
Daß Insekten, die Beweglichen, die Unbeweglichen -<br />
Alle sich von ihr hingezogen fühlen.<br />
(Sogar) Brahma, Vishnu<br />
Und <strong>der</strong> Dreiäugige (gemeint ist Shiva)<br />
Finden trotz Nachdenken keine Lösung.<br />
Direkt am Eingang auf <strong>der</strong> Hauptstraße <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburt<br />
Liegt die Maschine bereit.<br />
O Bru<strong>der</strong>, wem soll ich das noch sagen?<br />
(Nur) <strong>der</strong> Adept wird das verstehen.<br />
Welch an<strong>der</strong>er soll das (noch) verstehen?<br />
Der Herr <strong>der</strong> Maschine ist <strong>der</strong> Guru Cãd-gõsai (gemeint ist Caitanya bzw. Krishna).<br />
Gelobt sei seine Firma!<br />
(Er) hat seine Maschine über den Himmel,<br />
<strong>Die</strong> Erde und Unterwelt ausgebreitet.<br />
Der <strong>Die</strong>ner Radheshyam sagt:<br />
‘Wer außer dem Guru wird die nähere Informationen<br />
Uber die Maschine geben können?’<br />
48<br />
Wem gehörst du,<br />
Wer gehört dir in dieser Welt?<br />
Unnütz in Maya versunken<br />
Warum verhältst du dich so,<br />
102
(Als ob die Beziehungen dauerhaft wären)?<br />
49<br />
Mein Gedanke hat den Maya-Wein getrunken.<br />
<strong>Die</strong> Betäubung hält Tag und Nacht.<br />
50<br />
Trinke nicht unnötig den Maya-Wein.<br />
Vergiß nicht die schon gelernte Lehre.<br />
Wenn die Lehre (dich) jetzt verläßt,<br />
Wird keine (Befreiung) kommen,<br />
Und du wirst in <strong>der</strong> Schlinge weiterer Schöpfungszyklen<br />
Gefangen bleiben.<br />
51<br />
O (mein) Herz, (alles ist) Einbildung,<br />
Alles ist Maya.<br />
Es gibt Brahma, Vishnu (und) Maheshvara<br />
In Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung.<br />
O (mein) Herz!<br />
Hin und wie<strong>der</strong> manifestiert sich (Brahman)<br />
In diesen Erscheinungsformen.<br />
Der Herr <strong>der</strong> Schöpfung, <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong> Erhaltung,<br />
Und <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong> Zerstörung stehen aufrecht (vor ihm).<br />
O (mein) Herz, spürst du das nicht?<br />
<strong>Die</strong> Lehren über Atman (und) Guru<br />
Sind wie <strong>der</strong> Schatten des Banyanbaumes<br />
Auf dem Haupt (in <strong>der</strong> Mittagssonne).<br />
52<br />
Wie soll ich den unerfaßbaren Menschen<br />
Erfassen?<br />
Er existiert hinter Namen und Formen.<br />
<strong>Die</strong> Augen aus Fleisch und Blut<br />
Können ihn nicht sehen.<br />
Wenn ich den Unerfaßbaren fassen könnte,<br />
Würden seine erfaßbaren Formen<br />
Im richtigen Licht erscheinen,<br />
Wären seine Formen verständlich,<br />
Ich könnte ihn mit spiritueller Übung erreichen.<br />
Was ist die (eigentliche) Form des Unerfaßbaren,<br />
Sag, o du mein närrisches Herz!<br />
In welcher Form soll ich ihn verehren?<br />
Eine Entscheidung ist noch nicht getroffen worden.<br />
103
Über die Gottesliebe<br />
Über die Notwendigkeit <strong>der</strong> Dualität Gott - Mensch<br />
53<br />
Ich möchte den Zucker kosten!<br />
Ich möchte nicht Zucker werden!<br />
Ich möchte wie die Gopies in Vrindavan<br />
Krishna genießen.<br />
<strong>Die</strong> Liebe zwischen Radha und Krishna genießen.<br />
54<br />
Wer außer Krishna nichts an<strong>der</strong>es begehrt,<br />
Dessen Liebe ist rein.<br />
Wie die Schwalbe, die außer den Regentropfen<br />
Kein an<strong>der</strong>es Wasser trinkt,<br />
So begehrt <strong>der</strong> Mensch, <strong>der</strong> Krishna liebt,<br />
In seinem Herzen<br />
Nur Krishna.<br />
Er will nicht die Freude des Himmels,<br />
Er möchte nicht in Gott sich auflösen.<br />
Sein Verhalten zeigt<br />
Deutlich, daß er<br />
Sich in Krishnas Freude freut.<br />
55<br />
(In dem Zimmer) mit <strong>der</strong> siebten Tür sitzt <strong>der</strong> König,<br />
Frau, gehe niemals dort hin.<br />
Allgemein über Gottesliebe<br />
56<br />
Wer den Weg <strong>der</strong> Gottesliebe geht<br />
Und den Sohn von Nanda (d. h. Krishna) verehrt,<br />
Dessen Liebe ist rein.<br />
Er wohnt in (Krishnas Weilort) Vraja.<br />
57<br />
Haris Name (hari-nama) ist prima, paff, paff.<br />
O mein Herz, nimm den Zug Tag und Nacht.<br />
Der Körper wird berauscht,<br />
(Er) wird Spaß haben<br />
Und das Herz wird glücklich.<br />
Bereitet man die Pfeife <strong>der</strong> Gottesliebe (bhakti) zu<br />
Und zieht kräftig (an ihr),<br />
So macht das viel, viel Spaß.<br />
Bereite die Pfeife <strong>der</strong> Sehnsucht (nach Gott) mit Liebe<br />
Und ziehe ständig an ihr.<br />
104
Erläuterung: Der Verfasser des Liedes zieht hier einen Vergleich zwischen dem<br />
Hanfrauchen und <strong>der</strong> Gottesliebe, da beide den Rausch verursachen. Wie <strong>der</strong> Hanf den<br />
Raucher glücklich macht, so freut die Gottesliebe den Gottliebenden. <strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s sind<br />
bekannt für das Hanfrauchen (s. Kapitel 1).<br />
58<br />
<strong>Die</strong> Liebe zu Krishna ist wie <strong>der</strong> Ozean des Nektars.<br />
Hätte ich auch nur einen Tropfen davon gekriegt!<br />
<strong>Die</strong> Wirkung eines einzigen Tropfens<br />
Hätte die vierzehn Welten versenkt.<br />
59<br />
O mein Herz,<br />
Steig ein in die Gewissensklasse (des Zuges)<br />
Und fahre nach Vrindavan.<br />
Stelle dich in die Schlange<br />
Und kaufe die Karte für (die Reise in) die Gottesliebe.<br />
<strong>Die</strong> Füße des Gurus<br />
Sind das Licht <strong>der</strong> Liebe.<br />
Wenn du in Vraja wohnen willst,<br />
Dann kaufe dir die Karte <strong>der</strong> zweiten Klasse.<br />
Sei <strong>der</strong> Zweite und fasse die Füße (des Gurus).<br />
Sei dem Guru ergeben.<br />
Liebst du ihn (d. h. Krishna) mit ungeteilter Liebe,<br />
So wirst du Nandas Sohn erreichen.<br />
Wenn du nach Vrindavan gehen willst,<br />
Dann verrate ich dir ein Geheimnis:<br />
Erkenne die Regeln und fasse erst die Füße Vrindas.<br />
Vrinda kennt die Geheimnisse Vrindavans<br />
Und den Geliebten von Radha.<br />
Erläuterung: Vrinda ist ein weiterer Name von Barayi, <strong>der</strong> Aufsichtsperson für Radha (s.<br />
Kapitel 4).<br />
60<br />
Warum leidest du unnötig<br />
Unter schlechten Karmas?<br />
Irgendwann stirbst du ganz plötzlich.<br />
Sei vernünftig<br />
Und hole den Arzt schon jetzt.<br />
O du, rufe den Guru, den einheimischen Arzt,<br />
Und nimm die Medizin stündlich mit Aufmerksamkeit.<br />
<strong>Die</strong> Mantra-Tropfen vertreiben deine Krankheit in drei Tagen.<br />
Warum sollst du unnötig sterben,<br />
Wo du doch zu Hause das Hari-Namen-Chinin hast.<br />
Eine so gute Medizin wirst du nicht noch einmal kriegen.<br />
Überlege dir das in deinem Herzen.<br />
Tag und Nacht hast du Angst,<br />
Daß die Pferdeärzte dich in den Tod treiben.<br />
Sie werden nichts vom Dharma wissen wollen.<br />
105
Sie werden unerwartet deinen Tod verursachen.<br />
<strong>Die</strong> Liebe zwischen Krishna und sowohl Gopi Radha als auch den an<strong>der</strong>en Gopis ist die<br />
reine Form <strong>der</strong> Gottesliebe<br />
61<br />
Shyam (d. h. Krishna), mache dich nicht lächerlich,<br />
Gehe lieber nach Hause.<br />
Deine Geliebte wird mir die nicht reden.<br />
Du hast sie schwer enttäuscht,<br />
Und nun faßt du ihr die Füße!<br />
O du Nandas Sohn, du bist ein unbekümmerter Kuhhirt.<br />
Du kennst den Schmerz deiner Geliebten nicht!<br />
(In <strong>der</strong> Nacht hast du sie warten lassen),<br />
Und nun kommst du am Morgen nur,<br />
Um sie zu ärgern!<br />
62<br />
In Vrindavan hat Nandas Sohn<br />
Prem erlebt.<br />
In hun<strong>der</strong>tmillionen Gopis (d. h. die Kuhhirtinnen in Vrindavan) war<br />
Kama nicht vorhanden.<br />
Das ununterbrochene Kama-Spiel (mit den Kuhhirtinnen)<br />
War nur seine (spielerische äußerliche) Art.<br />
<strong>Die</strong> Liebe zur Kuhhirtin Radha (radha-prem)<br />
War die Juwelmine.<br />
In ihr erlöschten alle Feuer.<br />
Vernarrt in Radha,<br />
(Wurde er) als Gaur geboren<br />
Und verschenkte weinend (allen) die Lehre <strong>der</strong> Liebe<br />
In Nabadvip,<br />
Ungeachtet dessen,<br />
Ob diese sie verdienten<br />
O<strong>der</strong> nicht.<br />
<strong>Die</strong> Liebe <strong>der</strong> Gopis für Krishna ist das Vorbild für die Gottesliebe <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s<br />
63<br />
Nicht alle kennen die (wahre) Liebe.<br />
Liebe, die Shyam<br />
Und die Gopis aneinan<strong>der</strong> bindet.<br />
<strong>Die</strong> Liebe <strong>der</strong> Gopis (gopi-prem)<br />
Kennen nur<br />
<strong>Die</strong> Hummeln <strong>der</strong> reinen Liebe.<br />
<strong>Die</strong> Gopis denken nicht an Tugend o<strong>der</strong> Sünde,<br />
Wenn sie Krishna sehen.<br />
Leute, die wie die Gopis lieben,<br />
Kennen die Liebe, die sich in Vraja gezeigt hat.<br />
Nur sie wissen, wie man den Unfaßbaren faßt,<br />
Wie die Gopis.<br />
106
Erläuterung: Über die Liebe zwischen Krishna und Gopis siehe Bhagavata-purana X, 21, 29<br />
und 47, Vishnu-purana V, 10-13 und 18 und Krishnadas Kabiraj: Shri-shri-caitanyacaritamrita,<br />
Adilila IV, 162-172.<br />
64<br />
<strong>Die</strong> Natur (<strong>der</strong> Liebe <strong>der</strong> Gopis) in Vraja war rein.<br />
Schneide damit den Diamanten (<strong>der</strong> Liebe).<br />
Wenn du die (Diamantenperle) mit <strong>der</strong> Natur (<strong>der</strong> Liebe) <strong>der</strong> Gopis<br />
polierst, werden sie funkeln.<br />
Wenn du dann die Perle<br />
(Mit <strong>der</strong> Schnur) <strong>der</strong> reinen Liebe<br />
Aneinan<strong>der</strong> bindest,<br />
Wird die (Kette <strong>der</strong> Liebe) wun<strong>der</strong>bar aussehen.<br />
65<br />
Krishna, den sogar <strong>der</strong> größte Yogi und <strong>der</strong> größte Asket<br />
Mit Hilfe des Yogas und <strong>der</strong> Meditation nicht findet,<br />
Bleibt <strong>der</strong> Sklave <strong>der</strong> Gopis.<br />
An<strong>der</strong>e Vorbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gottesliebe<br />
66<br />
O mein Herz, du weißt nicht,<br />
Welches Schicksal dem blüht,<br />
Der sich die Füße des Kala (d. h. Krishna) wünscht!<br />
Der (Krishna-) Verehrer Bali war ein König.<br />
Gott betrog ihn in <strong>der</strong> Erscheinungsform eines Zwerges<br />
Und nahm ihm sein Königsreich weg.<br />
König Karna war <strong>der</strong> große Geber <strong>der</strong> Welt.<br />
(Gott) zerstörte ihn mit seiner ganzen Linie<br />
In <strong>der</strong> Erscheinungsform eines Besuchers, <strong>der</strong> bettelte.<br />
(König Karna) wurde aber trotzdem nicht traurig.<br />
Er liebte (Gott) weiterhin,<br />
Denn, o mein Herz, in <strong>der</strong> Gottesliebe fand er Trost.<br />
Schau dir die Haltung Prahladas an!<br />
Wegen Gottesliebe mußte er so sehr leiden.<br />
Weil er Krishna liebte, wurde er ins Feuer geworfen<br />
Und im Wasser ertränkt.<br />
Aber trotzdem hörte er nicht auf, Krishna zu lieben.<br />
Lakshmana liebte Rama zu allen Zeiten.<br />
Er wurde an <strong>der</strong> Brust vom Pfeil getroffen.<br />
Aber trotzdem hörte er nicht auf,<br />
Ramacandra zu lieben.<br />
Erläuterung: Dämon Bali verrichtete einmal eine Feueropferzeremonie (yajña), um <strong>der</strong> Herr<br />
des Himmelreiches zu werden. Während <strong>der</strong> Zeremonie erschien Vishnu als ein Zwerg<br />
(vamana) und bat um die Almosen. Der Zwerg wollte die Teile, welche er mit drei Schritten<br />
bedeckte, als Almosen haben. Bali willigte ein. Daraufhin bedeckte Vishnu den Himmel, die<br />
Erde und Unterwelt mit drei Schritten. So rettete er die drei Welten von <strong>der</strong> Herrschaft des<br />
107
Dämonen Bali. Über Bali und Vishnu siehe Ramayana, Uttara-kanda. <strong>Die</strong> Eine kurze<br />
Erzählung über Karnas Geburt mit <strong>der</strong> Rüstung und seinen Tod im Kampf mit den Pandavas<br />
in: Shanta Rameshwar Rao: The Mahabharata, Hy<strong>der</strong>abad, 1985, S. 14-16 und 127-131.<br />
Prahlada war ein inniger Anhänger Krishnas. Sein Vater verbot ihm die Vishnu-Liebe<br />
(Vishnu-bhakti) und versuchte wie<strong>der</strong>holt, ihn umzubringen, weil <strong>der</strong> Sohn ihm nicht<br />
gehorchte. <strong>Die</strong> Mordversuche des Vaters blieben erfolglos, da Vishnu jedesmal seinen<br />
Anhänger rettete. <strong>Die</strong> Geschichte von Prahlada in: Vishnu-purana, XVII-XX. Der <strong>Baul</strong><br />
erzählt hier eine Episode aus dem Epos Ramayana. Lakshmana war <strong>der</strong> jüngere Bru<strong>der</strong> von<br />
Rama, hier Ramacandra, einer Inkarnation Vishnus. Im Krieg gegen Ravana wurde<br />
Laksmana von einem beson<strong>der</strong>s gefährlichen Pfeil namens Shakti-sela getroffen. Er kämpfte<br />
aber weiterhin auf <strong>der</strong> Seite seines Bru<strong>der</strong>s.<strong>Die</strong> Geschichte in: Ramayana, yuddha-kanda.<br />
67<br />
Übe nicht die Liebe mit wil<strong>der</strong> Hast.<br />
Denn die Liebe ist wie <strong>der</strong> klebrige Saft des Jackbaums.<br />
Klebt er einmal,<br />
So kann man ihn nicht mehr entfernen.<br />
Der Liebe wegen<br />
Ließ sich Shiva im Krematorium nie<strong>der</strong>.<br />
Und <strong>der</strong> Liebe wegen<br />
Entsagte Gora, Nimai aus Nadiya, die Welt.<br />
(Jayadeva, <strong>der</strong> Verfasser von) Gitagovinda<br />
Und (seine Geliebte) Padmavati, Kin<strong>der</strong>!, sind die wenigen,<br />
<strong>Die</strong> lieben konnten!<br />
Du weißt nicht, wie man liebt!<br />
Liebt man falsch,<br />
Ist das Ergebnis verkehrt<br />
Und man wird leiden.<br />
Es ist wie wenn die Ameise<br />
Sich von dem Sirup nicht befreien kann<br />
Der Sohn eines Brahmanen, welche Schande!,<br />
Verehrte die Füße einer Wäscherin.<br />
Will man den Mond erreichen,<br />
So darf man nicht<br />
Bei <strong>der</strong> Liebe an die Kaste denken<br />
Erläuterung: Das Lied deutet darauf hin, daß wenn man anstatt <strong>der</strong> göttlichen die sexuelle<br />
Liebe übt, führt die Übung zum gegenteiligen Ergebnis, d. h. durch die falsche Liebe wird<br />
man nicht das Gotteserlebnis erlangen, son<strong>der</strong>n im Kreislauf <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten verhaftet<br />
bleiben. Shivas Wohnort wurde zum Krematorium, weil er seine Frau Sati verlor. <strong>Die</strong><br />
heiligen Schriften erzählen die Geschichte folgen<strong>der</strong>maßen: Göttin Sati, die Frau Shivas,<br />
besuchte ihre Eltern, um an einer großen Opferzeremonie im Elternhaus teilzunehmen.<br />
Nebenbei sei bemerkt, daß Sati nur eine weitere Erscheinungsform <strong>der</strong> Göttin Durga bzw.<br />
Kali ist. Der Vater mochte den mittellosen Schwiegersohn nicht und fing an, vor den<br />
versammelten Gästen schlecht über ihn zu reden. Satis Protest und Bemühung, die Sache<br />
richtigzustellen hatten keinen Erfolg.Sie konnte die Verleumdung ihres Mannes nicht mehr<br />
ertragen und entschied sich für den Tod. Mitten in <strong>der</strong> Feier, vor allen Anwesenden, verließ<br />
ihre Seele den Körper. Als Shiva vom Tode seiner Frau erfuhr, eilte er mit seiner Armee zu<br />
den Schwiegereltern. Von Trauer und Wut entbrannt zerstörte er alles, was er vorfand.<br />
Dann nahm er die Leiche seiner Frau auf die Schulter und tanzte den Zerstörungstanz<br />
108
Tandavanrtya. <strong>Die</strong> Götter machten sich Sorgen um die Existenz <strong>der</strong> Welt und baten Vishnu<br />
um Hilfe. Er schickte seinen scharfkantigen Diskus, den er immer in <strong>der</strong> Hand trägt, zu<br />
Shiva. Der Diskus sollte Satis Leiche in die Stücke schneiden, so daß <strong>der</strong> Körper seiner<br />
