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Roter Bär - Adolfinum

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<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong><br />

- Ein Indianerroman -<br />

Jan Frederik Thomsen<br />

Gymnasium <strong>Adolfinum</strong> Moers, Klasse 7 a (2005/06)<br />

Auf einem lichten Hügel inmitten in der Wildnis<br />

des Landes, das die weißen Menschen später Kanada<br />

nannten, saßen zwei junge Indianer. Sie schauten hinab<br />

auf eine Bucht des Großen Wassers. Dieser riesenhafte<br />

See wird heute von den Blassgesichtern Lake Superior<br />

genannt. Jetzt, im Herbst, wimmelte es auf dem Wasser<br />

von Zugvögeln, sodass die Augen der beiden Roten nur<br />

eine Fläche dunkler Körper erblickten, nicht aber das<br />

Wasser selbst. Nur manchmal traf ein Strahl der Sonne,<br />

die, trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit, unverändert<br />

prall vom Himmel schien, genau in die Lücke zwischen<br />

zwei Tieren und wurde vom Wasser zurückgeworfen.<br />

Dann nahmen die zwei Menschen auf der Hügelkuppe ein<br />

Aufblitzen wahr.<br />

Der Wald um den See stand zu dieser Zeit in seinen<br />

prächtigsten Farben und über den rot, gelb und orange<br />

leuchtenden Wipfeln der Bäume strich hin und wieder<br />

ein Schwarm Enten oder Gänse mit heftigem Flügelschlag<br />

dem riesigen See zu. Die Luft war erfüllt von ihrem Rufen<br />

und die fröhliche Stimmung steckte auch die Menschen<br />

an. Unten, am Ufer der Bucht lag das Heimatdorf der beiden<br />

Indianer: Weiße Erde. Von dort drang ausgelassenes<br />

Kindergeschrei herauf, das sich mit dem Klopfen der<br />

Feldwächter mischte, die auf den Feldern Stöcke aneinander<br />

schlugen um damit die Vögel, welche den Mais<br />

fressen wollten, zu vertreiben. Je zwei oder drei Frauen<br />

1


hatten sich am Rand eines Maisfeldes ein kleines Hüttchen<br />

aus Stöcken errichtet und saßen jetzt darin, wobei<br />

sie klopften, was das Zeug hielt.<br />

Als die beiden Indianer ihre Blicke über das Dorf<br />

schweifen ließen, sahen sie ein ihnen wohlbekanntes Bild:<br />

Dort unten lag am Ufer des Großen Wassers, umgeben<br />

von bewaldeten Hügeln eine Ansammlung zweimal<br />

mannshoher, brauner Kuppeln, aus denen Rauch aufstieg.<br />

Aus der Hütte, in der <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> mit seiner Familie<br />

wohnte, trat gerade Kristallwasser, <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>s Mutter mit<br />

einer großen Holzschüssel und ging auf den See zu. Dort<br />

füllte sie das Gefäß mit der klaren Flüssigkeit, nach der sie<br />

ihren Namen erhalten hatte. Nun ging sie zurück in ihren<br />

Wigwam und setzte dort vermutlich das Wasser im großen<br />

Messingkessel über dem Feuer zum Kochen auf. Sobald<br />

das Wasser heißgenug war, würde sie mit dem Zubereiten<br />

des Abendessens beginnen.<br />

Ein kleiner Luftzug bewegte die Blätter der Bäume<br />

und Büsche. In der Nähe rauschte eine Birke. Wie durch<br />

dieses Geräusch aufgeweckt, fragte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>, der rechte<br />

der beiden jungen Indianer, seinen Nachbarn:<br />

"Hörte mein Freund Rotes Messer schon, was der<br />

Händler der Irokesen, der vor drei Tagen und drei Nächten<br />

in unser Dorf kam, erzählte?"<br />

"Ja, Rotes Messer erfuhr es von seinem Vater. Es<br />

sollen Männer mit einer Haut so weiß wie Schnee in ein<br />

Irokesendorf eingefallen sein und alle Häuser verbrannt<br />

haben. Der Händler meinte, diese weißen Männer besäßen<br />

Holzstöcke mit einer Röhre daran. Damit sollen sie<br />

Blitz und Donner machen und Menschen töten können."<br />

"So hat auch <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> gehört. Außerdem stehlen<br />

sie den roten Leuten Land. Der Händler behauptete, sie<br />

kämen eines Tages auch zu uns."<br />

2


"Wir müssen abwarten, bis das so weit ist. Unser<br />

Stamm ist stark und besitzt viele Krieger. Wenn dein Vater<br />

Bugonaigeeshing unsere Männer führt, brauchen wir keine<br />

Angst vor diesen Blassgesichtern zu haben."<br />

An diesem Tag fiel kein weiteres Wort mehr zwischen<br />

den beiden jungen Kriegern. Sie sahen schweigend<br />

auf die ihnen so gut bekannte, wunderschöne Landschaft<br />

hinab.<br />

Gerade schickte die Sonne sich an, hinter dem Horizont<br />

zu verschwinden, als ein Schwarm Gänse über ihnen<br />

vorüberflog. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> stand auf, nahm seinen kunstvoll<br />

geschnitzten Ahornholzbogen hoch, legte einen Pfeil<br />

auf und schoss eine junge Kanadagans aus dem<br />

Schwarm heraus. Der Vogel fiel unweit von ihnen zu Boden.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> ging hin, zog den Pfeil aus dem Herzen<br />

des geschossenen Tieres, hob dieses auf und begab sich<br />

zurück zu seinem Freund. Dort säuberte er die knöcherne<br />

Pfeilspitze von Blut und Fleischresten und steckte das<br />

Geschoss zurück in seinen hirschledernen Köcher. Die<br />

Gans legte er vor sich zu Boden. Währenddessen war die<br />

Sonne schon verschwunden. Da, wo sie eben noch am<br />

Himmel gestanden hatte, war jetzt nur noch das blutrot gefärbte<br />

Firmament zu sehen. In nicht allzu langer Zeit würde<br />

Nacht sein. Rotes Messer drehte sich um und sah<br />

schon den Mond und einige Sterne blass leuchten. Beide<br />

Krieger standen auf, hoben die Arme zum Himmel und<br />

sprachen das kurze Gebet des Indianers: "Manitu steh mir<br />

bei!" Dann hob <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> seine Gans auf und sie gingen<br />

im Dämmerlicht den sanften Hügel hinunter. Am Dorf angelangt<br />

verabschiedeten sie sich wortlos und jeder ging<br />

zum Wigwam seiner Familie.<br />

Bei seinem Heim angekommen ließ <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> den<br />

Blick noch einmal über die Wälder schweifen und sah<br />

3


auch zu den Sternen am nachtschwarzen Himmel hinauf.<br />

Dabei musste er daran denken, dass all diese wunderschöne<br />

Natur bald vielleicht nicht mehr seinem Volk gehören<br />

würde. Er beschloss, alles zu tun, was in seinen Kräften<br />

stand, um den weißen Eindringlingen Widerstand zu<br />

leisten. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> atmete noch einmal tief die frische<br />

Nachtluft ein, dann hob er das Eingangsfell und trat in die<br />

Hütte. Seine Familie hockte um das Feuer in der Mitte des<br />

Raumes. Der Bruder saß dem Vater Bugonaigeeshing auf<br />

einem <strong>Bär</strong>enfell gegenüber. Er wurde von dem Familienoberhaubt<br />

in den Märchen und Sagen des Stammes der<br />

Anishinabeg unterrichtet. Bugonaigeeshing war ein Ehrenname,<br />

den nur der oberste Häuptling der Anishinabeg<br />

tragen durfte.<br />

Die Mutter nähte eine kunstvoll mit Stachelschweinborsten<br />

bestickte Bogenhülle aus Elchleder und<br />

rührte von Zeit zu Zeit im großen Messingkessel über dem<br />

prasselnden Feuer, den man von einem Händler der Huronen<br />

eingehandelt hatte.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hängte seinen Bogen im Futteral und den<br />

Köcher mit den Pfeilen an einen Asthaken über seinem<br />

Nachtlager aus Büffelfellen. Dann setzte er sich ans Feuer<br />

auf die Decke eines Hirsches, zog seine vom Tau völlig<br />

durchnässten Mokassins aus und stellte sie an die Flammen.<br />

Aus der mit Fransen und Stachelschweinborsten<br />

verzierten Büffellederscheide am Gürtel zog <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> ein<br />

Messer mit handlichem Griff, der aus dem Knochen eines<br />

Rehs gefertigt war. Die Klinge war aus massivem Stahl<br />

gegossen und scharf geschliffen. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte sie gegen<br />

ein Waschbärenfell von einem Händler aus dem<br />

Stamm der Wyandot eingehandelt. Auch, wenn die Anishinabeg<br />

noch nichts mit den Weißen zu tun gehabt hatten,<br />

kamen sie doch durch Tauschhandel mit östlicheren<br />

4


Stämmen an Metallwaren. Dinge aus Metall besaßen für<br />

Indianer damals für Indianer einen sehr hohen Wert. Nur<br />

ein guter Jäger, der viele Pelze erbeutete, konnte sich<br />

damals eine Seltenheit wie eine stählerne Messerklinge<br />

leisten.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> schnitt mit seinem Messer der Gans den<br />

Bauch auf und nahm die Eingeweide aus dem toten Körper.<br />

Dabei stand Schnapp, ein Wolfshund, der bisher zusammengrollt<br />

an der Wand der Hütte gelegen hatte, auf<br />

und kam zu <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>. Er schnappte nach den Gedärmen,<br />

aber <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> versetzte ihm einen Klaps auf die Schanuze<br />

und sprach: "Nicht so eilig, Schnapp, du bekommst<br />

deinen Teil noch früh genug!"<br />

Darauf schnitt er Herz, Leber und Magen aus dem<br />

wilden Knäul der Innereien heraus und gab sie zusammen<br />

mit dem toten Vogel seiner Mutter, die die Bogenhülle beiseite<br />

legte, das Tier entgegennahm und es rupfte. Dabei<br />

gab sie sorgfältig darauf Acht, die Schwung- und<br />

Schwanzfedern nicht zu knicken. Zuvor hatte sie es noch<br />

in ein Gefäß mit Wasser getaucht, damit sich die Flaumfedern<br />

nicht überall im Raum verteilten. Als kein Federkiel<br />

mehr in der Haut steckte, hängte sie die Gans oben an eine<br />

Stange des Wigwams. So kam Schnapp nicht an das<br />

heiß begehrte Fleisch heran. In der Zwischenzeit hatte<br />

sich dieser schon hungrig über die Därme, Füße und den<br />

Kopf der Gans hergemacht, die <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> ihm hingelegt<br />

hatte.<br />

Erst jetzt spießte der älteste Sohn des Oberhäuptlings<br />

der Anishinabeg mit dem Messer ein Stück Fleisch<br />

aus dem großen Kessel auf, schnitt das beste Stück des<br />

Brockens ab und warf es als Opfer für Manitu, das große<br />

Geheimnis ins Feuer. Dann begann er, seinen Teil mit den<br />

Fingern zu essen, wobei er das Messer wieder zur Hilfe<br />

5


nahm. Während er aß, redete er nicht. Es war überhaupt<br />

bei den Kindern Manitus nicht üblich, während des Essens<br />

zu reden. Es kam sogar vor, dass einige Stunden lang<br />

kein Wort in einer Hütte viel, wenn nur zwei oder drei Leute<br />

zu Hause waren.<br />

Als er die Mahlzeit beendet hatte, redeten auch der<br />

Vater Bugonaigeeshing und der jüngere Bruder nicht<br />

mehr. Die Mutter hatte sich wieder der Bogenhülle zugewandt.<br />

Als sie jedoch sah, dass <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> fertig war, gab<br />

sie ihm die Schwungfedern. Dieser reichte die Hälfte seinem<br />

Bruder weiter und sagte:<br />

"Lass uns einige Pfeilfedern schneiden!"<br />

"Mein Bruder mag anfangen, ich will lernen, damit<br />

ich bald zu den Männern aufgenommen werde"<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> stand auf, ging einige Schritte zu seinem<br />

Lager und griff in eine bemalte Rohhauttasche � , welche<br />

vom Holzgerüst an einem Asthaken herunterbaumelte und<br />

holte ein kleines Holzbrettchen hervor. Dann setzte er sich<br />

zu seinem Bruder, legte eine Gänsefeder auf das Holz<br />

und spaltete mit seinem Messer den ihren Kiel der Länge<br />

nach. Nun schnitt er die Federhaare auf die gewünschte<br />

Länge. Nachdem er den abgetrennten Teil der Hährchen<br />

ins Feuer geworfen hatte, forderte er den Bruder auf, es<br />

selbst einmal zu versuchen. Die eigene legte er in die Tasche,<br />

aus der er zuvor das Holz geholt hatte.<br />

Der Läuft Wie Ein Hirsch versuchte indes sein<br />

Glück und nahm das eigene, mit Knochenperlen und Fellstreifen<br />

verzierte Messer, aus der Scheide. Er hielt die<br />

Feder nurnoch vorsichtig am untersten Ende des Kiels.<br />

Nun setzte er das Messer mit seiner Spitze auf die Stelle<br />

des Federkiels, an der die Haare ansetzten. Doch als er<br />

ein Wenig Druck auf die Schneide gab, drehte sich die<br />

� Rohhaut: geschabte und getrocknete Tierhaut<br />

6


Feder blitzschnell um und das Messer fuhr in die hölzerne<br />

Unterlage. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>, der inzwischen wieder neben seinem<br />

Bruder saß, meinte:<br />

"Siehst du dort, in der Mitte des Kiels die kleine<br />

Rinne? Wenn du die Spitze des Messers dort hineindrückst,<br />

dreht sich die Feder in deiner Hand nicht so<br />

leicht. Außerdem spaltet sich dort die Feder bereitwilliger<br />

und gerader."<br />

Diese Worte waren mit keiner Spur von Besserwissen<br />

oder Spott gesprochen worden. Als Der Läuft Wie Ein<br />

Hirsch versuchte, diesen Ratschlag in die Tat umzusetzen,<br />

funktionierte es wirklich besser. Nun drehte er die eine<br />

Federhälfte auf die Seite und legte sie auf das Brett.<br />

Der Junge kürzte die Haare mit dem Strich auf die erwünschte<br />

Form und Länge. Der Läuft Wie Ein Hirsch legte<br />

diese Hälfte zur Seite, griff nach der anderen und brachte<br />

sie in die gleiche Form und Länge wie die Erste. Diesmal<br />

ging es schon besser. Nacheinander kam jede Feder aus<br />

dem Häufchen an die Reihe und am Ende lagen fertige<br />

Federn für mindestens so viele Pfeile dort, wie drei Menschen<br />

Finger haben.<br />

Währenddessen hatte sich <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> den Oberschenkelknochen<br />

eines Hirsches aus einer Ledertasche<br />

seines Vaters genommen. Selbstverständlich hatte er vorher<br />

um Erlaubnis gebeten und die Zustimmung des Häuptlings<br />

erhalten. Nun schnitzte er am Feuer sitzend die weiße,<br />

harte Stange, und jeder Messerschnitt hatte seinen<br />

genauen Platz und seinen eigenen bestimmten Zweck.<br />

Noch konnte niemand erkennen, welche Sache aus diesem<br />

Knochen, der einmal in dem Körper eines Hirsches<br />

über den Boden dahingeflogen war, entstehen würde.<br />

Hier, in dem Wigwam einer roten Familie aber fragte auch<br />

niemand; jeder hatte die Zeit und die Geduld, abzuwarten.<br />

7


Langsam, Span für Span wurde der Knochen flacher, bis<br />

er ungefähr halb so stark war, wie ein Finger.<br />

Jetzt schnitt der Indianer eine Spitze an das eine<br />

Ende dieser Knochenplatte. Von hier aus ließ er langsam<br />

die Kanten breiter werden, bis sie fast eine halbe Daumenlänge<br />

weit voneinander entfernt waren. Als nächstes<br />

sägte er mit einer Feuersteinklinge aus einer kleinen, mit<br />

Stachelschweinborsten verzierten Tasche, die er um den<br />

Hals getragen hatte, genau auf die Mitte der Platte zu.<br />

Doch hörte er eine halbe Fingerstärke vor dieser auf und<br />

führte auf der anderen Seite genau das selbe durch. Anschließend<br />

trennte er ungefähr eine halbe Daumenlänge<br />

hinter diesen Einschnitten die gesamte Platte von dem<br />

Rest des Knochens und sägte von hier zu den Schnitten,<br />

so, dass eine Art Zunge aus der Platte herausragte. Allein<br />

das Sägen dieser fünf Schnitte benötigte so viel Zeit, dass<br />

die Mutter zehnmal Holz auf das Feuer hatte legen müssen.<br />

Allmählich konnte man aber schon die Form einer<br />

Pfeilspitze erahnen, obwohl noch wenigstens eine weitere<br />

Stunde voller Arbeit in dieser Sache steckte.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> stand auf, zog die Mokkassins an, ging<br />

zum Eingang, schob sachte das Fell, das den Eingang<br />

verhängte, an die Seite und trat nach draußen. Ohne ein<br />

Geräusch zu verursachen ging der älteste Sohn des Oberhäuptlings,<br />

der einmal dessen Rolle zu übernehmen<br />

hatte, über die weichen taufeuchten Moospolster zum<br />

großen Wasser. Er begab sich an eine Stelle, an der das<br />

Ufer steinig war und viele Felsbrocken mit rauher Oberfläche<br />

lagen. Hier bückte er sich, suchte einen Flachen, kleinen<br />

Stein aus einem Haufen heraus und hob ihn hoch.<br />

Im Schilf quarrten verschlafen die Enten und auf<br />

dem See sprang ein Fisch, der mit leisem Geräusch wieder<br />

in seinem Element verschwand. Als <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> seinen<br />

8


Kopf hob, um die Sterne zu betrachten, wie er es so oft<br />

gerne tat, da flog wie ein Schatten ein kleines Käuzchen<br />

über seinen Kopf hinweg. Und jetzt hörte er auch, wie in<br />

der Ferne ein Wolfsrudel seinen Gesang erhob. Der junge<br />

Mann wandte sich um und schritt zurück in die Hütte seiner<br />

Familie. Während er das Dorf Weiße Erde durchquerte,<br />

vernahm er in manchen Wigwams noch leise murmelnde<br />

Stimmen.<br />

Als er das Eingangsfell hob, strömte ihm eine wohlige<br />

Wärme entgegen, die in die schon frostige Herbstnacht<br />

hinaus drang. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> ging schnell in das Familienheim<br />

hinein und schloss den Eingang wieder, damit<br />

nichts von der kostbaren Feuerwärme verloren ging.<br />

Nachdem er sich niedergelassen und die Schuhe ausgezogen<br />

hatte, fing er an, die Kanten der Pfeilspitze mit dem<br />

Stein, wegen dem er zum See gelaufen war, zu schärfen.<br />

Dabei dachte er: "Mit dem Pfeil, an dem diese Spitze befestigt<br />

ist, will ich einmal meinen ersten <strong>Bär</strong>en schießen."<br />

Nachdem die Spitze scharf genug schien, um auch durch<br />

die dickste und stabilste Tierhaut hindurch zu dringen,<br />

verspürte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> eine große Müdigkeit. Er steckte die<br />

Pfeilspitze in die Rohauttasche, in der auch schon die Federn<br />

untergebracht waren und legte sich auf das seinige<br />

Büffelfell. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite der mit<br />

Birkenrinde gedeckten Hütte, hatte sich die Mutter ein <strong>Bär</strong>enfell<br />

ausgebreitet und schlief schon. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> konnte<br />

die sich sacht hebende und senkende Brust beobachten.<br />

Im Halbschlaf bekam er noch mit, wie der Vater sich wieder<br />

seinem Bruder zuwandte und in seinen Lehren fortfuhr.<br />

Anscheinend waren sie noch nicht so müde.<br />

9


Am nächsten Morgen erwachte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> früh.<br />

Seine Familienmitglieder schliefen noch alle und er konnte<br />

hören, wie draußen gerade die ersten Vögel mit einigen<br />

verschlafenen Trillern die Sonne begrüßten. Nachdem er<br />

sich gründlich die Augen gerieben hatte, erhob er sich und<br />

kleidete sich an. Er hatte nachts nur den Lendenschurz.<br />

Der Lendenschurz wurde zwischen den Beinen hindurchgezogen<br />

und fiel vorne und hinten über einen Gürtel. Nun<br />

zog <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sein Hirschlederhemd an und schlang sich<br />

über dieses einen zweiten Gürtel um die Hüfte, an dem<br />

seine Messerscheide hing. Mit den Beinen schlüpfte er in<br />

Leggins, Lederbeinlinge, die mit einem Band am äußeren<br />

Gürtel zu befestigen waren. An die Füße zog er seine<br />

Mokkasins und um den Hals legte er eine Knochenperlenkette,<br />

die mit einem Hermelinschwanz verziert war. Nachdem<br />

er mit einem aus Knochen geschnitzten Kamm die<br />

langen Haare glatt gelegt hatte, setzte er sein Stirnband<br />

auf.<br />

Draußen durchbrachen gerade die ersten Strahlen<br />

der Sonne den Morgendunst über dem großen Wasser.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> schlug die Richtung zum See ein und wanderte<br />

auf dem Kiesstreifen am Ufer entlang bis zu der Stelle, an<br />

der die Kanus lagerten. Alle Boote des Dorfes lagen, soweit<br />

sie nicht zur Reperatur ins Dorf gebracht worden waren,<br />

hier. Zwischen den zahlreichen Rindenkanus ging <strong>Roter</strong><br />

<strong>Bär</strong> zielstrebig auf eines zu, das am Bug das Zeichen<br />

einer Schildkröte, ein ovales Rund für den Körper mit<br />

sechs kleinen Kreisen für die vier Beine, Kopf und<br />

Schwanz eingebrannt hatte. Hinter diesem Zeichen sah<br />

man den rot gefärbten Kopf eines <strong>Bär</strong>en. So konnte je-<br />

10


dermann erkennen, dass dieses Kanu dem Roten <strong>Bär</strong>en<br />

mit dem Totemtier Schildkröte gehörte.<br />

Dieses Totemtier hatte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sich vor vielen<br />

Jahren angeeignet. Damals hatte er tief im Walde auf einem<br />

einsamen Hügel lange Zeit gefastet und eines Tages<br />

war dann eine Schrildkröte zu ihm gekommen und hatte<br />

mit ihm gesprochen, sie hatte aber gesagt, dass <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong><br />

niemandem sagen durfte, was sie zueinander gesprochen<br />

hatten.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> nahm das federleichte Kanu auf die<br />

Schultern und trug es zum See. Am Ufer setzte er es<br />

sacht auf den Kies und überprüfte noch einmal, bevor er<br />

es ins Wasser ließ, ob alle Nähte dicht, alle Löcher in der<br />

Rinde geflickt und alle hölzernen Spanten noch biegsam<br />

genug waren. Inzwischen sah man schon einen kleinen<br />

Teil der Sonne, die in diesen Monaten oft mit einer blutroten<br />

Färbung aufging. Endlich hatte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sich vergewissert,<br />

dass sein Boot schwimmfähig war und ließ es zu<br />

Wasser. Mit einem genau gezielten Sprung kam der Indianer<br />

in sein Gefährt und gab ihm gleichzeitig noch genügend<br />

Schwung, um vom Ufer wegzukommen. Nun ergriff<br />

er das im Kanu liegende Paddel und begann, sein Boot<br />

auf das große Wasser hinauszutreiben. Am Anfang glitt er<br />

noch einige Paddelschläge am Ufer entlang. Dann ließ er<br />

sein Boot eine sachte Kurve in Richtung See beschreiben<br />

und tauchte langsam in dichteren Nebel ein.<br />

Weil man bei den Bewegungen der Paddel nicht<br />

einmal die Tropfen von den Blättern ins Wasser fallen hörte<br />

und der Nebel immer undurchdringlicher wurde, bekam<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> bei solchen Fahrten, die er regelmäßig an Morgenden<br />

machte, die dem heutigen an stiller Schönheit<br />

gleich kamen, fast ein Gefühl des Schwebens. Jeder<br />

Mann aus dem Stamm der Anishinabeg kannte diesen Teil<br />

11


des großen Wassers mit allen Tücken und Gefahren, wie<br />

er den Wald und seine eigene Seele kannte. Aber jeder<br />

Mann kannte auch die Stellen, an denen Regenbogenforellen<br />

und Barsche in großen Mengen standen.<br />

Heute Morgen aber war <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> nicht auf Fische<br />

aus. Heute Morgen wollte er auf dem See zu sich selbst<br />

finden. Ihn hatte das kurze Gespräch mit seinem Freund<br />

am vorigen Tag zutiefst aufgewühlt, wie das Wasser eines<br />

großen Wassers nach dem Sturm aufgewühlt und trübe<br />

von Schlamm war, auch wenn es normalerweise eine klare<br />

und kristallähnliche Färbung hatte. Jetzt trachtete er<br />

danach, an diesem Morgen einsam und allein den<br />

Schlamm aus seinen Gedanken und Gefühlen zu bringen<br />

und sie mit der Kristallklarheit des Wassers zu färben.<br />

Also paddelte er in seinem Kanu zwischen den<br />

noch schlafenden, manchmal leise quarrenden Enten und<br />

Kanadagänsen hindurch. Diese Tiere waren klüger als ihre<br />

Artgenossen gewesen und hatten die Nacht hier draußen<br />

auf dem See verbracht, wo sie vor Fuchs, Coyote und<br />

Wolf sicher waren, während die Vögel, die am Land übernachteten,<br />

ständig auf der Hut vor diesen Raubtieren sein<br />

mussten. Einige Enten hoben verschlafen den Schnabel<br />

unter dem Federkleid ihres Flügels hervor und sahen den<br />

Indianer von unten her verständnislos an. Als sie dann<br />

begriffen, dass es sich hier um einen Feind handeln musste,<br />

flohen sie einige Flügelschläge weit, wobei ihre<br />

Schwungfedern auf das Wasser klatschten und die Stille<br />

unterbrachen. Dann sahen sie sich verstohlen um und weil<br />

ihnen das Kanu mit dem Menschen darin nicht folgte,<br />

steckten sie den Kopf wieder unter ihren Flügel und schliefen<br />

noch ein wenig. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hätte ohne Weiteres eines<br />

dieser Geschöpfe mit dem Bogen schießen können, aber<br />

er hatte erst gestern ein Lebewesen getötet um Nutzen<br />

12


aus ihm zu ziehen und es war noch nicht aufgegessen. Es<br />

wäre nach indianischen Begriffen eine der größten<br />

Verbrechen gewesen, jetzt schon wieder einem Tier, das<br />

genauso, wie der Mensch unter dem Schutz des großen<br />

Geheimnisses stand, das Leben zu nehmen. Außerdem<br />

hätte das die Gedanken des Indianers abgelenkt von dem<br />

Punkt, auf den sie sich nun zu konzentrieren hatten.<br />

Die vorüberziehende Schönheit der Landschaft<br />

drang nur noch flach in die Empfindungen des Menschen<br />

ein, der hier in der Einsamkeit sein Selbst suchte. Instinktiv<br />

lenkte er das Boot um die in seinem Gedächtnis verankerten<br />

Steine und schroffen Felsspitzen herum. Seine Gedanken<br />

aber waren schon bei seiner Seele. In der Mitte<br />

der Bucht angekommen ließ er sein Kanu vom Schwung<br />

des letzten Paddelschlages noch einige Manneslängen<br />

weit ausgleiten, dann stand es still. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> erhob sich in<br />

dem kippeligen Gefährt, hob die Arme zum Himmel, der<br />

im Osten von der aufgehenden Sonne schon hell war, im<br />

Westen den Sternen noch Platz bot und sprach das gleiche<br />

Gebet, wie schon am Vortag: "Manitu steh mir bei!",<br />

fügte aber noch hinzu: "Und bringe Klarheit in meine Seele!"<br />

Einen Moment lang blieb er noch so stehen, mit erhobenen<br />

Armen, dann setzte er sich auf die Sitzbank im<br />

Boot und hielt Zwiesprache mit der Natur, dem großen<br />

Geheimnis und sich selbst.<br />

Diese Dinge waren alle verschieden, aber doch<br />

wusste er sich eins mit der Natur und Manitu. Aber wie<br />

war es mit den blassen Gesichtern? Standen sie auch unter<br />

dem Schutze Manitus? Wussten sie überhaupt, dass<br />

es das große Geheimnis gab? All diese Fragen beschäftigten<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und er dachte lange über sie nach.<br />

