Leseprobe - lechflimmern.de - Kino in Augsburg
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»Graf Dracula?« Er verbeugte sich höflich und antwortete:<br />
»Ich b<strong>in</strong> Dracula, und ich heiße Sie, Mr. Harker, <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Haus will-<br />
kommen. Treten Sie e<strong>in</strong>. Die Nachtluft ist kalt, und Sie müssen etwas<br />
essen und sich ausruhen.« Damit stellte er die Laterne auf e<strong>in</strong>er Konsole<br />
an <strong>de</strong>r Wand ab, g<strong>in</strong>g h<strong>in</strong>aus, nahm me<strong>in</strong> Gepäck und hatte es here<strong>in</strong>ge-<br />
tragen, ehe ich ihm zuvorkommen konnte (…)<br />
7. Mai. Es ist wie<strong>de</strong>r früher Morgen, aber ich habe geruht und die<br />
letzten vierundzwanzig Stun<strong>de</strong>n genossen. Ich schlief, bis ich spät am<br />
Tag von alle<strong>in</strong> aufwachte. Nach <strong>de</strong>m Anklei<strong>de</strong>n g<strong>in</strong>g ich <strong>in</strong>s Esszimmer<br />
und fand dort e<strong>in</strong> kaltes Frühstück aufge<strong>de</strong>ckt, nur <strong>de</strong>r Kaffee wur<strong>de</strong> auf<br />
<strong>de</strong>m Kam<strong>in</strong>grill warmgehalten. Auf <strong>de</strong>m Tisch lag e<strong>in</strong> Kärtchen, auf <strong>de</strong>m<br />
geschrieben stand:<br />
»Ich muss für e<strong>in</strong>e Weile fort, warten Sie nicht auf mich. – D.« Also<br />
setzte ich mich an <strong>de</strong>n Tisch und erfreute mich an e<strong>in</strong>em herzhaften<br />
Mahl. (…) Als ich mit <strong>de</strong>m Essen fertig war, (…) schaute ich mich nach<br />
etwas zum Lesen um, <strong>de</strong>nn ich wollte nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Burg herumstöbern,<br />
ohne <strong>de</strong>n Grafen um Erlaubnis gefragt zu haben. Aber es war absolut<br />
nichts im Zimmer, ke<strong>in</strong> Buch, ke<strong>in</strong>e Zeitung, noch nicht e<strong>in</strong>mal Schreib-<br />
zeug. Also öffnete ich e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re Tür im Raum und stieß auf e<strong>in</strong>e Art<br />
Bibliothek. Die Tür auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite <strong>de</strong>s Gangs versuchte ich eben-<br />
falls, sie war aber verschlossen.<br />
In <strong>de</strong>r Bibliothek ent<strong>de</strong>ckte ich zu me<strong>in</strong>er freudigen Überraschung e<strong>in</strong>e<br />
große Zahl englischer Bücher, ganze Regale voll, nebst gebun<strong>de</strong>nen Jahr-<br />
gängen von Illustrierten und Zeitungen. Auf e<strong>in</strong>em Tisch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Mitte<br />
lagen weitere englische Presseerzeugnisse verstreut, allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e neue-<br />
ren Datums. Die Bücher kamen aus allen möglichen Themenbereichen –<br />
Geschichte, Geographie, Politik, politische Ökonomie, Botanik, Geolo-<br />
gie, Rechtswesen – alle mit e<strong>in</strong>em Bezug zu England, englischem Leben,<br />
englischen Sitten und Gebräuchen. Es waren sogar Nachschlagewerke<br />
darunter wie das Londoner Adressbuch, das »Rote« und das »Blaue«<br />
Buch, Whitakers Almanach, die Ranglisten von Armee und Mar<strong>in</strong>e<br />
sowie – me<strong>in</strong> Herz wur<strong>de</strong> nachgera<strong>de</strong> erwärmt – das Anwaltsverzeichnis.<br />