Frau Shiva nicht mehr ununterbrochen an sie erinnerte. Der Diskus führte den Befehl aus<br />
und Shiva beruhigte sich. In tiefer Trauer und Einsamkeit zog er sich in seinem Wohnort,<br />
den Berg Kailasa zurück und fing an zu meditieren. Der Verfasser des Liedes vergleicht den<br />
einsamen Wohnort Shivas mit einem Krematorium. Gora, auch Nimai genannt, d. h.<br />
Caitanya, verließ seine Familie und trat in die Askese ein, um Krishna zu erleben (s. Kapitel<br />
2,). Jayadeva, <strong>der</strong> Verfasser von Gitagovinda und Candidas, <strong>der</strong> Verfasser von Shri-krishnakirtana<br />
und Vaisnava-padavali, haben ebenfalls die Gottesliebe <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>-<strong>Religion</strong> praktiziert.<br />
68<br />
Heil, heil Jayadeva!<br />
Heil, heil Padmavati!<br />
Im Dorf Kenduli am Ufer des Flusses Ajay im (Distrikt) Birbhum<br />
Wohnten sie.<br />
Im Krematorium Kendulis<br />
Schrieb er das Buch namens Gitagovinda.<br />
„Oh! Wie soll ich schreiben: ‘Gib mir (deine) Füße?’,<br />
Denn Gott Krishna ist<br />
Der Herr des Universums.“<br />
Jayadeva ging im Ganges zu baden.<br />
Unterwegs dachte er: „Göttin Ganga (d. h. Ganges) hat befohlen:<br />
‘Du brauchst nicht mehr zu kommen, um zu baden.’<br />
Ich werde dann wohl mit dem Fluß Ajay Strom aufwärtssteigen.“<br />
Er legte den Tag des Makara-sankranti dafür fest.<br />
„Vernichte das Gift <strong>der</strong> (sexuellen) Liebe,<br />
Lege deine Füße auf mein Haupt.“<br />
Der Brahmane verehrt den Gott <strong>der</strong> (Stadt) Kashi.<br />
So gib diese Speise auch (Göttin) Radha und (Gott) Shyam.<br />
Im Dorf Kenduli am Ufer des Flusses Ajay im (Distrikt) Birbhum<br />
Wohnten sie.<br />
Heil, heil Jayadeva!<br />
Heil, heil Padmavati!<br />
Erläuterung: An einer Stelle verlangte das Thema <strong>der</strong> Lyrik, daß Krishna seine Geliebte<br />
Radha darum bittet, daß sie ihre Füße auf sein Haupt lege. <strong>Die</strong>s konnte Jayadeva jedoch<br />
nicht schreiben, da Krishna Herr <strong>der</strong> Welt ist. Unten wird erzählt, wie es dazu kam, daß das<br />
Gedicht von Jayadeva trotz seiner Bedenken diese Aussage von Krishna enthält. Das Baden<br />
in einem heiligen Fluß, beson<strong>der</strong>s im Ganges, gehört bekanntlich zu den üblichen Bräuchen<br />
des Hinduismus. Tut man dies an einem bestimmten Tag, an dem die Sterne und Planeten<br />
eine bestimmte Konjuktion haben, so verspricht sich <strong>der</strong> Gläubige davon beson<strong>der</strong>e<br />
Belohnungen. <strong>Die</strong> Göttin Ganga ist <strong>der</strong> Fluß Ganges. Als Jayadeva sich vornahm, im<br />
Ganges zu baden, sagte ihm Göttin Ganga, daß dies für ihn nicht nötig sei. So beschloß<br />
Jayadeva, anstatt im Ganges im Fluß Ajay zu baden. Es legte hierfür den Tag fest, an dem<br />
heute das Jayadeva-kenduli-Treffen gefeiert wird. <strong>Die</strong>ser Tag wird Pausha-sankranti bzw.<br />
Makara-sankranti genannt. Es ist <strong>der</strong> letzte Tag des Monats Pausha (Dezember-Januar).<br />
Jayadeva brauchte aber nicht im Fluß Ajay zu baden, denn Göttin Ganga än<strong>der</strong>te ihren Lauf<br />
und kam zum Haus des Dichters. So badete Jayadeva am Pasusha-sankranti im Ganges.<br />
Hier zitiert <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> die Zeile, welche Jayadeva nicht schreiben wollte. Sie lautet:<br />
109
„Vernichte das Gift <strong>der</strong> (sexuellen) Liebe und lege deine schönen Füße auf mein Haupt“<br />
(Gitagovinda X, 8).Auch wenn Jayadeva sich weigerte, dies zu schreiben, ist es doch<br />
geschrieben worden. Wie dies geschah erzählt die folgende Legende: Jayadeva weigerte<br />
sich, seinen Herrn, Gott Krishna, auf diese Weise zu demütigen. So legte er die Fe<strong>der</strong><br />
beiseite und ging baden. In seiner Abwesenheit kam Krishnatha selbst und vollendete die<br />
Strophe. Jayadeva war gleichzeitig ein Verehrer von Kashinatha, Shyam und Radha, da alle<br />
Götter Manifestationen <strong>der</strong>selben Wahrheit sind (s. Kapitel 4). Kashinatha, Herr <strong>der</strong> Stadt<br />
Kashi, ist ein weiterer Name von Shiva. Kashi ist ein weiterer Name von Varanasi<br />
(Benares), Shyam ist ein weiterer Name Krishnas. Der Verfasser des Liedes meint, daß man<br />
die für Shiva gedachte Speise auch dem Gott Krishna und <strong>der</strong> Göttin Radha opfern darf, da<br />
sie alle dieselbe Wahrheit verkörpern.<br />
Bedauern darüber, daß <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> Gott nicht innbrünstig lieben kann<br />
69<br />
Freundin, ich habe es nicht geschafft zu lieben.<br />
Mein verdammtes Schicksal stand mir im Wege<br />
Und hat die Krishna-Liebe nicht entstehen lassen.<br />
<strong>Die</strong> Krishna-Liebe ist <strong>der</strong> Ozean des Nektars.<br />
(Nicht einmal) einen Tropfen von diesem Ozean,<br />
Nicht (einmal) einen Tropfen dieses Tropfens<br />
Habe ich bekommen!<br />
Ein einziger Tropfen<br />
Hätte den Wunsch meiner Seele<br />
Befriedigt.<br />
70<br />
Mein Gedankenvogel wird nicht zahm.<br />
Ich sage ihm, er soll die Namen Radha (und) Krishna singen,<br />
Aber er singt dieses Lied nicht.<br />
71<br />
Gedanke, ich flehe dich an und fasse diene Füße,<br />
Denke an Hari,<br />
Der Tag verrinnt nutzlos.<br />
<strong>Die</strong> Geheimnisse im Menschenkörper (die mystische Physiologie)<br />
72<br />
Du bist gekommen in diese Welt,<br />
Um Karten zu spielen.<br />
Nun wisse, das As bedeutet Brahman.<br />
<strong>Die</strong> fünf Elemente des Körpers<br />
Sind durch die fünfte Karte symbolisiert.<br />
<strong>Die</strong> sechste Karte symbolisiert<br />
<strong>Die</strong> sechs Ripus.<br />
Nun, wenn du reinschaust,<br />
Wirst du sieben Etagen finden.<br />
<strong>Die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> achten Karte<br />
Wirst du verstehen,<br />
110
Wenn du die acht Räume in deinem Körper<br />
Kennenlernst.<br />
Der Körper hat neun Türen.<br />
Wer den Körper beherrscht,<br />
Besiegt alle.<br />
Ohne jemanden zu fürchten<br />
Gehr er allein.<br />
O Gyanananda,<br />
Was hast du bloß getan!<br />
Du bist gekommen, um Karten zu spielen<br />
Und hast verloren!<br />
Du hast die fünfte und die sechste<br />
Nicht besiegen können!<br />
Erläuterung: Brahman ist die höchste Wahrheit. <strong>Die</strong> fünf Elemente des Körpers sind: Erde<br />
(ksiti), Wasser (ap), Feuer (teja), Wind (marut) und Äther (vyoma). <strong>Die</strong> sechs Ripus<br />
(Feinde), die die Menschen in die Irre leiten, sind: Sinnesfreude (kama), Zorn (krodha),<br />
Habgier (lobha), Verblendung (moha), Rausch (mada) und Neid (matsarya). <strong>Die</strong> sieben<br />
Etagen sind die sieben Zentren (cakra) im Körper. <strong>Die</strong>se sind: Muladhara-cakra,<br />
Svadhisthana-cakra, Manipura-cakra, Anahata-cakra, Vishuddha-cakra, Ajña-cakra und<br />
Sahasrara-cakra. <strong>Die</strong> acht Zimmer sind: die zwei großen Zehen, Knie, Hände, die Brust, und<br />
die Nase. <strong>Die</strong> neun Türen sind die neun Öffnungen des Körpers. <strong>Die</strong>se sind: die Augen,<br />
Ohren, Nasenlöcher, <strong>der</strong> Mund, <strong>der</strong> Anus und das Geschlechtsorgan.<br />
73<br />
O mein Herz, warum suchst du ihn<br />
Hier und da?<br />
Schau dir dein Haus mit den sieben Etagen an.<br />
In diesem Haus wirst du die höchste Wahrheit finden.<br />
Muladhara, Svadhisthana, Manipura kommen hintereinan<strong>der</strong>,<br />
Gefolgt von Anahata, Vishuddha und Ajña.<br />
<strong>Die</strong>se sechs muß man durchqueren.<br />
Im Muladhara mußt du anfangen,<br />
<strong>Die</strong> Leiter hinaufzusteigen.<br />
Durch den mittleren Kanal namens Sushumna<br />
Mußt du in die sechste (Etage) steigen.<br />
(Bist du hier angekommen,) so schau nach oben.<br />
Nun wirst du die siebte Etage sehen,<br />
Hier ist die Blume mit den tausend Blättern.<br />
<strong>Die</strong> Öffnung des Lotus zeigt nach unten.<br />
Sehr sanft ist er.<br />
In <strong>der</strong> Mitte ist <strong>der</strong> Lotus hell.<br />
Im Lotus sitzt er.<br />
Wenn du ihn siehst,<br />
Wird deine Verblendung enden.<br />
Hier ist <strong>der</strong> größte Schatz, den du suchst.<br />
Wenn du ihn siehst, wird <strong>der</strong> Nektar fließen<br />
Und dein Herz wird weich,<br />
Da du den verlorenen Schatz gefunden hast.<br />
Jetzt wirst du nicht mehr immer wie<strong>der</strong><br />
111
Auf die Welt zurückkommen.<br />
Gopala sagt: ’Wer außer dem Guru<br />
Wird einem (den Weg) zeigen?<br />
Fasse die Füße des Gurus,<br />
Dann wird dein Wunsch erfüllt werden. ‘<br />
74<br />
Wer hat dieses Haus gebaut?<br />
Gelobt sei <strong>der</strong> Handwerker!<br />
<strong>Die</strong> Technik ist wun<strong>der</strong>bar.<br />
Wo wohnt dieser Handwerker?<br />
Gelobt sei <strong>der</strong> Handwerker!<br />
Drei Pfosten tragen das Haus.<br />
Wie ordentlich (sie es tun)!<br />
(Das Haus) ist mit den Seilen festgebunden.<br />
Sie zählen fünfunddreißig Millionen!<br />
Das Haus hat neun Türen.<br />
<strong>Die</strong>s ist offensichtlich.<br />
Es hat unzählige Fenster, wer weiß wieviel!<br />
Das Haus ist vierzehn poya groß,<br />
<strong>Die</strong> vierzehn Welten sind darin.<br />
Das Haus ist gut gebaut und hat sechs Etagen.<br />
Über <strong>der</strong> sechsten gibt es noch eine Etage.<br />
Sie heißt die Etage <strong>der</strong> Juwelen.<br />
Hier glänzen die Edelsteine Tag und Nacht.<br />
Der Herr wohnt hierin.<br />
Der Handwerker ist so geschickt!<br />
Gelobt sei seine Intelligenz!<br />
Das Haus ist eine so wun<strong>der</strong>bare Maschine,<br />
Daß wenn man ihm sagt: „Gehe“, geht es.<br />
<strong>Die</strong>s ist keine Lüge, daß die Erde dieses Hauses spricht<br />
Und das Feuer in ihm brennt.<br />
(<strong>Die</strong> Erde und das Feuer) sind in einan<strong>der</strong> vermischt.<br />
Hier wohnen <strong>der</strong> Heilige und <strong>der</strong> <strong>Die</strong>b,<br />
Der Dämon und <strong>der</strong> Mensch.<br />
(In dem Haus gibt es) sowohl das Gift als auch den Nektar.<br />
Ananta denkt nach: „Wie kann ich das Haus erfassen?<br />
Obwohl ich in diesem Hause wohne,<br />
Habe ich den Herrn des Hauses noch nicht kennengelernt.<br />
Ich wan<strong>der</strong>e vergeblich hier und dort,<br />
Ohne das Haus zu kennen!“<br />
Erläuterung: In diesem Lied wird <strong>der</strong> menschliche Körper mit einem Haus verglichen. <strong>Die</strong><br />
drei Pfosten sind die drei Gunas. <strong>Die</strong>se sind: Sattva (Reinheit), Rajas (Aktivität) und Tamas<br />
(Trägheit). <strong>Die</strong> Seile sind die Kanäle (Nari), welche im Körper die Lebenskraft verteilen.<br />
<strong>Die</strong> neun Türen sind die neun Öffnungen (s. 72). <strong>Die</strong> Fenster sind die Poren. Da die<br />
vierzehn Welten sich im Körper befinden, wird er als vierzehn Poya, eine traditionelle<br />
Meßeinheit in West Bengal, groß gemessen. <strong>Die</strong> vierzehn Welten sind die sieben Himmel<br />
(svarga) und ebensoviele Unterwelten. <strong>Die</strong> sieben Himmel sind: Bhurloka, Bhuvarloka,<br />
Svarloka, Maharloka, Janarloka, Tapoloka und Satyaloka und die sieben Unterwelten sind:<br />
112
Tala, Vitala, Sutala, Mahatala, Talatala, Rasatala und Patala. Das Zimmer <strong>der</strong> Juwelen ist<br />
das Sahasrara-cakra, wo Gott wohnt. <strong>Die</strong> Erde und das Feuer sind zwei von den fünf<br />
Elementen. Der Körper beherbergt gegensätzliche Regungen, die mit den Heiligen und<br />
<strong>Die</strong>ben, Menschen und Dämonen bzw. Nektar und Gift verglichen werden.<br />
75<br />
O (mein) Geist, erkundige dich zu allererst<br />
über (deinen eigenen) Körper.<br />
Wie soll die spirituelle Übung vollbracht werden,<br />
Ohne die mystische Physiologie zu kennen?<br />
Bereise die vierzehn Welten in (deinem) Körper,<br />
<strong>Die</strong> sieben Himmel- und die sieben Unterwelten.<br />
76<br />
O (mein) Geist, suche die sieben Himmel-<br />
Und die sieben Unterwelten (im eigenen Körper),<br />
Damit du den (darin versteckten)Juwel findest.<br />
Beim Suchen und Weitersuchen<br />
Wirst du den schönen (Ort) Vrindavan erreichen.<br />
Fasse zu allererst die Wurzel in dem vierblättrigen Lotus<br />
In dem sechsblättrigen Lotus treffen sie sich.<br />
(Nun) werdet ihr zum Genießer.<br />
Später, wenn ihr im Manikotha das Juwel findet,<br />
Werdet ihr das Reichtum erlangen.“<br />
(ibid, S. 713)<br />
Erläuterung: Zeile Gott, das Juwel, wohnt im menschlichen Körper. Er hält sich versteckt.<br />
Vrindavan ist <strong>der</strong> Ort, wo Krishna und seine Geliebte Radha gelebt haben. Der Verfasser<br />
des Liedes meint, daß dieser göttliche Ort sich im menschlichen Körper verbirgt. Der<br />
Gottsuchende findet ihn mit Hilfe <strong>der</strong> spirituellen Übungen und Tantrayoga (s. Kapitel 5).<br />
Der vierblättrige und <strong>der</strong> sechsblättrige Lotus sind jeweils das Muladhara-cakra und<br />
Svadhisthana-cakra (s. Kapitel 3). Das Manikotha ist das Manipura-cakra (s. Kapitel 3).<br />
Das Wort Manipura bedeutet die Stadt <strong>der</strong> Juwelen.<br />
<strong>Die</strong> vierundzwanzig Tattvas<br />
77<br />
O (mein) Geist, informiere dich zu allererst<br />
Über deinen Körper.<br />
Ohne die Tattvas zu erkennen,<br />
Kann man keine Freude erlangen.<br />
In (deinem) Körper befinden sich die sieben Himmel<br />
Und die sieben Unterwelten.<br />
Wan<strong>der</strong>e durch (diese) vierzehn Welten.<br />
In diesem Körper gibt es die vierundzwanzig Tattvas.<br />
Aber du hast dich vom Guru<br />
Nicht unterweisen lassen, und (sie) nicht gesehen,<br />
Weil du ins Ich-Gefühl vernarrt bist.<br />
113
Erläuterung: <strong>Die</strong> vierundzwanzig Tattvas sind: <strong>Die</strong> vyakta Prakriti, Buddhi (Intellekt), auch<br />
Mahat genannt (<strong>der</strong> kosmische Intellekt), Ahankara (Ich-Bewußtsein), fünf Tanmatras<br />
(Feinelemente des Geräusches, Tastens, Geruchs, <strong>der</strong> Form und Geschmacks), Manas<br />
(Geist), fünf Jnanendriyas (Sinnesorgane: die Funktion vom Sehen, Hören, Riechen,<br />
Schmecken und Berühren), fünf Karmendriyas (Tatenorgane: Zunge, Füße, Hände,<br />
Ausscheidungsorgane und Reproduktionsorgane) und fünf Dhatus, auch Bhutas und<br />
Mahabhutas genannt (Großelemente: Erde, Wasser, Feuer, Wind und Äther). <strong>Die</strong><br />
vierundzwanzig Tattvas mit Purusha (Bewußtsein) bilden den Körper (s. Kapitel 4).<br />
78<br />
Wenn die vierundzwanzigeinhalb Gurus<br />
In deinem Körper sind,<br />
(Welcher von denen) wird <strong>der</strong> Hauptguru?<br />
Wessen Anweisungen folgst du?<br />
Lerne die vierundzwanzigeinhalb Lieben,<br />
Sei <strong>der</strong> Wagenlenker des Gurus,<br />
Dessen Sitze <strong>der</strong> Weg des Dharmas<br />
Und <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> Befreiung sind.<br />
Erläuterung: <strong>Die</strong> vierundzwanzigundeinhalb Gurus sind die obengenannten vierundzwanzig<br />
Tattvas und <strong>der</strong> Purusha. Warum <strong>der</strong> Purusha ein halbes Tattva genannt wird, konnten die<br />
<strong>Baul</strong>s <strong>der</strong> Autorin nicht erklären.<br />
79<br />
Sie gehorchen mir, dem Herrn, nicht.<br />
Sie haben mich ignoriert und weggeschickt.<br />
<strong>Die</strong> sechs Bewohner des Palastes.<br />
Sie sind keine einfachen Leute.<br />
Sie erkennen mich nicht als ihren König<br />
Und verbringen ihre Zeit mit sinnlosen Gesprächen.<br />
Auf dem guten Acker<br />
Tanzen sie mutwillig grob.<br />
Erläuterung: Der Palast ist <strong>der</strong> menschliche Körper, in dem die sechs Ungehorsamen<br />
wohnen. <strong>Die</strong>ses sind die sechs Feinde (ripus, s. 72). Der <strong>Baul</strong> möchte die Yogaübungen<br />