Als die Sonne schon hoch über den Wipfeln der<br />

Bäume stand, war er endlich zu einem Schluss gekom-<br />

13


men: Wenn diese Geschöpfe sich tatsächlich so gegenüber<br />

den Kindern Manitus verhielten, wie es berichtet<br />

wurde, konnten sie unmöglich von diesem selbst geschaffen<br />

sein. Also konnten sie nicht unter dessen Schutz stehen.<br />

Aber wenn sie das nicht taten, konnten sie auch nicht<br />

erfahren haben, dass dieser existiert.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte allen Schlamm aus seinem Geiste<br />

gewaschen und fühlte sich wieder frisch. Jetzt bedankte<br />

sich der Sohn des Bugonaigeeshing noch bei dem Geist<br />

der am vorigen Tag geschossenen Kanadagans und entschuldigte<br />

sich dafür, dass er sie getötet hatte. Auch dies<br />

tat er stehend mit erhobenen Armen, die Handflächen<br />

nach außen gekehrt. Dann kniete er sich in die Mitte des<br />

Rumpfes, ergriff die Paddel und fuhr in Richtung Ufer. Inzwischen<br />

waren die Enten wach und stoben aufgeregt<br />

auseinander, wenn sich der Bug des Kanus durch sie hindurch<br />

schob. Ein Paar Schritte hinter dem Rindenboot jedoch<br />

schloss sich der Vogelteppich wieder.<br />

Als er am Ufer anlegte, kamen ihm gerade die Kinder<br />

entgegen gerannt. Sie stürzten die Uferböschung herab<br />

und sprangen mit Anlauf in das kalte Wasser. Einige<br />

der Kleinsten stockten noch und wollten nicht recht springen,<br />

aber mit geschlossenen Augen und zugehaltener<br />

Nase flog doch schließlich ein Dreikäsehoch nach dem<br />

anderen in hohem Bogen in das nasse Element. Dieses<br />

Ritual wiederholten die Kinder des Stammes jeden Morgen.<br />

Und da niemand als Feigling dastehen mochte, badete<br />

auch jeder wenigstens kurz in der kalten Flut.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> trug sein Kanu auf den Schultern zum<br />

Lagerplatz und legte es wieder auf den Kopf, damit es<br />

trocknen könne. Dann entkleidete er sich schnell, rannte<br />

wie zuvor die Kinder ans Ufer und sprang mit einem großen<br />

Satz hinein. Er tauchte unter, ließ seine langen Haare<br />

14


mit der leichten Strömung spielen und bespritzte sich mit<br />

den größeren Jungen von elf oder zwölf Sommern und<br />

Wintern. Als den Kindern langsam zu kalt wurde, stiegen<br />

sie alle einschließlich <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> aus dem Wasser und<br />

trockneten sich mit Federbüscheln und Binsenmatten ab.<br />

Die Kinder trennten sich unter fröhlichem Geschrei in kleinere<br />

Gruppen und zogen in den angrenzenden Wald oder<br />

auf die umliegenden Hügel zum Spielen. Manche der größeren<br />

strebten auch dem Ufer zu, um zu Fischen.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> jedoch schlenderte seinem Vaterhaus zu.<br />

Hier setzte er sich zu seiner Mutter, welche gerade mit<br />

dem Frühstück beschäftigt war, ans Feuer. Bugonaigeeshing<br />

und Der läuft wie ein Hirsch saßen nicht hier. Vielleicht<br />

waren sie bei Sonnenaufgang zur Jagd in den Wald<br />

aufgebrochen, vielleicht mit einem Kanu zum Fischen auf<br />

das Wasser gefahren. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> wusste es nicht, er fragte<br />

aber auch nicht, das hätte sich nicht gehört. Er nahm ein<br />

Holzschälchen aus einer Ledertasche, die auf dem Boden<br />

lag und setzte sich an seinen Platz auf dem <strong>Bär</strong>enfell.<br />

Dann schöpfte er mit einem Holzlöffel Suppe aus dem<br />

Messingkessel in sein Schälchen und begann zu essen.<br />

Dabei musste er daran denken, wie er als fünfjähriger<br />

Knabe noch ständig Brühe auf sein Fell gekleckert hatte.<br />

Heute war sein Mund groß genug, damit der Löffel problemlos<br />

hinein und wieder hinaus kam.<br />

Während <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> das Schälchen in der Hand hielt<br />

und die Speise löffelte, fragte die Mutter nichts, obwohl sie<br />

unmöglich wissen konnte, wo er gewesen war. Aber der<br />

Sohn schwieg auch von sich aus und so bohrte sie nicht in<br />

seiner Seele.<br />

Die roten Kinder Manitus wussten, dass ein Mensch<br />

immer nur sich selbst richtig kennen konnte. Man konnte<br />

niemals einen anderen ganz kennen. Natürlich war es<br />

15


möglich, einen Menschen besser zu kennen, als einen<br />

anderen, aber man wusste doch immer nur, wie dieser<br />

Mensch von außen aussah. Höchstens ein heiliger Mann<br />

konnte sehen, wie ein Mensch von innen aussah, aber<br />

dann doch bei einem ganz kleinen Teil und er konnte und<br />

durfte es doch nur dann, wenn er sonst einen Kranken<br />

nicht heilen konnte.<br />

Als das Schälchen leer war, stand <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> auf<br />

und machte einige Schritte zur Tür, hob das Eingangsfell<br />

und trat vor die Hütte auf die Waldwiese, auf der das Lager<br />

lag. Langsam bewegte er sich zwischen den Wigwams<br />

auf die Behausung der Familie von Rotes Messer zu. Dort<br />

stand vor dem Eingang sein Freund und fütterte einen<br />

Hund. Als der Häuptlingssohn herantrat, blickte er auf und<br />

über seine Züge huschte ein freudiges Lächeln. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong><br />

fragte:<br />

"Willst du mit mir Aale fangen kommen, mein<br />

Freund, Sohn des brüllenden Büffels?" "Sohn unseres<br />

Häuptlings, als ich gestern Nacht zu unserem Wigwam<br />

lief, hörte ich, wie einige Frauen darüber sprachen, der<br />

Rat der Alten hätte beschlossen, eine Schar Männer hinauszuschicken.<br />

Die sollen sehen, ob Manoomin, der wilde<br />

Reis, schon reift. Verspürt mein Freund Lust, mit ihnen zu<br />

gehen?" "Ja, Rotes Messer, lass uns in mein Kanu steigen<br />

und mit diesen Männern fahren! Wir wollen auf das Wasser<br />

paddeln und sehen, ob die Ähren des Manoomin<br />

schon aufspringen!"<br />

"Komm, wir sagen sofort unseren Familien Bescheid,<br />

wo wir sind. Hole dir eine Büffelblase voll Pemmikan!<br />

Wir treffen uns bei den Booten!" Auf diese Worte hin<br />

verschwand Rotes Messer im Wigwam und der älteste<br />

Sohn des Häuptlings, der schon in seinem jungen Alter im<br />

Dorf einiges Ansehen genoss, suchte den des Häuptlings<br />

16


auf. Dort nahm er eine mit Pemmikan gefüllte Büffelblase<br />

von einem Asthaken an dem Holzgerüst des Rindenhauses<br />

und hängte sie sich mit einem Lederband an den Gürtel.<br />

Diese aus Fett, Erdnüssen, Beeren, Kräutern und Trockenfleisch<br />

zusammengesetzte Konserve war der platzsparende<br />

und energieliefernde Proviant der durch die<br />

Wälder streifenden Jäger und Wanderer. In Notzeiten<br />

konnte eine Hand voll dieser Masse den Hunger eines<br />

Tages stillen.<br />

Als nächstes nahm er den mit vielen Pfeilen gefüllten Köcher,<br />

welcher über seinem Lager hing und hängte ihn sich<br />

über den Rücken. Der Bogen steckte im Futteral aus<br />

Wolfsfell, das mit einigen Lederschnüren am Köcher festgeknotet<br />

war. Zu der Mutter sagte er, und das waren die<br />

ersten Worte, die sie heute Morgen miteinander sprachen:<br />

"Ich fahre mit anderen Männern hinaus auf das<br />

große Wasser, um zu sehen, ob der Wilde Reis reif ist."<br />

"Gut." <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> verließ den Wigwam und begab sich ans<br />

Ufer, wo einige Kinder versuchten, Steine möglichst weit<br />

in den See hinaus zu werfen. Als <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> bei seinem<br />

Kanu eintraf, wartete sein Freund schon auf ihn. Er hatte<br />

das Boot anhand der eingebrannten Zeichen am Bug erkannt.<br />

Außer ihm standen auch schon einige andere junge<br />

Männer, die offensichtlich auch nach dem Manoomin sehen<br />

wollten, an ihren Booten. Da endlich kam einer aus<br />

dem Rat der Alten, grauer Wolf, und forderte die jungen<br />

Krieger mit einem Ruf auf, sich zu sammeln. Die ganze<br />

Schar sammelte sich um den Greis, der einmal ein bedeutender<br />

Kriegshäuptling gewesen war. Heute machte er<br />

seinem Namen wieder alle Ehre: Er war mit einem Lendenschurz<br />

aus einem Wolfsfell, einem Hemd und Leggins<br />

bekleidet, die über und über mit Streifen aus Wolfsfell behängt<br />

waren. Grauer Wolf war dürr und sicherlich nicht<br />

17


mehr so in vollen Kräften, dass er noch als Führer mit einer<br />

Schar Krieger in die Schlacht ziehen konnte. Aber er<br />

bewegte sich geschmeidig und kraftvoll, wie ein junger<br />

Mann. Seine Augen und Ohren hatten nicht an Schärfe<br />

verloren und sein Geist war klar geblieben. Bei Verhandlungen<br />

mit feindlichen Führern pflegte er immer, dabei zu<br />

sein und dank seiner blitzschnellen Gedanken und spitzen<br />

Zunge ging er fast immer als Sieger vom Verhandlungsplatz.<br />

Wo immer er auftauchte, wurde ihm großer Respekt<br />

bezeigt. Dieser Respekt war fast so groß, wie der vor Bugonaigeeshing.<br />

Auch jetzt scharten sich die jungen Leute in gehörigem<br />

Abstand um den grauen Wolf. Er begrüßte sie kurz<br />

und forderte sie auf, mit ihm zu kommen und die Ähren<br />

des Wildreises zu begutachten, obwohl das gar nicht nötig<br />

gewesen wäre, da sowieso alle Zweck und Sinn dieser<br />

Ausfahrt kannten und darauf brannten, endlich loszufahren.<br />

Aber jeder beherrschte sich und keiner wollte seine<br />

Ungeduld vor den anderen zeigen.<br />

Schon rief der graue Wolf zum Aufbruch. Sämtliche<br />

Indianer hoben die Boote auf ihre Schultern und gingen<br />

zum Wasser. Als ein Boot aufschwamm, stiegen immer<br />

zwei, oder drei Leute hinein und nahmen die Paddel zur<br />

Hand. Der hintere benutzte das seine als Ruderblatt und<br />

sorgte dafür, dass man den Kurs hielt, auf keine Steine<br />

auflief und nicht mit anderen Booten kollidierte. Die restliche<br />

Mannschaft sorgte für den Vortrieb. Grauer Wolf saß<br />

allein in seinem Kanu und trieb es an die Spitze der langen<br />

Schlange von Rindenbooten. Er gab die Richtung an<br />

und alle Boote folgten ihm.<br />

Der Alte steuerte auf ein Reisfeld nahe am Ausgang<br />

der Bucht zu. Dort war die Sonneneinstrahlung am<br />

günstigsten und man konnte an diesem Ort die früheste<br />

18


Reife erwarten. Der Reis war nur an einigen Tagen im<br />

Jahr zu ernten und man musste genau aufpassen, um<br />

diese Tage abzupassen. Aber es wurden nicht alle Reisfelder<br />

gleichzeitig reif und das war auch gut so, denn<br />

sonst hätte man gar nicht alle abernten können. Und auf<br />

eine gute Reisernte waren die roten Menschen hier angewiesen,<br />

um den Winter zu überleben.<br />

Dieses Jahr ließ alles auf eine gute Ernte schließen,<br />

weil es günstiges Wetter und wenig Schädlinge gegeben<br />

hatte. Deshalb waren die Indianer in den Booten alle<br />

sorglos und gut gelaunt. Bis die Sonne schon über ihren<br />

Höhepunkt hinweg gewandert war, paddelten sie. Dann<br />

endlich hatten sie ihr Ziel erreicht und festgestellt, dass<br />

der Reis schon in voller Reife stand und sich der Stamm<br />

beeilen musste. Der graue Wolf wählte als Boten zwei<br />

junge Krieger, die eben erst in den Kreis der Männer aufgenommen<br />

waren: Jagender Wolf und Rote Wolke. Sie<br />

machten sich unverzüglich auf den Rückweg mit der Meldung<br />

an Bugonaigeeshing, der Stamm solle sofort alle<br />

Erntewerkzeuge zusammensuchen und so schnell, wie<br />

möglich zum Reisfeld am Munde der Bucht kommen. Die<br />

beiden jungen Menschen machten sich sofort stolz an ihre<br />

Aufgabe heran. Nach einiger Zeit waren sie nurnoch als<br />

kleine schwarze Punkte an der Stelle zu sehen, an der<br />

sich Himmel und Erde trafen.<br />

Inzwischen steuerte die Gruppe des grauen Wolfes<br />

an eine Stelle des Ufers zu, die nicht mit Schilf bewachsen<br />

war, und deshalb gut als Landeplatz für eine größere<br />

Kriegerschar dienen konnte. Der Sohn des Bugonaigeeshing<br />

hielt sich mit seinem Freund eher am Ende des Zuges<br />

auf und unterhielt sich mit den Insassen des Nachbarbootes,<br />

schleichender Luchs und stehender Hecht. <strong>Roter</strong><br />

<strong>Bär</strong> saß am hinteren Ende seines Kanus und kontrol-<br />

19


lierte ständig die Richtung. Von Zeit zu Zeit berichtigte er<br />

sie durch einen Paddelschlag, oder er umfuhr einen<br />

Schilfbusch, der mit seinen scharfen Halmen den aus Birkenrinde<br />

bestehenden Boden des Gefährtes aufgeschlitzt<br />

hätte.<br />

Rotes Messer gab dem Boot mit kräftigen Paddelschlägen<br />

den nötigen Schwung. Jetzt kam das Gespräch<br />

auch auf die Gerüchte, die der Irokesenhändler im Dorf<br />

über fremde Eindringlinge verbreitet hatte, die angeblich<br />

eine Haut haben sollten, so weiß, wie Schnee. Außerdem<br />

hatte der Händler von sonnengelben Haaren erzählt, und<br />

die Fremden sollten Blitz und Donner mit langen Stöcken,<br />

die sie an die Schulter hielten, machen könnten.<br />

Der stehende Hecht äußerte sich dazu abfällig: "Ich<br />

höre nicht auf das Singen vorbeifliegender Vögel, wie mag<br />

es denn möglich sein, dass Menschen Blitz und Donner<br />

machen können? Diese Worte glaube ich nicht eher, als<br />

dass ich einen solchen Mann gesehen habe" Da warf<br />

schleichender Luchs ein: "Dieser Händler kommt jeden<br />

Sommer und jeden Winter nach weiße Erde. Oft bringt er<br />

uns Neuigkeiten aus seiner Heimat mit und oft schon haben<br />

wir diese nicht geglaubt. Es stellte sich dann aber<br />

immer heraus, dass sie doch wahr waren. Vielleicht<br />

stimmt diese Nachricht jetzt auch, so unmöglich sie doch<br />

klingen mag" <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> mischte sich in das Gespräch ein:<br />

"Ich war an dem heutigen Morgen auf dem See und habe<br />

genau über diese Blassgesichter nachgedacht."<br />

>Blassgesichter


tu, dass Männer mit heller Haut und kurzen, gelben Haaren<br />

unser Land stehlen?"<br />

Der Hecht machte den Mund auf, um etwas zu sagen,<br />

doch der Sohn des brüllenden Büffels war schneller:<br />

"Die Blassgesichter sind nicht vom großen Geheimnis geschaffen,<br />

denn Blitz und Donner kann nur dieses selbst<br />

machen. Manitu selber würde aber kein lebendes Wesen<br />

machen, das seinen Kindern, mit denen er sich eins weiß,<br />

und die sich mit ihm eins wissen, bekämpft."<br />

Damit war das Thema für dieses Mal abgeschlossen.<br />

Inzwischen war das Ufer schon so nahe, dass jeder,<br />

der neben seinem Rindenboot hinuntersah, durch das<br />

glasklare Wasser den mit Wasserpflanzen bewachsenen<br />

Grund erkennen konnte. Und wer ein gutes Auge hatte,<br />

sah hin und wieder einen Hecht, oder eine Forelle zwischen<br />

den Stängeln stehen. Besonders der stehende<br />

Hecht hielt nach ersteren Ausschau, da es sich ja um seine<br />

Namenstiere handelte. Sie hatten mit ihm die Jagdweise<br />

gemeinsam: Wenn der stehende Hecht einem Wild auflauerte,<br />

lag er, genau wie das Tier, starr und reglos in seinem<br />

Versteck und wartete, bis die Beute nah genug herankam.<br />

Dann legte er blitzschnell einen Pfeil auf die Sehne<br />

und jagte ihn dem Tier ins Herz. Der Fisch stürzte sich<br />

selber mit Pfeilgeschwindigkeit auf ein kleineres Tierchen.<br />

Diese Jagd- und Kampfesweise war der Grund für den<br />

sonderbaren Namen des jungen Mannes.<br />

Die indianische Flotte erreichte langsam die Uferzone<br />

des Sees und wurde langsamer. Immer der hintere<br />

von den jeweils zwei Paddlern in einem Boot übernahm<br />

den Vortrieb, der vordere kniete im Bug nieder und lenkte<br />

von hier aus um Unterwasserhindernisse herum, da man<br />

von vorne besseren Überblick hatte.<br />

21


Sacht liefen die Kanus auf den flachen Sandstrand<br />

auf und schabten über die feinen Körner, bis diese zu viel<br />

Widerstand boten, und die Rindenboote festsaßen. Die Insassen<br />

stiegen aus und zogen die Boote vollends auf das<br />

Ufer. Dort drehten sie sie um und ließen ihre Gefährte<br />

trocknen. Trockenes Reisig wurde gesammelt und Feuer<br />

entfacht. Stahl und Stein konnten die Anishinabeg von<br />

Händlern der Irokesen oder Huronen, die mit den Weißen<br />

Kontakt hatten, gegen Felle erwerben. Bald huschte unruhiges<br />

Flammenlicht über die Zweige und Blätter der Bäume<br />

und ein leiser Wind, der gegen Abend aufgekommen<br />

war, säuselte in ihren Kronen.<br />

Die Sonne schickte sich schon an, hinter dem Horizont<br />

zu verschwinden und färbte das Wasser in ein orangerotes<br />

Licht, das eine Straße von der Sonne, bis zu den<br />

Augen der jungen Indianer bildete. Grauer Wolf stand<br />

noch am Ufer und sah über die endlose Weite des Gewässers,<br />

an dem bis jetzt nur rote Stämme lebten und<br />

siedelten. Keiner wusste, was in seinem Kopf vor sich ging<br />

und auch sein faltenreiches Gesicht verriet mit keinem Zucken<br />

und keiner Bewegung der Mundwinkel, was sich hinter<br />

der von Narben und Wetter gegerbten Haut abspielte.<br />

Aber jedermann konnte sehen, dass der Älteste der Alten<br />

seine Augen in die Ferne schweifen ließ und ganz offenbar<br />

an Dinge dachte, die noch weit weg lagen. Vielleicht<br />

hatte er ja auch von den Behauptungen des Irokesenmannes<br />

gehört.<br />

Plötzlich wandte sich der Greis um und rief einige<br />

Worte. Ein paar der Krieger bauten unter seiner Anleitung<br />

einen Windschutz aus den Rindenkörpern der Kanus auf<br />

und hielten so den Luftstrom ab, der des Nachts vom Land<br />

auf die riesige Wasserfläche wehte.<br />

22


Nach dieser Arbeit lagerte man sich um die Feuer,<br />

die nach Indianersitte nur gerade so groß gehalten wurden,<br />

dass gefährliche Tiere wie <strong>Bär</strong>en sich fernhielten.<br />

Außerdem bemühten sich die Menschen in dieser Wildnis<br />

um wenig rauchende Brandstellen, weil unnötiger Qualm<br />

feindlichen Spähern, die sich eventuell in der Gegend befanden,<br />

das Lager verriet. Hier und da kramte jemand in<br />

seiner Ledertasche nach der Büffelblase mit Pemmikan<br />

und aß eine Hand voll dieser wohlschmeckenden Konserve.<br />

Dann wurde das Gefäß mit einem Lederriemen verschnürt<br />

und wieder weggepackt. Man musste sparsam mit<br />

Nahrung umgehen.<br />

Auch <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>, Stehender Hecht, Schleichender<br />

Luchs und Rotes Messer griffen in ihre Blase. Die vier saßen<br />

an ihrem Feuer, das sie am Übergang vom Sandstrand<br />

zum Wald entfacht hatten. Von hier hatte man guten<br />

Ausblick auf das Wasser und konnte in den Wald hinein<br />

sehen. Die Freunde sprachen über die Sache, die sie<br />

im Moment anscheinend am meisten beschäftigte und jeder<br />

der jungen Indianer fühlte, wie er bereit war, mit aller<br />

Macht, die in ihm stand, gegen die Eindringlinge zu kämpfen<br />

und koste es sein Leben.<br />

Jeder fühlte den Hass gegen die weißen Landräuber,<br />

die er doch selbst noch nie gesehen hatte, in sich<br />

stärker werden. Sie wussten ja noch nicht einmal, ob all<br />

das, worüber sie sich gerade Gedanken machten, nicht<br />

vielleicht nur ein falsches Gerücht des Irokesenmannes<br />

war und in Wirklichkeit nur in dessen Träumen existierte.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> merkte, wie seine Seele sich schwarz<br />

färbte von einem Dreck, den nicht auswaschen konnte<br />

und der so fest in ihr verwurzelt war, wie ein Baum in der<br />

Erde. Es brachte ihm nichts, den Baum, welcher aus Hass<br />

gemacht war, zu fällen, denn dieser würde immer wieder<br />

23


austreiben, wie eine gekappte Eiche, und er würde den<br />

Sohn des Häuptlings weiterhin quälen. Man musste diesen<br />

Baum entwurzeln, wenn man dieses Problem lösen<br />

wollte. Dann aber blieb in dem Seelenboden ein großes<br />

Loch, schwierig zu schließen und tief, dass man den Boden<br />

nicht sehen konnte. Wenn im Wald einer der Baumriesen<br />

bei Sturm aus der Erde gehoben wurde, schloss<br />

sich in einigen Jahren die Grube mit Pflanzen und Moos.<br />

In der Seele eines Menschen aber schloss sich eine solche<br />

Lücke nur, wenn ein heiliger Mann half. Ein solcher<br />

Mann stand mit höheren Wesen und mit dem großen Geheimnis<br />

viel stärker in Verbindung, als seine Stammesgenossen<br />

und konnte durch diese Kräfte Kranke heilen und<br />

sogar manchmal kleine Wunder vollbringen. Außerdem<br />

war er für alle Feste des Stammes verantwortlich. Wegen<br />

all dieser Dinge genoss er hohen Respekt bei den Mitgliedern<br />

des Stammes. Heilige Männer traten in mehreren<br />

Prüfungen dem Midewiwinbund bei, einer Gemeinschaft,<br />

die heilige Männer aus dem ganzen Stamm aufnahm. Zu<br />

den Männern der Midewiwin gingen auch Leute mit einer<br />

kranken Seele, und deshalb beschloss <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>, ihn aufzusuchen,<br />

sobald er wieder zu Hause in Weiße Erde war.<br />

Der stehende Hecht aß noch eine Hand voll Pemmikan<br />

und wickelte sich dann in sein Hirschfell, wohl, um<br />

zu schlafen. Auch die beiden anderen Freunde verspürten<br />

allmählich Müdigkeit und legten sich hin.<br />

Langsam legte sich die Dunkelheit über Bäume,<br />

Gräser und das Wasser, über die knisternden, hell lodernden<br />

Feuer und über die Menschen, die an ihnen saßen.<br />

Die Gespräche am Ufer wurden leiser und schliefen<br />

schließlich ganz ein. An den Kronen der Ahorne, der Eichen<br />

und der Buchen zuckten die Lichtspiele der Flammen.<br />

Einige Sterne blinkten schon verstohlen am großen,<br />

24


schon fast schwarzen Firmament. Da und dort hockte<br />

noch eine Gestalt mit langen Haaren an einem Feuer,<br />

wärmte sich daran die Hände und sah sinnend über die<br />

unendliche Wasserfläche, in der sich jetzt die Lichtpunkte<br />

der Sterne spiegelten.<br />

Aber auch jene, die noch wachten rollten sich bald<br />

in ihre Felle und schliefen den Schlaf, der dem Tier und<br />

dem Indianer eigen ist, jenen Schlaf, in den auch noch das<br />

kleinste Geräusch von außen eindringt, und der nie so tief<br />

wird, dass sich ein feindlicher Kundschafter unbemerkt<br />

anschleichen könnte.<br />

Es war nur einer, der in dieser Nacht an diesem Ort<br />

nicht schlafen konnte: <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>. Der älteste Sohn von<br />