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Während ich die Bücher begutachtete, g<strong>in</strong>g die Tür auf, und <strong>de</strong>r Graf<br />
trat e<strong>in</strong>. Er begrüßte mich herzlich und erkundigte sich, ob ich gut ge-<br />
schlafen habe. Dann fuhr er fort:<br />
»Ich freue mich, dass Sie hierher gefun<strong>de</strong>n haben, <strong>de</strong>nn ich b<strong>in</strong> si-<br />
cher, es gibt hier gewisslich vieles, was Sie <strong>in</strong>teressieren wird. Diese<br />
›Freun<strong>de</strong>‹« – er legte se<strong>in</strong>e Hand auf e<strong>in</strong>en Stapel Bücher – »waren mir<br />
gute Begleiter und haben mir <strong>in</strong> <strong>de</strong>n vergangenen Jahren, seit ich mit<br />
<strong>de</strong>m Gedanken spiele, nach London zu ziehen, viele, viele angenehme<br />
Stun<strong>de</strong>n beschert. Durch sie habe ich Ihr großartiges Land kennenge-<br />
lernt, und es kennen heißt es lieben. Ich sehne mich danach, durch die<br />
bevölkerten Straßen Ihrer mächtigen Hauptstadt zu gehen, mitten im<br />
Trubel und <strong>de</strong>m hektischen Treiben <strong>de</strong>r Menschen, teilzuhaben an<br />
ihrem Leben, ihrem Schicksal und Sterben und an allem, was diese<br />
Stadt zu <strong>de</strong>m macht, was sie ist. Aber zu me<strong>in</strong>em Leidwesen kenne ich<br />
Ihre Sprache nur aus Büchern. Auf Sie, me<strong>in</strong> Freund, hoffe ich, damit<br />
ich sie sprechen lerne.«<br />
»Aber Graf«, sagte ich, »Sie verstehen und sprechen hervorragend<br />
englisch!« Er verbeugte sich wür<strong>de</strong>voll.<br />
»Ich danke Ihnen, me<strong>in</strong> Freund, für Ihr allzu schmeichelhaftes Urteil,<br />
aber <strong>de</strong>nnoch fürchte ich, dass ich erst e<strong>in</strong> kurzes Stück <strong>de</strong>s Weges zu-<br />
rückgelegt habe, <strong>de</strong>r vor mir liegt. Wahrlich, ich kenne die Grammatik<br />
und die Wörter, aber ich weiß nicht, wie man sie ausspricht.«<br />
»Wirklich«, sagte ich, »Sie sprechen ganz ausgezeichnet.«<br />
»Nicht doch«, erwi<strong>de</strong>rte er. »Ich weiß sehr wohl, dass man mir <strong>in</strong><br />
London aufgrund me<strong>in</strong>es Auftretens und me<strong>in</strong>er Aussprache sofort an-<br />
merken wür<strong>de</strong>, dass ich e<strong>in</strong> Frem<strong>de</strong>r b<strong>in</strong>. Das genügt mir nicht. Hier<br />
b<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong> Adliger, e<strong>in</strong> Bojar. Das geme<strong>in</strong>e Volk kennt mich, und ich<br />
b<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Herr. Aber <strong>de</strong>r Fremdl<strong>in</strong>g im frem<strong>de</strong>n Land, er ist niemand. Die<br />
Menschen kennen ihn nicht – und nicht kennen be<strong>de</strong>utet nicht beach-<br />
ten. Ich b<strong>in</strong> zufrie<strong>de</strong>n, wenn ich wie die an<strong>de</strong>ren b<strong>in</strong> und niemand ste-<br />
henbleibt, wenn er mich sieht, o<strong>de</strong>r, wenn er mich re<strong>de</strong>n hört, sagt:<br />
›Haha, e<strong>in</strong> Frem<strong>de</strong>r!‹ Ich b<strong>in</strong> schon so lange Herr, dass ich Herr bleiben<br />
will – wenigstens soll niemand Herr über mich se<strong>in</strong>.« (Aus Kapitel 2)<br />
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