durchführen, aber die sechs Feinde machen seine Bemühungen zunichte.<br />
80<br />
Du hast dich in die Betrüger<br />
Bis zu den Ohren verliebt!<br />
<strong>Die</strong> Tage vergehen,<br />
Und du bleibst blind.<br />
O, die Leidenschaft, <strong>der</strong> Zorn -<br />
<strong>Die</strong> sechs Ripus - winken mir zu<br />
(Und) führen mich zum falschen Weg.<br />
81<br />
Als ich nach Hugli fuhr,<br />
Band ich das Boot an Kalnas Ufer fest.<br />
Am Ufer hatte ich fest geankert.<br />
114
(Aber) sechs Räuber taten sich zusammen,<br />
(Und) plün<strong>der</strong>ten das Lager im Boot.<br />
Das dicke Seil schnitten sie in Stücke,<br />
(Und) setzten das Boot in die Yamuna.<br />
Erläuterung: <strong>Die</strong> drei Flüsse die die drei Menstruationstage einer Frau. Während <strong>der</strong><br />
Menstruation seiner Partnerin kann <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> durch den Tantrayoga Gott erleben (s. Kapitel<br />
5). Er muß aber bei <strong>der</strong> Übung sehr achtsam sein und sich nicht von <strong>der</strong> Sinnlichkeit o<strong>der</strong><br />
weltlichen Gedanken verleiten lassen. <strong>Die</strong> sechs Feinde sind die sechs Ripus (s. 72)<br />
82<br />
O (du mein) Geist, (du) Kaufmann,<br />
Wenn (du) wach bleibst,<br />
Geschieht kein <strong>Die</strong>bstahl in (deinem) Gebäude.<br />
Sechs Räuber kommen,<br />
(Und) nehmen mit Gewalt alles mit.<br />
Wenn (du) wach bleibst,<br />
Wird kein <strong>Die</strong>bstahl geschehen,<br />
O (du mein) Geist, (du) Kaufmann.<br />
83<br />
Mein Geist ist das Boot.<br />
Seine sechs Ru<strong>der</strong>er tun immer schlechte Taten.<br />
In <strong>der</strong> Nähe des Ufers versenken<br />
Sie mich heute.<br />
84<br />
Mit fünf Elementen (s. oben) ist dieses Haus gebaut.<br />
An neun Türen (wachen) neun Torwächter.<br />
Trotzdem haben sechs Mäuse alles zerstört.<br />
O (mein) Geist, sag', was soll ich tun.<br />
85<br />
<strong>Die</strong>ser mein Körper ist das Boot.<br />
Es hat neun Löcher.<br />
Es fährt (dorthin,<br />
Wohin) <strong>der</strong> Strom <strong>der</strong> Welt es trägt.<br />
Es gibt sechs ungehorsame Ru<strong>der</strong>er.<br />
Sie kümmern sich nicht um die Richtung.<br />
Ich sterbe vor Angst,<br />
Ob sie das Boot mitten im Ganges sinken lassen!<br />
(Mein) Geist, <strong>der</strong> Steuermann,<br />
Ist blind auf beiden Augen.<br />
Er kann das Steuer nicht in die Gegenrichtung lenken.<br />
<strong>Die</strong> (Ru<strong>der</strong>er) haben das Segel <strong>der</strong> Guru-bhakti zerrissen<br />
Und meine Gedanken berauscht.<br />
Der Zorn hat das Steuer aus Bhakti zerstört,<br />
Und nun schwimme ich ohne Stütze.<br />
(Aber) die zwei (weiteren) Ru<strong>der</strong>er -<br />
Das Mitgefühl und die Rechtschaffenheit (dharma) -<br />
115
Haben meinen Zweifel beseitigt.<br />
(So) ist die Habgier (lobha) weggelaufen<br />
Und die Verblendung (moha) am Ufer gestorben.<br />
86<br />
Nicht nur ein Loch, son<strong>der</strong>n neun Löcher gibt es.<br />
Ohne die Lebenskraft ist das Innere gespalten.<br />
Kein Tropfen Wasser bleibt erhalten,<br />
Mag ich mit Klebstoff (die Löcher) reparieren,<br />
Soviel wie ich will.<br />
87<br />
Sechs Mäuse nagen an meinem Haus.<br />
Von vier Richtungen kommt <strong>der</strong> Wind herein,<br />
<strong>Die</strong> neun Türen sind nicht fest verschlossen.<br />
88<br />
<strong>Die</strong> neun Türen des Hauses sind offen.<br />
Drinnen im Hause wohnt <strong>der</strong> Mensch (d. h. Gott),<br />
Der ein Genießer ist.<br />
Nun halte deine Torwächter wach,<br />
Wirf die Falle und fange den Menschen (d. h. Gott).<br />
89<br />
Dreiundsechzig Flüsse voller Saft (nari)<br />
Fließen kräftig das Weltei (d. h. den Menschen) durchbohrend.<br />
Hierin, in diesem Menschen,<br />
Scheint ununterbrochen die Schönheit (d. h.Gott).<br />
90<br />
Mein Geliebter spielt im Manipura(-cakra).<br />
Dreihun<strong>der</strong>tundsechzig Flüsse voller Saft (nari)<br />
Fließen durch dieses Weltei (d. h. den Körper).<br />
Wenn man in diesem Fluß die Lebenskraft festbindet,<br />
kann man den Menschen (d. h. Gott) fangen.<br />
91<br />
<strong>Die</strong> Grundlage des Hauses sind die drei Grundstöcke.<br />
Wie (gut sind sie) geordnet!<br />
Seile (d. h. Naris), die miteinan<strong>der</strong> verknüpft sind,<br />
Zählen dreieinhalb Millionen.<br />
Das Haus hat neun Türen, es ist bewiesen.<br />
Erläuterung: <strong>Die</strong> drei Grundstöcke sind die drei Gunas (s. Kapitel 4).<br />
<strong>Die</strong> Kundalini-shakti und Cakras<br />
92<br />
O (mein) Geist, warum wan<strong>der</strong>st du noch draußen.<br />
Komm doch zu dir selbst.<br />
116
Der, den du da draußen suchst,<br />
befindet sich ständig im Ajña-cakra.<br />
<strong>Die</strong> Kulakundalini-shakti befindet sich im Muladhara(-cakra).<br />
Wecke sie auf mit Liebe.<br />
Wenn die Shakti aufwacht,<br />
Empfindet man die vollkommene Freude.<br />
Schau dir doch einmal dein wahres Wesen an,<br />
Das die reine Glückseligkeit ist.<br />
Links ist die Ira-nari, rechts die Pingala(-nari).<br />
Sie spielen (versunken) im Raja- und Tama-guna.<br />
In <strong>der</strong> Mitte befindet sich die Sushumna(-nari).<br />
Warum hältst du dich nicht liebevoll fest an ihr?<br />
(Tue es,) dann wird durch das Wissen<br />
<strong>Die</strong> Wahrheit über dein (wahres) Wesen<br />
In dir selbst aufgehen.<br />
(<strong>Die</strong> Wahrheit,) die du draußen suchst.<br />
93<br />
<strong>Die</strong> sechs Feinde, das Kama und die an<strong>der</strong>en,<br />
Sind freundlich geworden.<br />
Sie haben die Betrügerei aufgegeben<br />
Und sich vollständig<br />
Den roten Füßen ergeben.<br />
In <strong>der</strong> Blume mit zwei Blütenblättern,<br />
Am heiligen Ort, wo die drei Flüsse sich treffen,<br />
Sitzt Shashanka-shekhara mit Gauri auf (seiner) linken Seite.<br />
Wenn ich dieses Radha-und-Shyam-(Bild) sehe,<br />
Füllen sich meine Augen voller Freude mit Tränen.<br />
Im Muladhara, im Lotus mit vier Blütenblättern,<br />
Schlief die Schlange mit dem Kopf nach unten.<br />
Geweckt und erschrocken durch heftiges Schaukeln,<br />
Blickt sie liebevoll mit dem Kopf nach oben.<br />
Erläuterung: Zeile 1-4: Der <strong>Baul</strong> hat die sechs Feinde (ripus, s. 72) besiegt. Sie stören ihn<br />
nicht mehr beim Yoga. Zeile 5-9: <strong>Die</strong> Blume mit den zwei Blütenblättern ist das Ajña-cakra<br />
(s. Kapitel 3), wo die drei Kanäle Ira-nari, Pingala-nari und Sushumna-nari (s. Kapitel 3),<br />
die hier mit drei Flüssen verglichen werden, sich treffen. Im Ajña-cakra treffen sich Shiva<br />
und Shakti bzw. Krishna und Radha (s. Kapitel 4). Shashanka-shekhara und Gauri sind<br />
weitere Namen Shivas und Durgas. Shyam ist ein weiterer Name Krishnas. Der Verfasser<br />
freut sich über das Treffen von Gott und seiner Shakti im Ajña-cakra, das er im Yoga<br />
wahrnimmt. Zeile 10-13: <strong>Die</strong>se Zeilen sagen, daß <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> mit seiner Yogaübung die<br />
Kundalini-Shakti erweckt hat und daß sie jetzt nach Gott im Sahasrara-cakra (s. Kapitel 3<br />
und 4) schaut.<br />
94<br />
O (mein) Geist, warum suchst du ihn<br />
Hier und da?<br />
Schau dir dein Haus<br />
Mit sieben Etagen an.<br />
Im Haus selbst wirst du<br />
117
<strong>Die</strong> Wahrheit finden.<br />
Muladhara, Svadhisthana und Manipura<br />
Folgen einan<strong>der</strong>, wisse dies;<br />
Anahata, Vishuddha und Ajña,<br />
<strong>Die</strong>se sechs muß sie durchqueren.<br />
Vom Muladhara steigt die Treppe hinauf,<br />
In <strong>der</strong> Mitte befindet sich die Sushumna-nari<br />
Auf die sechste (Etage) gestiegen,<br />
Wirst du ihn oben sehen.<br />
Du wirst die siebente Etage sehen,<br />
Hier ist die Blume mit Tausend Blättern.<br />
95<br />
Wenn du in die entgegengesetzte Richtung gehen willst,<br />
Dann sollst du deine Schätze pflegen.<br />
Von diesen Schätzen wirst du ernten.<br />
In deinem inneren Raum<br />
Gibt es sieben Etagen,<br />
Suche dir den Schüssel dafür.<br />
Schließe das Schloß auf, gehe geradeaus<br />
Und du wirst den Geliebten (d. h. Gott) finden.<br />
Das Boot sollst du selbst ru<strong>der</strong>n,<br />
So wirst du die Zeit angenehm verbringen.<br />
Wenn du gute Ware hast,<br />
Wirst du im Lagerraum auf dem Aufsehersitz gut sitzen.<br />
<strong>Die</strong> sechs Ru<strong>der</strong>er sind ungehorsam.<br />
<strong>Die</strong> mußt du auf dem richtigen Weg halten.<br />
Der demütige Phatik sagt: „Wenn sie unehrlich werden,<br />
Töte sie mit dem Messer des Wissens“<br />
Erläuterung: Der <strong>Baul</strong> geht die entgegengesetzte Richtung, da er seine Samen nicht verliert,<br />
son<strong>der</strong>n ihn zurückhält (s. Kapitel 5). Der Samen ist sein Schatz, die gute Ware, <strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />
sexuellen Liebe unbefleckt ist. <strong>Die</strong> sechs ungehorsamen Ru<strong>der</strong>er sind die sechs Feinde<br />
(ripus, s. 72).<br />
96<br />
Wenn du Hari fangen willst,<br />
Dann nimm die Hilfe von Shakti.<br />
Parama-brahma(n) und Hari sind ein und <strong>der</strong>selbe.<br />
Der Unfaßbare sitzt im Herzen <strong>der</strong> Menschen.<br />
Im Muladhara ist die Mutter des Universums,<br />
Im Sahasrara ist <strong>der</strong> Vater des Universums.<br />
Wenn man diese beiden vereinigen kann,<br />
Ist man frei von <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburt und vom Tod.<br />
97<br />
Das Muladhara gehört dem Bewußten (d. h. Gott) selbst.<br />
Sag nun, wer soll es denn aufwecken?<br />
Das Muladhara gehört Gott selbst.<br />
Wenn du weißt, wer du bist<br />
118
Wirst du befreit.<br />
In diesem Topf befinden sich alle Welten.<br />
Warum suchst du sie draußen umsonst?<br />
In diesem Körper, <strong>der</strong> vierzehn Poya groß ist,<br />
Leben alle groben und feinen Lebewesen.<br />
Sie haben in diesem Haus ihre Häuser gebaut.<br />
Sie trinken Kondensmilch im Wasser.<br />
Im Bewußtsein weilen <strong>der</strong> Schwan und die Schwänin.<br />
Erde, Wasser, Feuer, Wind und Äther<br />
Haben diesen Körper gebaut.<br />
Vergiß niemals<br />
<strong>Die</strong>se fünf Elemente<br />
Und die fünfundzwanzig Sachen (gemeint sind die vierundzwanzig Tattvas + <strong>der</strong> Purusha).<br />
<strong>Die</strong> mystische Kraft, die im Ajña-cakra wohnt,<br />
Macht alles dunkel mit ihrer Zauberkraft.<br />
Nur <strong>der</strong> menschliche Körper ist für den Mahayoga geeignet, daher ist die<br />
Menschgeburt (manav-janma) wertvoll<br />
98<br />
Als Ergebnis welch (glücklichen) Schicksals,<br />
Weiß ich nicht,<br />
O (mein) Geist, hast du dieses<br />
Menschenboot erlangt!<br />
In diesem Menschen(körper)<br />
Wird die spirituelle Übung<br />
Für die Glückseligkeit durchgeführt.<br />
Nur deshalb schuf Gott den Menschenkörper.<br />
99<br />
Der Wunsch nach Menschgeburt<br />
Vieler Götter wird nicht erfüllt!<br />
(O mein Geist,) <strong>der</strong> Barmherzige,<br />
Hat dir eine so wertvolle Geburt geschenkt!<br />
Warum willst du sie vergeuden?<br />
Durch wieviele hun<strong>der</strong>ttausend Geburten<br />
(In <strong>der</strong> Tier- und Pflanzelwelt)<br />
Bist du gewan<strong>der</strong>t<br />
(Bis du als ein Mensch geboren bist)!<br />
O (mein) Geist, was machst du<br />
Jetzt, wo du im Menschengeschlecht geboren bist?<br />
100<br />
<strong>Die</strong> Menschgeburt ist für einen ohne Nutzen,<br />
Dessen Geist die Lehre nicht lernt.<br />
Du bist durch achtmillionenundvierhun<strong>der</strong>ttausend Geburten<br />
Gewan<strong>der</strong>t,<br />
Und trotzdem, o Geist, nicht aufgewacht.<br />
Als ein Baum bist du<br />
Dreimillionenmal geboren.<br />
119
Neunhun<strong>der</strong>ttausendmal bist du<br />
Als ein Insekt im Wasser geschwommen.<br />
Eine Million Geburten hast du<br />
In <strong>der</strong> Form einer Made verbracht.<br />
Eine Million und hun<strong>der</strong>ttausend Geburten<br />
Bist du (als ein Vogel) am Himmel geflogen.<br />
Zwei Millionen Geburten hast du<br />
Unter Tieren verbracht.<br />
Von einer Kalbgeburt hast du dich<br />
Zu einer Menschgeburt hochgearbeitet,<br />
<strong>Die</strong>s sagen die heiligen Schriften.<br />
Vierhun<strong>der</strong>ttausendmal bist du<br />
Im Menschengeschlecht geboren,<br />
(Und) immer noch hast du die Erleuchtung<br />
Nicht erlangt!<br />
101<br />
Der menschliche Körper ist <strong>der</strong> Acker,<br />
Den man sich nur wünschen kann!<br />
Wird er gepflegt, erbringt er Juwelen.<br />
Der Wunsch, weshalb man in diese Welt gekommen ist,<br />
Wird erfüllt,<br />
Wird (<strong>der</strong> Körper) zum günstigen Zeitpunkt beackert.<br />
Halte den Pflug des Karma<br />
Und beackere mit Hilfe von sechs Bullen.<br />
Wurde zur rechten Zeit die Saat gesät,<br />
Erntet man Juwelen, wenn die Zeit reif ist.<br />
Erläuterung: <strong>Die</strong> sechs Bullen sind die sechs Feinde (ripus, s. 72). Der <strong>Baul</strong> muß sie zähmen<br />
und für sich arbeiten lassen, allerdings wird in dem Lied nicht gesagt wie.<br />
102<br />
Gedanke, ich sehe keinen so dummen Bauern wie dich.<br />
Dein Körper-Acker liegt brach, (du) hast ihn nicht bestellt!<br />
Was machst du,<br />
Wenn die Laufburschen des (Totengottes) Samana<br />
Kommen,<br />
Dich peinigen, dich an deinen Haaren fassen.<br />
Wie willst du da die Rechnung begleichen?<br />
Hast du dir Gedanken darüber gemacht?<br />
Lie<strong>der</strong> über Gott<br />
Gott als Krishna, die Muttergöttin Kali, Shiva, Vater und Gott an<strong>der</strong>er <strong>Religion</strong>en<br />
<strong>Die</strong> beliebtesten Namen Krishnas in West Bengal sind: Gadadhara, Gopal, Govinda, Hari,<br />
Kala, Kaliya, Kanai, Kanu, Krishna, Krishna-candra, Madan-mohan, Madhusudan, Mohan,<br />
Mukunda, Murari, Nan<strong>der</strong> nandan, Narayan, Rama, Shyam, Vanamali, Vraja-balak etc.<br />
120
<strong>Die</strong> beliebtesten Namen von Kali in West Bengal sind: Annapurna, Bhadra-kali, Bhagavati,<br />
Bhavani, Bhuvaneshvari, Camunda, Candi, Candika, Dasbhuja, Devi, Digambari, Elokeshi,<br />
Gauri, Jagattarini, Kali, Kalika, Maha-kali, Mahamaya, Mahisha-mardini, Narayani,<br />
Nrimunda-malini, Parbati, Shivani, Shyama, Tara und Uma.<br />
<strong>Die</strong> beliebtesten Namen von Shiva in West Bengal sind: Bhairav, Candra-sekhar, Mahadeva,<br />
Mahakala, Mahayogi, Maheshvar, Nataraj, Pasupati, Rudra, Shashanka-shekhar, Shiva etc.<br />
103<br />
(Krishna,) wen gibt es noch wie dich auf dieser Welt?<br />
Wer kann so lieben wie du?<br />
Wie die liebende Mutter des Universums<br />
Trägst du die Welt in deinem Schoß.<br />
Wie reichlich hast du die Welt<br />
Mit Reichtum und Getreide versorgt,<br />
Hast alles für die Lebewesen bereitgestellt!<br />
Mit wieviel Liebe!<br />
Du bist Gott zu Hause,<br />
Der den Lauf aller (Dinge) bestimmt.<br />
Du wohnst in jedem Haus.<br />
Wie schön ist das! Du hast das Kind,<br />
Den Alten und den Jugendlichen<br />
Durch dieSchnur <strong>der</strong> Liebe miteinan<strong>der</strong> verbunden.<br />
Wie eine Mutter!<br />
Ergebenst bitte ich dich, o du barmherziger Hari,<br />
(Gib mir die Fähigkeit,) daß ich in Freude und Leid dich sehe;<br />
Daß ich dich in meinem Herzen trage,<br />
Daß ich dich mit Herzensfreude sehe<br />
Und in deine Schönheit eintauche.<br />
104<br />
Der Anfang des Anfangslosen ist<br />
Das Juwel Krishna,<br />
Wo gab es da jemals wirklich ein Kuhhirtenspiel?<br />
Als Brahman ist er unbeweglich.<br />
Der Spielende ist seine Inkarnation.<br />
Krishna, <strong>der</strong> Vollmond, ist <strong>der</strong> Meister im Genießen.<br />