Bugonaigeeshing musste immer fort daran denken, wie<br />

seinen Brüdern im Osten, in der Richtung der aufgehenden<br />

Sonne vielleicht in diesem Augenblick das Land, auf<br />

dem sie jagten, träumten, fischten und ihre Toten begruben,<br />

wie ihnen möglicherweise gerade in diesem Augenblick<br />

dieses Land gestohlen wurde.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> konnte sich nicht vorstellen, wie man<br />

Land stehlen konnte, weil die Erde die Mutter der Menschen<br />

war und man seine Mutter nicht besitzen konnte.<br />

Aber wenn man Mutter Erde nicht besitzen konnte, dann<br />

musste es doch auch ganz und gar unmöglich sein, ein<br />

Stück von ihr zu verkaufen, zu kaufen, oder sogar zu stehlen.<br />

Auf der anderen Seite aber konnte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> nicht<br />

glauben, dass der Händler der Irokesen gelogen hatte,<br />

was hätte der für einen Nutzen davon haben sollen? Diese<br />

Frage kehrte immer wieder zurück und ließ dem Roten<br />

<strong>Bär</strong>en keine Ruhe. Schließlich erhob er sich und bestieg<br />

einen Baum. In einiger Höhe setzte er sich in eine Astgabel<br />

und schaute auf den See. Ein heller Schimmer hinter<br />

den Bäumen verriet schon, wo bald der Mond aufgehen<br />

25


würde und <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> wartete, bis dieser sich über die<br />

dunklen Umrisse des Waldes hinausschob und ein kleiner<br />

Teil seiner Sichel erschien. Dann ließ sich der junge Indianer<br />

herunter und begab sich zum Schlafen ans Feuer.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> trat lautlos ans Feuer heran, um seine Freunde<br />

nicht zu wecken und schlug sein Büffelfell um sich. Dann<br />

legte er sich hin, das Gesicht zum Mond gedreht, welcher<br />

in diesen Tagen im Südwesten aufging.<br />

Die leuchtende Sichel hatte heute eine goldgelbe<br />

Färbung und war schon bis zur Hälfte über den bewaldeten<br />

Hügeln erschienen. Der Sohn des Oberhäuptlings des<br />

Stammes der Anishinabeg wartete geduldig darauf, dass<br />

der heilige Himmelskörper sich ganz zeigen würde und<br />

sah zu, wie er sich Stück um Stück über den Rand der Erde<br />

hinausschob. Schließlich wurde auch die untere Spitze<br />

der Sichel sichtbar und ein herrlicher Anblick bot sich dem<br />

jungen Mann: Die gelbe Form des Mondes stach gegen<br />

den nachtschwarzen Himmel in Farben ab, die nur die<br />

Steine beschreiben können, weil sie die weisesten Lebewesen<br />

dieser Welt sind.<br />

Schließlich übermannte den Krieger aber die Müdigkeit<br />

und er schlief traumlos bis zum Morgen.<br />

Zu der Zeit, zu der der Rote <strong>Bär</strong> in den Schlaf hinüberglitt,<br />

war im Dorf Weiße Erde höchster Betrieb. Vor<br />

einiger Zeit waren die Boten des grauen Wolfes eingetroffen<br />

und hatten ihren Häuptling Bugonaigeeshing dabei getroffen,<br />

als dieser gerade unten am Ufer sein Gebet an<br />

das große Geheimnis gesprochen hatte. Die Boten hatten<br />

ehrfürchtig gewartet, bis Bugonaigeeshing sein Gespräch<br />

mit Manitu beendet hatte. Dann trug Rote Wolke seine<br />

Meldung vor. Der Oberhäuptling ging sofort zum Wigwam<br />

seines Herolds und befahl ihm, dem ganzen Dorf mitzutei-<br />

26


len, dass er noch diese Nacht zum Reisfeld aufbrechen<br />

wollte.<br />

Innerhalb kürzester Zeit, waren alle Menschen, die<br />

in dem Dorf wohnten, auf den Beinen. Vom Säugling bis<br />

zum Greis lief jeder umher, es entstand aber kein Durcheinander,<br />

weil jeder Rücksicht auf die anderen nahm und<br />

so entfaltete sich auch kein Streit. Die kleinen Kinder hielten<br />

sich eng an ihrer Mutter und folgten dieser auf Schritt<br />

und Tritt. Die größeren Kinder packten die Dinge, die sie<br />

benötigten, in Ledertaschen: Bogen, Pfeile und Messer.<br />

Die Erwachsenen packten außerdem die Werkzeuge für<br />

die Reisernte zusammen. Dazu gehörten aus Holz geschnitzte<br />

Schlagstöcke und Rindenplanen, sowie große<br />

Kessel. Auch in dem Wigwam der Familie von Bugonaigeeshing<br />

ging es so zu. Wenn alle Familienmitglieder fertig<br />

waren, ging man nach unten ans Ufer und wartete, bis<br />

die anderen Familien von Weiße Erde ebenfalls fertig<br />

wurden. In dieser Wartezeit unterhielten sich die Erwachsenen.<br />

Die Kinder spielten und lachten. Oft wurden Scherze<br />

erzählt und es verbreitete sich eine vergnügte Stimmung.<br />

Dann verabschiedeten sich die Leute von den wenigen<br />

Männern, die zum Schutz des Dorfes in ihren Hütten<br />

geblieben waren.<br />

jeder Krieger trug sein Kanu ins Wasser und die<br />

Frauen und Kinder halfen ihm beim Beladen: Jede Ledertasche<br />

musste einzeln Schnüren an den hölzernen Spanten<br />

der Boote befestigt werden. Es wurde auch geprüft, ob<br />

das getrocknete Moos, das beim Kentern des Gefährts ein<br />

Sinken verhindern sollte, noch an seinem Platz in den<br />

hochgebogenen Enden steckte.<br />

Als alle damit fertig waren, stiegen immer drei Leute<br />

in ein Kanu: vorne und hinten je ein Erwachsener und in<br />

der Mitte ein Kind. Zwischen den Personen waren die Ge-<br />

27


päckstücke verstaut. Häuptling Bugonaigeeshing, der vorne<br />

in seinem Boot saß, paddelte an die Spitze des langen<br />

Zuges und schlug die Richtung des Reisfeldes ein. Jeder<br />

sah in der Dunkelheit nur die beiden Boote vor und hinter<br />

ihm richtig. Von den anderen Kanus waren bestenfalls die<br />

schemenhaften Umrisse auf der silbrig glänzenden und<br />

leise plätschernden Fläche des Sees zu erkennen. Wenn<br />

vorne der Häuptling eine Kurve machte, einen Felsen, oder<br />

eine kleine Insel umfuhr, dann machte die gesamte<br />

Schlange diese Biegung mit.<br />

So bewegten sich die Bewohner von Weiße Erde in<br />

einem ziemlich zügigen Tempo über das Wasser, ein Boot<br />

nach dem anderen. Nur hin und wieder hörte man das<br />

plätschern eines Paddels, das unsauber aus dem nassen<br />

Element gehoben worden war, oder das Geräusch von<br />

den vom Ruderblatt fallenden Tropfen. Sonst drangen in<br />

die Ohren der Indianer nur die Stimmen der Nacht, das<br />

Schreien der Eule, des Kauzes, oder das Heulen eines<br />

Coyoten. Einmal ließ auch ein Wolfsrudel seinen schönen,<br />

und doch zugleich schaurigen Gesang ertönen.<br />

Die ganze Nacht hindurch paddelten die Männer,<br />

die Frauen hielten die Richtung und die meisten Kinder<br />

schliefen. Diejenigen, die von ihnen wach waren, meist ältere,<br />

verfolgten die Reise mit aufmerksamen Blicken. Sie<br />

schauten hinauf zum Mond und zu den Sternen. Sie genossen<br />

die unendliche Stille der Nacht, die doch nicht<br />

schwieg.<br />

Die Sonne schickte gerade ihre ersten, blutroten<br />

Strahlen über das große Wasser, als die Flotte des Bugonaigeeshing<br />

auf den Strand auflief, an dem die Spähertruppe<br />

sich für die Nacht gelagert hatte. Jeder begrüßte<br />

seine Stammes- und Familienmitglieder. Die Männer entluden<br />

ihre Kanus. Gemeinsam wurde das aus Pemmikan<br />

28


estehende Frühstück eingenommen und einige Feuer<br />

wieder neu entfacht. Danach bestimmte Bugonaigeeshing<br />

eine Gruppe von vielleicht dreißig Mann, die am Ufer einige<br />

Trockengestelle für den Reis aufbauen sollte. Die übrigen<br />

Erwachsenen und größeren Kinder sollten mit dem<br />

Häuptling in Kanus auf den See hinaus fahren. Sie nahmen<br />

die von zu Hause mitgebrachten Schlagstöcke mit<br />

und je Boot eine lange Stange, die sie zuvor im Wald geschnitten<br />

hatten.<br />

Jetzt stieg immer ein Mann und zwei Frauen, oder<br />

größere Kinder in ein Kanu. Dann fuhren die Indianer in ihren<br />

Verkehrsmitteln zum Rand des Reisfeldes. Die Frauen<br />

und Kinder bogen nun mit einem Stock einige Reishalme<br />

über den Rand des Kanus und schlugen mit dem anderen<br />

einmal kräftig auf die Ähren. Dabei lösten sich die Samen<br />

aus der Pflanze und die meisten von ihnen fielen ins Boot,<br />

einige aber landeten auch im Wasser und sicherten so eine<br />

gute Reisernte für das nächste Jahr. Die Kunst des<br />

Mannes bestand darin, stehend mit der langen Stange, die<br />

er dabei auf den Grund aufsetzte, das Boot von einem<br />

Reisbüschel zum anderen zu bewegen, ohne dabei einen<br />

Felsen zu rammen, oder im Matsch und Schlick festzusitzen.<br />

Sobald das Kanu voll mit Reiskörnern war, stocherte<br />

der Mann es aus dem Reisfeld heraus und paddelte es<br />

zum Ufer. An einem Tag war ein Kanu ungefähr drei, oder<br />

vier mal so voll des kostbaren Lebensmittels, dass man<br />

zum Ufer fahren musste. Dort zog man sein Rindenboot<br />

aufs Ufer, legte eine der mitgebrachten Rindenplanen<br />

daneben und kippte das Gefährt auf die Seite. Der gesamte<br />

Inhalt landete auf der Plane und konnte so von zwei<br />

Menschen zusammen weggetragen werden. Das taten die<br />

Trockner, die Menschen, die für das Trocknen des Reises<br />

29


zuständig waren. Danach breiteten sie die Körner auf den<br />

Trockengestellen aus, die sie an Plätzen erbaut hatten, an<br />

denen möglichst lange am Tag die Sonne schien. Auf diesen<br />

Gestellen sog die Sonne die Feuchtigkeit, die im Reis<br />

verblieben war, auf und machte ihn bereit zum Rösten.<br />

Die Trockner hatten jede Menge zu tun, denn beständig<br />

kamen voll beladene Boote am Strand an und es war eine<br />

zeitaufwendige Aufgabe, die Samen so auf den Gerüsten<br />

zu verteilen, dass auf keinen Fall Schimmel an das<br />

Grundnahrungsmittel der Waldindianer kommen konnte.<br />

Als die Sonne am höchsten am Himmel stand, aßen<br />

die Anishinabeg von Weiße Erde gemeinsam und unterhielten<br />

sich ein Wenig. Danach ging die Arbeit bis zum<br />

Abend weiter. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte keine Zeit, weiter über das<br />

Thema nachzudenken, das ihn in den letzten Tagen so<br />

beschäftigte, er war zu den Trocknern eingeteilt worden.<br />

Ohne Unterlass verteilte er Körner auf den Gestellen und<br />

empfing neue Bootsladungen.<br />

Am Abend waren Viele sehr müde. Einige aßen<br />

nicht einmal, sondern legten sich gleich schlafen. Auch<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> war jetzt zu schläfrig, um noch weiter über seine<br />

Gefühle nachzudenken. Er hatte ja letzte Nacht nur sehr<br />

wenig geschlafen und vermochte jetzt nur noch, den Sonnenuntergang<br />

abzuwarten, dann schlief er ein.<br />

Auch seinen Freunden, mit denen er sich wieder an<br />

ein Feuer gesetzt hatte, ging es nicht anders. Sie nickten<br />

noch vor dem Sohn des Häuptlings ein. Bevor <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> in<br />

seinem Fell in den Schlaf hinüberglitt, bekam er noch mit,<br />

wie sein Vater und der graue Wolf an einem der benachbarten<br />

Feuer über den weißen Mann sprachen. Dann fielen<br />

ihm die Augenlieder zu und er wachte bis zum Sonnenaufgang<br />

am nächsten Tag nicht auf. Die folgenden<br />

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Tage verstrichen nicht anders, als dieser und waren ebenso<br />

voll Arbeit.<br />

Als schließlich das ganze Reisfeld und noch einige<br />

andere in, die in der Nähe lagen vollkommen abgeerntet<br />

waren, hatte auch schon der Reis vom ersten Erntetag ein<br />

Trockenstadium erreicht, das zum Rösten genügte. Dazu<br />

rammten die Frauen um jede Feuerstelle je drei Stöcke<br />

von Manneslänge so in die Erde, dass sie sich in der Mitte<br />

über dem Feuer trafen. An dem Treffpunkt band man die<br />

Stangen mit Sehnen zusammen, die nicht so leicht zu<br />

brennen anfingen.<br />

Als Holz musste möglichst frisches Material benutzt<br />

werden, am besten waren frisch geschnittene Äste von<br />

Birke, Hasel, oder Ahorn. Dabei konnte man aber nur dicke,<br />

verholzte Triebe verwenden, da zu dünne Zweige<br />

leichter Feuer fingen. Auch war darauf zu achten, sich vor<br />

dem schneiden bei dem Baum zu entschuldigen und sich<br />

zu bedanken. Den Stangen selbst hatte man zu erklären,<br />

welche Aufgabe sie jetzt übernehmen sollten und sich dafür<br />

bedanken, dass sie die Qualen der Feuerhitze für die<br />

Menschen ertrugen. Jedermann war sich dessen bewusst,<br />

dass die Triebe irgendeines Baumes aus dem Wald eine<br />

riesige Verantwortung für das Überleben der Menschen<br />

hier trugen; denn wenn die Stangen sich weigerten, dem<br />

Menschen zu dienen, konnten die Anishinabeg ihren Wildreis<br />

nicht rösten und kamen nicht über den Winter.<br />

Bevor ein Holz in den Boden gestochen wurde,<br />

schälten die Frauen seine Rinde, in der sich das Feuer<br />

leicht verfangen konnte, mit ihren Messern ab.<br />

Oben an der Kreuzung der drei Stöcke wurde eine<br />

etwa unterarmlange Sehnenkordel befestigt, an deren unterem<br />

Ende eine kleine Schlaufe befindlich war. In dieser<br />

Schlaufe hing ein kleiner Haken, manchmal aus einfa-<br />

31


chem Holz geschnitzt, manchmal auch kunstvoll aus Knochen<br />

herausgearbeitet. Auf jeden Fall aber musste der<br />

Haken trotz aller Verzierungen stabil genug sein, um den<br />

mit Reis gefüllten Kessel zu halten, der an ihm hing. An<br />

jeder Feuerstelle stand, saß, oder lag eine Frau, meistens<br />

mit irgendeiner Handarbeit beschäftigt, und rührte ab und<br />

zu mit einem hölzernen oder knöchernem Löffel in den<br />

Körnern, damit diese nicht anbrannten. Waren alle Samen<br />

in dem Kessel von einer schön schwarzen Färbung, so<br />

nahm die Frau den Topf mithilfe eines Lederlappens, den<br />

sie dabei zwischen ihre Hand und den Henkel des Kessels<br />

legte, vom Haken und ging ans Ufer, wo einige Rindenplanen<br />

auf dem Boden lagen. Auf diese schüttete sie den<br />

Inhalt des Gefäßes und gab den Topf einer anderen Frau,<br />

die mit ihm wieder zu dem Feuer, an den er hingehörte,<br />

zurück und hängte das Gefäß an seinen Platz. Anschließend<br />

ging sie zum Trockengestell und füllte den Topf mit<br />

Reis. Jetzt übernahm sie die "Wache". Die Frau, die zuvor<br />

Feuerwache hatte, stellte sich jetzt mit vier anderen Frauen<br />

an die Ecken der Plane, fasste sie mit beiden Händen<br />

und dann bewegte man die Plane so auf und ab, dass die<br />

Reiskörner mitsamt der Spreu, die sich beim Rösten gelöst<br />

hatte, in die Luft flog. Das ganze wurde am Ufer gemacht,<br />

wo es einigermaßen viel Wind gab, damit die Luftströme<br />

die leichteren Hülsen davontrugen, die schwereren<br />

Körner aber wieder auf der Plane landeten. Wenn dieser<br />

Vorgang einigemal wiederholt worden war, trugen die vier<br />

Frauen ihre Folie zu einem Kanu, das gerade am Ufer lag<br />

und ließen den Reis in dieses Boot gleiten. Ein Mann setzte<br />

sich dann in sein Gefährt hinein und paddelte in Richtung<br />

Weiße Erde davon. Unterwegs nahm er hin und wieder<br />

eine, oder zwei Hände voll der harten, länglichen und<br />

schwarzen Körner zu sich. Auf diese Weise benötigte er<br />

32


keinen zusätzlichen Proviant. Wenn er Durst hatte,<br />

schöpfte er mit einem Rindengefäß Wasser aus dem See<br />

und trank es. Wenn der Mann in seinem Heimatdorf anlangte,<br />

zog er sein Boot aufs Land und holte einige der zu<br />

dieser Zeit am Ufer immer bereitstehenden, großen Rindengefäße.<br />

In diese verlud er nun seine Ladung und trug<br />

sie zum Lager im Dorf. Dieses Reislager bestand aus einem<br />

extra für diesen Zweck erbauten Wigwam, dessen<br />

Boden eine tiefe Mulde bildete und viel Platz für die Nahrung.<br />

Vor dem Eingang zum Wigwam stellte er seine Last<br />

ab, ging zum Ufer und trat seine nächste Fahrt an. Die vor<br />

der Hütte abgestellten Rindengefäße trugen Männer, die<br />

speziell für diesen Zweck bestimmt waren, in den Wigwam<br />

und stapelten sie dort. Nachdem all der Reis getrocknet,<br />

geröstet, gedroschen und zum Dorf transportiert war, fuhr<br />

jeder Mann noch einmal zum Lager am Reisplatz, an dem<br />

er jetzt fast zwei Wochen gehaust hatte, und nahm die<br />

Geräte, die Frauen und die Kinder mit. Als alle Familien<br />

vollständig in Weiße Erde eingetroffen waren, stellte sich<br />

allmählich wieder das normale Alltagsleben im Dorf der<br />

Anishinabeg ein: spielende Kinder, jagende Männer, kochende<br />

Frauen und sinnende Alte erfüllten die Tage von<br />

Morgen bis Abend. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> ging zum Medizinmann und<br />

ließ in einer langen Zeremonie sein Seelenloch flicken, er<br />

war wieder ganz der alte.<br />

33


Ungefähr einen Mond nach der Wildreisernte,<br />

im Spätherbst trafen sich <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und sein Freund Rotes<br />

Messer frühmorgens unten an dem Lagerplatz der Kanus.<br />

Sie hatten sich am letzten Abend verabredet, an diesem<br />

Tag aufzustehen, wenn bis auf einige Jäger, die jagen<br />

gingen, das ganze Dorf noch schlief. Sie wollten einen<br />

längeren Jagdzug unternehmen und hatten vor, einen halben<br />

Mond lang die Ufer der Seen und Flüsse abzufahren<br />

und das Wild zu jagen. Am Abend des Vortages hatten<br />

sich die beiden jungen Krieger auf ihre Reise vorbereitet,<br />

sie hatten Pemmikan in eine Büffelblase gefüllt und viele<br />

Mannslängen Lederschnur eingepackt. Jeder hatte seine<br />

Pfeilspitzen und sein Messer noch einmal mit einem<br />

Sandstein geschärft. Jeder hatte kontrolliert, ob der Sehnenbelag<br />

an seinem Bogen in Ordnung war und sich von<br />

seiner Familie verabschiedet.<br />

Jetzt standen sie hier am Ufer des großen Wassers,<br />

nachdem sie sich wortlos mit der erhobenen rechten<br />

Hand, die Innenfläche zum Freunde gedreht, begrüßt hatten.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und Rotes Messer trugen ihre Kanus ins<br />

Wasser und banden sie mit Lederschnüren mit Bug und<br />

Heck an je einem Baum fest. Dann liefen sie zu ihren<br />

Wigwams zurück und holten ihre gepackten Sachen, sowie<br />

Köcher mit Bogen und Pfeilen. Am Ufer machte zuerst<br />

Rotes Messer sein Boot los, gab dem Roten <strong>Bär</strong>en die<br />

Lederbänder in die Hand und belud es. Dann machte <strong>Roter</strong><br />

<strong>Bär</strong> das seine los und sein Freund hielt es fest, dabei<br />

lud der Sohn des Bugonaigeeshing seine Sachen hinein.<br />

Als beide Gefährte fertig bepackt und die Ladung auch mit<br />

Lederriemen festgezurrt war, setzte sich jeder der beiden<br />

34


Freunde in das hintere Ende seines Kanus, nahm das<br />

Paddel zur Hand und trieb das kleine Kunstwerk aus Birkenrinde<br />

durch das Wasser vorwärts. Nebeneinander glitten<br />

die beiden Indianer über die spiegelglatte Fläche. Es<br />

war genauso ein schöner Morgen, wie der, an dem <strong>Roter</strong><br />

<strong>Bär</strong> alleine auf die Bucht hinausgefahren war, nur, dass es<br />

heute früher war und die Sonne noch hinter den Hügeln<br />

auf der anderen Seite der Bucht verborgen blieb. Die Enten<br />

wichen quarrend den beiden Menschen aus und gaben<br />

den Kanus den Weg frei. Die beiden Freunde hielten<br />

sich dicht am Ufer, manchmal fuhren sie sogar unter den<br />

kahlen Kronen der überhängenden Bäume. Weil sie kein<br />

Wort sprachen, konnten die beiden Anishinabeg es rascheln<br />

hören, wenn sich ein Tier, sei es eine Maus, oder<br />

ein Fuchs in dem Laub bewegte, das so hoch am Boden<br />

lag, dass ein erwachsener Mann darin bis zur Hüfte versinken<br />

konnte. Aus genau diesem Grund hatten die Beiden<br />

auch das Kanu als Verkehrsmittel gewählt. Wenn sie<br />

zu Fuß durch den Wald gestreift wären, wäre jedes Tier<br />

schon auf weite Distanz geflüchtet und sie hätten es nicht<br />

einmal zu Gesicht bekommen, geschweige denn, dass sie<br />

zu einem Schuss gekommen wären. Wenn man in einem<br />

Kanu die Ufer entlangfuhr, dann bestand viel mehr Chance,<br />

ein Wild zu erlegen.<br />

Als sie schon viele viele Manneslängen weit<br />

gefahren waren, hielt <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> an und sein Freund folgte<br />

seinem Beispiel. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> zeigte still zum jenseitigen Ufer<br />

hinüber und die Blicke des Roten Messers folgten seinem<br />

Finger. Den beiden Beobachtern bot sich ein herrliches<br />

Schauspiel: In glutroter Farbenbrunst erhob sich die Sonne<br />

hinter den dunklen Umrissen der Bäume und Hügel.<br />

Jetzt flog mit lautem Geschnatter und heftigem Flügelschlag<br />

ein riesiger Entenschwarm vor dem Feuerball, der<br />

35


schon zur Hälfte über den Wald hinauslugte, her. Die<br />

schwarzen Konturen der kleinen Vögel hoben sich eindrucksvoll<br />

von dem leuchtenden Hintergrund ab. Die beiden<br />

jungen Anishinabeg sahen in schweigender Dankbarkeit<br />

und Demut dem Sonnenaufgang zu. Sie saßen regungslos<br />

in ihren Booten und schauten auf die Sonne, bis<br />

diese sich ganz zeigte.<br />

Mit dem Tageslicht wachte die ganze Natur auf, die<br />

Enten lieferten sich Streitereien um Futter und die Stille<br />

der Nacht wich den Geräuschen der Helligkeit. Die Füchse<br />

verkrochen sich in ihren Bauten und überall raschelte es.<br />

Die jungen Herzen der beiden Indianer füllten sich mit<br />

Freude und sie standen in ihren Kanus auf, richteten die<br />

Arme zum Himmel, die Handflächen nach oben gekehrt<br />

und beteten. Dann sprachen sie mit der Sonne, der Energie<br />

alles Lebenden und dankten ihr dafür, dass sie wieder<br />

aufging und jeden Tag die Helligkeit auf die Erde brachte.<br />

Sie begrüßten den neuen Tag und freuten sich, wie sich<br />

nur Menschen freuen konnten, die so eng mit der Natur in<br />

Verbindung standen, wie die Indianer. Die zwei Krieger<br />

dankten auch ihren Herzen dafür, dass sie immer weiter<br />

schlugen und sie am Leben erhielten. Sie atmeten tief<br />

durch und erheiterten sich an allem, was um sie herum<br />

geschah. Als sie diese Sachen, die ihre Vorfahren einst<br />

von Manitu selbst erlernt hatten, getan hatten, setzten sie<br />

sich wieder und fuhren gemächlich weiter. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und<br />

Rotes Messer, sie beide genossen die Fahrt. Langsam<br />

wurde es auch wärmer und <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> zog den Mantel aus<br />