In seinem Körper erwacht die Shakti.<br />
Zwischen Shakti und Kopf besteht<br />
<strong>Die</strong> große Anziehungskraft.<br />
Sie wird in den Veden und Agamas Vishnu genannt.<br />
<strong>Die</strong> Weisen stützen sich auf die Wahrheit<br />
Und verkünden in den Veden und Agamas:<br />
„Das vollkommene Brahman ist<br />
Das reine Bewußtsein und die Glückseligkeit.<br />
(Für ihn) gibt es keine Geburt,<br />
Keinen Tod auf dieser Welt.“<br />
Aber trotzdem ist <strong>der</strong> Sohn von Nanda (d. h. Krishna)<br />
Nicht das formlose Brahman.<br />
121
Erläuterung: Hier wird auf die Inkarnationstheorie (Bhagavadgita IV, 7-8) zurückgegriffen.<br />
Krishna, die Inkarnation Vishnus verbrachte seine Kindheit und Jugend als Kuhhirte. Der<br />
Verfasser meint, da Krishna eigentlich das formlose Brahman ist, war sein Kuhhirtendasein<br />
nur eine Erscheinung. In einem menschlichen Körper wohnt Shakti im Beckenplexus und<br />
Krishna in <strong>der</strong> Fontanelle. Da sie sich treffen wollen, besteht eine Anziehungskraft im<br />
menschlichen Körper (s. Kapitel 3 und 4). Der Verfasser meint, daß diese Anziehungskraft<br />
in den heiligen Schriften Agamas 0 Vishnu genannt wird. Hier darf erwähnt werden, daß<br />
diese Ansicht nicht dem konventionellen Bild von Vishnu in Vishnu-purana entspricht. Zeile<br />
11-18: Krishnas Pflegeeltern waren <strong>der</strong> Kuhhirte Nanda und seine Frau Yasoda. Krishna ist<br />
zwar essentiell identisch mit dem formlosem Brahman, aber gleichzeitig ist <strong>der</strong> Körper<br />
Krishnas keine reine Erscheinungsform, er ist real existent. Hier wi<strong>der</strong>spricht <strong>der</strong> Verfasser<br />
seiner Behauptung in den Zeilen 3-4.<br />
105<br />
Ich habe mit meiner Mutter (gemeint ist die Göttin Kali)<br />
Großen Streit.<br />
O! Sie hört allen zu,<br />
Nur meinen Aussagen schenkt (sie) kein Gehör.<br />
Sie liebt mich überhaupt nicht.<br />
Erschöpft wan<strong>der</strong>e ich stets durch die Straßen.<br />
Sie versorgt jeden Haushalt mit Reis,<br />
nur in meinem Haus habe ich keinen Reis.<br />
Meine Mutter ist schwarz wie die Dunkelheit<br />
Sie spendet <strong>der</strong> Welt Licht!<br />
O! Obwohl ich so dicht am Licht mich befinde,<br />
Verschwindet nicht die Dichte meiner Unwissenheit.<br />
Erläuterung: Zeile 7 deutet auf den Namen Annapurna (reich an Speise) <strong>der</strong> Göttin Kali. Als<br />
Annapurna ernährt sie die Welt.<br />
106<br />
Beschwere dich bei <strong>der</strong> Mutter.<br />
Dazu brauchst du keine Zeugen<br />
O<strong>der</strong> Beweismaterialien.<br />
Ihr ist alles bekannt,<br />
Denn die beiden Augen <strong>der</strong> Mutter<br />
Sind wie die Sonne und <strong>der</strong> Mond.<br />
Sie brennen Tag und Nacht.<br />
Um den bösen (Todsesgott) Samana zu besiegen,<br />
Hat die Mutter noch ein Auge.<br />
Nimm deinen Guru als deinen Anwalt.<br />
<strong>Die</strong> Gerichtskosten zahlst du mit Tränen.<br />
Shyama sitzt (auf ihrem Thron),<br />
Um die Könige <strong>der</strong> Könige<br />
Zu bestrafen.<br />
107<br />
Mutter, du selbst bist dein Ebenbild.<br />
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich<br />
(Deine) bezaubernde Schönheit!<br />
122
Deine unbegrenzte, unübertreffliche Form<br />
Erscheint in <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Beweglichen und Unbeweglichen.<br />
Du bist in dem Vedanga und Vedanta.<br />
Als das formlose Ebenbild,<br />
Bist du vollständig formlos,<br />
Als das Formvolle manifestierst du dich<br />
Wie<strong>der</strong>um als die Welt,<br />
Du existierst in dir selbst.<br />
Mein verwirrter Gedanke beschreibt,<br />
Mutter, deine Ebenbil<strong>der</strong>.<br />
Wo besteht <strong>der</strong> Unterschied zwischen Uma<br />
Und den an<strong>der</strong>en Göttern?<br />
O du omnipräsente (Mutter)!<br />
Du erscheinst selbst als Shiva.<br />
In den Veden bist du das formlose Brahman,<br />
In <strong>der</strong> Vielfalt das Ichbewußtsein.<br />
Im Menschenkörper bist du das Bewußtsein.<br />
Als die goldene Mutter bist du Mahishamardini,<br />
Bei <strong>der</strong> Tötung von Nishumbha<br />
Erscheinst du als Nrimundamalini.<br />
Du existierst in dir selbst.<br />
Erläuterung: Uma, Mahisamardini (Vernichterin des Büffeldämons) und Nrimundamalini<br />
(Trägerin <strong>der</strong> Halskette aus Menschen-, eigentlich Dämonen-köpfen) sind weitere Namen<br />
<strong>der</strong> Göttin Kali. <strong>Die</strong> Geschichten in Devi-mahatmya<br />
108<br />
O Menaka, verhülle dein Gesicht!<br />
Nach solch sorgfältiger Auswahl<br />
Hast du gerade den ewigen Nackten<br />
Zu deinem Schwiegersohn gemacht!<br />
Das goldene junge Mädchen<br />
Hast du mit einem alten Mann verheiratet!<br />
Beim Gehen fällt er um auf <strong>der</strong> Straße,<br />
Bei (starkem) Wind wackeln seine Zähne,<br />
O Menaka, das sieht toll aus!,<br />
Wie die (niedliche) Kuhglocke am Hals eines Elefanten!<br />
Er trägt an <strong>der</strong> Lende das Tigerfell.<br />
Der Kerl ohne Eigenschaften raucht Hanf.<br />
Er hält einen Dreizack in <strong>der</strong> Hand.<br />
Er trägt verklettete Haare (als Frisur).<br />
Er stellt sich an wie ein Bettler<br />
(Er) wohnt im Krematorium,<br />
Er ist <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong> Gespenster.“<br />
Der Vater <strong>der</strong> Welt sagt nach einigem Nachdenken:<br />
„Menaka, du hast dich von <strong>der</strong> weißen Hautfarbe (Shivas)<br />
Verblenden lassen!“<br />
Erläuterung: <strong>Die</strong>s ist ein beliebtes Lied <strong>der</strong> <strong>Baul</strong>s. <strong>Die</strong> Autorin hat es auf mehreren Melas<br />
(Treffen, s. Kaüpitel 5), an denen <strong>Baul</strong>s von verschiedenen Wohngemeinschaften<br />
123
teilnahmen, gehört. Es erzählt von <strong>der</strong> Hochzeit von Göttin Parvati, auch Uma genannt, und<br />
Gott Shiva. Zeile 1-6: Nach ihrem Freitod wurde Sati, die Gemahlin Shivas, als die Tochter<br />
vom Himalaya und seiner Frau Menaka geboren. Sie hieß nun Parvati. Da <strong>der</strong> Ehebund auch<br />
nach dem Tod gilt, war sie weiterhin mit Shiva verheiratet. Daher wollte sie auch in diesem<br />
Leben Shiva heiraten, obwohl sie durch die Wie<strong>der</strong>geburt jetzt wesentlich jünger war als<br />
Shiva. Sie überzeugte ihre Eltern von ihrer Liebe zu Shiva und die Eltern verheirateten sie<br />
mit ihrem Auserwählten. Zeile 7-10: Hier werden die Altersschwächen Shivas übertrieben.<br />
Zeile 11-17: <strong>Die</strong>se Zeilen beschreiben Shivas Aussehen und Gewohnheiten im tieferen<br />
Sinne. Shiva hat keine Eigenschaften, da er über den drei Eigenschaften (guna) <strong>der</strong> Prakriti<br />
(s. Kapitel 4) steht. <strong>Die</strong>se Eigenschaften sind Reinheit (sattva), Aktivität (rajas) und<br />
Trägheit (tamas). Alle Dinge, die wir wahrnehmen, beinhalten diese Eigenschaften. Er ist<br />
<strong>der</strong> Herr aller Gespenster, d. h. er ist <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong> Welt. Zeile 18-20: Der Verfasser nennt<br />
Gott Brahma an dieser Stelle den Vater <strong>der</strong> Welt, da er <strong>der</strong> Schöpfer <strong>der</strong> Welt ist. Shivas<br />
Hautfarbe ist weiß, was in Indien bekanntlich als schön gilt.<br />
109<br />
Shiva im Berg Kailasa ist ein Verrückter.<br />
(Er ist) verrückt geworden,<br />
Nachdem er (den Nektar <strong>der</strong> Liebe) getrunken hat<br />
(Nun hat) er (auch noch den Saft von) Hanf und Datura Alba<br />
bis aufs Letzte ausgetrunken!<br />
110<br />
Herr, unbeschreiblich ist<br />
Deine Barmherzigkeit.<br />
Wenn ich daran denke,<br />
Fließen mir unaufhaltsam die Tränen.<br />
Auch wenn ich Taten vollbringe, die dir nicht gefallen,<br />
Liebst du mich.<br />
Herr, ich vergesse dich,<br />
Aber du vergißt mich nicht!<br />
Herr, ich verliere dich aus meinen Augen,<br />
Aber du behältst mich immer im Auge!<br />
Du möchtest mir ein freudiges Leben schenken,<br />
Aber ich bleibe undankbar!<br />
111<br />
O Vater des Universums,<br />
Auf deinem großen Thron sitzend hörst du<br />
Deine selbstverfaßte Hymne,<br />
Das Lied des großen Universums.<br />
Ich, <strong>der</strong> Unbedeutendste auf <strong>der</strong> Erde,<br />
Bin gekommen mit meiner Stimme<br />
An deine Tür<br />
Ich habe nur einen Wunsch.<br />
Ich bitte dich um Audienz,<br />
Damit ich dir ein Lied vorsingen kann.<br />
Ich bin gekommen, um dort in dem Hof<br />
Wo die Sonne und <strong>der</strong> Mond (deine Glorie) singen,<br />
In einer Ecke Platz zu nehmen.<br />
124
Hier möchte dein Ergebener dein Loblied singen.<br />
112<br />
Er ist formlos. Er ist ohne Form.<br />
Gelobt sei er in dieser Welt.<br />
Er ist <strong>der</strong> Vater von allen - von Göttern,<br />
Gandharvas und Menschen.<br />
113<br />
Kali, Krishna, God, Khoda -<br />
In keinem Namen finde ich ein Hin<strong>der</strong>nis.<br />
Nur die Streitsüchtigen<br />
Sehen hier einen Unterschied.<br />
Laß' dich davon nicht beeinflussen.<br />
O mein Herz, rufe Kali, Kali, God, Khoda.<br />
Erläuterung: <strong>Die</strong> Christen in Indien nennen Gott nicht Ishvar o<strong>der</strong> Bhagavan, wie die<br />
Hindus es tun, son<strong>der</strong>n in Anlehnung an Englisch God.<br />
Über die Liebesbeziehung zwischen Gott und dem Menschen<br />
114<br />
Wenn es mich nicht gäbe, worauf wärest du denn stolz?<br />
Nun sage mir, ich will es wissen, wer ist groß und wer ist klein?<br />
Solange ich nicht da bin,<br />
Wer spricht dich an als du?<br />
Was soll (die Diskussion über) deine Existenz o<strong>der</strong> meine Existenz<br />
Ohne mich gibt es dich nicht.<br />
Wenn du sagst, du bist <strong>der</strong> Ursprung,<br />
Dann werde ich sagen: ‘Du siehst die halbe Wahrheit.<br />
Gibt es einen Baum, so gibt es auch seine Blumen<br />
(Und) gibt es Feuer, so gibt es auch Asche.’<br />
Wenn du mich eines Tages verläßt,<br />
So werde ich sehen, wie du ohne mich existieren kannst.<br />
Will ich dich loswerden, klammerst du dich an mich.<br />
Nun bin ich verpflichtet, (dich zu lieben).<br />
Gott wohnt im Menschenkörper, und ist daher dort zu suchen<br />
115<br />
In (diesem) Menschen weilt <strong>der</strong> (an<strong>der</strong>e) Mensch (d. h. Gott).<br />
Suche (Gott im eigenen Körper).<br />
In einer Menschengeburt<br />
Wird diese Wahrheit erkannt.<br />
116<br />
Das größte Juwel läßt du (ungeachtet) in deinem Hause, o du Narr,<br />
(Und) suchst es draußen.<br />
Du tanzst nach <strong>der</strong> Pfeife frem<strong>der</strong> Leute.<br />
Im Tageslicht verhältst du dich wie ein Einäugiger<br />
125
(Und) findest es nicht.<br />
Du hättest es in deiner Nähe finden können,<br />
Hättest du beim Suchen<br />
Deine Augen aufgemacht!<br />
117<br />
Der an<strong>der</strong>e Mensch (d. h. Gott) wohnt in diesem Menschen.<br />
Wieviele Weisen suchen ihn seit vier Yugas draußen!<br />
Wie wenn <strong>der</strong> Mond sich im Wasser spiegelt,<br />
(Und) man will ihn dort fassen!<br />
So sitzt er immer<br />
Im Licht (und nicht im Spiegelbild).<br />
Er wohnt in <strong>der</strong> unbekannten Blume (gemeint ist das Sahasrara-cakra).<br />
In <strong>der</strong> Blume mit zwei Blütenblättern (gemeint ist das Ajña-cakra)hält er sich auf.<br />
Wer die Blumen kennt,<br />
Wird ihn ohne Schwierigkeit sehen.<br />
Was bin ich nur verwirrt, o mein Herz,<br />
Daß ich draußen meinen eigenen Schatz suche.<br />
118<br />
Man findet ihn im eigenen Körpertempel.<br />
Dort spricht <strong>der</strong> Vater des Universums<br />
Mit einer sehr süßen, angenehmen Stimme.<br />
Er kennt das Versteckspiel gut.<br />
Keiner sieht ihn.<br />
Er ist formlos, geehrt von <strong>der</strong> Welt.<br />
Er ist das Leben des Universums.<br />
Er wohnt im Lotus mit tausend Blütenblättern (gemeint ist das Sahasrara-cakra).<br />
Er verkehrt im Lotus am Nabel (gemeint ist das Manipura-cakra).<br />
Man kann ihn nicht leicht fassen.<br />
Augenblicklich zerstört er (alle Bemühung).<br />
Lerne dich selbst kennen,<br />
Sei wachsam Tag und Nacht.<br />
Vielleicht wird dann <strong>der</strong> Schatz seine Gnade zeigen.<br />
119<br />
Glaube an diesen Menschen.<br />
Wisse, daß dieser Mensch <strong>der</strong> Wohnort <strong>der</strong> Wahrheit ist.<br />
Ohne diesen Menschen<br />
Kann <strong>der</strong> reine Mensch (d. h. Gott)<br />
Nicht erreicht werden.<br />
In diesem Menschen wohnt<br />
Der an<strong>der</strong>e Mensch (d. h. Gott).<br />
Seine Natur ist unerreichbar.<br />
(Er ist) das tranzendentale Brahman,<br />
Der höchste Purusha.<br />
An diesem Menschen festhaltend wirst du<br />
(Den Ozean <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten) überqueren.<br />
126
120<br />
Fünf Elemente<br />
Haben diesen Bungalow gebaut.<br />
Er steht (und) ist vierzehn Ellen lang.<br />
O, dieses Haus hat neun Türen - Oh, ho, ho !<br />
Der Bewohner ist kein Frem<strong>der</strong>.<br />
Er wohnt da drinnen.<br />
<strong>Die</strong> höchste Person<br />
Ist hier immer anwesend.<br />
121<br />
Man findet ihn, wenn man ihn im eigenen Körper,<br />
Der dem Tempel gleicht, sucht!<br />
Dort spricht <strong>der</strong> Vater des Universums<br />
In lieblichen Tönen!<br />
Er kann sich gut verstecken,<br />
So daß keiner ihn findet.<br />
Er ist formlos, verehrungswürdig,<br />
Das Leben <strong>der</strong> Welt.<br />
122<br />
Der an<strong>der</strong>e Mensch<br />
Lebt in diesem Menschen.<br />
<strong>Die</strong> Weisen und Heiligen suchen ihn vergeblich<br />
Seit vier Yugas dort draußen.<br />
O mein Herz, ich bin dem Irrtum verfallen<br />
Und suche den Schatz, <strong>der</strong> in mir steckt, draußen!<br />
Das Sahasrara-cakra, <strong>der</strong> genaue Wohnort Gottes im menschelichen Körper<br />
123<br />
Das Haus ist kompakt (gebaut),<br />
(Und) hat sechs Etagen.<br />
Darüber gibt es noch eine Etage,<br />
(Sie) heißt die Etage <strong>der</strong> Edelsteine,<br />
Hier leuchten Tag und Nacht Edelsteine,<br />
Der Hausherr wohnt hier.<br />
Ananta denkt nach: „wie erfasse ich das Haus?<br />
Obwohl ich in diesem Haus wohne,<br />
Habe ich den Hausherrn<br />
Nicht kennengelernt!“<br />
124<br />
Das Haus hat sieben Etagen<br />
Sein Amtsgericht ist in Alipur.<br />
Wenn du diesen Bau begriffen hast,<br />
Wirst du ein vornehmer Herr werden.<br />
127
Erläuterung: Der Ort Alipur liegt in <strong>der</strong> Nähe von Kalkutta. Das zuständige Amtsgericht<br />
befindet sich hier. Das Sahasrara-cakra wird hier mit dem Amtsgericht, und damit Gott mit<br />
dem Richter verglichen.<br />
125<br />
Wie schön ist <strong>der</strong> Lotus mit zwei Blütenblättern (gemeint ist das Ajña-cakra)!<br />
Das Leuchten von einem Berg von Juwelen blitzt hier.<br />
<strong>Die</strong>ser ewige Himmel ist wie die Nicht-Welt.<br />
Hier existiert die ungeteilte Brahma-Welt.<br />
Wenn <strong>der</strong> Lotus mit zwei Blütenblättern erkannt ist,<br />
Ist alles erkannt.<br />
126<br />
Wie willst du ihn fangen?<br />
Er transzendiert die Lehre <strong>der</strong> Veden<br />
Über <strong>der</strong> siebten Etage.<br />
In einem schwer begehbaren Zimmer wohnt Gott.<br />
Der Mond und die Sonne haben hier keinen Zutritt.<br />
Mit seinem eigenen Licht leuchtend<br />
Sitzt er im Tempel.<br />
Er hat keine Hände, kann (aber) fangen.<br />
(Er hat) keine Augen, sieht (aber) alles.<br />
(Er hat) keine Füße, kann (aber) gehen,<br />
Wohin er will.<br />
Leute die Cakras durchqueren können,<br />
Könnten ihn möglicherweise fangen.<br />
Candi sagt: „O du Ungläubiger,<br />
Du hast (noch) nicht in das Zimmer eintreten können!“<br />
127<br />
Das Zimmer ist<br />
Auf allen vier Seiten<br />
Mit Spiegeln dekoriert.<br />
In <strong>der</strong> Mitte sitzt <strong>der</strong> Vogel,<br />
Und ist glückselig.<br />
Brü<strong>der</strong>, schaut euch das an!<br />
Man kann ihn nicht fangen<br />
Mit <strong>der</strong> ausgestreckten Hand.<br />
Wenn einer (ihn) sehen möchte,<br />
Dann soll er den Guru erkennen<br />
Und ihn (um die Führung) bitten.<br />
Er wird ihm (den Weg) zeigen.<br />
128<br />
Er kennt das Verstecken gut.<br />
Keiner kriegt ihn zu sehen.<br />
Formlos (ist es), das von <strong>der</strong> Welt verehrte,<br />
Das Leben <strong>der</strong> Welt!<br />
Er wohnt im Lotus mit tausend Blütenblättern (d. h. Sahasrara-cakra)<br />
Und bewegt sich in dem Lotus am Nabel (d. h. Manipura-cakra).<br />
128
Über Gottes Vereinigung mit Shakti und den Mahayoga<br />
129<br />
In <strong>der</strong> Mündung <strong>der</strong> drei Flüsse<br />
Kommt die Flut.<br />
In dem Meer <strong>der</strong> Freude spielt <strong>der</strong> Mensch (d. h. Gott)<br />
Sich vergessend.<br />
Das Meer <strong>der</strong> Freude schwappt über.<br />
Im Behälter ist <strong>der</strong> Nektar.<br />
Im Wasser <strong>der</strong> Freude<br />
Schwimmt er spielerisch.<br />
Um die Menschen zu befreien,<br />
Kommt <strong>der</strong> Mensch (d. h. Gott) und schwimmt.<br />
Der Neumond (amavasya) ist hierfür ungeeignet.<br />
Der Tag <strong>der</strong> Flut ist <strong>der</strong> richtige Zeitpunkt.<br />
Der Neumond, <strong>der</strong> erste Tag nach dem Neumond<br />
Und <strong>der</strong> zweite Tag nach dem Neumond,<br />
<strong>Die</strong>se drei Tage sind (für das Ritual) vorgesehen.<br />
O mein Herz, wenn du den Unfaßbaren Menschen (d. h. Gott) fassen willst,<br />
So bleibe diese drei Tage neben dem Fluß.<br />
Wenn die Ebbe die Flut ablöst,<br />
Geht <strong>der</strong> Mensch (d. h. Gott) in das unbekannte Land (zurück).<br />
Heimlich vergnügt (er sich) drei Tage lang,<br />
Dann leuchtet seine eigene Natur<br />
Und <strong>der</strong> Mensch (d. h. Gott) kehrt nach Goloka zurück.<br />
Der Liebende<br />
Sieht die Mündung <strong>der</strong> drei Flüsse.<br />
Er faßt den Unfaßbaren<br />
Und löst sich in seinen Füßen.<br />
Sai Hiricada sagt: „Panja, Du suchst den Menschen (d. h. Gott)<br />
Umsonst draußen.“<br />
Erläuterung: <strong>Die</strong> drei Flüsse sind in diesem Zusammenhang die drei Menstruationstage,<br />
sowie die drei Mondtage, Neumond (amavaysa), <strong>der</strong> erste Tag nach dem Neumond<br />
(pratipada) und <strong>der</strong> zweite Tag nach dem Neumond (dvitiya). Nach dem indischen<br />
Mondkalen<strong>der</strong> ist <strong>der</strong> Neumond <strong>der</strong> Nullpunkt. <strong>Die</strong>ser Tag heißt Amavasya, = Finsternis.<br />
<strong>Die</strong> Zählung fängt erst ab dem ersten Tag nach <strong>der</strong> Finsternis (amavasya) an. Goloka ist <strong>der</strong><br />
Himmel <strong>der</strong> Caitanya-Vaisnavs in West Bengal.<br />
Das Muladhara-cakra <strong>der</strong> Frau wird für drei Tage <strong>der</strong> Menstruation mit dem<br />
Zusammenfluß <strong>der</strong> Flüsse Ganges, Yamuna und Sarasvati veglichen (triveni). Gott<br />
befindet sich zu dieser Zeit am Zusammenfluß und kann gefangen werden<br />
130<br />
In <strong>der</strong> jungen Frau treffen sich (die Flüsse) Ganges, Yamuna und Sarasvati.<br />
In (regelmäßigen) Abständen kommt die Flut<br />
Am Treffpunkt dreier Strömungen.<br />
Wenn das Wasser im Fluß steigt, spielen drei Frauen.<br />
<strong>Die</strong> erste ist dunkel, die zweite weiß und die dritte rot.<br />
129
Wer kann da die Tugenden <strong>der</strong> Frauen beschreiben?<br />
Mahesvara, Gott aller Wesen,<br />
Trägt die erste auf dem Haupt,<br />
Und die zweite auf <strong>der</strong> Brust.<br />
<strong>Die</strong> dritte Frau ist die Genießerin<br />
Und erlebt in ihrem eigenem Zimmer<br />
<strong>Die</strong> ganze Welt.<br />
<strong>Die</strong> treue Frau in Gokula ist ihre Zeugin.<br />
Auch wenn sie einen Liebhaber hat,<br />
Bleibt sie dennoch (ihrem Mann) treu.<br />
Im nächsten Leben möchte ich als eine Frau geboren werden,<br />
Damit ich (einfacher) die Gesellschaft Gottes genießen kann.<br />
Der <strong>Die</strong>ner Kamala sagt: „Er wird keinen Stammhalter mehr haben.“<br />
Erläuterung: Zeilen 4-6: <strong>Die</strong> Ida-Nari, Pingala-Nari und Sushumna-nari werden mit drei<br />
Frauen verglichen, die jeweils schwarz, weiß und rot sind. <strong>Die</strong> Farben deuten auf die<br />
mystischen Farben des Blutes, die es an den verschiedenen Tagen erhält. Zeilen 7-9: Am<br />
ersten und zweiten Tag kann Gott vom <strong>Baul</strong> nur äußerlich genossen werden, wie Gott<br />
Shiva die Flüsse Ganges auf seinem Haupt, und Yamuna, auf seiner Brust trägt und so sie<br />
äußerlich genießt. Zeile 10-12: Der dritte Fluß, die Sarasvati, vereinigt sich mit Gott und<br />
genießt ihn innerlich. Damit will <strong>der</strong> Verfasser des Liedes sagen, daß er am dritten Tag Gott<br />
spirituell genießen kann. Zeile 13-15: Gokula ist ein weiterer Name Vrindavans. <strong>Die</strong> Frau in<br />
Gokula ist Radha, die Geliebte Krishnas. Ihr eigentlicher Mann war Krishna, dessen<br />
weibliche Energie sie war. Sie war zwar mit dem Kuhhirten Aihan verheiratet, blieb aber<br />
trotzdem ihrem eigentlichen Mann treu. Radha, die selbst Krishna erlebte, kann das<br />
Gotteserlebnis <strong>der</strong> Sarasvati bezeugen. Zeile 16-17: Der Verfasser des Liedes möchte im<br />
nächsten Leben als eine Frau geboren werden, damit er Gott während seines Besuches im<br />
Muladhara-cakra automatisch ohne beson<strong>der</strong>e Anstrengung im eigenen Körper erleben kann<br />
(s. Kapital 4). Zeile 18: Mit <strong>der</strong> Aussage, daß er keinen Stammhalter mehr haben wird,<br />
möchte <strong>der</strong> Verfasser Kamala sagen, daß er den Mahayoga mit Erfolg praktiziert und daher<br />
den Samen nicht verliert.<br />
131<br />
Der Mensch (d. h. Gott) schwimmt<br />
Im gewaltigen Fluß Narmada.<br />
Auf seiner linken Seite ist<br />
(Seine Shakti) Kula-kundalini.<br />
Sie ist die Göttin des Yoga, (sie ist) Yoga selbst.<br />
Sie spielt ununterbrochen<br />
Das Spiel, das sie (früher einmal)<br />
In Vraja gespielt hat.<br />
Zum glückverheißendem Zeitpunkt für Yoga<br />
Findet man den geeigneten Weg.<br />
Man placiert sich in dieser Blume,<br />
<strong>Die</strong> vier Blütenblätter hat (d. h. Muladhara-cakra).<br />
Östlich <strong>der</strong> Blume befinden sich<br />
<strong>Die</strong> weltliche Freude und die sexuelle Liebe (kama).<br />
Sie versuchen einen abzulenken<br />
Und die Konzentration zu schwächen.<br />
Gehorche denen nicht, son<strong>der</strong>n sei aufmerksam.<br />
130
Beherrsche die Sinnesorgane und übe Yoga mit Entschiedenheit.<br />
<strong>Die</strong> Maschine läuft mit <strong>der</strong> Atemübung.<br />
<strong>Die</strong> Atemübung ist das, was die Maschine zum Laufen bringt.<br />
Wenn die Atemübung korrekt geübt wird,<br />
Findet man den Menschen.<br />
Erläuterung: <strong>Die</strong> Kundalini-shakti im Körper des <strong>Baul</strong>s wird mit Radha, <strong>der</strong> Geliebten<br />
Krishnas, gleichgesetzt. Das Liebespaar par excellence, Krishna und Radha, haben in Vraja<br />
ihre mystische Liebe erlebt.<br />
<strong>Die</strong> Menstruation wird mit Blumen verglichen, in denen Gott sich befindet<br />
132<br />
In Vrindavan (gemeint ist <strong>der</strong> Körper <strong>der</strong> spirituellen Partnerin) blühen drei Blumen.<br />
Sie sind blau, weißlich und weiß.<br />
Bitte sage mir, in welcher Blume Krishna weilt<br />
Und in welcher Radha.<br />
Der Genießer (gemeint ist Gott) ist versunken<br />
In <strong>der</strong> Blume.<br />
(Auch) <strong>der</strong> Mensch (gemeint <strong>der</strong> Yogi) ist versunken<br />
In <strong>der</strong> Blume.<br />
Wenn ich dir die Sache mit den Blumen erkläre,<br />
Wirst du nur verwirrt sein!<br />
133<br />
Mitten in dem farbigen (Fluß) blüht die Blume.<br />
<strong>Die</strong>se formlose Blume ist wun<strong>der</strong>schön.<br />
<strong>Die</strong> Wurzel <strong>der</strong> Blume und ihr Betrachter befindet sich oben.<br />
Der Zeitpunkt des Treffens ist festgelegt,<br />
Und <strong>der</strong> Erhalter <strong>der</strong> Welt paßt darauf auf.<br />
Wer ist in <strong>der</strong> Lage,<br />
<strong>Die</strong>se wun<strong>der</strong>schöne unbezahlbare Blume zu pflücken!<br />
Auch <strong>der</strong> größte Yogi und Gott Indra halten sich<br />
Außerhalb <strong>der</strong> Blume.<br />
Nur die Hummel tanzt in <strong>der</strong> Blume.<br />
Der Vollmond sitzt in <strong>der</strong> Blume.<br />
Götter und an<strong>der</strong>e haben<br />
Über die Blume geschrieben.<br />
Aber wer hat sie verstanden?<br />
Auf allen vier Seiten <strong>der</strong> Blume ist Gift.<br />
Wo wohnt <strong>der</strong> Yogi,<br />
Der es verdauen kann?<br />
Ich habe Angst.<br />
In diesem Ort blühen zwölf Blumen<br />
In zwölf Monaten.<br />
134<br />
Im großen See blüht die Blume.<br />
In ihr befinden sich Gott Brahma, Gott Vishnu und Gott Shiva.<br />
Wer die Einigkeit dieser drei Götter verstanden hat,<br />
131
Der hat keine Sorgen.<br />
135<br />
Im Treffpunkt <strong>der</strong> drei Flüsse<br />
Kommt die Flut des Nektars.<br />
In diesem Ozean <strong>der</strong> Freude<br />
Spielt <strong>der</strong> Mensch (d. h. Gott)<br />
Sich selbst vergessend.<br />
Der Ozean des Nektars tritt über die Ufer.<br />
Hier gibt es nur den Nektar.<br />
In diesem Ozean <strong>der</strong> Freude<br />
Spielt und schwimmt er.“<br />
<strong>Die</strong> Erscheinung Gottes während <strong>der</strong> Menstruation im Muladhara-cakra in einem<br />
weiblichen Körper wird mit <strong>der</strong> Erscheinung des Vollmondes während <strong>der</strong> Erscheinung<br />
des Neumondes verglichen<br />
136<br />
Der Vollmond versteckt sich hinter den Wolken.<br />
Du mußt die Wolken beseitigen,<br />
Sonst kannst du den Mond nicht sehen.<br />
Wenn die Wolken sich verziehen,<br />
Erscheint <strong>der</strong> Mond.<br />
Du wirst im Licht des Monds des Wissens sehen,<br />
Daß die beiden Monde sich vereinigt haben.<br />
Madan sagt: „Unwissend bin ich<br />
In <strong>der</strong> Dunkelheit allein geblieben.<br />
Nur <strong>der</strong> findet den Mond,<br />
Dem <strong>der</strong> Guru seine Gnade<br />
Schenkt.“<br />
Erläuterung: Zeile 6-7: <strong>Die</strong> zwei Monde sind <strong>der</strong> Vollmond und <strong>der</strong> Neumond. Der<br />
Vollmond repräsentiert Gott und <strong>der</strong> Neumond die Tage <strong>der</strong> Menstruation. In dieser Zeit ist<br />
die sexuelle Liebe in <strong>der</strong> Frau dominant. Gleichzeitig ist dies die Zeit, in <strong>der</strong> Gott sich mit<br />
seiner Shakti vereinigt. Deshalb sieht <strong>der</strong> Verfasser keinen Wi<strong>der</strong>spruch zwischen Neumond<br />
und Vollmond und meint, daß man durch das richtige Wissen die Vereinigung <strong>der</strong> beiden<br />
erkennt.<br />
137<br />
Bei den Gottsuchenden herrscht die Freude.<br />
Hier erscheint <strong>der</strong> Vollmond am Neumond.<br />
Man braucht viel Glück, um den Mond zu finden.<br />
Und hat man ihn gefunden,<br />
So ist man vom Kreislauf <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten frei.<br />
138<br />
Bevor man darüber redet,<br />
muß man die Gefühle (<strong>der</strong> Gottesliebe) kennen.<br />
Am Neumond erscheint <strong>der</strong> Vollmond<br />
Und <strong>der</strong> Neumond existiert im Vollmond.<br />
132
Der Neumond ist <strong>der</strong> Zeitpunkt<br />
Für die Erscheinung des Vollmondes.<br />
Hat man dieses unmögliche Zusammentreffen<br />
Erkannt,<br />
So ist man vom weltlichen Leid befreit<br />
Und man kommt in die Welt <strong>der</strong> Alleinheit.<br />
Gott erscheint im Samen<br />
139<br />
Brahman, die Glückseligkeit,<br />
Leuchtet im Sahasrara(-cakra).<br />
<strong>Die</strong>s ist Brahmans Wohnort,<br />
Der Ort <strong>der</strong> Freude, wo <strong>der</strong> Nektar fließt.<br />
Das größte Yantra existiert in <strong>der</strong> Form eines Dreiecks(d. h. Muladhara-cakra),<br />
<strong>Die</strong> wun<strong>der</strong>volle Darstellung <strong>der</strong> Wahrheit.<br />
Hier leuchtet die Schönheit <strong>der</strong> Vereinigung von Mann und Frau,<br />
Von Shivas und Shakti,<br />
Von Samen und <strong>der</strong> Flüssigkeit.<br />
(Der <strong>Baul</strong>) ist <strong>der</strong> Schwan. Er übt.<br />
Sein Ziel ist die Erkenntnis seiner Identität mit Brahman.<br />
In <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> (Sushumna-)nari<br />
Sitzt Shiva auf seinem wun<strong>der</strong>schönen Sitz<br />
Mit dem Dreizack in <strong>der</strong> Hand.<br />
<strong>Die</strong> Mutter Shakti ist rot.<br />
Ihre Schönheit ist unbeschreibbar.<br />
<strong>Die</strong> Farbe des Purusha ist weiß.<br />
Er lenkt die Vereinigung.<br />
Erläuterung: Das Yantra, das in den tantrischen Büchern mit einem Dreieck gezeichnet<br />
wird, symbolisiert Shakti in <strong>der</strong> Kundalini, die sich im Muladhara-cakra befindet. Im<br />
Muladhara-cakra ist Shiva, dessen Hautfarbe weiß ist, jetzt als Samen anwesend. <strong>Die</strong> Farbe<br />
<strong>der</strong> Shakti, die sich auch im Muladhara-cakra befindet, ist rot. <strong>Die</strong> Frabe charakterisiert die<br />
Menstruation <strong>der</strong> spirituellen Partnerin. Gott wird hier als Shiva und Purusha bezeichnet,<br />
<strong>der</strong>en Farbe weiß ist, wie die des Samens.<br />
140<br />
Im menschlichen Körper wohnt er als <strong>der</strong> Samen.<br />
Er erfühlt das ganze Universum.<br />
Er heißt Krishna. Man nennt ihn auch Purusha (Mann).<br />
Er ist Radhas Ziel.<br />
Der Samen und das Sekret <strong>der</strong> Frau werden jeweils mit dem Vater und <strong>der</strong> Mutter des<br />
Universums verglichen<br />
141<br />
Lerne das Geheimnis des eigenen Körpers kennen.<br />
In deinem Körper ist das höchste Gut versteckt.<br />
Wie kannst du es draußen finden?<br />
Das Blut und <strong>der</strong> Samen sind Mutter<br />
133
Und Vater des Universums.<br />
Der Samen ist <strong>der</strong> höchste Vater.<br />
Warum verehrst du es nicht?<br />
Nimm die Hilfe von Kundalini und ziehe den Atem hoch.<br />
Mache die zehn Sinnesorgane zu deinen Schülern<br />
Und fange ihn (d. h. Gott) mit <strong>der</strong> Angel des Wissens.<br />
142<br />
Hari wohnt in jedem Menschen als die Seele (atma).<br />
Was rennst du draußen herum?<br />
Siehst du ihn nicht in dir selbst?<br />
Wem das Auge des Wissens aufgeht,<br />
Nur <strong>der</strong> befreit sich von <strong>der</strong> Fessel.<br />
Höre (auf deinen Guru)!<br />
Aber das tust du nicht, hörst (auf ihn) nicht.<br />
Wenn du die Wahrheit über den Samen,<br />
Des Vaters des Universums nicht kennst,<br />
Kannst du Hari nicht finden, nicht finden.<br />
143<br />
O mein Herz, sei ehrlich und versuche<br />
Der Herr deiner Sinnesorgane zu sein,<br />
<strong>Die</strong>s ist die Basis <strong>der</strong> spirituellen Übungen.<br />
O mein Herz, ich warne dich immer wie<strong>der</strong>,<br />
Sei vorsichtig,<br />
Daß <strong>der</strong> <strong>Die</strong>b dir das väterliche Erbe nicht stiehlt.<br />
Bei <strong>der</strong> Übung müssen Mann und Frau<br />
Wie die lebendigen Leichen sein.<br />
Erläuterung: Das väterliche Erbe ist <strong>der</strong> Samen im menschlichen Körper. Daher ist <strong>der</strong><br />
menschliche Samen <strong>der</strong> Samen Gottes.<br />
Der Mahayoga muß genau zum richtigen Zeitpunkt geübt werden<br />
144<br />