Hirschfell, den er zum Schutz vor der nächtlichen Kälte<br />

getragen hatte, aus, wickelte ihn zusammen und legte ihn<br />

mit zu den anderen Gepäckstücken in die Mitte des Bootes.<br />

Sein Freund hatte auf ihn gewartet, jetzt glitten sie<br />

wieder nebeneinander über das Wasser dahin und ließen<br />

36


die Landschaft an sich vorüberstreichen. Sie fuhren an<br />

Kiesstränden, Sandstränden und Steilufern aus Lehm vorbei,<br />

in die Eisvögel ihre Nistlöcher gegraben hatten.<br />

Manchmal reichte der Wald auch bis an den See heran<br />

und man konnte die seltsamen Figuren sehen, die die<br />

Wurzeln der halb im Wasser stehenden Pflanzen bildeten.<br />

Einmal konnten die beiden Freunde den Brunftschrei eines<br />

Wapiti hören, der zu dieser Jahreszeit des Öfteren<br />

über die Wälder und Hügel tönte.<br />

Gegen Mittag, als die Sonne am höchsten stand,<br />

erreichten die beiden Kanufahrer die Mündung eines kleinen<br />

Flüsschens, die an beiden Seiten von abgestorbenem<br />

Gras umgeben war. Die beiden jungen Indianer bogen in<br />

diesen kleinen, langsam strömenden Wasserlauf ein und<br />

fuhren stromauf zwischen tiefstem Wald immer weiter den<br />

Fluss der springenden Lachse hinauf. Diesen Namen hatte<br />

das Gewässer aufgrund der vielen Lachse, die hier im<br />

Frühjahr die vielen Stromschnellen hinaufwanderten, erhalten.<br />

Zur Zeit der Lachswanderung baute der Stamm<br />

der Anishinabeg an diesem Fluss viele Fischhecken, kleine<br />

Wehre, die quer durch den Fluss aufgestellt wurden<br />

und nur eine kleine Öffnung in der Mitte hatten. Hinter dieser<br />

Öffnung war mit Bast eine Reuse befestigt, die man<br />

nur jeden Tag zweimal abnehmen und lehren musste.<br />

Jetzt, im Spätherbst aber, zu der Zeit, zu der fast alle<br />

Blätter schon von den Bäumen abgefallen waren und es<br />

nachts schon den ersten Frost gab, war hier, am Fluss der<br />

springenden Lachse, kein Mensch zu sehen, oder zu hören.<br />

Nur die zwei einsamen Kanus bewegten sich den<br />

kleinen Fluss hinauf, von ihren Fahrern geschickt um die<br />

Stromschnellen und Steine gesteuert. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und Rotes<br />

Messer verstanden es, die Paddel zu führen und ihre<br />

Boote bekamen kaum eine Schramme.<br />

37


Als es langsam dämmerig wurde, rief <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>, der<br />

in seinem Kanu voran fuhr,: "Laß uns einen Lagerplatz für<br />

die Nacht suchen, es wird langsam schon dunkel!"<br />

"Ich bin deiner Meinung, mein Freund, wir wollen<br />

dort an Land gehen!", antwortete Rotes Messer und deutete<br />

dabei auf die Innenseite einer Kurve, die der Fluss<br />

machte. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> steuerte auf sie zu und hielt im Strömungsschatten<br />

eines ins Wasser gestürzten Baumes an.<br />

Er stand auf, ging in das vordere Ende seines Bootes und<br />

legte die Lederschnur um den Stamm, dann verknotete er<br />

sie fest. Jetzt ging er an das Heck, nahm die Lederschnur,<br />

die hier lag, in die Hand und sprang mit einem einzigen,<br />

großen Satz an Land. Rotes Messer kam in seinem Boot<br />

heran und band es an dem seines Freundes fest. Dann<br />

stieg er zuerst in dieses hinüber und sprang von hier aus<br />

auch auf das Land. In der Zwischenzeit hatte der Sohn<br />

des Häuptlings sich schon nach einem passenden Lagerplatz<br />

umgesehen und eine flache Erdmulde in der Nähe<br />

entdeckt. Er zeigte sie dem Roten Messer. Der war einverstanden<br />

mit der Idee, an dieser Stelle zu übernachten<br />

und erklärte sich bereit, eine Abendmahlzeit zu jagen. <strong>Roter</strong><br />

<strong>Bär</strong> wollte sich nach Feuerholz umsehen. Jedoch<br />

mussten erst die Boote entladen werden, bevor die beiden<br />

Anishinabeg ihren Aufgaben nachgehen konnten. Also<br />

gingen sie zurück zu ihren Kanus, lösten die Schnüre und<br />

trugen alles, was in den Gefährten war, zu der Erdmulde.<br />

Danach nahm Rotes Messer seinen Bogen und einige<br />

Pfeile und machte sich auf, ein Tier zu schießen. <strong>Roter</strong><br />

<strong>Bär</strong> schnitt sich ersteinmal eine große Astgabel und entfernte<br />

mit ihr alles Laub vom Platz. Als die Kuhle sauber<br />

genug war, öffnete er eine mitgebrachte Ledertasche und<br />

nahm seinen Tomahawk in dessen Scheide heraus. Die<br />

Scheide hatte eine Schlaufe, an der sich <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> das<br />

38


Beil, das gleichermaßen als Waffe und Werkzeug diente,<br />

an den Gürtel neben sein Messer hängte. Dann ging er zu<br />

den Bäumen und bat sie um das Totholz, das noch in ihren<br />

Kronen hing, weil die Äste und Zweige, die beim letzten<br />

Herbststurm heruntergefallen waren für ihn unerreichbar<br />

unter der dicken Laubschicht lagen. Wenn er die<br />

Pflanzen um die Erlaubnis gebeten hatte, das Totholz zu<br />

nehmen, stieg er hinauf in ihre Kronen, löste dort alle abgestorbenen<br />

Äste und ließ sie einfach herunter fallen. Diesen<br />

Vorgang wiederholte er bei fünf, oder sechs Bäumen,<br />

dann war genug Holz für eine Nacht zusammengekommen.<br />

Er las es vom Boden auf, trennte es mit seinem Beil<br />

in handliche Stücke und stapelte diese an einer Seite der<br />

Mulde.<br />

Dann schichtete er in der Mitte des Lagerplatzes<br />

ein Feuer auf, das er dann mit Birkenrinde, Zunder und<br />

Stahl und Stein entflammte. Jetzt schnitt er zwei kleinere<br />

Astgabeln von einer Birke und steckte sie rechts und links<br />

des Feuers senkrecht in den Boden. Oben legte er über<br />

beide eine wagrechte, gerade Birkenstange, die er zuvor<br />

entrindet hatte. An diese Stange würde man später die<br />

Jagdbeute des Roten Messers hängen können.<br />

Als <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> diese Sachen erledigt hatte, bereitete<br />

er das Nachtlager vor: Der junge Indianer löste die zusammengerollten<br />

verschiedenen Felle aus ihrer Verschnürung<br />

und breitete sie auf dem schon gefrorenen Boden<br />

aus. Von Zeit zu Zeit legte er Holz in die wärmenden<br />

Flammen, oder schob mit einem frischen Stock die Glut<br />

zurecht, so, dass das Feuer noch größer und wärmer<br />

wurde. Es stoben allerdings nur sehr selten Funken, da<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> bei der Holzsuche Bäume ausgesucht hatte, deren<br />

Holz sehr ruhig verbrannte und nicht mit Funken die<br />

Felle gefährdete. Nachdem nichts mehr zu tun war, ließ<br />

39


sich der Anishinabe auf einem Hirschfell an der Wärmequelle<br />

nieder und sah mit nachdenklichem Blick in die<br />

züngelnden und knisternden Flammen. Er dachte darüber<br />

nach, dass auch das Feuer genauso wie das Land niemandem<br />

gehören konnte. Aber das Land konnten die<br />

weißen Landräuber auch stehlen, konnten sie den roten<br />

Leuten dann auch das Feuer nehmen und an sich reißen?<br />

Sie konnten Blitz und Donner mit langen Stöcken machen.<br />

Warum also sollten sie dann nicht auch die Sachen, die<br />

Manitu seinen Kindern, dem roten Volk gegeben hatte<br />

nehmen können? Es gab so viele Fragen in diesen Monden,<br />

auf die der Sohn des Häuptlings Bugonaigeeshing<br />

keine Antwort wusste. Und er konnte auch nicht ahnen,<br />

dass er bälder, als er in seinen schlimmsten Träumen je<br />

gefürchtet hatte, auf grausame Weise die Antwort auf seine<br />

Gedanken erhalten sollte.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> fuhr aus seinen Träumen auf, weil hinter<br />

ihm das Laub geraschelt hatte. Er drehte sich um und hinter<br />

ihm stand sein Freund. Er lachte über das ganze Gesicht<br />

und hielt dem Roten <strong>Bär</strong>en stolz seine Jagdbeute<br />

hin, ein prachtvolles Auerhuhn. Der Vogel hatte nur ein<br />

Schussloch und das genau im Herz. Er wog fast so viel,<br />

wie ein Kind, das schon zwei Sommer und zwei Winter<br />

gesehen hat. Seine Federn glänzten im Schein der Flammen<br />

in einem schillernden Schwarzton.<br />

Der Sohn des Bugonaigeeshing ließ ein anerkennendes<br />

Brummen hören und nickte dabei mit dem Kopf.<br />

Das war bei ihm schon ein großes Lob, er machte nie viele<br />

Worte. Sein Freund berichtete: "Ich hatte meine Leggins<br />

ausgezogen und ging im Wasser, das mir bis an die Unterschenkel<br />

reichte. Das war die einzige Möglichkeit, lautlos<br />

zu gehen. Als es mir an den Beinen schon langsam<br />

kalt wurde und ich schon fast aufgeben wollte, da saß die-<br />

40


ses Tier kaum zehn Schritt weit von mir entfernt auf einem<br />

quer über dem Bach liegenden Baumstamm. Es blieb regungslos<br />

sitzen, so, als bemerke es mich nicht, sah aber<br />

unverwandt zu mir herüber. Ich legte langsam einen Pfeil<br />

auf und zog den Bogen. Das Tier musste genau wissen,<br />

dass sein Leben für mich bestimmt war, denn es blieb<br />

immer noch ohne irgendeine Bewegung auf seinem<br />

Stamm hocken. Ich zielte, ließ den Pfeil los und traf den<br />

Vogel. Der machte noch ein paar Bewegungen, dann fiel<br />

er rücklings in das Wasser. Ich ging hin, zog meinen Pfeil<br />

heraus und hob ihn hoch. Dabei schätzte ich sein Gewicht<br />

und bewunderte das Huhn von oben bis unten. Dann bedankte<br />

und entschuldigte ich mich bei ihm und bei Manitu.<br />

"Nun bin ich hier und habe Hunger"<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> gab ihm das Huhn wieder und Rotes<br />

Messer nahm es aus und rupfte es. Vor dem Rupfen hatte<br />

er es einmal in warmes Wasser getaucht, das zuvor einige<br />

Zeit in einem Metallkessel über den Flammen gehangen<br />

hatte. Dabei verging so viel Zeit, dass es schon stockfinster<br />

war, als der Vogel bratfertig vor den beiden Freunden<br />

lag. Der Sohn des brüllenden Büffels spitzte den Stab, der<br />

über den Astgabeln gelegen hatte, mit seinem Messer an<br />

und stach ihn von der Afteröffnung durch den Körper und<br />

den Hals, so, dass der Stock zum Schnabel wieder aus<br />

dem Tier hinauskam. Rotes Messer schob den Stab so<br />

zurecht, dass zu beiden Seiten des toten Körpers ungefähr<br />

die Länge eines Unterarmes überstand. Jetzt legte er<br />

diese beiden Aststücke auf je eine Astgabel. Holz wurde<br />

auf das schon sehr weit heruntergebrannte Feuer gelegt.<br />

Bald schon loderten die Flammen empor und erreichten<br />

fast das Tier, das immerhin auf Hüfthöhe eines erwachsenen<br />

Mannes hing.<br />

41


Die beiden Freunde saßen sich gegenüber, sie hatten<br />

die heilige Wärmequelle zwischen sich und von Zeit zu<br />

Zeit drehte einer von beiden das Huhn ein Stückchen auf<br />

dem Ast. Auf diese Weise wurde es nicht an einer Seite<br />

schwarz, sondern überall gleichmäßig knusprig und<br />

schmackhaft. Gewürzt wurde das Fleisch nicht; auf eine<br />

Jagd konnte man keine Kräuter und Salz mitnehmen, das<br />

hätte viel zu viel Platz benötigt.<br />

Ab und zu legten <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>, oder sein Freund ach<br />

neue Äste und Zweige auf die Glut, so gaben sie dem<br />

Feuer neue Nahrung und es konnte sie weiter wärmen.<br />

Solange sie sich nicht um die Flammen, oder<br />

ihr Essen kümmerten, saßen die zwei Indianer auf ihren<br />

Fellen, <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> auf einem Hirschfell, Rotes Messer auf<br />

dem eines <strong>Bär</strong>en. Das Tier, zu dem dieses Fell gehörte,<br />

hatte er auf einem Jagdzug im Frühjahr des letzten Jahres<br />

erlegt, auf dem er mit seinem Vater allein gewesen war.<br />

Seitdem nahm er es auf alle Reisen mit. Die meiste Zeit<br />

schauten die jungen Krieger sinnend dem Spiel des Feuers<br />

zu und sahen die Formen der Glut, die sich bildeten,<br />

wenn ein Stück eines heißen Astes abbrach und knackend<br />

zu Boden fiel. Manchmal trafen sich die Blicke der beiden<br />

Freunde auch, dann konnte jeder tief in die schwarzen<br />

Augen seines Gegenüber blicken.<br />

Endlich war der Vogel rundherum von einer bräunlichen<br />

Färbung und schien auch gar. Dem Roten Messer<br />

kam als Jäger dieses Tieres die Ehre zu es zu zerteilen<br />

und sich ein Teil des Vogels auszuwählen, den er als erstes<br />

essen wollte. Er zog also sein Messer und zerlegte es<br />

fachgerecht. Dann wählte er ein Bein aus und schnitt von<br />

diesem ein Stück ab, das er in die Glut warf und dazu das<br />

Gebet sprach, das die Indianer bei jeder Mahlzeit sagten.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> machte es seinem Freund nach. Die Beiden<br />

42


aßen viel, an diesem Abend, die Kanufahrt hatte sie hungrig<br />

gemacht.<br />

Während des Essens wurde von keinem gesprochen,<br />

wie es bei dem roten Volk Sitte war. Erst nach dem<br />

Mahl begann Rotes Messer:<br />

"Sohn des Bugonaigeeshing! Ich bin entschlossen,<br />

gegen die Männer zu sein, die uns und unseren Brüdern<br />

von anderen Stämmen das Land stehlen. Ich habe lange<br />

darüber nachgesonnen, jetzt bin ich zu einem Entschluss<br />

gekommen: Ich werde viele Leute mit blassem Gesicht töten,<br />

gleich, ob sie dann auch mich morden werden. Ich will<br />

nicht dulden, dass unseren Verwandten grundlos das Leben<br />

genommen wird und fremde Leute uns unterwerfen."<br />

Bei diesen Worten hatte der junge Mann seinem Freund<br />

eindringlich in die Augen gesehen. Er hatte nicht nur mit<br />

seinem Mund gesprochen, sondern mit seinem ganzen<br />

Körper und er hatte voll Leidenschaft geredet, wie man es<br />

sonst von ihm nicht kannte. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> war durch diese<br />

wenigen Sätze erregt. Diese wenigen Sätze berührten<br />

Dinge, die im Augenblick den Kern seiner Seele bildeten<br />

und er freute sich, über sie mit einem anderen Menschen<br />

sprechen zu können. "Mein Freund, ich werde dich begleiten,<br />

wohin auch immer du gehen magst. Wir werden zusammen<br />

gegen die Weißen kämpfen. Unsere Pfeile werden<br />

die Herzen vieler Feinde zum Stillstand bringen. Die<br />

Männer mit der blassen Haut werden in ihren Häusern<br />

nicht mehr sicher sein, wenn sie es wagen, uns, den roten<br />

Kindern Manitus unsere Jagdgebiete, unsere Äcker, unsere<br />

Vorräte und unsere Gräber zu klauen. Ich habe gesprochen."<br />

Rotes Messer erwiderte nichts, aber sein Freund<br />

fühlte die Zustimmung seines Herzens. Er legte sich in<br />

seinem Fell hin und schlief.<br />

43


Der Morgen des nächsten Tages graute, die Sonne<br />

schickte gerade ihre ersten Strahlen durch die Wipfel der<br />

Bäume und weckte mit ihren leuchtenden Pfeilen alles Leben<br />

auf. Es war abzusehen, dass dieser Tag genauso<br />

schön werden würde, wie der letzte. Überall zwischen den<br />

Stämmen der mächtigen Waldriesen raschelte das Laub,<br />

durch das Amseln und Rotkehlchen auf der Suche nach<br />

der wenigen Nahrung, die sie um diese Jahreszeit noch<br />

fanden, hüpften.<br />

Auch <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und sein Freund, das Rote Messer,<br />

wurden heute geweckt, weil ihnen die Sonne ins Gesicht<br />

schien. Sie setzten sich auf, reckten sich und brachten als<br />

erstes das Feuer wieder in Gang, von dem nur noch einige<br />

glühende Stücke übrig geblieben waren.<br />

Als die ersten Flammen aus den trockenen Zweigen<br />

prasselnd empor schlugen, flatterten ein paar Meisen<br />

erschrocken aus einem Haselbusch in der Nähe davon.<br />

Rotes Messer sah ihnen nach, bis sie zwischen den Zweigen<br />

eines anderen Strauches verschwunden waren. Ab<br />

und zu hörten die beiden das Fiepen und Zwitschern der<br />

kleinen Vögel.<br />

In den Herzen der zwei Indianer glühte bei diesen<br />

Lauten eine unbefangene Freude auf, ihre Augen leuchteten<br />

und sie erfrischten sich an der Schönheit der Natur,<br />

wie sie sich ihnen an diesem Morgen deutlich wie selten<br />

zeigte.<br />

Die Reste des Auerhuhnes vom Vortag wurden<br />

zum Frühstück kalt verzehrt. Wieder verlief die Mahlzeit<br />

ohne Sprechen.<br />

Nachdem alles Essbare dieses Vogels aufgegessen<br />

war, schabten die Freunde sorgfältig alle Fleischfetzten<br />

von den Knochen und sammelten diese in einer Ledertasche.<br />

Man würde später aus ihnen eine gute Brühe ko-<br />

44


chen können. Aus den Federn eines Huhnes konnte nichts<br />

hergestellt werden. Sie verbrannten die beiden Indianer<br />

als Opfer an das Große Geheimnis.<br />

Als schließlich auch die Felle zusammengerollt,<br />

verschnürt und mit den anderen Gepäckstücken gemeinsam<br />

in den Kanus verstaut waren, als auch das Feuer gelöscht<br />

war, setzten sich die beiden Indianer in ihre Boote.<br />

Zuerst machte Rotes Messer das seine los und<br />

paddelte zur Bachmitte, wo das Gewässer am tiefsten<br />

war. Sein Freund machte es ihm nach. So fuhr diesmal<br />

Rotes Messer vorran und <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> folgte ihm. Die Jäger<br />

fuhren wie am Vortag stromauf. Da die Strömung immer<br />

stärker, das Bachbett immer schmaler und der Grund immer<br />

steiniger wurden, mussten sie all ihre Kraft anstrengen,<br />

um die Gefährte an Stromschnellen und Strudeln<br />

vorbei zu zwingen. Des öfteren drohte eines der beiden<br />

Rindenboote, umzuschlagen und entging dem nur durch<br />

den feinen Gleichgewichtssinn seines Fahrers.<br />

Hin und wieder konnte man eine Forelle sehen, die<br />

im Strömungsschatten eines größeren Steines, oder eines<br />

ins Wasser gefallenen Holzes vorbeiziehenden Wasserflöhen<br />

und anderen kleinen Tierchen auflauerte. Fiel jedoch<br />

der Schatten eines der beiden Boote auf den stromlinienförmigen<br />

Körper eines Fisches, dann verschwand er<br />

mit einem kräftigen Schlag der Schwanzflosse in einer<br />

Felsnische.<br />

Die beiden Indianer fuhren und fuhren, bis sie keinen<br />

Weg mehr zwischen den vielen Steinen, Ästen und<br />

Stromschnellen keinen Weg mehr für ihre Kanus fanden.<br />

Auch war der Bach inzwischen zu einem Bächlein geworden<br />

und der Grund war schon so dicht unter der Wasseroberfläche,<br />

dass sie ohnehin bald nicht mehr hätten weiterfahren<br />

können.<br />

45


Die zwei Jäger stiegen mitten im Bach aus ihren<br />

Booten – vorher hatten sie sich selbstverständlich die<br />

Mokkassins ausgezogen und ihre Leggins hochgeschoben,<br />

denn feuchte Kleider können in der Wildnis schon bei<br />

Herbsttemperaturen, wie sie hier herrschen, den Tod bedeuten.<br />

Von dem Gewicht ihrer Insassen befreit lagen die<br />

Boote schon nicht mehr so tief im Wasser. Die beiden<br />

Freunde zogen ihre Gefährte ans Ufer und machten sie<br />

mit Stricken an Bäumen fest.<br />

Nachdem die Indianer ans Land gestiegen waren,<br />

ihre Kleidungsstücke wieder angelegt und einen guten Lagerplatz<br />

ausfindig gemacht hatten, entluden sie ihre Kanus.<br />

Alle Sachen wurden auf der Seite des Lagerplatzes<br />

gestapelt, aus der der Wind in dieser Gegend meistens<br />

kam. So war die kleine Lichtung, aus der der Lagerplatz<br />

bestand vor Wind gut geschützt. Das war auch nötig, denn<br />

inzwischen war ein starker Luftstrom aufgekommen und<br />

bewegte heftig die Kronen der Bäume. Zwar konnte man<br />

keine Wolke am Himmel sehen, doch es konnte gut sein,<br />

dass am nächsten Tag einer der vielen Herbststürme über<br />

das Land fegen würde.<br />

Noch war es hell, doch der Tag würde bald zur Neige<br />

gehen, in diesen Monden ging die Sonne schon recht<br />

früh unter. Trotzdem musste noch, bevor die Dunkelheit<br />

ihren Schleier über das Land breitete, etwas zu essen für<br />

den Morgen des nächsten Tages geschossen werden. Die<br />

Brühe aus den Auerhuhnknochen würde die beiden hungrigen<br />

Indianer heute Abend noch sättigen, für den Anbruch<br />

des morgigen Tages aber reichte sie nicht.<br />

Dieses Mal wollte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> die Aufgabe übernehmen,<br />

für etwas Essbares zu sorgen. Seinen Freund gelüstete<br />

es dafür danach, die Brühe zu kochen. Vielleicht ge-<br />

46


lang es ihm auch, einige Forellen aus dem Bach zu fischen<br />

und sie zur Suppe über das Feuer zu hängen.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hängte sich sofort den Köcher über seinen<br />

Rücken, es war keine Zeit zu verlieren. Zuvor hatte er<br />

seinen Bogen aus dessen Futteral genommen, dieselbe<br />

Waffe, mit der er vor einigen Monden die junge Wildgans<br />

geschossen hatte. Einen Pfeil hatte er in die Hand genommen,<br />

um gegebenenfalls möglichst schnell schussbereit<br />

zu sein. Es war das Geschoss, dessen Spitze er am<br />

Abend nach seinem ersten Gespräch mit dem Roten Messer<br />

über die Blassgesichter hergestellt hatte. Er hatte sie<br />

in der Zwischenzeit an dem geraden Trieb irgendeines<br />

Busches vom Waldrand befestigt und den Pfeil mit Federn<br />

und Nocke fertiggestellt. Nun entfernte sich der Sohn des<br />

Häuptlings leichten, federnden Schrittes vom Lager und<br />

seinem Freund. Erst schlenderte er am Ufer des Bachlaufes<br />

entlang, das hier meist kiesig war. Die Steine knirschten<br />

unter seinen Füßen und durch die dicken Sohlen aus<br />

gegerbtem Hirschnacken spürte er, wie sich die Kiesel<br />

auseinander schoben. Als er schon unzählige Schritte weit<br />

gegangen war, es schon langsam dunkel wurde und er<br />

immer noch kein jagbares Tier zu Gesicht bekommen hatte,<br />

beschloss er umzukehren. Da im Dunkeln ohnehin nur<br />

sehr nahe Ziele zu treffen waren, entschied sich der Rote<br />

<strong>Bär</strong> für den Weg durch den Wald. Dieser war angenehmer<br />

für die Füße, als das Bachufer. Auf dem steinigen Untergrund<br />

wurde es auch für den geübten Läufer auf Dauer<br />

mühselig, da die Muskeln immer auf die Bewegungen der<br />

Steine reagieren mussten. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> also betrat einen<br />

schmalen Wildwechsel, der ins Uferdickicht führte und<br />

jetzt, abends, kaum noch zu sehen war. Er führte in die<br />

Richtung, in der auch das Lager gelegen war. Hier, im<br />

Wald herrschte schon ein dunkleres Dämmerlicht. <strong>Roter</strong><br />

47


<strong>Bär</strong> schritt durch den Wald, so leise, wie es ging, um die<br />

Natur nicht zu stören. Manchmal erschien rechts, oder<br />

links ein gelbes, grünes oder weißes Augenpaar, das ihn<br />

verwundert anschaute. Nach einigen Augenblicken verschwanden<br />

die leuchtenden Punkte wieder in der Nacht.<br />

Die nächtlichen Geräusche öffneten das Ohr des einsamen,<br />

erfolglosen Jägers. Die Waldohreulen schrien, hier<br />

buhte dumpf ein Uhu, dort antwortete ein anderer mit<br />

demselben, leisen Ruf. Die Wölfe und Coyoten blieben still<br />

in dieser Nacht, es war Neumond. Jetzt fauchte irgendwo<br />

in der Nähe ein Puma. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte keine Angst, er<br />

wusste: Die Dunkelheit ist da, um die Sinne der Menschen<br />

zu schärfen. Zu dieser Jahreszeit waren die Sterne am<br />

dunklen Himmelszelt auch im Wald unter den Kronen der<br />

Bäume zu sehen, das Laub war ja schon von ihren Zweigen<br />

abgefallen. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sah gerade zu den blinkenden<br />

Lichtpunkten hinauf. Noch war es nicht ganz dunkel, die<br />

Kälte kroch jedem, der sich jetzt ohne warme Kleider<br />

draußen zeigte, in alle Glieder. Der Indianer hatte sich mit<br />

Leggins und Hemd aus dickem Büffelfell bekleidet, ihm<br />

konnten die Temperaturen nichts antun.<br />

Plötzlich hörte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> Schritte in dem Laub auf<br />

dem Wildpfad, die ihm entgegenkamen. Es waren schwere,<br />

dumpfe Schritte und es war auch ein Schnaufen und<br />

Keuchen zu hören. Der Jäger fuhr zusammen, er kannte<br />

diese Art von Schritten genau. Diese Gangart war jedem<br />

Mann bei den Indianern bekannt. Jeder wusste, was zu<br />

tun war, wenn er diese Schritte vernahm.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sprang mit einem gewaltigen Satz in das<br />

Gebüsch neben dem Pfad, doch sein unsichtbarer Gegner<br />

schien in schon bemerkt zu haben, denn er blieb heftig<br />

schnaufend stehen. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sah ein, dass es wenig<br />

48


Zweck hatte, sich weiterhin versteckt zu halten und trat<br />

langsam und vorsichtig aus den Sträuchern heraus.<br />

Jetzt konnte er das Tier sehen, das vor ihm stand,<br />

auf den Hinterbeinen stehend und mächtig brüllend. Es<br />

hatte ein zotteliges, schwarzes Winterfell und gelbe, spitze<br />

Reißzähne. Der Indianer fühlte sich bestätigt in dem, was<br />

er schon gewusst hatte, bevor das Tier sich ihm gezeigt<br />

hatte. Er sprach den riesigen Schwarzbären an: "Bruder<br />

<strong>Bär</strong>, wenn du mich angreifst, wird dich mein Pfeil töten. Du<br />

allein weißt, wie deine Bestimmung lautet, an deinem Verhalten<br />

werde ich sehen, ob Manitu will, dass ich dich umbringe,<br />

oder ob ich dich am Leben lassen soll. Versuchst<br />

du, mich zu fressen, wird mein Pfeil tief in dein Leben<br />

dringen und dein Fleisch wird mich ernähren. Dein Fell<br />

wird mich wärmen und dein Geist wird mir immer beistehen.<br />

Rührst du mich aber nicht an, lasse ich dir dein Leben<br />

und wir werden beide wieder unserer eigenen Wege<br />

gehen, unser eigenes Leben leben."<br />

Die Augen des <strong>Bär</strong>en hatten bei diesen Worten wütend<br />

geblitzt, <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> aber hatte gewusst, dass sein<br />

Namenstier ihn nicht angreifen würde, während er mit diesem<br />

redete. Es war ja bei den Indianern auch nicht üblich,<br />

während einer Friedensverhandlung zu kämpfen. Aber<br />

jetzt, wo der Mensch fertig mit seiner Rede war, musste er<br />

jeden Augenblick auf eine Attacke des Tieres gefasst sein.<br />

Diese kam denn auch unweigerlich, der Koloss ließ sich<br />

wieder auf alle Viere fallen und stürzte sich mit aufgerissenem<br />

Maul auf den Menschen, der dem ersten Versuch<br />

geschickt auswich und geschwind den Pfeil, den er in der<br />

Hand getragen hatte, in die Sehne legte. Der Griff war ihm<br />

Fleisch und Blut geworden. Jetzt spannte er den Bogen<br />

zum Zerbrechen und jagte den Pfeil mit der Schnelligkeit<br />

eines Blitzes in das Herz des <strong>Bär</strong>en, der gerade einen<br />

49


neuen Angriff startete und sich aufrichtete. Er tat noch einige<br />

taumelnde Bewegungen, versuchte verzweifelt, das<br />

Gleichgewicht halten. Sein gefährliches und Angst einflößendes<br />

Brummen hatte sich zu einem herzzerreißenden<br />

Quieken gewandelt. Plötzlich wurde er stumm und fiel auf<br />

den Boden. Er bewegte sich nicht mehr, neben dem Pfeil,<br />

der im Herz des Tieres steckte, quoll Blut an die Luft. Vorsichtig<br />

näherte sich der erfolgreiche Jäger, vergewisserte<br />

sich, dass auch wirklich kein Leben mehr in seinem Tierbruder<br />

war und schaute dann in dessen Augen. Das waren<br />

tiefe Augen, durch sie sah man tief in die <strong>Bär</strong>enseele<br />

hinein. Diese Augen waren auch der Grund für den Namen<br />

des Sohnes des Bugonaigeeshing. In den Augen<br />

dieses jungen Menschen glühte immer ein unergründbares<br />

und unauslöschliches Feuer, sie konnten so warm und<br />

tief blicken, wie die eines <strong>Bär</strong>en. Der junge Jäger ließ sich<br />

auf dem toten Leib des Tieres nieder und fuhr mit seinen<br />

Fingern durch die dichten Zotteln des Pelzes.<br />

Nun war es ganz dunkel. Nur die wenigen Sterne<br />

spendeten ein kleines Bisschen Helligkeit. Unter der unendlichen<br />

Himmelskuppel erhob sich jetzt der Rote <strong>Bär</strong>,<br />

streckte die Arme den Sternen entgegen, die Handflächen<br />

nach außen. Er sprach mit halblauter Stimme in der Sprache<br />

des Stammes der Anishinabeg das Gebet, das jeder<br />

Jäger nach dem Erlegen einer Beute sprach:<br />

"Ich war bedürftig.<br />

Ich habe dir Schönheit,<br />

Anmut und Leben genommen<br />

Ich habe deine Seele<br />

Von ihrem weltlichen Leib<br />

Gesondert.<br />

Nie mehr wirst du in Freiheit<br />

Laufen,<br />

50


Weil ich bedürftig war.<br />

Ich war bedürftig.<br />

Im Leben hast du<br />

Deinesgleichen in Güte gedient.<br />

Mit deinem Leben<br />

Will ich meinen Brüdern dienen.<br />

Ohne dich<br />

Muss ich hungern und werde<br />

Schwach.<br />

Ohne dich bin ich hilflos, nichts.<br />

Ich war bedürftig.<br />

Gib mir Kraft durch dein Fleisch.<br />

Gib mir deine Hülle als Schutz.<br />

Gib mir deine Knochen<br />

Für meine Arbeit,<br />

Und es wird mir an nichts fehlen.<br />

O Manitu, steh mir bei!"<br />

Nach diesen Worten blieb <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> stehen, die<br />

Arme noch immer erhoben und hielt innere und stumme<br />

Zwiesprache mit dem Geist des Tieres. Dann prägte er<br />

sich den Platz genau ein und ging langsam in Richtung<br />

des Lagers, wo sein Freund schon auf ihn wartete. Den<br />

Pfeil hatte er im Körper der Beute stecken lassen, ihn<br />

musste man beim Zerlegen des <strong>Bär</strong>en aus dem Fleisch<br />

herausschneiden, da die Spitze mit Widerhaken versehen<br />

war.<br />

Am Lagerplatz angelangt verriet er nichts von den<br />

Vorfällen im Wald. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> setzte sich neben seinen<br />

Freund ans Feuer und sagte: "Wie du siehst, mein Bruder,<br />

51


habe ich kein Fleisch von der Jagd mitgebracht." "Wie du<br />

siehst, mein Bruder habe ich zwei Forellen gefangen. Sie<br />

braten dort über den Flammen. Auch für den nächsten<br />

Tag sind noch genügend da." Rotes Messer zeigte auf die<br />

beiden Fische, die ausgenommen an zwei geraden Birkenruten<br />

steckten, deren eines Ende durch die Fische gesteckt<br />

worden war. Das andere Ende steckte in der Erde.<br />

Jetzt beugte sich Rotes Messer vor und drehte die Stöcke<br />

ein wenig, so dass die Fische von allen Seiten gleichmäßig<br />

braun wurden.<br />

In der Zeit, in der die beiden Forellen garten, nahmen<br />

die zwei jungen Krieger die Suppe aus den Hühnerknochen<br />

zu sich und wärmten so ihre ausgekühlten Körper<br />

auf. Als sich keine Brühe mehr im Kessel befand,<br />

konnte man auch schon die Fische zerlegen und essen.<br />

Ein Tag draußen in der Wildnis war anstrengend und<br />

machte hungrig. Wenn genügend Nahrung vorhanden<br />

war, dann konnte man seinen Magen ja auch füllen, warum<br />

sollte man hungern?<br />

Erst nach der Mahlzeit berichtete <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> von<br />

seinen Erlebnissen. Der Freund hörte mit leuchtenden<br />

Augen zu. Als der Sohn seines Häuptlings die Erzählung<br />

beendet hatte, war alles, das Rotes Messer dazu sagte:<br />

"Lass uns jetzt sofort deine Beute holen!" Der Rote <strong>Bär</strong><br />

stimmte zu, es wurde immer windiger, ja, man konnte<br />

schon fast sagen, es war stürmisch. Wenn sich das Wetter<br />

so weiter entwickelte, dann war es gut möglich, dass die<br />

beiden Indianer auch morgen den <strong>Bär</strong>en nicht holen konnten.<br />

Denn wenn ein heftiger Sturm tobte, war es ein Risiko<br />

durch den Wald zu gehen, das auch ein mutiger Mann nur<br />

im Notfall einging. Ein herunterfallender Ast konnte den<br />

Menschen verletzen oder sogar töten. Wenn <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong><br />

seine Beute nicht diesen Abend holte und am nächsten<br />

52


Morgen nicht holen konnte, dann konnten sich in der Zwischenzeit<br />

Raben, Coyoten und Wölfe über das Fleisch<br />

hermachen.<br />

Also gingen die beiden Freunde gemeinsam in der<br />

Richtung in den Wald, in der der tote <strong>Bär</strong> lag. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong><br />

hatte sich die Stelle ja genau gemerkt und sein untäuschbarer<br />

Richtsinn führte ihn nun. Dieses Orientierungsvermögen<br />

hatten die Indianer mit den Tieren gemeinsam. Sie<br />

verirrten sich so gut wie nie, diese Fähigkeit hatten die<br />

weißen Leute verloren. Nach einiger Zeit, als der Jäger mit<br />

seinem Gefährten bei dem Tier angekommen war, hörte<br />

man endlich, weit entfernt ein Rudel Wölfe, das den nicht<br />

vorhandenen Mond ansang. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> zog seinen Tomahawk<br />

aus der Scheide am Gürtel und fällte eine junge Birke,<br />

die er zuvor darum gebeten hatte. Er hatte ihr erklärt,<br />

wofür sie gebraucht wurde und er hatte sich dafür bedankt,<br />

dass sie ihr Leben für ihn opferte. Von diesem jungen<br />

Baum schlug der Jäger dann mit seinem kleinen Beil<br />

alle Seitenäste ab, die nicht in eine bestimmte Richtung,<br />

oder in die entgegengesetzte Richtung wiesen. Die abgeschlagenen<br />

Äste wurden von den beiden Indianern zwischen<br />

diejenigen geflochten, die stehen geblieben waren.<br />

Auf diese Art und Weise entstand ein Teppich aus Ästen<br />

und Zweigen. Diese Matte wurde nun neben den <strong>Bär</strong>en<br />

gezogen und die Beute in mühsamer Arbeit von Hand<br />

darauf gewälzt. All diese Dinge geschahen in völliger<br />

Dunkelheit, keine Petroleum- oder Taschenlampe spendete<br />

Licht. Allein die Sterne befähigten den Menschen, etwas<br />

zu sehen. Nachdem der <strong>Bär</strong> auf dem Geflecht zu liegen<br />

gekommen war, zogen beide Freunde vorne am<br />

Stamm der Birke. So bewegte sich der Schleppzug langsam,<br />

Schritt für Schritt, Mannslänge für Mannslänge dem<br />

Lager zu. Keiner der beiden Indianer keuchte, keiner<br />

53


presste die Lippen zusammen. Aber es sagte auch keiner<br />

etwas während dieses langen Fußmarsches. Jeder tat so,<br />

als koste ihn das Ziehen dieses schweren Tieres keine<br />

Mühe. Und doch mussten beide ihre ganze Kraft einsetzen,<br />

damit der Koloss sich überhaupt bewegte. Erst nach<br />

Mitternacht kamen die Gefährten an ihrem Lager an. Sie<br />

schliefen bis zum Mittag des folgenden Tages. Der Sturm<br />

hatte inzwischen schon nachgelassen, war aber noch immer<br />

stark genug. Überall im Wald zeugten Blätterhaufen<br />

und heruntergebrochene Äste von der Gewalt, die der<br />

Sturm noch vor wenigen Stunden gehabt haben musste.<br />

Am Rand der kleinen Lichtung, die als Lager diente,<br />

lag der tote <strong>Bär</strong>. Gestern Abend hatte der Jäger seine<br />

Beute nicht mehr ausgenommen, jetzt machte er sich an<br />

die Arbeit. Er machte mit seinem stabilen Messer einen<br />

langen Schnitt, der zwischen den Hinterbeinen begann<br />

und zwischen den Vorderbeinen endete. Dann fasste er<br />

weit in den inzwischen kalten Körper hinein und trennte<br />

die Eingeweide hinter dem Kopf mit einem Schnitt ab.<br />

Auch wurden an der Afteröffnung alle dort mündenden<br />

Kanäle durchschnitten. Jetzt zog der Rote <strong>Bär</strong> alle Gedärme<br />

aus der Bauch- und Brusthöhle und breitete sie auf<br />

der Erde aus. Nur diejenigen Organe, die für den Menschen<br />

verwertbar waren, legte er beiseite: das Herz, die<br />

Leber und den Magen. Mit den anderen Innereien, wie<br />

Darm, Lunge, Nieren konnte man Fische fangen. Alle<br />

Raubfische waren auf solche Köder aus.<br />

Nun konnte dem Tier der Pelz abgezogen werden.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte noch nie einen <strong>Bär</strong>en enthäutet, er hatte<br />

aber schon einige Male zugesehen, wie die erwachsenen<br />

Jäger das taten. Rotes Messer jedoch hatte ja schon Erfahrung<br />

in dieser Sache. Er half seinem Freund, eine <strong>Bär</strong>enhaut<br />

war sehr zäh. Deshalb musste man nicht so sehr<br />

54


aufpassen, keine Löcher in die Decke zu schneiden. Außerdem<br />

hatte sich der <strong>Bär</strong> eine dicke Fettschicht angefressen,<br />

er musste kurz vor dem Winterschlaf gewesen<br />

sein. Also löste sich das Fell auch recht leicht vom Körper<br />

ab. Trotzdem machte das Enthäuten viele Mühe, es war<br />

Knochenarbeit.<br />

Als endlich die Decke des <strong>Bär</strong>en ausgebreitet vor<br />

ihnen auf dem Boden lag, beschlossen die beiden Indianer,<br />

heute nichts zu unternehmen, sondern nur bei ihrem<br />

Lager zu bleiben. Das Zerlegen der Fleischstücke und erste<br />

Bearbeiten des Pelzes würde wohl auch noch seine Zeit<br />

beanspruchen.<br />

So wandten sie sich auch zuerst dem arbeitsaufwendigeren<br />

Teil des Tages zu, dem Zerlegen des Tieres.<br />

Jeder nahm sein Messer zur Hand und schnitt handliche<br />

Brocken aus der leblosen Muskelmasse heraus. Diese<br />

legten sie erst einmal auf den Erdboden, ordentlich sortiert.<br />

Auf diese Weise arbeiteten sie sich von den Beinen<br />

zum Körper vor.<br />

Nach viel anstrengender Arbeit lag von dem toten<br />

Tier nur noch das Gerippe auf der Erde. Den Schädel verpackte<br />

man in einer Ledertasche, da das Gehirn zum<br />

Gerben des Fells verwendet werden würde. Die übrigen<br />

Knochen trennten die beiden Indianer nach ihrer Beschaffenheit.<br />

Alle Gebeine, die hohl waren oder Mark enthielten<br />

konnte man später als Hundefutter benutzen, oder für eine<br />

schöne, fette Brühe auskochen.<br />

Die anderen, die nicht hohl waren, wurden auch in<br />

Ledertaschen gesteckt, aus ihnen konnte man schöne<br />

Dinge, Werkzeuge, oder Waffen schnitzen.<br />

In der Zwischenzeit dämmerte es schon und die<br />

zwei Freunde spürten ihre Müdigkeit stark. So wickelten<br />

sie sich in ihre Felle ein und legten sich zum Schlafen auf<br />

55


den Boden. Gegessen wurde nicht, nur ein kurzes Gebet<br />

gesprochen.<br />

Am nächsten Tag erwachten Rotes Messer und<br />

sein Freund schon früh, sie waren ja am Vortag auch früh<br />

eingeschlafen. Heute war das Gerben des Pelzes an der<br />

Tagesordnung, auch das Fleisch musste haltbar gemacht<br />

werden. Doch zu allererst hatten die beiden Krieger Hunger<br />

und wollten das nachholen, was sie gestern Abend<br />

nicht zu sich genommen hatten. Zwei Tatzen des Meister<br />

Petz wurden aus den anderen Fleischstücken herausgesucht.<br />

Rotes Messer spießte sie auf zwei Stöcke und<br />

steckte diese schräg in die Erde, sodass die Bratenstücke<br />

über dem entfachten Feuer zu hängen kamen. <strong>Bär</strong>entatzen<br />

waren eine Delikatesse, die man nur sehr selten zu<br />

essen bekam. Deshalb achteten jetzt die jungen Männer<br />

auch sorgsam darauf, das Fleisch gut zu braten. Nach<br />

dem schweigenden Frühstück machten sich <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und<br />

Rotes Messer zuerst an die übrigen Fleischstücke. Sie<br />

bauten aus starken Ästen, die sie mit den Sehnen des<br />

Schwarzbären verbanden, zwei lange Gerüste, welche<br />

ungefähr die Höhe eines erwachsenen Mannes hatten.<br />

Auf jeder Seite eines Gerüsts wurden zwei Äste schräg in<br />

die Erde gesteckt und mit Sehnen so verbunden, dass<br />

sich oben eine Gabel bildete, in die eine lange Stange gelegt<br />

und befestigt wurde. An dieser Stange hängten die<br />

Jäger die Fleischstücke mit Sehne auf. Weil die Gerüste<br />

an einem Platz standen, der nicht schattig war, würde die<br />

Sonne ihnen in den nächsten Tagen jegliche Flüssigkeit<br />

entziehen. Nur die zwei noch nicht verzehrten Tatzen des<br />

<strong>Bär</strong>en hob man auf, diese wollten die Beiden abends braten.<br />

Während dieser Arbeit hatte der feurige Ball am Himmel<br />

schon seinen Höhepunkt erreicht, trotzdem verspürten<br />

56


die Indianer nach dem herzhaften Frühstück noch keinen<br />

Hunger. Sie bereiteten die Gerbung des <strong>Bär</strong>enpelzes vor:<br />

Überall am Rand der Decke stach man mit dem<br />

Messer Löcher ins Leder. Durch diese wurden Sehnenfäden<br />

gesteckt, mit denen die beiden Indianer das Fell in ein<br />

Gerüst einspannten. Für diese Vorrichtung wurden einfach<br />

zwei starke, gerade Äste in einem Abstand, der der Breite<br />

des Pelzes entsprach, übereinander an zwei Bäume gebunden.<br />

Jetzt schabten die zwei Anishinabeg mit ihren Messern<br />

die Fleischreste von der Innenseite, also der Haut<br />

des Felles. Als diese Arbeit verrichtet und das Fell wieder<br />

von seinem Gestell entfernt worden war, sank die Sonne<br />

schon, was die Jäger allerdings nur am schwächer werdenden<br />

Licht erkannten, da der Horizont hinter dem Wald<br />

verborgen war.<br />

Am nächsten Tag wurde nach dem Frühstück der<br />

große Kessel ganz und gar gesäubert, sodass auch nicht<br />

der kleinste Krümel Fleisch noch an seinen Wänden haftete.<br />

Dann lief Rotes Messer zum Bach, um das Gefäß mit<br />

Wasser zu füllen und der Sohn des Bugonaigeeshing holte<br />

das Gehirn des von ihm erlegten Tieres hervor. Nun<br />

legte er neues Holz auf die Glut und blies kräftig, damit es<br />

möglichst hohe Flammen gebe. Inzwischen war Rotes<br />

Messer mit dem geholten Wasser wieder zurück und<br />

hängte den Kessel an das dafür vorgesehene Gerüst.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> tat das Gehirn hinein und man wartete,<br />

bis dieses sich in der kochenden Flüssigkeit aufgelöst hatte.<br />

Dann kam das Fell in den Topf, wobei man aufpassen<br />

musste, dass es sich nicht an dem hoch lodernden Feuer<br />

entzündete. So brodelte es in dem Gefäß den ganzen Tag<br />

lang. Die beiden Freunde legten oft Holz nach und achte-<br />

57


ten sorgsam darauf, dass die Flammen nicht erloschen.<br />

Ansonsten erholten sie sich von der anstrengenden Arbeit<br />

der letzten Tage. Heute Abend würde man den Pelz nur<br />

aus dem Kessel nehmen und zum Trocknen ausbreiten<br />

müssen.<br />

58


General Squire, Sohn einer alten englischen<br />

Adelsfamilie, von den Eingeborenen "Brüllende Stimme"<br />

genannt, saß in seinem Zelt, das in einem Lager am Ufer<br />

des Lake Superior gelegen war. Vor dem Eingang seiner<br />

ärmlichen Behausung hörte er die Schritte der Wachen,<br />

die auf und ab schritten. Er saß auf einem klobigen Schemel<br />

aus roh behauenem Ahornholz. Vor ihm stand noch<br />

eine Sitzgelegenheit, die von genau der gleichen Beschaffenheit<br />

war und auf seinen Knien hatte der hohe Offizier<br />

eine selbstgezeichnete Landkarte liegen. Dieses Papier<br />

zeigte die Teile der neuen Welt, die schon erkundet waren.<br />

Squire aber sah nur auf einen Teil des kostbaren Blattes,<br />

der den Küstenabschnitt darstellte, an dem er sich<br />

jetzt befand. Durch den Kopf des Generals gingen viele<br />

Gedanken, die ihn schon seit Monaten beschäftigten und<br />

sich alle um eine Angelegenheit drehten: Wie kann man<br />

am besten in das Land eindringen, in dem die Chippewa<br />

lebten? Dieses rote Gesindel war doch gar der Ansicht,<br />

ganz Amerika gehöre ihm und wollte sich nicht der europäischen<br />

Zivilisation anpassen. Deshalb war für diese<br />

Menschen - falls man sie überhaupt als solche bezeichnen<br />

konnte – kein Platz über der Erde, unter dem Boden war<br />

genug Raum, hier nicht. Squire vertrat felsenfest die Ansicht,<br />

alles, was rote Haut trägt, müsse ausgerottet werden,<br />

wie es zu diese Zeit in Amerika unter den Weißen üblich<br />

war. Wenn der General es schaffte, das Gebiet der<br />

nordwestlichen Küste vom Lake Superior zu erobern, hatte<br />

die britische Regierung ihm mehrere tausend Pfund Belohnung<br />

versprochen. Für den Fall, dass ihm das gelang,<br />

59


würde er für den Rest seines Lebens nicht mehr zu arbeiten<br />

brauchen.<br />

So saß er nun da in seinem Zelt, wie immer die<br />

sauber gebrannte Perücke auf dem Kopf, darüber einen<br />

Dreispitz. Auf der Brust seiner maßgeschneiderten roten<br />

Uniform prangten unzählige Orden und Würdensymbole.<br />

Am Gürtel hingen eine Messerscheide und die lederne<br />

Hülle eines älteren Colts. Diese Waffe war selbstverständlich<br />

längst durch den neuesten und besten Revolver ausgewechselt.<br />

Der General war es gewohnt, stets gute und<br />

neue Waffen bei sich zu tragen.<br />

Jetzt stand der Mann mittleren Alters auf, schritt in<br />

angemessener Haltung auf die Türöffnung seines Zeltes<br />

zu und befahl mit schroffem Ton in der Stimme dem einen<br />

der beiden Wächter: "Robertson, holt die oberen Offiziere!"<br />

Der Soldat nahm seine Rechte an die Hutkrempe und<br />

nickte steif, dann ging er eilig fort. General Squire begab<br />

sich indes wieder in sein Zelt, nahm auf seinem Schemel<br />

Platz und wartete.<br />

Nach nicht allzu langer Zeit erschienen fünf Männer,<br />

alle ungefähr im Alter des Generals oder jünger und<br />

stellten sich um den Tisch herum. Alle schauten sie ihren<br />

Befehlshaber erwartungsvoll an.<br />

Dieser begann die Unterredung, die beiden Wachen<br />

vor der Tür hatte man weggeschickt, damit sie nicht<br />

lauschen konnten.<br />

"Es geht um die Eroberung des Landes nordwestlich<br />

des Lake Superior", ergriff Squire das Wort, "Ich habe<br />

Sie alle hier zusammengerufen, um mir bei einer wichtigen<br />

Entscheidung behilflich zu sein. Ich möchte mir Ihren Rat<br />

heranziehen, bevor ich einen Plan fasse.<br />

Zwei Möglichkeiten der Eroberung dieses Landesteiles<br />

könnten wir durchführen: Entweder machen wir<br />

60


unsere Boote fertig und fahren auf dem Wasserweg in<br />

Richtung Westen, oder wir begeben uns auf den langen<br />

Fußmarsch durch die Wälder. Bedenkt, dass beide Wege<br />

gefahrvoll und unsere Truppen nicht allzu zahlreich sind."<br />

Als erstes meldete sich Major Harlan zu Wort: "Sir,<br />

ich stimme für den Wasserweg. Zwar kennen wird die<br />

Gewässer hier nicht und laufen deshalb immer Gefahr, ein<br />

Leck in unsere Boote zu schlagen, aber es ist uns möglich,<br />

mehr Waffen und Munition mit zu führen, als zu Fuß.<br />

Wir besitzen hier keine Ochsen, können also keinerlei<br />

schwere Geschütze ziehen und wir müssen immer fürchten,<br />

es plötzlich zwischen den Bäumen heulen zu hören<br />

und viele Heiden zu sehen, die uns morden wollen. Auf<br />

dem See hingegen sind wir in der Lage, um uns herum die<br />

ganze Wasserfläche einzusehen und im Fernkampf sind<br />

wir diesen Rothäuten doch weit überlegen."<br />

So ähnlich fielen auch die Äußerungen der anderen<br />

Männer aus und Squire entschloss sich, noch in dieser<br />

Woche abzureisen. Er befahl: "Sie gehen jetzt und sagen<br />

Ihrer Abteilung, dass wir übermorgen in die Boote steigen.<br />

Die Soldaten sollen ihre Waffen packen und Proviant zusammensuchen.<br />

Dann kehren Sie hierher zurück und wir nehmen<br />

gemeinsam das Abendmahl zu uns."<br />

Jeder der Offiziere nahm ehrfürchtig seine Hand an<br />

den Hut und verließ mit gemäßigtem Schritt die Behausung.<br />

Der General aber ließ einige Flaschen Brandy bringen<br />

und befahl, noch einige Schemel zu holen.<br />

Am Morgen des zweiten Tages nach dieser Unterredung<br />

herrschte im Lager große Aufregung, alles lief,<br />

rannte, hastete und fluchte durcheinander. Hier und da<br />

61


stand noch das Gerüst eines Zeltes, die übrigen waren alle<br />

abgebaut.<br />

Die großen schwerfälligen Ruderboote aus Holzplanken<br />

lagen noch am Ufer vertäut. Doch schon lud man<br />

die Sachen von je zwei, oder drei Leuten in ein Boot und<br />

stieg ein. Das Abfahrtskommando ertönte, die Knoten<br />

wurden gelöst und alle "Nussschalen" stießen vom Strand<br />

ab.<br />

Als der Schwarm einige Schritt vom Ufer entfernt<br />

war, formierte er sich. General Squire in seinem Boot fuhr<br />

in der Mitte der Gruppe, nach allen Seiten gut gedeckt.<br />

Diejenigen, die vorne oder hinten fuhren, wurden alle halbe<br />

Stunde ausgewechselt, da hier die gefährlichsten Orte<br />

waren. Squire hatte heute außer dem Messer und dem<br />

Revolver noch einen langen Offiziersdegen und einen Kugelbeutel<br />

am Gürtel hängen. Um die Schulter trug er ein<br />

Pulverhorn und neben ihm auf der Bank lag seine Flinte,<br />

ein teures Stück, das er in Detroit erworben hatte. Von<br />

Zeit zu Zeit gab er seinem Ruderer einen Befehl, welcher<br />

besagte, dass der Untergebene weiter links, schneller oder<br />

langsamer fahren sollte. Aber im Wesentlichen saß<br />

der General der vierten Infanterie der britischen Krone auf<br />

dem roh behauenen Holzbrett, das die Bank bildete und<br />

genoss die Reise.<br />

Schnell waren die plumpen Ruderboote im Vergleich<br />

zu indianischen Rindenkanus nicht, sie legten<br />

höchstens zehn Meilen am Tag zurück. So benötigte die<br />

kleine Flotte drei Tage, um aus der bekannten Umgebung<br />

heraus zu gelangen. Abends wurde am Ufer Halt gemacht<br />

und man trank billigen Schnaps, sang und grölte, dass alle<br />

Hirsche im Umkreis von drei Meilen flüchteten. Keiner der<br />

Soldaten kam auf den Gedanken, der Lärm könnte etwa<br />

Indianer anziehen. Sie alle kannten nur die versoffenen<br />

62


und herumlungernden Indianer aus Detroit, Chicago und<br />

New York, die jede Begegnung mit einem Weißen scheuten<br />

und die Straßen blockierten. Man fühlte sich sicher vor<br />

dem rothäutigen Gesindel.<br />

Niemand bemerkte das leise Knistern im Gebüsch<br />

und alle schliefen selig – noch.<br />

63


<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> kam atemlos in das Lager gestürzt.<br />