O mein Herz, wenn <strong>der</strong> Zeitpunkt verstrichen ist,<br />
Kannst du nicht mehr (Yoga) üben.<br />
Ohne Bemühung und Eifer<br />
Wirst du das Juwel <strong>der</strong> Liebe nicht finden.<br />
Wenn du zu spät (Yoga) übst,<br />
Das ist so, als ob du den Deich baust,<br />
Nachdem das Wasser abgeflossen ist.<br />
Der Kluge baut den Deich,<br />
Wenn das Feld voll Wasser ist.<br />
145<br />
<strong>Die</strong> Tage <strong>der</strong> Flut sind (für den Yoga) geeignet.<br />
Der Tag des Neumondes, <strong>der</strong> erste und zweite Tag<br />
Nach dem Neumond sind die Tage,<br />
An denen (<strong>der</strong> Yoga) geübt werden muß.<br />
134
O mein Herz, wenn du den unfaßbaren Menschen (gemeint ist Gott)<br />
Fassen willst,<br />
Mußt du diese drei Tage lang am Ufer des Flußes<br />
Wache halten.<br />
Wenn nach <strong>der</strong> Flut die Ebbe herrscht,<br />
Kehrt <strong>der</strong> Mensch (d. h. Gott) ins unbekannte Land zurück,<br />
Nachdem er drei Tage lang<br />
Heimlich (die Vereinigung) genossen hat.<br />
Am (dritten) Tag läßt <strong>der</strong> Mensch (d. h. Gott)<br />
Seine eigentliche höchste Natur dominieren<br />
Und kehrt ins Goloka zurück.<br />
Wer Gott lieben will,<br />
Soll das Erscheinungsbild <strong>der</strong> Triveni (s. Kapitel 3 und 4) beobachten.<br />
In dieser Zeit kann er ohne große Schwierigkeiten<br />
Den Unfaßbaren fassen<br />
Und mit seinen Füßen verschmelzen.<br />
Guru Hirucada sagt: „Panja,<br />
Umsonst suchst du den Menschen ( d. h. Gott) dort draußen.“<br />
Erläuterung: Goloka ist <strong>der</strong> Himmel Krishnas für die Caitanya-Vaisnavs in West Bengal.<br />
146<br />
Am Neumond erscheint das Gift.<br />
Aber durch das Kommen Gottes wird <strong>der</strong> Tag wertvoll.<br />
In dieser Zeit üben die Genießer vorsichtig.<br />
Wenn <strong>der</strong> erste Tag nach dem Neumond zu Ende geht<br />
Und <strong>der</strong> zweite Tag anfängt,<br />
Findet man das Juwel,<br />
Das sich in <strong>der</strong> Mischung <strong>der</strong> Säfte <strong>der</strong> drei Tage befindet.<br />
Panja sagt: „Den, <strong>der</strong> das Juwel gefunden hat,<br />
Faßt <strong>der</strong> Todesgott Shamana nicht an.“<br />
147<br />
<strong>Die</strong> Verehrung <strong>der</strong> Urexistenz (d. h. Gottes)<br />
In seinem Hause (gemeint ist <strong>der</strong> menschliche Körper) ist schwierig.<br />
<strong>Die</strong> Methode <strong>der</strong> Verehrung<br />
Der Urexistenz<br />
Kann nicht schriftlich<br />
Festgehalten werden,<br />
Denn sie ist viel schwieriger<br />
Als die Lehre <strong>der</strong> Veden.<br />
Sie ist schwierig zu verstehen.<br />
<strong>Die</strong> Urexistenz muß<br />
Durch die Fixierung <strong>der</strong> Augen verehrt werden.<br />
Man muß in einer Leiche leben.<br />
Nur mit dem Feuer<br />
Kann Gott gefangen werden.<br />
Erläuterung: <strong>Die</strong> Fixierung <strong>der</strong> Augen, Nehara genannt, ist ein Teil des Tantrayoga <strong>der</strong><br />
<strong>Baul</strong>s (s. Kapitel 5). Der Erfolg des Tantrayoga wird mit dem Leben in einer Leiche<br />
135
verglichen, da <strong>der</strong> Körper des <strong>Baul</strong>s in diesem Falle leblos wird, während seine Seele<br />
Glückseligkeit empfindet. <strong>Die</strong> aufgeweckte Kundalini-shakti, ohne die <strong>der</strong> Yogi Gott nicht<br />
erreichen kann, erzeugt das Feuer im Körper des Übenden. Sie bewegt sich vom<br />
Muladhara-cakra zum Ajña-cakra o<strong>der</strong> Sahasrara-cakra und erzeugt Hitze dort im Körper,<br />
wo sie sich gerade befindet.<br />
148<br />
Siehe den Menschen (d. h. Gott)<br />
Und fange ihn.<br />
O (mein) Geist, verbinde deine Augen<br />
Mit (seinen) Augen.<br />
Durch Anschauen wird er gefangen.<br />
Werde, sei eins.<br />
Stelle Fallen<br />
In vierundzwanzigeinhalb Distrikten,<br />
Wohin soll er da weglaufen?<br />
O (mein) Geist, sei schnell du Oberpolizist<br />
Und nimm (ihn) fest<br />
Im Tempel deines Herzens.<br />
Erläuterung:Zeile 3-6: Der Verfasser deutet hier auf die Übung Nehara, Fixierung <strong>der</strong><br />
Augen, hin, die er während des Yoga praktiziert (s. Kapitel 5). <strong>Die</strong> vierundzwanzigeinhalb<br />
Distrikte sind die Monde im eigenen Körper(s. Kapitel 3).<br />
149<br />
Der heilige Arzt, <strong>der</strong> König aller Genießer<br />
Bereitet den Saft (des Genusses) auf natürlicher Weise.<br />
Es gibt vierundzwanzigeinhalb Monde und elf Knospen.<br />
<strong>Die</strong> acht Monde erscheinen manchmal.<br />
Erläuterung: <strong>Die</strong> letzte Zeile deutet darauf hin, daß beim Tantrayoga auch mit einer Teilzahl<br />
<strong>der</strong> Monde gearbeitet wird (s. Kapitel 5).<br />
150<br />
Bru<strong>der</strong>, bevor du die Schlange fassen willst,<br />
Lerne den Mantra.<br />
Ich hänge mir den Rosenkranz,<br />
Um den Hals und gehe in den Garten.<br />
Der Schatz liegt unter <strong>der</strong> Erde.<br />
<strong>Die</strong> Schlange bewacht ihn.<br />
Sechs Mäuse befinden sich unter <strong>der</strong> Erde.<br />
Es gibt keine Erde zum Sitzen.<br />
Der Frosch tanzt vor <strong>der</strong> Schlange.<br />
<strong>Die</strong> Schlange versteckt sich unter dem Schatz.<br />
Der Frosch wird zum Herrn,<br />
Man kann ihn nicht fassen.<br />
Schmiert man den Körper mit dem Gewürz <strong>der</strong> Namen,<br />
Flieht die Schlange, wenn sie den Geruch riecht.<br />
136
151<br />
O mein Herz, wenn du mit dem Fahrrad<br />
Fahren willst,<br />
Dann binde deine Unterwäsche eng und fest<br />
Und befreie dich von Falschheit.<br />
Vergiß die Lehre <strong>der</strong> Veden.<br />
Siehe geradeaus<br />
Und lenke exakt mit dem Lenkrad.<br />
O mein Herz, setze dich fest auf den Sattel.<br />
Du darfst das Gleichgewicht auf keinen Fall verlieren.<br />
Übe Kumbhaka und ziehe den Atem nach oben.<br />
Sieh’ nicht nach rechts o<strong>der</strong> links<br />
Und kümmere dich nicht um die sechs (Feinde)<br />
Und die zehn (Öffnungen).<br />
Rezitiere deinen Mantra und trete in die Pedale.<br />
Konzentriere dich auf die richtige Richtung<br />
Und laß’ dich nicht durch falsche Argumente ablenken.<br />
Sei dein eigener Lehrer und fahre schnell.<br />
Vereinige dein Äußeres mit deinem Inneren und sei ein Experte.<br />
Klingele bei Bedarf mit dem Gewissen.<br />
Svami Madhavananda sagt: „Bhavani, es ist dein schlechtes Karma,<br />
Daß du gerade bei voller Geschwindigkeit plötzlich gebremst hast.<br />
Nun bist du auf die Nase gefallen.<br />
Wie kann man so dumm, so unaufmerksam sein!“<br />
Erläuterung: Zeile 13-14: <strong>Die</strong> sechs Feinde und die zehn Öffnungen sind jeweils die Ripus<br />
(s. 72) und die Körperöffnungen. <strong>Die</strong> Öffnungen sind: die Ohren, Augen, Nasenlöcher, <strong>der</strong><br />
Mund, die Fontanelle, das Geschlechtsorgan und <strong>der</strong> Anus. <strong>Die</strong> meisten Lie<strong>der</strong> zählen nur<br />
eine Öffnung für das Geschlechtsorgan.<br />
152<br />
Wie kannst du an das Ziel kommen,<br />
Wo du doch auf dem Weg <strong>der</strong> Liebe<br />
Dich unehrlich verhältst?<br />
In Vrindavan( gemeint ist <strong>der</strong> menschliche Körper), in <strong>der</strong> Stadt <strong>der</strong> Freude<br />
Wird Gott geliebt.<br />
Hier muß man das Wasser von <strong>der</strong> Milch trennen<br />
Mit großer Konzentration.<br />
In diesem Ort sind die Frauen die Könige<br />
Und die <strong>Baul</strong>s, die Genießer, das Volk.<br />
Der gierige, von sexueller Liebe befangene <strong>Die</strong>b wird hier bestraft.<br />
Nun wohnt <strong>der</strong> Schwan im (Muladhara-)cakra<br />
Und die sexuelle Liebe entwickelt sich zur Gottesliebe.<br />
Man findet die Freude,<br />
Indem man das Gut ins Feuer wirft<br />
Und beide vereinigt.<br />
In diesem Lande herrscht eine an<strong>der</strong>e Sitte.<br />
Nicht dem Mann passiv treu bleiben,<br />
Son<strong>der</strong>n die Treue üben ist das Prinzip dieses Landes.<br />
Hier gibt es keine egoistische Freude,<br />
137
Und daher ist <strong>der</strong> Bewohner (dieses Landes) immer glücklich.<br />
Zwei Gestalten üben Liebe,<br />
Ohne sich ineinan<strong>der</strong> zu verstricken.<br />
Im Herzen,<br />
In <strong>der</strong> Strömung <strong>der</strong> Freude<br />
Spielt <strong>der</strong> Unfaßbare,<br />
Der höchste Samen.<br />
153<br />
Du redest immer von <strong>der</strong> Übung daher!<br />
So einfach ist die Übung nicht.<br />
Wie viele Weise und Seher<br />
Haben vor <strong>der</strong> Übung zurückgeschreckt,<br />
Als sie sich näher damit befaßten!<br />
<strong>Die</strong> Tagelöhner<br />
Berauben mich des väterlichen Erbes.<br />
Wenn ich es geschafft habe,<br />
Auch nur etwas davon zu behalten,<br />
Kann auf dem Boden die Pflanze <strong>der</strong> Liebe gedeihen.<br />
Wenn aber das Gesparte verlorengegangen ist,<br />
Kann man den Verlust nur beweinen.<br />
Fange ihn schnell, solange er mit dem Liebesspiel beschäftigt ist.<br />
Übe Yoga zusammen mit deiner Partnerin,<br />
Mit ihrer Hilfe.<br />
Du leidest unter Magenkrankheit,<br />
Was willst du da noch Gehaltvolles?<br />
Reinige zunächst den Magendarmtrakt<br />
Mit <strong>der</strong> bitteren Medizin.<br />
Töte zunächst die falschen Wünsche.<br />
Ich verrate dir die Regeln <strong>der</strong> Übung.<br />
Nimm dir die treue Partnerin<br />
Und gehe mit ihr den Weg des Feuers.<br />
Gemeinsam müßt ihr es tun,<br />
Wenn ihr es überhaupt schaffen wollt!<br />
Wenn du dann den Menschen, (d. h. Gott) gefunden hast<br />
Und seine Gesellschaft genießt,<br />
Hast du den Krieg gewonnen.<br />
Gosai Atalacãd sagt: „Naran,<br />
Umsonst suchst du ihn draußen in <strong>der</strong> Welt!“<br />
Erläuterung: Der <strong>Baul</strong> betrachtet seinen Samen als das Erbgut, das er von Gott, seinem<br />
Vater, geerbt hat, denn <strong>der</strong> menschliche Samen ist gleichzeitig <strong>der</strong> Samen Gottes, <strong>der</strong> die<br />
Welt erschuf. <strong>Die</strong> Tagelöhner sind die sechs Feinde (ripus, s. 72). Sie machen die<br />
Sinnesfreude stark und schwächen die Konzentration des Yogis, so daß er seinen Samen<br />
nicht mehr zurückhalten kann. Der Übende darf ihn aber nicht verlieren. Um die Yogaübung<br />
zu üben benötigt <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> eine willige Frau. Nur mit ihrer Hilfe kann er Gott fangen.<br />
154<br />
Alle reden von ihm,<br />
Vom Menschen (d. h. von Gott) (ohne ihn zu kennen).<br />
138
Nur <strong>der</strong>, welcher den Menschen fangen kann,<br />
Kann ihn erleben.<br />
Wenn man es nicht schafft, in einer Leiche zu leben,<br />
Wird Caitanya nicht gnädig.<br />
Da Gott während seiner Vereiniguing mit <strong>der</strong> Shakti ein Mann ist, muß <strong>der</strong> <strong>Baul</strong> sich<br />
für den Mahayoga wie eine Frau fühlen und ihn als den Geliebten lieben<br />
155<br />
O mein Geist, verwandle dich<br />
In eine Frau (Prakriti).<br />
Nimm die Natur einer Frau an, trainiere dich,<br />
So wird die Liebe nach oben steigen.<br />
und du wirst mit ihr<br />
An Krishnas Weilort ankommen.<br />
<strong>Die</strong>se Frau ist eine Genießerin.<br />
Sie hat ein attraktives Aussehen.<br />
Sie schenkt dem Lebewesen<br />
<strong>Die</strong> schönste Liebe<br />
Und läßt es dadurch Krishna<br />
Als Ehemann gewinnen.<br />
156<br />
In deinem Herzen mußt du dich<br />
Wie eine Gopi fühlen.<br />
Rezitiere den Namen Gaur (d. h. Caitanya),<br />
So wird <strong>der</strong> Samen <strong>der</strong> Liebe<br />
In deinem Herzen sprießen.<br />
Und du wirst die Liebe in Vraja (d. h. Vrindavan) genießen.<br />
157<br />
Der Gottsuchende versucht wie die Gopis zu sein.<br />
Er versucht, sich wie die Gopis zu fühlen<br />
Und Caitanya zu verehren.<br />
Er will die Liebe zwischen Gott und Shakti genießen<br />
Und nicht in Brahman aufgehen.<br />
158<br />
O mein Herz, sei eine Frau.<br />
Lege dir die Eigenschaften einer Frau auf,<br />
Und übe die spirituellen Übungen.<br />
So wird deine Liebe nach oben (zum Sahasraracakra) steigen.<br />
Der Geschlechtsverkehr während des Mahayoga ist keine sexuelle Liebe<br />
159<br />
Nicht wenn Frau und Mann sich<br />
(Sexuell) vereinigen,<br />
Son<strong>der</strong>n wenn die Seele (des Mannes)<br />
Sich mit <strong>der</strong> Seele (<strong>der</strong> Frau) vereinigt,<br />
139
Wird er Genießer genannt.<br />
160<br />
Wie, wenn trotz des Vorhandenseins des Mundes<br />
Das Wort nicht ausgesprochen wird,<br />
Trotz <strong>der</strong> Augen<br />
(Man) blind ist.<br />
Kein Geruch von <strong>der</strong> sexuellen Liebe (kama)<br />
Im Gedanken.<br />
Durch reines Prem wird er diesmal<br />
(Den Ozean <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten) überqueren.<br />
161<br />
Wie willst du ins Zimmer <strong>der</strong> Liebe (raga)<br />
Eintreten,<br />
Wenn du die Liebe<br />
Nicht kennst?<br />
Der Gierige, Sinnenfreudige<br />
Kann dort nicht hinein.<br />
Er wan<strong>der</strong>t herum<br />
Sein Leben lang.<br />
(Nur) <strong>der</strong> Liebende findet (vor sich)<br />
Das Schloß <strong>der</strong> Tür zum Zimmer <strong>der</strong> Liebe offen.<br />
Durch des Gurus Mitgefühl ohne große Mühe<br />
Tritt er ein ins Zimmer des Formvollen und fängt ihn.<br />
Beschreibung des Gotteserlebnisses, das die <strong>Baul</strong>s Leben in einer Leiche nennen<br />
(jyante mara, jiyante mara)<br />
162<br />
Nach drei Tagen, hinter drei Eigenschaften<br />
Im Wasser ist die Figur <strong>der</strong> Göttin versunken.<br />
Der Zustand am zehnten Tag<br />
Ist <strong>der</strong> des vollkommenen Gleichgewichts.<br />
Ich kann es mit Wörtern nicht beschreiben.<br />
Parvati ist zum Kailash zurückgekehrt.<br />
Sati ist in den Mann auf dem Berg eingegangen.<br />
Welches Ich ist jenes, das Freude und Leid,<br />
Gefahr und Gefahrlosigkeit erfährt?<br />
<strong>Die</strong>ses Ich bin nicht ich.<br />
Wenn <strong>der</strong> Wunsch erfüllt ist,<br />
Erreicht man die Vollkommenheit.<br />
Nun hat die Glückseligkeit die höchste Stufe erreicht.<br />
Man sieht keinen Unterschied zwischen Gut und Böse<br />
Und fühlt sich we<strong>der</strong> geschmeichelt noch beleidigt.<br />
Der Zustand, den man am Ende <strong>der</strong> Übung erreicht,<br />
Kann nicht mit Worten beschrieben werden.<br />
<strong>Die</strong> Übenden verstehen es jedoch,<br />
Wenn ich sage, daß am Tag des Sieges <strong>der</strong> Sieg errungen<br />
Und <strong>der</strong> Wunsch erfüllt sind.<br />
140
Erläuterung: Zeile 1-12: <strong>Die</strong> drei Eigenschaften sind Reinheit (sattva), Aktivität (rajas) und<br />
Trägheit (tamas) <strong>der</strong> Prakriti, auch Maya genannt, ohne die die Welt nicht entstehen kann.<br />
In allen Dingen, die wir wahrnehmen, sind diese Eigenschaften vorhanden. Brahman steht<br />
über Maya. Der Verfasser des Liedes vergleicht den Tantrayoga mit dem Fest Durgapuja.<br />
<strong>Die</strong> Muttergöttin Durga, die Frau Shivas, wird jedes Jahr im Monat Ashvin (September-<br />
Oktober) drei Tage lang mit großer Feierlichkeit verehrt. Für diese Zwecke wird kurz vor<br />
dem Fest aus Stroh und Lehm die Durga-Figur hergestellt. Nach dreitägiger Verehrung wird<br />
die Figur <strong>der</strong> Göttin in den Fluß geworfen. <strong>Die</strong>s symbolisiert die Vergänglichkeit aller<br />
Dinge. Der Tag, an dem die Figur ins Wasser geworfen wird, ist <strong>der</strong> zehnte Tag nach<br />
Vollmond. Der <strong>Baul</strong> erlebt Gott in <strong>der</strong> letzten Phase des dreitägigen Tantrayoga. Der<br />
Verfasser nennt diesen Zeitpunkt in Anlehnung an die Durgapuja den zehnten Tag. Am<br />