Der Köcher hing schief auf seinem Rücken, er hatte sich<br />

keine Mühe gegeben, lautlos zu gehen. Sein Freund, der<br />

während des Streifzuges seines Kameraden zurückgeblieben<br />

war, hatte ihn schon von weitem kommen gehört<br />

und war ihm entgegen gelaufen. Wenn <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> so<br />

schnell rannte, dann musste etwas Schlimmes passiert<br />

sein. Aber Rotes Messer fragte nicht, er wartete, bis der<br />

andere wieder einigermaßen zu Atem gekommen war und<br />

von selbst zu erzählen begann.<br />

"Ich war bis an das Ufer des großen Wassers gegangen,<br />

ich schlenderte am Wasser entlang und sah den<br />

Vögeln zu, wie sie auf der Fläche trieben. Plötzlich bemerkte<br />

ich, dass einer nach dem anderen seine Flügel<br />

hob und aufflog. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> dachte sich, es wäre eine große<br />

Gruppe Menschen unterwegs, da vor einem einzelnen<br />

Mann nicht so viele Tiere flüchten würden. Ich legte mich<br />

flach auf den Boden, sodass jeder, der vorüber kam mich<br />

für ein Stück Holz oder etwas ähnliches halten musste.<br />

Lange brauchte ich nicht zu warten bis ich Lärm vernahm.<br />

Ich konnte mir denken, dass nur Leute von einem Stamm,<br />

der hier wohnte, so viel Krach machen könnten, alle anderen<br />

würden sich verraten. Also wollte ich schon aufstehen<br />

und die Menschen begrüßen, als ich einige große, breite<br />

Kanus erblickte. In ihnen saßen viele Menschen mit weißer<br />

Haut einige von ihnen hatten Töpfe auf dem Kopf. Auf<br />

beiden Seiten der Kanus ragten lange Stangen aus dem<br />

Bootskörper, die Männer schienen sich mit ihnen fort zu<br />

bewegen.<br />

64


Als die Leute vorüber waren, begann ich, hierher zu<br />

laufen. Lange bin ich gerannt, oft gestolpert und hingefallen.<br />

Aber nun bin ich hier, wir müssen noch vor dem Abend<br />

unser Lager abgebrochen haben und auf dem<br />

Heimweg sein."<br />

So geschah es dann auch. Alles, was die beiden<br />

Jäger mitgehabt hatten, wurde in den Kanus verstaut und<br />

noch bevor es dämmerte waren <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und sein<br />

Freund auf dem Weg in ihre Siedlung. Heute waren die<br />

beiden Kanuten schneller, als auf dem Hinweg, da sie<br />

damals gegen den Strom hatten paddeln müssen und es<br />

nicht eilig gehabt hatten. Auch schwangen sie die gesamte<br />

Nacht hindurch die Paddel und so kam es, dass sie mit<br />

Anbruch des neuen Tages zu Hause waren. Heute hatte<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> keinen Sinn für die Schönheit der Natur, er hatte<br />

so schnell wie irgend möglich seinen Vater zu sprechen.<br />

Der Sohn des Bugonaigeeshing hastete ganz entgegen<br />

seiner sonstigen Art die Uferböschung hinauf zum<br />

Wigwam der Häuptlingsfamilie. Dort schlief noch alles,<br />

aber <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> ging zu der Lagerstatt seines Vaters und<br />

weckte ihn, obwohl ihm das der Respekt vor dem Alter<br />

sonst eigentlich nicht erlaubte.<br />

Der Häuptling begriff sofort, dass es sich aufgrund<br />

dieser Tatsache um etwas Wichtiges handeln musste und<br />

schaute ihn fragend an.<br />

Sein Sohn erzählte die Erlebnisse, der Bruder und<br />

die Mutter, die beide durch das Gemurmel geweckt worden<br />

waren, hörten auch zu. Als <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> mit dem Bericht<br />

geendet hatte, zeichnete sich auf dem Gesicht des Vaters<br />

keine Gemütsbewegung ab, trotz der großen Bestürzung,<br />

die dahinter walten musste. Er überlegte lange Zeit, die<br />

Mutter reichte inzwischen ihrem Sohn einen kalten Rest<br />

Fleisch vom letzten Abendessen und der begann hungrig<br />

65


zu essen. Schließlich sprach Bugonaigeeshing: "Ich werde<br />

den Rat der Alten einberufen und mit ihm bereden, was zu<br />

tun ist." Mit diesen Worten verschwand er aus dem Wigwam<br />

und lief zu den Behausungen der Ratsmitglieder.<br />

Gegen Mittag erst endete die Versammlung der Ältesten,<br />

Bugonaigeeshing kam nach Hause und berichtete<br />

seinem ältesten Sohn: "Wir haben beschlossen, zuerst einen<br />

Spähtrupp voraus zu schicken, der die Blassgesichter<br />

unbemerkt beobachten soll. Die übrigen Krieger werden<br />

dann nachkommen. Für den Spähtrupp sind einige junge<br />

Männer auserwählt, unter anderem du und Rotes Messer.<br />

Ihr werdet unter meiner Leitung die Nachtlager der Feinde<br />

umschleichen und diese belauschen. Schon morgen werden<br />

wir aufbrechen."<br />

Am Nachmittag dieses Tages schien die Sonne<br />

schön und voll vom Himmel herab, doch hatte sie schon<br />

nicht mehr die Kraft, die Mutter Erde zu erwärmen. Das<br />

tiefe Blau des Himmels war mit der Zeit einer kälteren Tönung<br />

gewichen, die Männer, Frauen und Kinder, welche<br />

sich in der Mitte des Dorfes versammelt hatten, trugen<br />

warme Kleidungsstücke aus Pelz. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> stand mitten<br />

in der Menschenmenge, er hatte sich in seinen <strong>Bär</strong>enpelz<br />

gewickelt. Neben dem Sohn des Häuptlings standen<br />

Schleichender Luchs, Rotes Messer und Stehender<br />

Hecht. Alle hielten ihre Blicke nach vorne gewandt, auf die<br />

Stelle, an der Bugonaigeeshing jetzt auf eine Wurzel stieg,<br />

um ein wenig höher zu sein, als seine Stammesgenossen.<br />

Jetzt hob er die linke Hand und ringsherum wurde es still,<br />

jegliche Stimmen, alles Flüstern verstummten und der<br />

Häuptling der Anishinabeg ließ seine Augen eine Weile<br />

über die seinen schweifen.<br />

66


Dann tat er den Mund auf und seine mächtige<br />

Stimme erscholl, dass man sie auf dem ganzen Dorfplatz<br />

hören konnte, der mindestens hundert Schritt im Durchmesser<br />

maß: "Männer und Frauen, Mädchen und Jungen,<br />

die ihr alle zu dem Stamme gehört, über den ich die<br />

Häuptlingsmacht habe! Hört, ihr Menschen vom Volke der<br />

Anishinabeg, seht mich an und lauscht meinen Worten! Es<br />

geht um eine Sache, die für uns alle und für unsere Brüder<br />

aus anderen Stämmen in höchstem Maße wichtig ist. Ich<br />

will euch erzählen von einer Plage, die über uns kommen<br />

wird, uns quälen und vernichten wird, wenn ihr nicht stark<br />

seit. An den Kriegern unseres Stammes liegt es, ihr Land<br />

zu verteidigen.<br />

Wir alle hörten von dem Händler der Irokesen, der<br />

im Frühherbst hier in Weiße Erde war, dass weiße Männer<br />

kämen und das Land der Stämme weiter im Osten stehlen<br />

würden. Damals prophezeite derselbe Mann uns, die<br />

Blassgesichter kämen sicherlich eines Tages auch zu uns.<br />

Wir glaubten ihm nicht, einige von uns nannten ihn einen<br />

Lügner und einen Dummkopf, wir hielten es für unmöglich,<br />

dass es Männer mit weißer Haut gebe. Aber nun hat einer<br />

aus unserem Kreis solche Menschen gesehen."<br />

In der Menge von braunhäutigen Leuten wurde ein<br />

Gemurmel laut. Wer hatte diese gefährlichen und seltsamen<br />

Geschöpfe mit eigene Augen erblickt, wer?<br />

Bugonaigeeshing hob wieder die Linke, es wurde<br />

wieder still auf dem Dorfplatz. Man wollte ja hören wie es<br />

weiterging.<br />

"Ihr alle kennt meinen Sohn, den Roten <strong>Bär</strong>en. Er<br />

sah die Landräuber, er erzählte es mir heute früh. Ich frage<br />

euch, hat mein Sohn schon jemals gelogen?" Viele<br />

Leute schüttelten ihren Kopf, einige taten gar nichts. Sie<br />

warteten einfach ab, was ihr Häuptling nun tun würde.<br />

67


"Da es sich aber jetzt um das Wohl vieler Männer,<br />

Frauen und Kinder geht, soll <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> schwören. Wenn<br />

er jetzt die Unwahrheit sagt, wird ihm schlimmes Unheil<br />

widerfahren in seinem Leben. Die heilige Pfeife wird ihm in<br />

diesem Falle viel Leid zufügen." Bugonaigeeshing gab<br />

seinem ältesten Sohn <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> einen Wink zu ihm zu<br />

kommen. Dieser bahnte sich einen Weg durch seine<br />

Stammesgenossen, die ihm achtvoll Platz machten. Er trat<br />

neben seinem Vater auf die Wurzel und nahm die kunstvoll<br />

mit Adlerfedern verzierte Pfeife von ihm entgegen. Er<br />

hielt sie in der Rechten, hob den Arm und ließ das Mundstück<br />

des Pfeifenstieles in Richtung Osten auf den Himmel<br />

zeigen. Im Osten ging die Sonne auf und von hier kam die<br />

Energie sämtlichen Lebens auf der Erde. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> rief in<br />

diese Richtung: "Ich schwöre bei der heiligen Pfeife und<br />

unter dem Himmel Manitus und vor dem Vater Sonne, ich<br />

schwöre bei den heiligen vier Winden und allen Geistern,<br />

dass ich Blassgesichter sah, die von Osten in unsere<br />

Richtung kamen. Sie saßen in großen breiten Kanus mit<br />

zwei langen Paddeln und fuhren nicht sehr schnell. In<br />

zweien dieser Kanus lagen schwarze kurze Baumstämme,<br />

die vorne eine Öffnung hatten."<br />

Viel Gerede und Geschwätz machte sich unter den<br />

Menschen des Dorfes breit und Bugonaigeeshing hatte<br />

seine liebe Mühe, die Menschen von Weiße Erde wieder<br />

zum Schweigen zu bringen. "Jetzt habt ihr alle gehört, was<br />

mein Sohn gesagt hat. Heute, am Vormittag beschloss der<br />

Rat der Alten, morgen eine Schar Späher in die Richtung<br />

der Feinde zu schicken. Diejenigen Männer, die für diesen<br />

Trupp bestimmt sind, wissen bereits Bescheid. In vier Tagen<br />

wird die gesamte Streitmacht unseres Stammes, einschließlich<br />

der anderen Dörfer bis auf einige Männer, die<br />

68


zum Schutz der Siedlungen zu Hause bleiben würden,<br />

hinterherziehen.<br />

Eine große Unruhe verbreitete sich unter den Menschen<br />

des Dorfes und Bugonaigeeshing hatte seine Mühe,<br />

die Bevölkerung von Weiße Erde wieder zum Schweigen<br />

zu bringen. Er kannte aber seine Leute und wusste, dass<br />

sie nicht mehr lange zuhören würden.<br />

"Ihr alle saht und hörtet soeben, was mein Sohn<br />

geschworen hat.<br />

Lasst uns kämpfen und die Feinde einzeln niederschießen,<br />

wie wir es mit unserer Jagdbeute tun. Aber keiner<br />

von uns wird einen weißen Mann vorher um die Erlaubnis<br />

bitten, oder sich gar bei ihm entschuldigen. Die<br />

Blassgesichter werden uns um Gnade anflehen, aber keiner<br />

der Landdiebe wird verschont werden. Wir werden unter<br />

dem Schutze Manitus stehen. Er wird uns helfen, die<br />

Gegner zu besiegen.<br />

Und nun geht, ihr jungen Krieger, die ihr als Späher<br />

bestimmt seid. Geht und sucht eure Sachen zusammen,<br />

wir werden morgen noch vor dem Morgengrauen aufbrechen.<br />

Schärft eure Waffen, repariert eure Pfeile und<br />

schlaft früh, damit ihr morgen nicht müde seid."<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sprang von der Wurzel herunter, sein Vater<br />

tat das selbe. Sie gingen zwischen den vielen Dorfbewohnern<br />

in ihren Wigwam. Dort wurde von der Mutter viel<br />

Pemmikan zusammengepackt, für Vater und Sohn je zwei<br />

große Büffelblasen voll. Die beiden Männer schärften ihr<br />

Messer, fertigten vielleicht noch einen angefangenen Pfeil,<br />

kontrollierten den Sehnenbelag auf ihren Bögen. Sie legten<br />

ihren Kriegsschmuck zurecht. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> freilich besaß<br />

noch nicht so viele Auszeichnungen, wie sein Vater, aber<br />

doch immerhin eine Adlerfeder, die er für das Erschießen<br />

69


eines Mannes aus dem Stamme der Bwaanag 1 erhalten<br />

hatte.<br />

Am nächsten Tag, man konnte noch nicht einmal<br />

ahnen, wo die Sonne aufgehen würde, erwachten <strong>Roter</strong><br />

<strong>Bär</strong> und sein Vater fast gleichzeitig. Sie kleideten sich an,<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> steckte sich seine Feder in den Schopf und Bugonaigeeshing<br />

hatte sechs Federn mit vielerlei Symbolen<br />

und Einschnitten, die auch eine große Auszeichnung waren,<br />

im Haar.<br />

Jeder steckte noch ein zweites Paar Mokkassins in<br />

seine Ledertasche, in der sich auch der Pemmikan befand,<br />

dann liefen sie zum Ufer des großen Wassers. <strong>Roter</strong><br />

<strong>Bär</strong> setzte sich auf den Bug eines Kanus, der Häuptling<br />

aber blieb stehen. Man wartete, bis alle Krieger eingetroffen<br />

waren, dann hob Bugonaigeeshing die rechte Hand<br />

zum stillen Gruß. Schweigend und ohne ein Geräusch zu<br />

verursachen folgten ihm etwa zwanzig junge Krieger, alle<br />

mit dem Köcher über dem Rücken, den Bogen und einen<br />

Pfeil in der Hand und das Messer am Gürtel. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong><br />

bildete mit seinem Freund den Schluss der Schlange aus<br />

beweglichen, muskulösen und sehnigen Körpern. Der Zug<br />

bewegte sich am Seeufer entlang, wobei man immer darauf<br />

achtgab, vom Wasser aus nicht gesehen werden zu<br />

können. Zwischen den Stämmen hindurch aber sahen die<br />

Indianer alles, was sich da draußen bewegte. Aber auch,<br />

wenn sich ein großer Teil der Aufmerksamkeit auf die<br />

schwarze Fläche richtete, so trat doch niemand auf einen<br />

dürren Ast oder Zweig, der ein Geräusch hätte verursachen<br />

können. Sie liefen, bis die ersten Sonnenstrahlen<br />

den Wald beleuchteten und sie nicht mehr in Sichtschutz<br />

vom Wasser aus waren. Jetzt ordnete Bugonaigeeshing<br />

1 Bwaanag: Dakota<br />

70


an, weiter in das Waldesinnere vorzudringen und dort eine<br />

Rast einzulegen. Über Nacht war man schnell gegangen<br />

und so verzehrten nun alle Menschen hungrig ihre Hand<br />

voll Pemmikan, schnürten die Büffelblase wieder zu und<br />

verstauten sie in ihren Ledertaschen.<br />

Dann ging es weiter, wieder ging der Häuptling voran<br />

und wieder achtete man sorgfältig darauf, keinen Lärm<br />

zu verursachen, obwohl der See weit entfernt war.<br />

Gegen Nachmittag musste man damit rechnen,<br />

kurz vor den Feinden zu sein und der kleine Spähtrupp<br />

begab sich kriechend zum Ufer.<br />

Dort suchte sich jeder der jungen und noch mehr<br />

oder weniger unerfahrenen Krieger einen Platz, an dem er<br />

gut liegen und den man vom Wasser aus nicht einsehen<br />

konnte. Hinter Baumstämmen, hinter Büschen und hinter<br />

noch so kleinen Bodenwellen wimmelte es nur so von rothäutigen<br />

kampflustigen Männern.<br />

Bugonaigeeshing selbst hatte sich hinter einen dicken<br />

Baum gestellt, eng an die Borke geschmiegt konnte<br />

er vorsichtig am Stamm vorbeisehen und gut schießen.<br />

Außerdem hatte er von diesem Standplatz aus die Wasserfläche<br />

und seine Krieger gut im Auge. Seinen Köcher<br />

trug der oberste Häuptling der Anishinabeg schon längst<br />

nicht mehr über der Schulter, er lehnte am Baumstamm,<br />

der Bugonaigeeshing als Versteck diente. Den Bogen und<br />

einen Pfeil mit scharfer Spitze hatte der Vater des Roten<br />

<strong>Bär</strong>en in der Hand, immer bereit zum Schuss.<br />

Lange warteten die Männer so, in gedeckter Position.<br />

Die Sonne stand schon tief über dem Horizont und<br />

nahm schon eine rötliche Färbung an, um hinter dem endlosen<br />

Wasserspiegel zu verschwinden.<br />

Endlich, es war nur noch die obere Hälfte des glühenden<br />

Feuerballes zu sehen, vernahmen die Indianer<br />

71


lautes Gelächter und das Geräusch von aufspritzendem<br />

Wasser. Alle pressten sich mit angehaltenem Atem an ihre<br />

Mutter, die Erde. Jeder Kopf verschwand, nur hinter Zweigen,<br />

die Sichtschutz boten, lugten noch einige Paare<br />

schwarzer Augen hervor.<br />

Und nun sahen sie ihre Feinde. Da hinten bogen<br />

sie gerade um eine Biegung, die das Ufer machte.<br />

Keiner dieser blasshäutigen, schmutzigen und<br />

großmäuligen Männer hatte auch nur die leiseste Ahnung<br />

davon, dass er stets von 40 wachsamen Augen verfolgt<br />

wurde. Man redete mit dem, der mit im Boot saß, nahm ab<br />

und zu einen Schluck aus der bereitstehenden Whiskyflasche<br />

und ruderte nach Leibeskräften, um den Wünschen<br />

des großen Herrn General gerecht zu werden. Von Zeit zu<br />

Zeit sah man sich nach diesem um und wurde doch etwas<br />

neidisch, wenn man sah, wie er dort auf seiner Bank saß<br />

und sich rudern ließ. Aber solche Gedanken vertrieben die<br />

Soldaten schnell wieder aus ihrem Gehirn, er hatte es ja<br />

verdient. So ging es manchem der Männer, obwohl keiner<br />

wusste, womit es sich der Befehlshaber verdient hatte.<br />

Gut verdeckt hinter Zweigen und Erderhebungen<br />

lagen vollkommen regungslos die indianischen Krieger.<br />

Nur der Wind raschelte in den Blättern, sonst war alles<br />

still. Die Gestalten in Pelzkleidung warteten, bis die feindliche<br />

Abteilung vorüber war, dann erhoben sie sich. Bugonaigeeshing<br />

hieß seinen Leuten, ihm in den tieferen Wald<br />

zu folgen. Falls die Blassgesichter so vorsichtig gewesen<br />

waren, eine Nachhut zu verwenden, wollte er nicht gesehen<br />

werden. Auf einer kleinen Lichtung zwischen kleinen<br />

Bäumen versammelte er die Krieger und teilte ihnen den<br />

weiteren Ablauf des Geschehens mit. Sie würden jetzt den<br />

Feinden folgen und sie überwachen, bis in einigen Tagen<br />

72


die gesamte Macht aller Anishinabeg- Dörfer in den Wäldern<br />

Südkanadas eintreffen würde.<br />

"Dann vereinen wir uns mit ihnen und überfallen<br />

nachts gemeinsam das Lager der weißen Landdiebe. Wir<br />

werden sie niederschießen, wie unsere Kinder im Herbst<br />

Eichhörnchen fangen. Aber ihr, meine Krieger dürft euch<br />

nicht vor den Donnerbüchsen der Blassgesichter fürchten.<br />

Diese Stöcke blitzen, knallen und qualmen furchterregend,<br />

doch sagen die Händler aus dem Osten, dass man nach<br />

einem Knall lange warten muss, bis sie wieder schießen."<br />

Jetzt hatten alle die weißhäutigen Männer gesehen,<br />

auch der letzte Gedanke an eine Lüge war verflogen und<br />

in den jungen Menschen stieg die Kampfeslust in allen<br />

Adern empor. Manch eine Faust ballte sich fester um den<br />

Griff des Bogens, hier und da nahm einer seine Kriegskeule<br />

aus dem Gürtel. Überall verbreitete sich Unruhe,<br />

doch noch musste man sich gedulden, bis die Stammesgenossen<br />

unter der Führung eines Unterhäuptlings aus<br />

dem Nachbardorf, dem Fliegenden Habicht, eintrafen.<br />

Am Morgen des nächsten Tages erwachten zehn<br />

der Späher von den goldenen Strahlen der Sonne, die<br />

sacht über ihr Gesicht strichen. Sie hatten ihr Lager nahe<br />

dem der Feinde aufgeschlagen, jedoch tiefer im Wald.<br />

Man nahm seine Ration Pemmikan zu sich, packte das<br />

Fell, auf dem man geschlafen hatte zusammen und begab<br />

sich dann mit Bugonaigeeshing auf den Weg zum feindlichen<br />

Lagerort. Im dichten Unterholz konnten die Blassgesichter<br />

nicht weit sehen. Doch trotzdem ließen sich die indianischen<br />

Krieger etwa 200 Schritt entfernt auf alle Viere<br />

nieder und krochen so bis auf 100 Schritt an die kleine<br />

Lichtung heran, auf der einige Zelte aus weißem Segel-<br />

73


tuch standen, die aber aufgrund von Schmutz schon eine<br />

gräuliche Tönung angenommen hatten.<br />

Der Häuptling ließ das Fauchen eines Fuchses hören<br />

(die Tiere beendeten um diese Tageszeit gerade ihre<br />

nächtliche Jagd) und nach einiger Zeit kamen auf das verabredete<br />

Signal diejenigen Leute, die die nächtliche Wache<br />

übernommen hatten, zu dem Rest ihrer Gruppe. Gemeinsam<br />

wurde gewartet, bis die Weißen ihr Lager abbrachen,<br />

Richtung Ufer marschierten, in ihre Boote stiegen<br />

und weiterfuhren. Dann folgten ihnen zwanzig dunkelhäutige<br />

Gestalten, verdeckt hinter Buschwerk und Bäumen.<br />

So verliefen die folgenden Tage, bis der Morgen<br />

anbrach, an dem die anderen Krieger der Anishinabeg<br />

kommen sollten. In dieser Nacht hatte der Spähtrupp nicht<br />

in der Nähe des Feindes sein Lager aufgeschlagen, sondern<br />

an einer verabredeten Stelle des Flusses der springenden<br />

Lachse, an dem vor einigen Tagen <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und<br />