zehnten Tag nach Vollmond kehrt Durga, die auch Parvati und Sati genannt wird, zu ihrem<br />
Mann Shiva, <strong>der</strong> auf dem Berg Kailasa im Himalaya wohnt, zurück und vereinigt sich mit<br />
ihm. Der <strong>Baul</strong> vereinigt sich mit Gott am dritten Tag <strong>der</strong> Menstruation seiner Partnerin.<br />
Wahrscheinlich vereinigt sich <strong>der</strong> Verfasser dieses Lieds am Ende des dritten Tages, also am<br />
Anfang des vierten Tages, mit Gott, und zieht daher die Parallele zur Durgapuja. Ein Yogi,<br />
<strong>der</strong> Gott erlebt hat, steht Gut und Böse gleichgültig gegenüber, da er in beiden Gott sieht.<br />
Er lebt in <strong>der</strong> Glückseligkeit. Zeile 13-20: <strong>Die</strong>se Zeilen beschreiben den Zustand nach dem<br />
erfolgreichen Yoga, <strong>der</strong> das vollkommene Glück ist.<br />
Da alle Menschen Prakritis Manifestation sind, sind alle Menschen, auch Männer,<br />
Frauen<br />
163<br />
O (mein) Gedanke, bist du ein Mann o<strong>der</strong> eine Frau?<br />
Trotz Nachdenken finde ich (die Antwort) nicht.<br />
<strong>Die</strong>s ist eine erstaunlich lustige Sache.<br />
<strong>Die</strong> Heiligen sagen, da <strong>der</strong> Purusha ohne Gunas ist,<br />
Hat die Prakriti aus sich selbst die Welt erschaffen.<br />
Deshalb sage ich, keiner von denen, die in dieser Welt leben,<br />
Ist ein Mann.<br />
(Alle Lebewesen)sind in ihrer Natur weiblich.<br />
Es gibt einen Purusha. Der ist gleichmütig, <strong>der</strong> Genießer.<br />
O du Armer, übe Yoga und erkenne dich voller Freude als eine Frau.<br />
Dann wirst du das Ziel erreichen.<br />
O, du wirst deinen Ehemann finden.<br />
Du wirst die treue Ehefrau sein.<br />
(Und) du wirst die Freundin von Radha.<br />
Lie<strong>der</strong> über den Guru<br />
164<br />
Ohne des Gurus Hilfe<br />
Wird es nicht klappen.<br />
Nur mit des Gurus Gnade<br />
Wird deine Suche nach Krishna erfolgreich!<br />
141
165<br />
Nur <strong>der</strong>jenige, auf den des Gurus Gnade fällt,<br />
Kommt ans Ufer als Sieger.<br />
Er hat keine Zweifel mehr und lebt in Harmonie.<br />
Der unsterbliche Mensch (d. h. Gott) leuchtet in ihm.<br />
166<br />
Derjenige, welcher seinen Guru nicht achtet,<br />
Aber Govinda (d. h. Krishna) verehrt,<br />
Wird nicht gerettet.<br />
Der hat für das Leben jenseits des Flusses<br />
Nicht vorgesorgt.<br />
Der Guru ist das unbezahlbare Juwel.<br />
Des Gurus Worte sind die heiligen Schriften.<br />
Der Guru ist Krishna selbst.<br />
Der Guru ist <strong>der</strong> (größte)Vishnu-Verehrer.<br />
Der Guru ist <strong>der</strong> unvergängliche Schatz.<br />
Nimm Asyl an des Gurus Füßen<br />
Und überquere den weltlichen Ozean.<br />
Wer seinen Guru nicht achtet<br />
Aber die Namen Haris rezitiert,<br />
Begießt die Äste, nachdem er die Pflanze entwurzelt hat.<br />
Dein Körper ist <strong>der</strong> Acker, auf dem <strong>der</strong> Guru gesät hat.<br />
Ohne deinen Guru,<br />
Der dir die Initiation erteilt hat und dich unterrichtet<br />
Kannst du nicht ernten.<br />
167<br />
Er bringt (seinem Schüler) zuerst den ersten Teil bei,<br />
Und macht ihn mit <strong>der</strong> sexuellen Liebe (kama) vertraut.<br />
Ist die Liebe reif geworden,<br />
Lehrt er ihn die Gleichgültigkeit.<br />
Dann brandmarkt er sein Herz mit <strong>der</strong> Weltentsagung<br />
Und lehrt ihn die Lehre <strong>der</strong> Gottesliebe.<br />
Wenn <strong>der</strong> Schüler das Alphabet gut gelernt hat,<br />
Sieht er in <strong>der</strong> Welt keine Zweiheiten mehr.<br />
Er lebt nun in <strong>der</strong> Ekstase, daß die ganze Welt<br />
Krishnas Manifestation ist.<br />
168<br />
Wenn <strong>der</strong> Schüler<br />
<strong>Die</strong> Lehre des Gurus begriffen hat,<br />
(Weiß er), daß seine Seele (atma)<br />
Mit <strong>der</strong> des Gurus identisch ist.<br />
Wer die Wahrheit erkannt hat, weiß,<br />
Daß <strong>der</strong> höchste Atman (paramatma)<br />
Sich in beiden manifestiert hat.<br />
142
169<br />
Wenn <strong>der</strong> Guru und Schüler eins sind,<br />
Enthüllt sich die Wahrheit.<br />
170<br />
Guru, in welcher Form<br />
Schenkst du <strong>der</strong> Welt deine Gnade!<br />
Unendlich, unzählig sind deine Spiele.<br />
Wer kennt deine Größe!<br />
Du bist Radha, du bist Krishna.<br />
Du gabst mir den Mantra. Du bist Gott.<br />
171<br />
Der Guru ist Krishna, die ewige Existenz, Gott.<br />
Der Guru ist Brahman. In ihm existiert die Welt.<br />
Der Guru ist Brahman, <strong>der</strong> Guru ist Shiva.<br />
Der Guru existiert in allem.<br />
Über die spirituelle Partnerin<br />
172<br />
<strong>Die</strong> Frau ist nichts Gewöhnliches.<br />
Sie erleuchtet die ganze Welt.<br />
Millionen Monde bescheinen die Füße<br />
Der Frau.<br />
Ohne die Frau kann man Gott nicht suchen,<br />
Kann man den Yoga nicht üben.<br />
173<br />
<strong>Die</strong> geheime Lehre von Radha und Krishna ist<br />
In Vrindavan versteckt.<br />
Ohne sich <strong>der</strong> Gopi unterzuwerfen,<br />
Kannst du sie nicht begreifen.<br />
Erläuterung: Hier wird <strong>der</strong> menschliche Körper mit dem Ort Vrindavan verglichen, wo<br />
Krishna und Radha ihre göttliche Liebe erlebten. <strong>Die</strong> Gopis, die Kuhhirtinnen, waren die<br />
Freundinnen Radhas, die ebenfalls Krishna liebten und von ihm geliebt wurden. Der<br />
Verfasser vergleicht seine Partnerin mit den Gopis.<br />
174<br />
Wem soll ich die Schuld geben?<br />
Meine eigene Natur ist am Scheitern schuld!<br />
<strong>Die</strong> Vernunft und gute Eigenschaften<br />
Habe ich verworfen.<br />
Mein Gedanke hat sich<br />
<strong>Die</strong> Gewohnheiten eines Raben angeeignet.<br />
Er hat den Nektar weggeworfen<br />
Und berauscht sich an geschmacklosen Fruchtsorten.<br />
143
175<br />
Der Guru sagt wie<strong>der</strong>holt:<br />
„Höre Lalan, ich sage es dir,<br />
Es ist nicht die Schuld deiner Partnerin!<br />
Du suchst bei ihr nur die sexuelle Liebe (kama).<br />
Wie willst du da die Gottesliebe erreichen?“<br />
176<br />
<strong>Die</strong> weibliche Energie (shakti)<br />
Ist <strong>der</strong> unbezahlbare Schatz.<br />
Das weiß Nandas Sohn (d. h. Krishna).<br />
Deshalb singt er die Glorie Radhas,<br />
Faßt ihr die Füße.<br />
Dann ist er (gemeint ist Krishna)<br />
In Nariya (als Caitanya) geboren.<br />
Hier warf er sich auf den Boden<br />
Und weinte nach Radha.<br />
Und siehe, Mahesvara<br />
Trägt die Füße Shaktis auf seiner Brust<br />
<strong>Die</strong> Menschen verstehen diese Liebe nicht<br />
Sie suchen die sexuelle Liebe<br />
Und drehen sich im Kreise <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburten.<br />
177<br />
Beleidige deine Partnerin nicht.<br />
Das wäre so, als ob du deinen Guru beleidigtest.<br />
Gosai Caitanya hat sie<br />
<strong>Die</strong> Ahladini genannt.<br />
Erläuterung: <strong>Die</strong> Vaisnavs im Bundesstaat West Bengal glauben, daß Krishna drei Shaktis<br />
(weibliche Energien) hat. <strong>Die</strong>se sind: Svarupa-shakti, Samvita-shakti und Hladini bzw.<br />
Ahladini-shakti. <strong>Die</strong> drei Shaktis entsprechen den drei Eigenschaften Brahmans nämlich, Sat<br />
(Existenz), Cit (Bewußtsein) und Ananda (Glückseligkeit). <strong>Die</strong> Hladini-shakti, die höchste<br />
Shakti von allen dreien, wird mit Radha, <strong>der</strong> Geliebten Krishnas, gleichgesetzt. Da Caitanya<br />
die spirituelle Partnerin pauschal Ahladini nannte, wird die Partnerin des Verfassers<br />
automatisch mit Ahladini-shakti gleichgesetzt. Allerdings war Caitanya ein Asket und hatte<br />
keine Partnerin (s. Kapitel 2).<br />
144
Index zu den <strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>n<br />
Alle in dieser Welt fragen 20<br />
Alle reden von ihm 154<br />
Alle wollen nur das Geld 23<br />
Als ich nach Hugli fuhr 81<br />
Als Ergebnis welch (glücklichen) Schicksals 98<br />
Als es keinen Himmel, Wind und keine Wolken gab 42<br />
Am Neumond erscheint das Gift 146<br />
Bei den Gottsuchenden herrscht die Freude 137<br />
Beleidige deine Partnerin nicht 177<br />
Beschwere dich bei <strong>der</strong> Mutter 106<br />
Bevor man darüber redet 138<br />
Brahman, die Glückseligkeit 139<br />
Brü<strong>der</strong>, bevor du die Schlange fassen willst 150<br />
Brü<strong>der</strong>, seht euch nur den Markt an 26<br />
Bru<strong>der</strong>, wen verwirfst du 16<br />
Das größte Juwel läßt du (ungeachtet) in deinem Hause, o du Narr 116<br />
Das Haus hat sieben Etagen 124<br />
Das Haus ist kompakt (gebaut) 123<br />
Das Muladhara gehört dem Bewußten (d. h. Gott) selbst 97<br />
Das Volk stirbt erbarmungslos 28<br />
Das Zimmer ist 127<br />
Der an<strong>der</strong>e Mensch 122<br />
Der an<strong>der</strong>e Mensch (d. h. Gott) wohnt in diesem Menschen 117<br />
Der Anfang des Anfanglosen ist 104<br />
Der Gottsuchende versucht wie die Gopis zu sein 157<br />
Der Guru ist Krishna, die ewige Existenz, Gott 171<br />
Der Guru sagt wie<strong>der</strong>holt 175<br />
Der heilige Arzt, <strong>der</strong> König aller Genießer 149<br />
Der Mensch (d. h. Gott) schwimmt 131<br />
Der menschliche Körper ist <strong>der</strong> Acker 101<br />
Der modebewußte Herr Raya 25<br />
Der Vollmond versteckt sich hinter den Wolken 136<br />
Der Wunsch nach Menschgeburt 99<br />
Derjenige, welcher seinen Guru nicht achtet 166<br />
<strong>Die</strong> anstrengende Pilgerfahrt 14<br />
<strong>Die</strong> Frau ist nichts Gewöhnliches 172<br />
<strong>Die</strong> geheime Lehre von Radha und Krishna ist 173<br />
<strong>Die</strong> Grundlage des Hauses sind die drei Grundstöcke 91<br />
<strong>Die</strong> heiligen Schriften beinhalten 9<br />
<strong>Die</strong> Liebe zu Krishna ist wie <strong>der</strong> Ozean des Nektars 58<br />
<strong>Die</strong> Menschgeburt ist für einen ohne Nutzen 100<br />
<strong>Die</strong> Natur (<strong>der</strong> Liebe <strong>der</strong> Gopis) in Vraja war rein 64<br />
<strong>Die</strong> neun Türen des Hauses sind offen 88<br />
<strong>Die</strong> Regierenden meinen mit Stolz 29<br />
<strong>Die</strong> sechs Feinde, das Kama und die an<strong>der</strong>en 93<br />
<strong>Die</strong> Tage <strong>der</strong> Flut sind (für den Yoga) geeignet 145<br />
<strong>Die</strong> Veden kennen 4<br />
145
<strong>Die</strong> Veden lehren nicht 5<br />
<strong>Die</strong> Verehrung <strong>der</strong> Urexistenz (d. h. Gottes) 147<br />
<strong>Die</strong> weibliche Energie (shakti) 176<br />
<strong>Die</strong>ser mein Körper ist das Boot 85<br />
Dreiundsechzig Flüsse voller Saft (nari) 89<br />
Du bist gekommen in diese Welt 72<br />
Du hast dich in die Betrüger 80<br />
Du hast die lebendige Kali in deinem Hause, (gemeint ist die spirituelle Partnerin) 12<br />
Du hast die vier Veden, die vierzehn heiligen Schriften 3<br />
Du redest immer von <strong>der</strong> Übung daher 153<br />
Durch welche spirituellen Übungen kann ich 11<br />
Er bringt (seinem Schüler) zuerst den ersten Teil bei 167<br />
Er ist formlos. Er ist ohne Form 112<br />
Er kennt das Verstecken gut 128<br />
Freundin, ich habe es nicht geschafft zu lieben 69<br />
Fünf Elemente (panca bhuta) 120<br />
Gedanke, ich flehe dich an und fasse deine Füße 71<br />
Gedanke, ich sehe keinen so dummen Bauern wie dich 102<br />
Glaube an diesen Menschen 119<br />
Gott Hari hat sich als Mensch manifestiert 2<br />
Gott Hari manifestiert sich in mir 7<br />
Guru, in welcher Form 170<br />
Hari, wann habe ich denn Zeit 22<br />
Hari wohnt in jedem Menschen als die Seele (atma) 142<br />
Haris Name (hari-nama) ist prima, paff, paff 57<br />
Heil, heil Jayadeva 68<br />
Herr, unbeschreiblich ist 110<br />
Hier habe ich dieses Glück erlangt 6<br />
Ich habe mit meiner Mutter (gemeint ist Kali) 105<br />
Ich möchte den Zucker kosten 53<br />
Im großen See blüht die Blume 134<br />
Im menschlichen Körper wohnt er als <strong>der</strong> Samen 140<br />
Im Treffpunkt <strong>der</strong> drei Flüsse 135<br />
In deinem Herzen mußt du dich 156<br />
(In dem Zimmer) mit <strong>der</strong> siebten Tür sitzt <strong>der</strong> König 55<br />
In <strong>der</strong> jungen Frau treffen sich Ganges, Yamuna und Sarasvati 130<br />
In <strong>der</strong> Mündung <strong>der</strong> drei Flüsse 129<br />
In (diesem) Menschen weilt <strong>der</strong> (an<strong>der</strong>e) Mensch (d. h. Gott) 115<br />
In erster Linie ist <strong>der</strong> Mensch ein Mensch 15<br />
In Vrindavan blühen drei Blumen 132<br />
In Vrindavan hat Nandas Sohn 62<br />
Jagannatha, Gott des Dharma 21<br />
Kali, Krishna, God, Khoda 113<br />
Komm, gehen wir zur Gaurngas Schule 37<br />
Komme, o Gaur-candra (d. h. Caitanya) 35<br />
Kommt, schaut es euch an 39<br />
Könnte <strong>der</strong> Unfaßbare erfaßt werden 44<br />
Krishna, den sogar <strong>der</strong> größte Yogi und <strong>der</strong> größte Asket 65<br />
(Krishna,) wen gibt es noch wie dich auf dieser Welt 103<br />
Lerne das Geheimnis des eigenen Körpers kennen 141<br />
146
Man findet ihn im eigenen Körpertempel 118<br />
Man findet ihn, wenn man ihn im eigenen Körper 121<br />
Man hat das Kastensystem erschaffen 17<br />
Maya schluckt die Lebewesen <strong>der</strong> Welt 47<br />
Mein Gedanke hat den Maya-Wein getrunken 49<br />
Mein Gedankenvogel wird nicht zahm 70<br />
Mein Geist ist das Boot 83<br />
Mein Geliebter spielt im Manipura 90<br />
Mein Zopf bleibt so 45<br />
Mit fünf Elementen ist dieses Haus gebaut 84<br />
Mitten in dem farbigen (Fluß) blüht die Blume 133<br />
Mutter, du selbst bist dein Ebenbild 107<br />
Nach drei Tagen, hinter drei Eigenschaften 162<br />
Nicht alle kennen die (wahre) Liebe 63<br />
Nicht nur ein Loch, son<strong>der</strong>n neun Löcher gibt es 86<br />
Nicht wenn Frau und Mann sich 159<br />
Nur <strong>der</strong>jenige, auf den des Gurus Gnade fällt 165<br />
Nur mit reinem ungeteiltem Geist 36<br />
Nur weil (Indien) mit dem Kastensystem 19<br />
O Brü<strong>der</strong>, warum habt ihr euch fortwährend so verän<strong>der</strong>t 27<br />
O du Kanai, warum bist du als Gaur geboren 33<br />
O (du mein) Geist, (du) Kaufmann 82<br />
O du mein goldenes Bengal 31<br />
O du unaufmerksam gewordene Hausfrau 46<br />
O Gaur, fahre mich zum Ufer dieser Welt 41<br />
O (mein) Gedanke, bist du ein Mann o<strong>der</strong> eine Frau 163<br />
O (mein) Geist, erkundige dich zu allererst 75<br />
O (mein) Geist, informiere dich zu allererst 77<br />
O (mein) Geist, suche die sieben Himmel- 76<br />
O mein Geist, verwandle dich 155<br />
O (mein) Geist, warum suchst du ihn 94<br />
O (mein) Geist, warum wan<strong>der</strong>st du noch draußen 92<br />
O mein Herz 59<br />
O (mein) Herz, (alles ist) Einbildung 51<br />
O mein Herz, du weißt nicht 66<br />
O mein Herz, lasse dich nicht vom Kastensystem 18<br />
O mein Herz, sei ehrlich und versuche 143<br />
O mein Herz, sei eine Frau 158<br />
O mein Herz, warum suchst du ihn 73<br />
O mein Herz, wenn <strong>der</strong> Zeitpunkt verstrichen ist 144<br />
O mein Herz, wenn du mit dem Fahrrad 151<br />
O mein vernarrtes Herz 43<br />
O Menaka, verhülle dein Gesicht 108<br />
O Vater des Universums 111<br />
Ob Gaur jemals wie<strong>der</strong> 40<br />
Ob Gaur noch einmal geboren wird 34<br />
Ohne Gurus Hilfe 164<br />
Sechs Mäuse nagen an meinem Haus 87<br />
Sie gehorchen mir, dem Herrn, nicht 79<br />
Siehe den Menschen (d. h. Gott) 148<br />
147
Shiva im Berg Kailasa ist ein Verrückter 109<br />
Shyam (d. h. Krishna), mache dich nicht lächerlich 61<br />
Trinke nicht unnötig den Maya-Wein 50<br />
Übe nicht die Liebe mit wil<strong>der</strong> Hast 67<br />
Um ihn zu erlangen 13<br />
Warum leidest du unnötig 60<br />
Was für eine Sitte hat Gaur 38<br />
Was wissen die Veden vom tiefen Sinn 8<br />
Welche Lebensart wird als 1<br />
Wem gehörst du 48<br />
Wemm soll ich die Schuld geben 174<br />
Wenn <strong>der</strong> Guru und Schüler eins sind 169<br />
Wenn <strong>der</strong> Schüler 168<br />
Wenn die vierundzwanzigeinhalb Gurus 78<br />
Wenn du Hari fangen willst 96<br />
Wenn du in die entgegengesetzte Richtung gehen willst 95<br />
Wenn es mich nicht gäbe, worauf wäresr du denn stolz 114<br />
Wer außer Krishna nichts an<strong>der</strong>es begehrt 54<br />
Wer den Weg <strong>der</strong> Gottesliebe geht 56<br />
Wer hat dieses Haus gebaut 74<br />
Wer weiß, was unser Karma fruchtet 24<br />
Wie kannst du an das Ziel kommen 152<br />
Wie schön ist <strong>der</strong> Lotus mit zwei Blütenblättern 125<br />
Wie soll ich den unerfaßbaren Menschen 52<br />
Wie, wenn trotz des Vorhandenseins des Mundes 160<br />
Wie willst du ihn fangen 126<br />
Wie willst du ins Zimmer <strong>der</strong> Liebe (raga) 161<br />
Wir sind die <strong>Baul</strong>s aus (West) Bengal 32<br />
(Wisse,) daß heilige Schriften (sastra) 10<br />
Wohin bist du gegangen, Ramamohana 30<br />
148
Lie<strong>der</strong> von Candidas über die Liebe zwischen Krishna und<br />
Radha<br />
1<br />
<strong>Die</strong> gefährliche Flöte kann ich nicht beschreiben.<br />
Mit ihrem Ruf holt sie die ehrbare Frau (aus dem Hause) heraus.<br />
Der Ruf faßt mich am Haar und zerrt mich zu Shyam,<br />
Wie wenn die durstige Rehkuh in Schwierigkeit gerät.<br />
Freundin, wenn ich die Melodie <strong>der</strong> Flöte höre,<br />
Vergesse ich meinen Haushalt und mein Herz wird unruhig.<br />
<strong>Die</strong> treue Gattin vergißt ihren Gatten, <strong>der</strong> Asket vergißt sein Gelübde,<br />
<strong>Die</strong> Pflanzen und die Kletterpflanzen freuen sich,<br />
Wenn sie (die Melodie) <strong>der</strong> Flöte hören.<br />
Was soll dann das schwache Geschlecht tun, das natürlich und einfach ist?<br />
Candidas sagt: „Kala ist <strong>der</strong> Meister aller Liebhaber.“<br />
2<br />
Freundin, wer hat mir den Namen Shyam zugeflüstert?<br />
Durch das Ohr ist er in mein Innerstes eingedrungen<br />
Und hat mein Herz unruhig gemacht.<br />
Ich weiß nicht, welche Freude <strong>der</strong> Name Shyam in sich verbirgt!<br />
Das Rezitieren des Namens macht mich regungslos.<br />
Wie bekomme ich ihn?<br />
Wenn die Berührung mit (seinem) Namen<br />
Mich in diesen Zustand versetzt hat,<br />
Was wird geschehen, wenn ich seinen Körper berühre?<br />
Wo ich doch seinen Weilort gesehen habe,<br />
Wie kann ich denn dann noch meine jugendliche Unschuld bewahren?<br />
Ich möchte ihn berühren, aber (er) läßt (sich) nicht berühren.<br />
Was soll ich nun tun?<br />
Brahmane Candidas sagt: „<strong>Die</strong> Frau aus dem guten Hause<br />
Verwirft ihren guten Ruf,<br />
(Und) erprobt ihre Jugend.“<br />
3<br />
Ah! Was für einen Schmerz empfindet Radha!<br />
Sie sitzt in einem menschenleeren Ort<br />
Und hört niemandem zu.<br />
Meditierend schaut sie in die Wolken.<br />
Ihre Pupillen bewegen sich nicht.<br />
Sie hat keinen Appetit und zieht sich das rote Gewand an,<br />
Als ob sie eine Asketin ist<br />
Sie macht ihren Zopf auf und läßt die Haare fallen,<br />
Und sie betrachtet sie.<br />
Lächelnd schaut sie zum Mond hinauf,<br />
Streckt (ihre beiden) Hände hoch und redet mit ihm.<br />
Sie stellt einen männlichen und einen weiblichen Pfau zusammen<br />
Und betrachtet ihre Hälse.<br />
149
Candidas sagt: „<strong>Die</strong> Bekanntschaft mit dem geliebten Kaliya ist neu.“<br />
Erläuterung: Zeile 6: Mit dem roten Gewand meint <strong>der</strong> Verfasser das Gewand <strong>der</strong> Mönche,<br />
dessen Farbe von gelb bis rot sein kann. Zeile 14: Kaliya, <strong>der</strong> Dunkle, ist ein weiterer Name<br />
Krishnas.<br />
150
Wort- und Namensindex<br />
<strong>Die</strong> Wörter sind ohne Deklination angegeben worden. Sie können sowohl einzeln als auch in<br />
Komposita vorkommen<br />
Ãcla: 10, 13<br />
Advaitacarya: 25, 28, 30, 31, 32, 62, 63,<br />
80<br />
Ajña od. Ajña-cakra: 41, 43, 44, 45, 46,<br />
49, 52, 73<br />
Akhra: 14, 19, 20<br />
Barayi: 50, 51<br />
Bhagavadgita:24, 42, 50, 80<br />
Bhagavan: 33, 48, 53<br />
Biraha-macchab: 75<br />
Cakra: 36, 43, 44, 45, 46, 49, 52, 81<br />
Caitanya: 7, 9, 10, 14, 17, 20, 21, 24,<br />
25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 34, 35,<br />
41, 46, 47, 50, 51, 53, 54, 56, 57, 58,<br />
59, 60, 61, 62, 63, 64, 66, 68, 69, 73,<br />
74, 77, 78, 80, 82, 83, 84<br />
Caitanya-tattva: 69<br />
Candidas: 36, 46, 50, 54<br />
Candra od. Cãd: 46<br />
Cari-candra: 68, 83<br />
Caryapada:<br />
Darja od. Duyar: 41<br />
Deha-tattva: 36, 47<br />
Dharmashastra:8, 9, 20, 21, 22, 24, 64,<br />
65, 66, 69, 75<br />
Diksha: 25, 73, 74, 76<br />
Ektara: 12, 22<br />
Gitagovinda: 36, 82<br />
Gõsai: 15, 29, 30<br />
Gotra: 14, 15, 66<br />
Granthi: 45<br />
Grihi: 10, 20<br />
Guna: 40, 41, 81<br />
Guru: 13, 15, 16, 17, 28, 54, 58, 63, 64,<br />
65, 66, 68, 71, 73, 74, 75, 76, 77<br />
Hathayoga-pradipika: 43, 44, 71<br />
Ira: 43, 44, 71<br />
Ishvar: 33, 45, 46, 47, 48, 53<br />
Jagannatha: 25, 27<br />
Jayadeva: 36, 50, 54, 55, 56, 58, 82<br />
Jiyante od. jyante mara: 70<br />
Kada-macchab: 75<br />
151<br />
Kali: 48, 49, 53<br />
Kama: 35, 70, 71<br />
Kartabhaja: 57, 58, 59, 82, 83<br />
Kistidhari: 10, 13, 21, 79<br />
Krishna: 25, 26, 27, 28, 29, 31, 34, 35,<br />
36, 46, 49, 51, 53, 55, 56, 57, 60, 62,<br />
69, 71, 73, 77, 80, 81, 82<br />
Krishnadas Kabiraj:7, 25, 30, 35, 51<br />
Krishna-prem: 8<br />
Kundalini: 42, 44, 45, 46, 70, 81<br />
Kundalini-shakti:<br />
Macchab od Mahotsab: 18, 19, 29, 32,<br />
60, 61, 83:<br />
Mahanirvana-tantra: 50, 72<br />
Mahaprabhu: 10, 31, 60, 62, 68<br />
Mahasukh: 70<br />
Mahayoga: 22, 69, 70, 71, 72, 73, 78<br />
Maithun: 62, 72<br />
Malsa-bhog: 62, 63, 64, 66, 73, 74, 75<br />
Mahotsab: s. Macchab<br />
Maluidhari: 10, 21, 79<br />
Mantra: 25, 26, 64, 66, 71, 73, 74, 80<br />
Manusmriti: 22, 65, 69, 75, 84<br />
Maya: 34, 35, 41, 47, 81<br />
Mela: 11, 18, 54, 55, 57, 58<br />
Mukta-beni: 43<br />
Muladhara: 41, 42, 43, 44, 45, 72, 81,<br />
82<br />
Nabadvip: 25, 60, 61<br />
Nadriya: 25, 30<br />
Nari: 36, 37, 42, 44, 45, 81<br />
Nityananda: 14, 15, 25, 28, 29, 31, 32,<br />
60, 63, 80<br />
Pañca-tattva: 62, 63, 72<br />
Pingala: 43, 44, 71<br />
Prakriti: 40, 41, 52<br />
Prem: 31, 35, 47, 70, 71<br />
Purana: 24, 36, 37, 38, 39, 40, 48, 50,<br />
53, 82<br />
Puri: 30, 80
Purnadas od. Purnacandradas <strong>Baul</strong>: 6,<br />
10, 11, 12, 14, 15, 16, 17, 19, 55, 59,<br />
62, 82<br />
Purusha: 40, 52, 53<br />
Radha: 15, 35, 36, 46, 50, 51, 55, 56,<br />
57, 60, 62, 69, 71, 77, 80, 81, 82<br />
Raja: 40, 41<br />
Ray Ramananda: 27, 31, 32<br />
Ripu: 41<br />
Sadhana-sangini: 15, 16, 67, 77<br />
Sahasrara: 43, 44, 45, 46, 49, 50, 52,<br />
70, 72, 73, 81<br />
Shakti: 24, 34, 35, 41, 44, 45, 46, 49,<br />
50, 51, 53, 70, 77, 81, 82<br />
Sankirtan: 26, 27, 29, 59<br />
Sharira-tattva: 36, 47<br />
Sharada-tilaka-tantra: 42, 45<br />
Sattva: 40, 41<br />
Shiva: 38, 42, 48, 49, 50, 53<br />
Shiva-samhita: 42<br />
Shri-krishna-kirtan: 50<br />
152<br />
Shri-shri-caitanya-caritamrita: 7, 25, 26,<br />
29, 30, 31, 32, 35, 51<br />
Shudra: 4, 9, 16, 20, 23, 24, 25, 27, 28,<br />
79, 80, 82, 83, 84<br />
Sushumna:43, 44, 45, 48, 49, 66, 70, 75<br />
Tama: 40, 41<br />
Tantra od. tantrisch od. Tantrik: 11, 29,<br />
32, 36, 42, 46, 47, 49, 50, 53, 54, 63,<br />
65, 72, 73, 74, 75, 77, 78, 79, 81, 83, 84<br />
Tattva: 40, 81<br />
Tulsi: 10, 13, 62, 63, 66, 73<br />
Udasi: 10, 20<br />
Vaishnava od. Vaishnavismus: 7, 17, 20,<br />
21, 24, 26, 27, 28, 31, 32, 34, 35, 36,<br />
41, 50, 51, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62,<br />
63, 64, 68, 69, 74, 77, 78, 80, 82, 84<br />
Vishnu: 24, 45, 48, 50, 56, 62, 80<br />
Vrindavan: 25, 28, 30, 50, 56, 57, 77,<br />
81<br />
Yukta-beni: 43
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Meyer-Franck, Helene (Übrs): Persönlichkeit, München, 1921<br />
Meyer-Franck, Helene (Übrs): Sadhana, Der Weg zur Vollendung, München, 1921<br />
Svami Tapasyananda: Shri Caitanya Mahaprabhu. His Life, <strong>Religion</strong> and Philosophy,<br />
Mylapore<br />
Vidyarnava, Shrisa Chandra: The Daily Practice of the Hindus, Containing the Morning and<br />
Midday Duties, New Delhi, 1991<br />
Swami Vivekananda: The Complete Works, Vol. I-VIII, Calcutta, 1964-1965<br />
Wakler, Benjamin: Hindu World. An Encyclopedic Survey of Hinduism, London, 1968<br />
Literatur in indischen Sprachen, gegebenfalls mit / in Übersetzung<br />
Sanskrit<br />
Bhagavadgita<br />
Aiyar, C.V. Ramachandra: Shri Sankara’s Gita Bhasya (Shri Sankaras Commen-tary on the<br />
Gita), Bombay, 1988<br />
Brahmasutra-bhasya: Siehe Shankaracarya<br />
Devi-mahatmyam<br />
Coburn, Thomas B.: Encountering The Goddess. A Translation of the Devi-Mahatmya and<br />
A Study of Its Interpretation, New York, 1991<br />
Swami Jagadiswarananda (Ed. und Übrs.): Devi Mahatmyam (Glory of the Divine Mother),<br />
700 Mantras on Shri Durga, Maylapore<br />
Patanjali: Yogasutra<br />
Swami Prabhavananda and Isherwood, Christopher (Ed. und Übrs.): Patanjali Yoga Sutras,<br />
Mylapore, o. J.<br />
Dharmashastra<br />
Apastamba und Gautama<br />
Bühler, George (Ed. und Übrs.): The Sacred Laws of the Aryas, Part I, Apa-stamba and<br />
Gautama, Delhi, 1992<br />
Gobhila, Hiranyakeshin und Apastamba<br />
Müller, F. Max (Ed. und Übrs.): The Grihya-sutras. Rules of Vedic Domestic Ceremonies.<br />
Part II, Gobhila, Hiranyakesin, Apastamba. Apastamba’s Yagna Paribhasha-Sutras, Delhi,<br />
1989<br />
155
Manu<br />
Bühler, George (Ed. und Übrs.): The Laws of Manu. Translated with Extracts From Seven<br />
Commentaries, Delhi, 1993<br />
Doniger, Wendy und Smith, Brian K. (Ed. und Übrs.): The Laws of Manu, London, 1991<br />
Narada und Brhaspati<br />
Jolly, Julius (Ed. und Übrs.): The Minor Law-Books, Part I, Narada (and) Brhaspati, Delhi,<br />
1994<br />
Sankhayana, Asvalayana, Paraskara und Khadira<br />
Oldenberg, Hermann (Ed. und Übrs.): The Grhya-Sutras, Rules of Vedic Domestic<br />
Ceremonies, Part I, Sankhayana-Grihya-Sutra, Asvalayana-Grihya-Sutra, Paraskara-Grihya-<br />
Sutra, Khadira-Grihya-Sutra, Delhi, 1989<br />
Vasistha und Baudhayana<br />
Bühler, George (Ed. und Übrs.): Sacred Laws of the Aryas, Part II, Vasistha and<br />
Baudhayana, Delhi, 1991<br />
Vishnu-smriti<br />
Jolly, Julius (Ed. und Übrs.): The Institutes of Vishnu, Delhi, 1992<br />
Purana<br />
Bhagavata-purana<br />
Swami Prabhupada: Shrimad Bhagavatam, Tenth Canto, Los Angeles, 1988<br />
Gadura-purana:<br />
Abegg, Emil: Der Pretakalpa des Gaduda-Purana. Eine Darstellung des hinduistischen<br />
Totenkultes und Jenseitsglaubens. Naunidhiramas Saroddhara. Aus dem Sanskrit übersetzt<br />
und mit Einleitung, Anmerkungen und Indices versehen, Berlin, 1921<br />
Vishnu-purana<br />
Wilson, H.H.: The Vishnu-Purana, A System of Hindu Mythology and Tradi-tion.<br />
Translated from the original Sanskrit, London, 1840<br />
Shankaracarya: Brahmasutra-bhasya<br />
Swami Gambhirananda (Ed. und Übrs.): Brahmasutra-bhasya of Shankara-carya, Calcutta,<br />
1993<br />
Shankaracarya: Upadesa-sahashri<br />
Swami Jagadananda (Ed. und Übrs.): UpadesasahaShri. A Thousand Teachings of Shri<br />
Shankaracarya. In Two Parts - Prose and Poetry, Mylapore, 1989<br />
Shankaracarya: Siehe auch Upanisad<br />
Tantra<br />
Mahanirvana-tantra<br />
Avalon, Arthur: Tantra of the Great Liberation, Mahanirvana-tantra, London, 1913<br />
Sharada-tilaka-tantra<br />
The Sharada-tilaka Tantram: English Translation with Notes and Yantras by A Board of<br />
Scholars, Delhi, 1988<br />
Upanisad<br />
Swami Gambhirananda (Ed. und Übrs.): Chandogya Upanisad, With The Commentary of<br />
Shri Shankaracarya, Calcutta, 1983<br />
156
Swami Gambhirananda (Ed. und Übrs.): Eight Upanisads, Vol. I: Isa, Kena, Katha and<br />
Taittiriya, With The Commentary of Shri Shankaracarya, Calcutta, 1977<br />
Swami Gambhirananda (Ed. und Übrs.): Eight Upanisads, Vol. II: Aitareya, Mundaka,<br />
Mandukya & Karika, and Prasna, With The Commentary of Shri Shankaracarya, Calcutta,<br />
1978<br />
Swami Madhavananda (Ed. und Übrs.): The Brhadaranyaka Upanisad, With the<br />
Commentary of Shankaracarya, Calcutta, 1965<br />
Swami Tyagisananda (Ed. und Übrs.): Svetasvataropanisad, Including Original Passages,<br />
Construed Text [anvaya] With a literal Word by Word Translation, English Ren<strong>der</strong>ing of<br />
Each Passage, Copious Notes, and Introductory Note, Mylapore<br />
Svami Mukhyananda: Om, Gayatri and Sandhya, Mylapore<br />
Swami Pavitrananda (Ed. und Übrs.): Hymns and Prayers to Gods and Goddesses. A<br />
Bouquet of Choicest Sanskrit Hymns with English Translation, Calcutta, 1992<br />
Yoga<br />
Weiß, Hartmut (Hrsg. und Übers.): Quellen des Yoga. Klassische Texte <strong>der</strong> Körper- und<br />
Geistesschülung. Theorie und Praxis des Yoga nach den Quellenwerken Shvetashvatara-<br />
Upanishad, Patanjalis Yoga-Sutra, Bhagavadgita, Hathayogapradipika, Bern, 1986<br />
Bengali<br />
Mahabharata<br />
Basu, Rajasekhara (Kompilator): Krishnadvaipyayana Vyasa krta Mahabharata, Saranuvada,<br />
Kalikata, 1987<br />
Ramayana<br />
Bhattacarya, Hemandra (Kompilator): Valmiki racita Ramayana, Kalikata, 1984<br />
Bhattacarya, Upendranath: Banglar baul o baul gan, Kalikata, 1981<br />
Anoyara Hosena [Mantu Saha] : Lalana-sangita, Vol. I und II, Kustiya, 1993 und 1995<br />
Bakci, Adhira: Bangala gan, egaroso baroso sataka, Kalikata, 1988<br />
BandyopAdhyay, Devasisa: Caitanya-carcara pacaso bachara, Kalikata, 1987<br />
Basu, Rajasekhara: Calantika, Kalikata, 1978<br />
CandiDas: Padavali<br />
MukhopAdhyay, HareKrishna o CattopAdhyay, Sunitikumara (Ed.): Candi-Das-padavali,<br />
Kalikata, 1934<br />
CandiDas: Vaisnava-padavali, Kalikata<br />
CandiDas: ShriKrishna-kirtana<br />
Bhattacarya, Amitrasudana (Ed.): Badu-candidasera ShriKrishna-kirtana, Kali-kata, 1983<br />
Caudhuri, Basanti: DvaDas-bhasana, Konnagara, 1996<br />
Das, Kisori Kinkara: Smarana-mangala, Bhadrakha, 1977<br />
Das, Upendrakumara: Sastramulaka Shakti-sadhana, Vol. I und II, Kalikata, jeweils 1984<br />
und 1988<br />
Dasgupta: Shri-radhara kramavikasa, darsane o sahitye, Kalikata, 1974<br />
De, Satyabrata: Bitarkita ShriKrishna-kirtana, Bardhamana, 1985<br />
GangopAdhyay, Taruna: Naksala. Naksala viplavera prathama Daska, Kali-kata, 1977<br />
Ghosala, HariDas: Shrila-bhagavatacaryera lila-prasanga, Pathabadi, 1994<br />
Gupta, Mahendranatha: Shri-Shri-ramaKrishna-kathamrta. Shrima-kathita, Kalikata, 1993<br />
157
KrishnaDas Kabiraj: Shri-shri-caitanya-caritamrita.<br />
MukhopAdhyay, Upendranath (Ed.): Shri-shri-caitanya-caritamrita, Kalikata, 1983<br />
Krishnananda-Das Babaji: Samkalita bhagavati katha, Pathabadi, 1993<br />
Majumadara, Atindra: Caryapada, Kalikata, 1981<br />
Majumadara, Samaresa: in Desa, Jg. 63, Nr. 1, 1995<br />
Majumadara, Sukumara: Mayacchanna mayapuri, Nabadvip, 1992<br />
MukhopAdhyay: Vaisnava-dharma prakasika, Kalikata, 1958<br />
Svami Prameyananda: Puja-vijnana, Udbodhana, Kalikata, 1981<br />
Purnadas <strong>Baul</strong>: Banglar baul gan, Kalikata, o. J.<br />
RamaDas Babaji Maharaja: Sadhaka-kanthamala, Pathabadi, 1996<br />
Raya, Diptimaya: Pascimabangera kali o kaliksetra, Kalikata, 1986<br />
Sena, Sukumara: Bangala sahityera itihasa, Vo. I und II, Kalikata, jeweils 1978 und 1975<br />
Thakura, Rabindranatha (Tagore, Rabindranath): Racanavali, Vol. X, Kalikata, 1986, Vol.<br />
XII, Kalikata, 1993, Vol. XXVII, Kalikata, 1986<br />
158