sein Freund ihr Lager gehabt hatten. Der Sohn des Bugonaigeeshing<br />

musste an den <strong>Bär</strong>en denken, auf dessen<br />

Fell er in den letzten Nächten immer geschlafen hatte.<br />

Noch bevor die Sonne richtig aufgegangen war, trafen<br />

die befreundeten Männer ein, sie traten geräuschlos<br />

aus dem Wald. Man hatte sie nicht kommen gehört, man<br />

hatte sie zwischen den hohen Stämmen auch nicht gesehen.<br />

Die Männer des Spähtrupps erhoben sich von ihren<br />

Fellen, auf denen sie gesessen und gegessen hatten und<br />

begrüßten Freunde und Verwandten. Überall umarmte<br />

man sich, wechselte nette Worte.<br />

Dann begann es. Die für hiesige Begriffe riesenhafte<br />

Schar von fast 500 Kriegern machte sich auf den Weg<br />

zum feindlichen Lager, das an der Mündung des Baches<br />

74


gelegen war. Am letzten Abend waren von den Spähern<br />

drei Leute an diesem Ort zurückgelassen worden, die die<br />

Lagerstätte beobachten sollten. Jetzt kamen sie ihrem<br />

"Heer" entgegen, mit der Meldung, die Blassgesichter<br />

würden das Lager abbrechen. Also hieß es, sich zu beeilen,<br />

damit man die Feinde nicht aus den Augen verlor. Im<br />

Trab ging es vorwärts durch dichtes Unterholz, über umgestürzte<br />

Bäume und zwischen Ranken von Efeu und wildem<br />

Wein.<br />

Endlich war die Stelle, an der die Boote der weißen<br />

Soldaten zu Wasser gelassen worden waren, erreicht.<br />

Schon zu Sonnenaufgang mussten sie von hier weggefahren<br />

sein. Deshalb lief man weiter im Eilschritt, während es<br />

immer heller wurde. Um diese Jahreszeit war der Himmel<br />

schon kaltblau. Über Nacht hatte es starken Frost gegeben<br />

und es war nicht einfach, sich leise auf den gefrorenen<br />

Blättern fortzubewegen.<br />

Als die Indianer ihre Feinde eingeholt hatten, stand<br />

stand die Sonne schon an ihrem höchsten Punkt. Trotzdem<br />

war sie nicht mehr stark genug, um die Erde zu erwärmen.<br />

Die englischen Soldaten in ihren dünnen Stoffuniformen<br />

mussten schnell rudern, um nicht zu frieren und<br />

abends fühlten sie sich trotz der wärmenden Feuer wie<br />

Eiszapfen. Das hatte für sie aber immerhin den Vorteil,<br />

dass sie besser voran kamen, als in den letzten Tagen.<br />

Für die Indianer aber, die zu Fuß am Ufer folgten,<br />

immer darauf bedacht, Sichtschutz zu haben und trotzdem<br />

nicht den Sichtkontakt zu verlieren, war die Geschwindigkeit<br />

der Engländer ein entscheidender Nachteil. Obwohl<br />

sie in dem unwegsamen Gelände auch nicht so schnell<br />

laufen konnten, wie ihre Feinde auf dem Wasser fahren<br />

und sich der Abstand zusehens vergrößerte, gelang es ih-<br />

75


nen, General Squire zu folgen, bis der Abend dämmerte.<br />

Nachdem sie die Stelle, an der das andere Heer Rast machen<br />

wollte, ausfindig gemacht hatten, schliefen auch sie<br />

noch einige Zeit auf ihren Fellen, bis ihr Häuptling sie mit<br />

dem dumpfen Buhen eines Uhus weckte.<br />

Jetzt würde es nicht mehr lange zum großen Kampf<br />

dauern. Alle hatten ihn heiß ersehnt und sich in ihrer Heimat<br />

im Kriegstanz darauf vorbereitet. Sie alle wollten die<br />

blasshäutigen Eindringlinge aus ihrem Land vertreiben.<br />

76


Der Mond ging gerade auf, als es in dem La-<br />

ger lebendig wurde. Jederman wickelte sich aus seinem<br />

Schlaffell aus, rollte es zusammen und legte es irgendwo<br />

versteckt unter einen Strauch. Mehr Gepäck, als nötig,<br />

konnte man bei dem kommenden Gefecht nicht gebrauchen.<br />

Nachdem die Krieger alle ihre Waffen durchgesehen,<br />

Kriegskeule, Beil, Messer, Bogen und Pfeile mitgenommen<br />

hatten, betete jeder noch einmal und keiner<br />

wusste, ob es vielleicht das letzte Mal in seinem Leben<br />

sein würde. Trotzdem ließ sich niemand ein Anzeichen<br />

von Trauer anmerken, schließlich waren alle freiwillig mitgekommen.<br />

Man scharte sich um den Häuptling. Dieser<br />

schied seine Leute in fünf Unterabteilungen, denen er je<br />

einen Befehlshaber zustellte. Dann nahmen die Krieger in<br />

ihren Gruppen die Position ein, die ihnen zugewiesen<br />

worden war:<br />

Ganz links, sehr nah schon am Seeufer wollte Bugonaigeeshing<br />

selbst mit seinem Sohn und dessen<br />

Freund vorrücken. Neben ihm, vielleicht hundert Schritt<br />

entfernt, war die Schar des Fliegenden Habichts, wieder<br />

einige Schritt weiter befand sich die Schlaue Schlange,<br />

dann kamen der Treffende Pfeil und der Stehende Fels.<br />

Die Anführer standen an der Spitze ihrer Männer. Erwartungsvolle<br />

Stille hatte sich verbreitet und die schweigende<br />

Spannung legte sich über alle Glieder.<br />

Endlich, endlich hob der Oberhäuptling links die<br />

rechte Hand und lief vorwärts. Überall huschten die geduckten<br />

langhaarigen Gestalten durch die Nacht. Hier<br />

zwischen die Bäume drang nur sehr wenig Licht, jeder<br />

Schritt, jeder Sprung, jede Bewegung musste mit Bedacht<br />

77


getan werden, denn man konnte den Boden selbst mit den<br />

schärfsten Augen nicht gut sehen. Sehr weit konnte es<br />

nicht sein bis zum Lagerplatz der Feinde, höchstens 1000<br />

Schritt.<br />

Jetzt tauchten vor ihnen die Zelte auf. Da diese auf<br />

einer Lichtung standen und der Mond schien, reflektierten<br />

die hellen Segeltuchwände das spärliche Licht. Nun war<br />

höchste Vorsicht geboten, teilweise bewegten sich die<br />

Krieger kriechend, manchmal gingen sie gebückt, die weichen<br />

Mokassinsohlen erzeugten kein Geräusch.<br />

Nach einer Zeit, die den Männern schon fast als eine<br />

Ewigkeit erschien, erreichten sie endlich das Gebüsch,<br />

welches die Lichtung säumte. Die Gruppe des stehenden<br />

Felsens ging jetzt auf den Lagerplatz. Die einfachen Soldaten<br />

schliefen in Wolldecken gerollt auf dem nackten<br />

Erdboden, die Offiziere in ihren Zelten. Die Krieger, die bis<br />

auf den feindlichen Lagerplatz vorgedrungen waren, hatten<br />

ihren Bogen und die Pfeile im Wald zurückgelassen.<br />

Sie hatten nur ihr Messer und die Kriegskeule dabei. Alles<br />

andere wäre beim Kriechen hinderlich gewesen, außerdem<br />

konnte jemand, der von einem Pfeil tödlich getroffen<br />

war, noch schreien und das musste hier unter allen Umständen<br />

vermieden werden.<br />

Die hundert Krieger also krochen zwischen den<br />

schlafenden Soldaten herum und wenn einer von ihnen<br />

sich leise an einen der Weißen heran gearbeitet hatte, hob<br />

er das Messer und zog die Schneide kurz über dessen<br />

Kehle. – Der würde nie mehr Land stehlen.<br />

Auf diese Art lagen schon fast zwei Dutzend toter<br />

Männer im Gras auf dem Waldboden, da krachte urplötzlich<br />

ein Schuss und ein roter Krieger hörte, wie die Kugel<br />

knapp über seinem Kopf hinweg pfiff. Die Indianer auf der<br />

Lichtung dachten an die Worte ihres Häuptlings, dass sie<br />

78


sich nicht fürchten sollten vor den Gewehren der Soldaten<br />

und pressten sich dicht an die Erde. Diejenigen Krieger<br />

aber, die im Wald geblieben waren, legten einen Pfeil auf<br />

die Bogensehne, hielten danach Ausschau, wo der Schütze<br />

war. Doch dieser lag gut gedeckt hinter einer Bodenerhebung.<br />

Er hatte in dieser Nacht unruhig geschlafen und<br />

war aufgewacht. Er hatte sich dehnen wollen und hob den<br />

Kopf über die kleine Bodenerhebung, hinter der er lag.<br />

Jetzt hatte er gesehen, was mit seinen Kameraden los<br />

war. Der griff nach dem Gewehr, das wie immer neben<br />

dem Lager gelegen hatte, war mehr instinktiv, als bewusst<br />

abgelaufen. Dort unter den Toten lag auch sein Freund,<br />

Harrison, und neben ihm kroch gerade ein rothäutiger<br />

Hund mit blutigem Messer davon. Schnell war das Gewehr<br />

an der Schulter, nur ruhig halten, nicht zittern! Dann<br />

drückte der weiße Soldat ab, der Hahn klackte, der<br />

Schuss krachte, die Schulter des Schützen wurde zurückgeworfen.<br />

Aber was war das? Der Rote sackte nicht zusammen,<br />

er kroch einfach weiter bis hinter den nächsten<br />

Grasbüschel und verschwand. Langsam wurde dem Rächer<br />

bewusst, dass er nicht getroffen hatte. In diesem<br />

Licht waren Kimme und Korn nicht gut genug zu erkennen<br />

gewesen und er hatte auch sehr kurz gezielt. Die Wut<br />

packte ihn, in Windeseile griff er zum Pulverhorn, stieß mit<br />

dem Ladestock ein wenig der schwarzen Körnchen in den<br />

Lauf hinunter und klopfte die Kugel auf ihm fest. Während<br />

diesem Vorgang war trotz aller Eile mindestens eine halbe<br />

Minute vergangen, kostbare Zeit. Der Krieger musste<br />

schon irgendwo im Wald liegen, sicher versteckt hinter einem<br />

Busch. Trotzdem beschloss der Soldat, nachzusehen,<br />

ob nicht ein anderer Krieger für die Schandtat seines<br />

Stammesgenossen sterben könnte. Er schob zuerst das<br />

Gewehr mit dem Lauf nach vorne über die Erdwelle, hinter<br />

79


der er Deckung genommen hatte. Dann lugte er vorsichtig<br />

zwischen zwei Grasbüscheln hervor. Zuerst nur so, dass<br />

er gerade über den Boden hinweg spähen konnte, als er<br />

keine Feinde erblicken konnte, schob er den Kopf immer<br />

weiter nach oben, bis schließlich der Hals über die Erde<br />

kam.<br />

Da sah der Soldat irgendwo zwischen zwei Bäumen<br />

eine kleine Bewegung und legte sein Gewehr an, obgleich<br />

es auf diese Entfernung zwecklos war, zu schießen. Während<br />

er sorgfältig zielte, achtete er nicht darauf, dass sein<br />

Körper sich immer weiter über den schützenden kleinen<br />

Hügel hinausschob. Gerade wollte er abdrücken, er hatte<br />

schon den Finger am Abzug, als vor ihm ein Blitz die Luft<br />

durchschnitt und er einen Stoß gegen die Brust erhielt.<br />

Aufstöhnend wälzte sich der Soldat auf den Rücken und<br />

sah einen Indianerpfeil in seinem Herzen stecken. Das<br />

Ende mit den Federn zitterte noch und er dachte: "Dieser<br />

verfluchte rote Hund!" Dann drehte sich alles um ihn und<br />

er hörte nur noch ein ungeheures Rauschen. Jetzt war da<br />

nichts mehr, seine Augen sahen schwarz und ringsum<br />

Stille. Ein Landdieb war tot und die Sehne am Bogen des<br />

Bugonaigeeshing zitterte, als beklage sie den Tod des<br />

Büffels, aus dessen Leib sie kam.<br />

Von dem Schuss waren die englischen Soldaten<br />

aufgewacht. Einige von ihnen mussten bestürzt feststellen,<br />

dass sie neben dem Leichnam ihres Kameraden lagen.<br />

Sie sahen die durchschnittene Kehle und wussten:<br />

Das waren Indianer gewesen.<br />

General Squire selbst stand von seinem Lager im<br />

geräumigen Zelt auf und ärgerte sich über den, der diesen<br />

Schuss abgesandt hatte. Ein solcher Knall musste sie ja<br />

allen Indianern im Umkreis von sechs Meilen verraten. Er<br />

hatte nicht mitbekommen, dass er bereits von Indianern<br />

80


umgeben war und trat aus dem Einngang seine Behausung,<br />

um den Schützen zu strafen.<br />

Doch kaum hatte er den Schritt aus seinem Zelt<br />

hinaus gemacht, blieb er wie angewurzelt stehen. Er sah<br />

Pfeile gleich blitzschnellen Vögeln durch die Luft fliegen,<br />

sah fast 50 seiner Leute tot am Boden liegen. General<br />

Squire war kein Mann mit trägem Reaktionsvermögen,<br />

doch jetzt dauerte es lange, bis er sich gefasst hatte. Er<br />

rechnete kühl: 2000 Soldaten unterstanden seinem Befehl,<br />

50 Leben weniger würden nicht eine Niederlage seiner<br />

Truppen bedeuten. Aber wenn seine Männer nicht in<br />

ein Gebiet gelangen konnten, in dem sie bessere Deckung<br />

hatten, so war den Indianern der Sieg gewiss. General<br />

Squire wandte sich um, um die Büchse und seinen Revolver<br />

zu holen. Nur für wenige Sekunden konnte er das<br />

Kampffeld nicht überblicken, bis das schützende Zelt erreicht<br />

war. Doch diese wenigen Sekunden waren wenige<br />

Sekunden zu viel. Gerade wollte der oberste Befehlshaber<br />

die Segeltuchtür aufschlagen, als er einen schweren Stoß<br />

von hinten bekam und mit dem Gesicht nach vorne auf die<br />

Erde fiel. Ein stechender Schmerz in seinem Rücken war<br />

das Letzte, das ihm noch in die Sinne drang. Der General<br />

lag tot auf dem Boden, das Ende des Pfeiles in seinem<br />

Rücken zitterte, die Sehne am Bogen des Roten <strong>Bär</strong>es<br />

summte. Da die Armee aber einen Führer brauchte, übernahm<br />

der nächste Offizier, Harlan, das Amt des Führers.<br />

Er befahl allen Soldaten, die irgendwie in den Wald gelangen<br />

konnten, zu flüchten.<br />

Sie liefen weit landeinwärts, sie rannten, stolperten,<br />

fielen, rappelten sich wieder auf, liefen weiter. Die Lungen<br />

drohten, zu versagen. Das schwere Gewehr hing auf dem<br />

Rücken, schlug von einer Seite zur anderen und das rot-<br />

81


häutige Pack musste den Soldaten auf den Fersen sein.<br />

Nur nicht aufgeben, weiter, weiter, weiter!<br />

Einem der letzten Nachzügler in der großen Schar<br />

von Soldaten versagten die Beine den Dienst. Er fiel auf<br />

den Boden, war jeden Augenblick darauf gefasst, von einer<br />

Kriegskeule den Hinterkopf zerschmettert zu bekommen<br />

und blickte sich verwundert um, als dies nicht geschah.<br />

Was war das? Es waren ja überhaupt keine Indianer<br />

da. Er rief nach den anderen, die blieben stehen und<br />

sahen auch das Unfassbare.<br />

Eben waren sie noch in toller Angst geflohen, wie<br />

ein Hase vor dem Fuchs. Jetzt wurden sie wieder mutiger<br />

und die Angst wich den großen Sprüchen. Sie wollten zurück<br />

zum Kampfplatz und ihren Kameraden helfen. Harlan<br />

stimmte schließlich zu, nachdem sich immer noch kein Indianer<br />

sehen gelassen hatte.<br />

Bugonaigeeshing hatte, als er den Plan Harlans erkannte,<br />

dem Treffenden Pfeil den Befehl über die drei<br />

rechten Gruppen übergeben und mit der seinen und der<br />

des Fliegenden Habichts die Verfolgung der Flüchtenden<br />

übernommen. Es waren ungefähr 500 Mann, eine große<br />

Übermacht. Trotzdem wusste der Oberhäuptling der Anishinabeg<br />

schon, wie die Feinde zu besiegen waren. Jeder<br />

Krieger konnte an den Spuren erkennen, dass die Gegner<br />

Hals über Kopf die Flucht ergriffen hatten. Sie hetzten hinter<br />

ihnen her, doch immer so, dass sie noch nicht in<br />

Sichtweite kamen.<br />

Schließlich teilte Bugonaigeeshing seinen Trupp<br />

und ließ die eine Hälfte unter dem Fliegenden Habicht zurück.<br />

Diese Leute versteckten sich, legten sich an einem<br />

flachen Hügel hinter Büsche, stellten sich hinter Bäume,<br />

oder vergruben sich im Laub. Der Häuptling selbst schlug<br />

82


mit seiner Schar einen Laufschritt ein, die Männer rannten<br />

schon fast, und lief im Bogen um den feindlichen Haufen<br />

der Soldaten herum. Dieser Bogen musste so groß sein,<br />

dass die Weißen nicht die roten Krieger sehen konnten.<br />

Als Bugonaigeeshing ziemlich sicher davon ausgehen<br />

konnte, die Feinde überholt zu haben, lenkte er wieder auf<br />

den Wildpfad zu, den diese zur Flucht benutzt hatten.<br />

Langsam, vorsichtig und immer auf Deckung bedacht näherte<br />

man sich ihm. Schließlich ging es auf beiden Seiten<br />

entlang des Weges in die Richtung, in der die Stammesgenossen<br />

sich befanden. Hinter jedem noch so kleinen<br />

Gesträuch machte man Halt, dann huschte der Krieger<br />

weiter.<br />

Jetzt konnten die Männer auf dem Weg die Spuren<br />

der Feinde sehen. Hier, an dieser Stelle hatten sie umgedreht.<br />

Bugonaigeeshings Rechnung war aufgegangen: Als<br />

die Weißen gemerkt hatten, dass sie nicht verfolgt wurden,<br />

kehrten sie um, um ihren Freunden zu Hilfe zu kommen.<br />

Dass sie dabei geradewegs in einen Hinterhalt hineinliefen,<br />

davon merkten sie freilich nichts.<br />

Nun aber musste man wieder voran, damit sie nicht<br />

doch noch entkamen, diese schmutzigen Landdiebe. Also<br />

wieder ins Gebüsch, leise, huschend zwischen Ästen und<br />

Zweigen hindurch.<br />

Es hatte angefangen, zu schneien. Es war der erste<br />

Schnee in diesem Jahr. Schon wirbelten die Flocken dicht,<br />

auch hier im Wald. Die Indianer sahen nur, dass dieser<br />

Umstand für sie ein Nachteil war, da die Spuren leichter<br />

zu erkennen waren. Sie konnten aber nicht wissen, einen<br />

wie großen Vorteil sie dafür erhalten hatten.<br />

Die Gewehre in der damaligen Zeit wurden noch<br />

nicht mit Patronen geladen, auch besaßen sie kein wasserdichtes<br />

Schloss. Die Büchsen damals hatten lediglich<br />

83


in der Pfanne eine Aussparung, in die das Pulver gelegt<br />

wurde, oder man konnte sie mit einem Ladestock durch<br />

den Lauf laden. Kam aber Wasser auf die Pfanne, so wurde<br />

das Pulver nass und konnte nicht mehr explodieren.<br />

Also konnte die Kugel auch nicht aus dem Lauf geschickt<br />

werden und damit waren die gefürchteten Donnerbüchsen<br />

ungefährlich.<br />

Die Soldaten aber dachten nicht daran, liefen immer<br />

weiter, so schnell sie konnten zum Kampfplatz. Man<br />

konnte in dem dichten Schneetreiben nicht sehr weit sehen.<br />

Die ganze Konzentration war auf den Boden gelenkt,<br />

damit man nicht fiel. Immer weiter liefen sie. Harlan war<br />

am hinteren Ende des Haufens Männer, er konnte nicht so<br />

schnell rennen in seiner schweren Uniform mit den goldenen<br />

Orden und Auszeichnungen.<br />

Plötzlich ertönte vor dem Trupp der Kriegsruf der<br />

Anishinabeg, dunkel und dröhnend wie der Ruf eines<br />

kampfbereiten Büffelstieres hallte er zwischen den Bäumen.<br />

Die Engländer waren nur den grellen, schneidenden<br />

Kriegsschrei der Stämme weiter im Osten gewohnt, bei<br />

dem es den meisten von ihnen schon kalt den Rücken<br />

herunter lief. Aber diesen Laut kannten sie nicht. Er war<br />

unheimlich, so tief und auch bedrohlich. Außerdem waren<br />

die Feinde nicht zu sehen, da sie hinter Büschen und<br />

Bäumen Deckung genommen hatten. Bei den englischen,<br />

disziplinierten und gut abgerichteten Soldaten entstand eine<br />

heftige Unruhe. Zuvor waren sie in Reihen nebeneinander<br />

marschiert, deshalb war jetzt nicht genug Deckung<br />

vorhanden. Man stritt sich um die wenigen Verstecke,<br />

manch einer wurde von dem eigenen Kameraden zu Boden<br />

geschlagen. In der panischen Todesangst flohen auch<br />

einige blindlings in den Wald, doch sie kamen nicht weit.<br />

84


Ein, zwei, drei Pfeile flogen ihnen nach und die Engländer<br />

hatten ein Leben weniger, das für sie kämpfen konnte.<br />

Schließlich übertönte Harlan, der noch immer weit<br />

hinten stand, die vielen Fluche und das Brüllen: "Aufstellen,<br />

vorwärts!" Die Soldaten gehorchten, stellten sich wieder<br />

in Reihen auf, die Gewehrläufe nach vorne gerichtet,<br />

auf den unsichtbaren Feind. Wieder hörte man die Stimme<br />

Harlans: "Feuer!" Sämtliche Männer zogen die Finger, der<br />

Abzug bewegte sich, der Hahn klackte, aber es löste sich<br />

kein Schuss. Verwunderung machte sich breit, man fingerte<br />

nervös am Schloss herum, war für einige Zeit wehrlos.<br />

Die Indianer konnten mit ihren Bögen schießen, schießen<br />

und schießen. Pfeile hatten sie genug und die Soldaten,<br />

die sich nicht widersetzen konnten, waren gute Zielscheiben.<br />

Fast hundert Mann verloren die Weißen in diesen<br />

wenigen Minuten unter dem Pfeilehagel der Indianer. In<br />

einer Minute konnte ein roter Krieger sechs gut gezielte<br />

Schüsse abgeben, fast jeder Pfeil traf tödlich.<br />

Doch auch dieser Zustand dauerte nur kurze Zeit<br />

an. Ein neuer Befehl tönte von hinten: "Setzt die Stilletts<br />

auf!" Diese dolchartigen Messer, die vorne auf den Gewehrlauf<br />

gesteckt wurden, waren die von Indianern am<br />

meisten gefürchtetste Waffe. Für die Anishinabeg jedoch<br />

war dieses das erste Gefecht mit weißen Soldaten, sie<br />

wussten nicht, welch schreckliche Dinge diese Messer<br />

ausrichten konnten.<br />

Jetzt aber kam eine Wand aus Männern in roter Uniform<br />

auf sie zu, die stählernen Spitzen sahen aus ihr<br />

heraus, wie die Dornen aus einer Schlehenhecke. Die<br />

Krieger wichen langsam zurück. Sie hatte der Mut verlassen,<br />

von Busch zu Busch, von Erdhügel zu Erdhügel ging<br />

es nach hinten, langsam aber stetig. Die Soldaten rückten<br />

vor, trieben ihre Feinde zum Kampfplatz und fühlten sich<br />

85


ganz und gar als die Herren der Situation. "Diese Waffe<br />

hat doch noch nie gegen die roten Hunde versagt." So<br />

dachten die meisten von ihnen, niemand ahnte, wie nahe<br />

sie schon dem Punkt waren, an dem die Falle zuschnappen<br />

würde. Nein, ein englisches Heer mit Disziplin war<br />

eben doch mehr wert, als ein paar indianische, schmutzige<br />

und noch dazu heidnische Krieger. Straff und aufrecht<br />

marschierte man weiter, die Toten ließ man einfach liegen.<br />

Da! Ein Schrei von hinten, dann noch einer und<br />

noch einer. Alle blickten sich um, auf dem Boden lag Major<br />

Harlan und zwei Unteroffiziere. Alle mit einem Indianerpfeil<br />

im Rücken. Bugonaigeeshing war mit seinen Leuten<br />

da. Für die Weißen nicht sichtbar arbeitete er sich zwischen<br />

dichtem Unterholz heran. Hin und wieder kniete<br />

sich ein Krieger hinter einem Baum hin und sandte einen<br />

Pfeil in das Herz eines Soldaten. Aus der Wunde quoll<br />

Blut, die Uniform färbte sich an der Stelle noch roter und<br />

der Indianer kroch weiter.<br />

Inzwischen hatten Boten dem Trupp des Fliegenden<br />

Habichts Meldungen überbracht, er stoppte und die<br />

Krieger verteilten sich still um die Feinde. Das kleine englische<br />

Heer war eingekesselt, doch noch wussten die<br />

Männer mit blasser Haut nichts davon.<br />

Jetzt erscholl von irgendwo zwischen den Bäumen<br />

der Ruf eines Habichts, dann setzte der Pfeilregen ein.<br />

Zuerst nur aus der Richtung, aus der Bugonaigeeshing<br />

eben gekommen war. Die Weißen legten sich flach auf<br />

den Boden. Sie hatten keinen Führer mehr, der sie zur<br />

Disziplin gezwungen hätte. Man kroch hinter Buschwerk,<br />

Bäume oder Erdhügel, um nach dieser Seite gedeckt zu<br />

sein. Diejenigen, für die kein Versteck mehr frei war, wurden<br />

direkt niedergeschossen. So schrumpfte die Zahl der<br />

Soldaten auf nur noch gut zweihundert Mann, doch die,<br />

86


die gedeckt waren, waren nun vorsichtig. Sie achteten<br />

sorgfältig darauf, kein Körperteil von sich blicken zu lassen.<br />

Aber nun setzten die Pfeilschauer auch von den<br />

anderen Seiten her ein. Nur wenigen Engländern gelang<br />

es, sich in eine flache Mulde zu flüchten, in die man von<br />

keiner Seite her mit einem Pfeil hinein schießen konnte.<br />

Doch auch für dieses Problem wusste der Oberhäuptling<br />

eine Lösung: Er kletterte mit einigen anderen<br />

Kriegern auf eine Buche in der Nähe der besagten Grube.<br />

Die Soldaten konnten sie nicht daran hindern, sie konnten<br />

ja nicht schießen mit ihren Gewehren. In der Krone dieses<br />

Baumes suchten sich die Indianer eine Astgabel, in der sie<br />

gut sitzen konnten und schossen einem verhassten Landräuber<br />

nach dem anderen den tödlichen Pfeil ins Herz.<br />

Kein Mann der 500 Soldaten war mehr am Leben, keiner<br />

von ihnen würde Mord an Indianern begehen, niemand<br />

aus ihrer Schar konnte den roten Kindern Manitus Land<br />

stehlen. Viele Engländer lagen tot da, einige verstreut im<br />

Wald, andere an den Plätzen, an denen die Gefechte<br />

stattgefunden hatten. Eine große Masse war das, so viele<br />

Menschen, wie die gesamte Streitmacht der Anishinabeg<br />

umfasste.<br />

Doch wenn die Krieger gewusst hätten, wie viele<br />

Bleichgesichter von Osten nachkamen und wie viele Männer<br />

diese 500 Soldaten rächen würden, dann hätte sie der<br />

Mut verlassen. Dann wären sie nach Hause in ihre Dörfer<br />

gezogen und hätten nie mehr einen Bogen angerührt.<br />

Aber die Männer vom Stamme hatten nicht die geringste<br />

Anhnung von der Übermacht ihrer Feinde und so<br />

strebten sie alle zurück zum großen Kampfplatz, an dem<br />

einst das feindliche Lager gewesen war. Bugonaigeeshing<br />

hatte seine liebe Mühe, die Krieger zusammen zu halten.<br />

87


Wenn seine Männer allein vorgerückt wären, wären sie im<br />

Einzelkampf der Überzahl der Weißen unterlegen.<br />

Man näherte sich wieder dem eigentlichen Kampfplatz.<br />

Schon außer Sichtweite ließen sich die Indianer auf<br />

alle Viere nieder und krochen auf dem Schnee weiter.<br />

Bald waren die ledernen Leggins durchnässt und scheuerten<br />

auf der Haut, doch das kümmerte die Kämpfer nicht.<br />

Sie versuchten, sich möglichst schnell fort zu bewegen,<br />

denn ein Eilbote hatte gemeldet, dass die drei Gruppen<br />

indianischer Krieger, die zurückgeblieben waren, schon<br />

Tote hatten. Vier Mann hatten das Leben verlassen und<br />

gingen nun den weiten Weg. Viele Verluste waren das<br />

nicht, Bugonaigeeshing hatte damit gerechnet, dass es<br />

schlimmmer kommen würde, doch es waren Menschenleben.<br />

Die Leben von vier Söhnen Manitus waren beendet<br />

durch ein Blassgesicht. Zu Hause waren nun vier Familien,<br />

die von anderen Männern mit Fleisch und Fisch versorgt<br />

werden mussten.<br />

Aber nun war nicht die Zeit zu trauern. Nur den<br />

Kameraden helfen, bevor noch mehr Unheil geschehen<br />

konnte!<br />

Als sie im Unterholz lagen, das die Lichtung umgab,<br />

sahen die Indianer, wie viel sich verändert hatte: Die Weißen<br />

hatten gute Deckung hinter einem ziemlich hohen<br />

Hügel genommen und warteten darauf, dass es aufhörte,<br />

zu schneien. Hier hatte ein Unteroffizier mit Namen Anderson<br />

den Befehl übernommen. Er hielt es für das Klügste,<br />

abzuwarten bis die Roten abzogen. Anderson legte es<br />

nicht auf noch mehr Leichen auf seiner Seite an. Deshalb<br />

befahl er, auf dieser Seite des Hügels zu bleiben und sich<br />

nicht blicken zu lassen. Der Offizier selbst stand am Hang<br />

88


der Erhebung und überwachte seine Soldaten. Immerhin<br />

waren es noch gute tausend Mann. Er hatte vor, mit ihnen<br />

auf dem schnellstmöglichen Weg in den sicheren Osten<br />

zu fahren und Verstärkung zu holen, sobald diese lausigen<br />

Rothäute von ihm abließen. Er kannte sie als nicht<br />

sonderlich geduldig, meist hatten sie das Kämpfen bald<br />

satt, wenn sie genügend Ehren erkämpft hatten, mit denen<br />

sie daheim prahlen konnten. Wenn er dann mit anderen<br />

Kompanien zurückkehren würde, in den Westen, dann<br />

sollten aber alle Indianer im Umkreis von 50 Meilen die<br />

Flucht ergreifen. Er wollte ihnen schon noch das Fürchten<br />

lehren. Mit solchen Gedanken beschäftigte sich sein Kopf,<br />

während Stephen Anderson über seine untergebenen<br />

Soldaten wachte.<br />

Plötzlich fühlte er einen schneidenden Schmerz in<br />

der Kehle. Ein Gurgeln rang sich aus seinem Mund, er fiel<br />

nach hinten, sah einen Pfeil in seinem Hals stecken, hörte<br />

wie neben ihm ein Soldat fragte: "Sir, haben sie Probleme?",<br />

dann war es vorbei mit seinem Dasein. Ein für alle<br />

Mal vorbei.<br />

Der Stehende Fels hatte schon den nächsten Pfeil<br />

aufgelegt. Stehender Fels hatte Anderson sofort als den<br />

Anführer erkannt, da dieser einen blauen Dreispitz trug.<br />

Er war von Bugonaigeeshing hierher, auf die andere<br />

Seite des Hügels geschickt worden. Die anderen Krieger<br />

hatten die anderen Seiten der Erhebung umringt. Überall<br />

lagen die roten Männer zwischen Büschen und hielten<br />

Pfeile und Bogen bereit, beobachteten ihre Feinde.<br />

Die Blassgesichter saßen in der Falle: Wollten sie<br />

vor den einen Indianern am gegenüberliegenden Hang<br />

Deckung nehmen, begaben sie sich damit in das Schussfeld<br />

anderer Krieger. Und da der Hügel nicht mit Bäumen<br />

89


ewachsen war, sondern nur mit Gras, waren die hochnäsigen<br />

englischen Soldaten ganz und gar bloßgestellt.<br />

Die Indianer schossen, was der Bogen hergab und<br />

wo immer sie einen Flecken weißer Haut erblickten, der<br />

sich noch rührte, legten sie ihren Pfeil auf diesen an und<br />

binnen kurzer Zeit rührte er sich nicht mehr.<br />

Nur einmal konnten einige Engländer fliehen, sie taten<br />

sich zu einer kleinen Gruppe zusammen und brachen<br />

ungeachtet der vielen Pfeile, die ihnen entgegenflogen,<br />

durch die Reihen indianischer Krieger. Doch um sie kümmerte<br />

sich niemand, warum sollte man sich die Mühe einer<br />

Verfolgung antun, wenn es hier so viel Ehre gab, die<br />

auf leichterem Wege zu erlangen war, die wenigen Männer<br />

konnten den Indianern doch wohl nicht gefährlich werden.<br />

Schließlich lagen auf dem kleinen Hügel etwas<br />

mehr als tausend Leichen, alle mit weißer Haut, struppigen<br />

<strong>Bär</strong>ten und mit mindestens einem Pfeil im Herzen oder<br />

der Kehle. Das Gras und der Schnee waren an vielen<br />

Stellen blutrot gefärbt, die Wölfe und Coyoten würden viel<br />

zu fressen haben, in den nächsten Tagen.<br />

Bugonaigeeshing erhob sich. Da sich auf dem Hügel<br />

nichts mehr rührte, war keine Gefahr zu befürchten. Er<br />

machte den Mund auf, um seine Männer zusammenzurufen,<br />

da krachte ein Schuss und der oberste Häuptling,<br />

Führer des Stammes der Anishinabeg seit fielen Sommern<br />

und Wintern brach zusammen. Sein Herz hörte auf, zu<br />

schlagen, aus seinem noch immer geöffneten Mund kam<br />

der letzte Atemzug, sein Blick war noch lebendig.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> kam zu dem Häuptling gesprungen,<br />

beugte sich über ihn. Er sah seinem Vater noch einmal in<br />

die Augen, dann brachen sie. Die Augen des Bugonaigeeshing<br />

sahen nichts mehr, jetzt waren auch sie tot. Sie<br />

90


hatten noch ein letztes Mal den Sohn gesehen, jetzt ging<br />

der Häuptling auf den weiten und mühsamen Weg in das<br />

Land der ewigen Jagdgründe.<br />

Dem roten <strong>Bär</strong>en wollten die Tränen ins Gesicht<br />

treten, doch noch war nicht die Zeit dazu.<br />

"Rache!" Das war sein einziger Gedanke. Er hatte<br />

gesehen, wie einer der Soldaten, die durch die Umzingelung<br />

gebrochen waren, das Gewehr auf Bugonaigeeshing<br />

angelegt hatte. Irgendwie musste jener sein Pulver vor der<br />

Feuchtigkeit bewahrt und die tödliche Kugel aus dem lauf<br />

gesandt haben.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte sich das Gesicht des Mörders genau<br />

eingeprägt. Dieser Mann musste sterben, mit einem<br />

Pfeil im Körper, der von dem Sohn des Bugonaigeeshing<br />

geschossen war. Diesem Menschen war der frühe Tod<br />

gewiss.<br />

Aber wo war er? Der Weiße war verschwunden,<br />

fort. Bugonaigeeshing der jüngere setzte sich kriechend in<br />

die Richtung in Bewegung, in der er das letzte Mal den<br />

Mörder seines Vaters erblickt hatte, während seine Stammesgenossen<br />

sich um den alten Häuptling scharten.<br />

Bugonaigeeshing der jüngere wusste, dass der<br />

Mörder längst über alle Berge sein musste, doch er wusste<br />

auch, dass dieser sich wahrscheinlich zu den Booten<br />

seiner Armee geflüchtet hatte, denn im Wald würde er den<br />

Indianern ausgeliefert sein.<br />

Der neue Oberhäuptling hatte die Stelle erreicht, an<br />

der der Soldat beim Schuss gestanden hatte. Er hatte<br />

richtig vermutet: die Spuren führten zu den Booten. Bugoanigeeshing<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> richtete sich auf. Es war im Augenblick<br />

keine Gefahr für ihn, die Feinde befanden sich wahrscheinlich<br />

schon auf dem Wasser, hatten Kurs nach Osten<br />

91


genommen und beeilten sich sehr, um aus dem gefährlichen<br />

Gebiet herauszukommen.<br />

Zum Ufer lief auch Bugonaigeeshing. Er schlug ein<br />

Tempo ein, bei dem ein weißer Soldat schon hätte rennen<br />

müssen. Er federte in großen Sprüngen über den weichen<br />

Waldboden dahin, setzte seine Füße so, dass sie keinen<br />

Laut erzeugten. Nur einmal fiel er, stand aber sogleich<br />

wieder auf und hastete weiter. Der Köcher auf seinem Rücken<br />

schlug von der einen Seite auf die andere, die Pfeile<br />

in ihm klapperten und nach der Zeit, die die Uhren der<br />

weißen Männer eine Stunde nennen, hatte er die Uferböschung<br />

erreicht.<br />

Es schneite inzwischen noch stärker, sodass man<br />

nicht weit sah. Trotzdem setzte sich Bugonaigeeshing der<br />

jüngere unbeweglich ans Ufer und wartete.<br />

Lange brauchte er nicht so zu sitzen, bald sah er<br />

seine Feinde kommen. Sie waren unvorsichtig genug, sich<br />

nahe am Ufer zu halten und so konnte der junge Häuptling<br />

sogar die Gesichter unterscheiden. Er legte einen Pfeil auf<br />

und stieß den Kriegsruf der Anishinabeg aus.<br />

Auf den Booten schraken die Männer, die das Gefecht<br />

überlebt hatten, zusammen und duckten sich<br />

schnell. Doch zu spät, der Mörder von Bugonaigeeshing,<br />

dem Älteren, schrie auf. Er hatte einen Pfeil im Herzen<br />

stecken. Das Geschoss war mit Truthahnfedern befiedert<br />

und hatte Ringe in roter Farbe um den Schaft. Das war<br />

das letzte, was Robert Salomon vor seinem Tode sah.<br />

Dann verdrehte er die Augen nach oben und sank im<br />

Bootskörper nieder.<br />

Bugonaigeeshing begab sich langsam wieder zurück<br />

zu seinen Gefährten. Der Vater war gerächt, <strong>Roter</strong><br />

<strong>Bär</strong> sah seine Gestalt vor sich, wie sie niedersank.<br />

92


Großer Hass, größer als je zuvor, nahm von ihm<br />

Besitz und der junge Krieger spürte, dass selbst der beste<br />

Medizinmann ihn nicht von diesem Hass heilen konnte.<br />

Bugonaigeeshing der Jüngere hasste die Blassgesichter,<br />

wie nur ein Mensch hassen kann. Er begann, sich zu fragen,<br />

warum er nicht auch die anderen Feinde in den Booten<br />

getötet hatte, schwor sich, alles, was in seinen Kräften<br />

stand, gegen die Landräuber einzusetzen.<br />

Als <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> zurückkehrte, begrüßten seine Krieger<br />

ihren neuen Häuptling nicht sehr freudig. Überhaupt<br />

blickte kaum jemand auf, als er zu ihnen trat.<br />

In der Zeit, in der Bugonaigeeshing am Ufer gewesen<br />

war, hatten die Männer die übrigen Toten neben ihren<br />

ehemaligen Häuptling gelegt. Jetzt sah <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sie sich<br />

an. Insgesamt waren es nur sieben Männer, die da lagen<br />

und der neue Häuptling ging von einem zum anderen. Als<br />

er dem letzten Mann ins Gesicht sah, erschrak er. Vor ihm<br />

lag sein Freund Rotes Messer. Rotes Messer lag da, die<br />

Augen geschlossen, schon mit eingefallenem Gesicht.<br />

Sieben Mann Verlust, viel war das nicht und doch<br />

für Bugonaigeeshing der schwerste Schlag, den er in seinem<br />

ganzen Leben erhalten hatte. Der Vater und der<br />

Freund am selben Tag ermordet, vielleicht von demselben<br />

Mörder, das war zu viel für den jungen Häuptling. Er setzte<br />

sich in den Schnee neben den Toten und verbarg sein<br />

Gesicht. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> war kein Weichling, aber jetzt weinte er<br />

und seine Hände wurden nass von den Tränen.<br />

Doch bald stand er wieder auf und nahm die Finger<br />

vom Gesicht. Seine Krieger umstanden ihn und auch unter<br />

ihnen gab es einige, deren Augen feucht waren. Bugonaigeeshing<br />

der Jüngere schämte sich nicht, dafür war seine<br />

93


Trauer viel zu groß. Er gab mit einer Stimme, die die anderen<br />

noch nicht von ihm kannten, Anweisungen.<br />

Einige Männer baten junge Bäume um deren Leben<br />

und fällten sie dann mit dem Tomahawk. Andere fügten<br />

mit Lederschnur die dünnen Stämme zu Baren zusammen.<br />

Es waren einfache Gestelle, aber sie trugen das<br />

Gewicht eines Toten. Nachdem die Leichen auf diese<br />

Tragen gebettet und in Bäumen sicher vor Füchsen und<br />

Coyoten aufgebahrt waren, gingen die Krieger, die am Leben<br />

geblieben waren, zu ihren toten Feinden. Sie zogen<br />

ihre Pfeile aus den reglosen Leibern, die Geschosse waren<br />

wertvoll und wenn irgend möglich versuchte man, sie<br />

nicht zu verlieren. Jeder erkannte die seinen daran, wie<br />

sie bemalt waren. Hin und wieder blieb eine Pfeilspitze in<br />

dem Leichnam stecken, weil die Widerhaken sie zu fest<br />

hielten. Doch das war kein Problem, eine Pfeilspitze war<br />

verhältnismäßig leicht herzustellen.<br />

Bevor die Schäfte mit oder ohne Spitze in den Köcher<br />

gesteckt wurden, säuberte ihr Besitzer sie im Moos,<br />

das stellenweise noch aus dem Schnee hervor lugte.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sammelte auch die Pfeile seines Vaters<br />

ein, damit dieser sie später im Grabe haben konnte.<br />

Die Krieger verschmähten es, die Gewehre der<br />

Blassgesichter mitzunehmen, wie es die anderen Stämme<br />

nach Gefechten zu tun pflegten, wenn sie die Gewinner<br />

waren. Die Anishinabeg hatten gesehen, wie unpraktisch<br />

die großen Donnerbüchsen waren, sie schossen lieber<br />

weiterhin mit Pfeil und Bogen.<br />

Als sie sich wieder bei den Toten eingefunden hatten,<br />

hoben sie die Arme und dankten dem großen Geheimnis,<br />

dass sie noch am Leben waren. Niemand beklag-<br />

94


te sich über die Toten, denn sie wussten, dass Manitus<br />

Wille so war, wie das, das geschah. Es war das selbe.<br />

95


Die Männer, die die Baren trugen, gingen an<br />

der Spitze des Zuges, dahinter folgten die anderen Krieger.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> trug zusammen mit dem Stehenden<br />

Hecht die Bare, auf der der alte Bugonaigeeshing lag. <strong>Roter</strong><br />

<strong>Bär</strong> lief am vorderen Ende der Trage, sein Freund am<br />

hinteren. Vor ihnen war niemand, nur der Wald und der<br />

Pfad, auf dem sie zurück nach Weiße Erde gingen. Es war<br />

derselbe Wildwechsel, auf dem sie auch den Feinden entgegen<br />

gegangen waren. Damals war Bugoanigeeshing<br />

der Ältere noch selbst gegangen, an der Spitze des Zuges.<br />

Jetzt befand sich sein Sohn an dieser Position. Mit<br />

dem Tode des Vaters war im das Häuptlingsamt übertragen<br />

worden und damit auch die Ehre und Pflicht, bei solchen<br />

Veranstaltungen den Anfang der langen Schlange<br />

von Kriegern zu machen.<br />

Doch daran lag ihm jetzt nichts. Es war nur eine zusätzliche<br />

Last, die Entscheidungen für den ganzen Stamm<br />

treffen zu müssen. All seine Gedanken waren jetzt bei<br />

dem Vater, der leblos auf der Trage hinter seinem Rücken<br />

lag. Oft stolperte Bugonaigeeshing der Jüngere, er zwang<br />

sich aber, die Konzentration nach vorne auf den Pfad zu<br />

richten.<br />

Das Licht wurde schon fahl im Wald. Doch war es<br />

bestimmt noch nicht spät, denn bei den dicken Schneewolken<br />

kam kaum ein Sonnenstrahl bis auf die Erde. Bis<br />

in die Nacht liefen die Krieger, sie hatten sich einige halbwegs<br />

trockene Zweige von Bäumen abgeschnitten, die sie<br />

anzündeten. Der Schnee reflektierte das wenige Licht, so-<br />

96


dass genügend Helligkeit vorhanden war, um den Weg zu<br />

erkennen.<br />

Endlich erreichten sie das Dorf Weiße Erde. Die<br />

Männer aus den anderen Dörfern waren auch hierher gekommen,<br />

um der Bestattung ihres Häuptlings beizuwohnen.<br />

Bugonaigeeshing sorgte dafür, dass jeder der<br />

fremden Stammesgenossen in dem Wigwam einer Familie<br />

unterkam und begab sich dann in sein Heim. Dort saßen<br />

die Mutter und der Bruder gemeinsam am Feuer und aßen<br />

Hirschsuppe aus hölzernen Schälchen.<br />

Sie blickten auf, als <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> eintrat und er setzte<br />

sich zu ihnen an die wärmenden Flammen. Die beiden<br />

bemerkten zwar die ernste Miene des anderen, doch fragte<br />

ihn keiner nach dem Grund für seine Sorgen. Die Mutter<br />

und ihr jüngerer Sohn wunderten sich auch nicht, wo der<br />

Vater war. Es konnte sein, dass er noch zu einer anderen<br />

Familie hineingegangen war, oder dass er noch am Seeufer<br />

stand und mit dem Großen Geheimnis sprach.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> aber erzählte ganz entgegen der Sitte<br />

sehr bald von den Ereignissen am Kampfplatz. Zuerst<br />

glühten die Augen des Bruders, aber als er vom Tode des<br />

Vaters erfuhr, mahlte sich Entsetzen in seinen Zügen. Die<br />

Mutter regte sich nicht. Sie sagte nichts, sie dachte nichts.<br />

Sie starrte nur einfach in die Flammen.<br />

<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> schlief unruhig in dieser Nacht. Er sah im<br />

Traum immer wieder den sterbenden Vater vor sich, konnte<br />

dem Bild nicht ausweichen. Er freute sich nicht über die<br />

Macht, die ihm zugeteilt war, er trauerte um den Vater und<br />

seinen Freund.<br />

97


Draußen war es schon hell, als die Bewohner des<br />

größten Wigwams von Weiße Erde aufstanden.<br />

Bei dem Frühstück, das aus Wildreisfladen bestand,<br />

dachte Bugonaigeeshing der Jüngere daran, dass<br />

er von jetzt an allein für das Wohlergehen seiner Familie<br />

verantwortlich war. Er musste für sie jagen und fischen,<br />

trug aber auch die Verantwortung für das Wohlergehen<br />

des gesamten Stammes.<br />

Nach der Mahlzeit, bei der alle drei nicht viel gegessen<br />

hatten, führte Bugonaigeeshing die beiden anderen<br />

hinaus zum toten Häuptling. Er lag noch immer auf<br />

seiner Trage, <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte sie gestern Nacht noch in<br />

einen Baum gehängt, um den Leichnam vor den Tieren zu<br />

schützen. Jetzt nahm er ihn herunter und trug das Holzgestell<br />

auf den Dorfplatz, damit alle Stammesangehörigen<br />

Abschied von ihm nehmen konnten.<br />

Außerdem schickte der Häuptling, den schon jetzt<br />

alle mit seinem neuen Namen anredeten, Eilboten in die<br />

anderen Dörfer der Anishinabeg, die die Einwohner zur<br />

Begräbnisfeier rufen sollten. Wenn sie dann gekommen<br />

waren, würde der alte Bugonaigeeshing in ein Büffelfell<br />

eingerolt und zusammen mit seinen Waffen hoch droben<br />

in der Krone einer Weide bestattet werden.<br />

Langsam sammelten sich schon die Frauen, Kinder<br />

und Männer von Weiße Erde um den Toten. Bugonaigeeshing<br />

der Jüngere entfernte sich. Er stapfte durch den<br />

knöchelhohen Schnee nach Hause und zog sich einen<br />

warmen Fellmantel mit Kapuze, dicke Schneestiefel und<br />

Handschuhe an.<br />

Dann ging er um das Dorf herum zu dem Hügel, an<br />

dem er im Herbst mit dem roten Messer gesessen hatte.<br />

Bugonaigeeshing stieg an der Windseite die Erhebung<br />

98


hinauf, weil an dieser Seite der Schnee nicht so hoch war.<br />

Er war müde, ging Schritt für Schritt und blieb oft stehen.<br />

Oben angelangt sah er, dass auf dem Baumstamm,<br />

auf dem er mit seinem Freund gesessen hatte, hoher<br />

Schnee lag. Er schaufelte sich mit der Hand eine kleine<br />

Stelle frei, gerade so groß, dass er darauf sitzen konnte,<br />

und ließ sich nieder.<br />

Bugonaigeeshing schaute über das weite, nun verschneite<br />

Land und sah immer seinen Vater vor sich. Er<br />

spürte wieder, wie der Hass gegen jene räuberischen<br />

Männer aufstieg, die Bugonaigeeshing den älteren ermordet<br />

hatten.<br />

Lange saß er so da, ließ seine Blicke über die<br />

Landschaft schweifen und hasste. Er tat nichts anderes.<br />

Sein ganzer Kopf, ja sein gesamter Körper war damit beschäftigt,<br />

zu hassen. Plötzlich brachte ihn eine Schneeflocke,<br />

die auf seiner Nase landete, wieder zur Besinnung.<br />

Er stand auf und ging bis zu einer hohen Birke in<br />

der Nähe, die schon mindestens vierzig Sommer und Winter<br />

gesehen hatte. Er umarmte sie und sprach einen Gruß.<br />

Dann setzte er sich vor ihr nieder und erzählte ihr von den<br />

Dingen, die ihn beschäftigten.<br />

Der Baum kannte ihn, Bugonaigeeshing hatte<br />

schon oft mit ihm gesprochen, wenn etwas seine Seele<br />

bedrückte. Als er zu Ende gesprochen hatte, kam ein<br />

leichter Wind auf, spielte mit dem Haar des Indianers und<br />

war wieder verschwunden. Windstill lag es da, das Land<br />

der roten Leute, windstill und verschneit.<br />

Da bewegte sich mit majestätischem Flug ein Adler<br />

auf den Häuptling zu. Er flog genau über ihn hinweg und<br />

Bugonaigeeshing folgte dem Vogel mit den Augen. Er<br />

bemerkte, wie sich aus dem Schwanz des heiligen Tieres<br />

eine Feder löste und herunter fiel. Sie landete genau vor<br />

99


dem roten <strong>Bär</strong>en. Sie steckte mit dem Kiel im Schnee vor<br />

den Füßen des Indianers. Er schaute sie an, wie sie da<br />

steckte und jetzt fiel von oben, direkt neben sie das Ende<br />

eines Birkenzweiges. Auch dieses blieb im Schnee stecken.<br />

Bugonaigeeshing lächelte, die Birke und der Adler<br />

hatten mit ihm gesprochen. Er war bereit, den Weg zu betreten,<br />

der ihm bestimmt war. Die Traurigkeit hatte nachgelassen<br />

und er wusste: Er, der Sohn eines berühmten<br />

Häuptlings sollte selbst einmal ein großer Häuptling seines<br />

Volkes werden. Er stand auf und steckte sich die Adlerfeder<br />

ins Haar, den Birkenzweig hob er auf. Das Stück Holz<br />

würde in den Medizinbeutel des Häuptlings gelegt werden<br />

und die Adlerfeder würde er über seine Lagerstatt an das<br />

Gerüst des Wigwams hängen.<br />

© 2006 Jan Frederik Thomsen<br />

Gymnasium <strong>Adolfinum</strong> Moers , Klasse 7 a (2005/06)<br />

im Rahmen des Erweiterungsprojekts Begabtenförderung<br />

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