Roter Bär - Adolfinum
Roter Bär - Adolfinum
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<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong><br />
- Ein Indianerroman -<br />
Jan Frederik Thomsen<br />
Gymnasium <strong>Adolfinum</strong> Moers, Klasse 7 a (2005/06)<br />
Auf einem lichten Hügel inmitten in der Wildnis<br />
des Landes, das die weißen Menschen später Kanada<br />
nannten, saßen zwei junge Indianer. Sie schauten hinab<br />
auf eine Bucht des Großen Wassers. Dieser riesenhafte<br />
See wird heute von den Blassgesichtern Lake Superior<br />
genannt. Jetzt, im Herbst, wimmelte es auf dem Wasser<br />
von Zugvögeln, sodass die Augen der beiden Roten nur<br />
eine Fläche dunkler Körper erblickten, nicht aber das<br />
Wasser selbst. Nur manchmal traf ein Strahl der Sonne,<br />
die, trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit, unverändert<br />
prall vom Himmel schien, genau in die Lücke zwischen<br />
zwei Tieren und wurde vom Wasser zurückgeworfen.<br />
Dann nahmen die zwei Menschen auf der Hügelkuppe ein<br />
Aufblitzen wahr.<br />
Der Wald um den See stand zu dieser Zeit in seinen<br />
prächtigsten Farben und über den rot, gelb und orange<br />
leuchtenden Wipfeln der Bäume strich hin und wieder<br />
ein Schwarm Enten oder Gänse mit heftigem Flügelschlag<br />
dem riesigen See zu. Die Luft war erfüllt von ihrem Rufen<br />
und die fröhliche Stimmung steckte auch die Menschen<br />
an. Unten, am Ufer der Bucht lag das Heimatdorf der beiden<br />
Indianer: Weiße Erde. Von dort drang ausgelassenes<br />
Kindergeschrei herauf, das sich mit dem Klopfen der<br />
Feldwächter mischte, die auf den Feldern Stöcke aneinander<br />
schlugen um damit die Vögel, welche den Mais<br />
fressen wollten, zu vertreiben. Je zwei oder drei Frauen<br />
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hatten sich am Rand eines Maisfeldes ein kleines Hüttchen<br />
aus Stöcken errichtet und saßen jetzt darin, wobei<br />
sie klopften, was das Zeug hielt.<br />
Als die beiden Indianer ihre Blicke über das Dorf<br />
schweifen ließen, sahen sie ein ihnen wohlbekanntes Bild:<br />
Dort unten lag am Ufer des Großen Wassers, umgeben<br />
von bewaldeten Hügeln eine Ansammlung zweimal<br />
mannshoher, brauner Kuppeln, aus denen Rauch aufstieg.<br />
Aus der Hütte, in der <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> mit seiner Familie<br />
wohnte, trat gerade Kristallwasser, <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>s Mutter mit<br />
einer großen Holzschüssel und ging auf den See zu. Dort<br />
füllte sie das Gefäß mit der klaren Flüssigkeit, nach der sie<br />
ihren Namen erhalten hatte. Nun ging sie zurück in ihren<br />
Wigwam und setzte dort vermutlich das Wasser im großen<br />
Messingkessel über dem Feuer zum Kochen auf. Sobald<br />
das Wasser heißgenug war, würde sie mit dem Zubereiten<br />
des Abendessens beginnen.<br />
Ein kleiner Luftzug bewegte die Blätter der Bäume<br />
und Büsche. In der Nähe rauschte eine Birke. Wie durch<br />
dieses Geräusch aufgeweckt, fragte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>, der rechte<br />
der beiden jungen Indianer, seinen Nachbarn:<br />
"Hörte mein Freund Rotes Messer schon, was der<br />
Händler der Irokesen, der vor drei Tagen und drei Nächten<br />
in unser Dorf kam, erzählte?"<br />
"Ja, Rotes Messer erfuhr es von seinem Vater. Es<br />
sollen Männer mit einer Haut so weiß wie Schnee in ein<br />
Irokesendorf eingefallen sein und alle Häuser verbrannt<br />
haben. Der Händler meinte, diese weißen Männer besäßen<br />
Holzstöcke mit einer Röhre daran. Damit sollen sie<br />
Blitz und Donner machen und Menschen töten können."<br />
"So hat auch <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> gehört. Außerdem stehlen<br />
sie den roten Leuten Land. Der Händler behauptete, sie<br />
kämen eines Tages auch zu uns."<br />
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"Wir müssen abwarten, bis das so weit ist. Unser<br />
Stamm ist stark und besitzt viele Krieger. Wenn dein Vater<br />
Bugonaigeeshing unsere Männer führt, brauchen wir keine<br />
Angst vor diesen Blassgesichtern zu haben."<br />
An diesem Tag fiel kein weiteres Wort mehr zwischen<br />
den beiden jungen Kriegern. Sie sahen schweigend<br />
auf die ihnen so gut bekannte, wunderschöne Landschaft<br />
hinab.<br />
Gerade schickte die Sonne sich an, hinter dem Horizont<br />
zu verschwinden, als ein Schwarm Gänse über ihnen<br />
vorüberflog. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> stand auf, nahm seinen kunstvoll<br />
geschnitzten Ahornholzbogen hoch, legte einen Pfeil<br />
auf und schoss eine junge Kanadagans aus dem<br />
Schwarm heraus. Der Vogel fiel unweit von ihnen zu Boden.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> ging hin, zog den Pfeil aus dem Herzen<br />
des geschossenen Tieres, hob dieses auf und begab sich<br />
zurück zu seinem Freund. Dort säuberte er die knöcherne<br />
Pfeilspitze von Blut und Fleischresten und steckte das<br />
Geschoss zurück in seinen hirschledernen Köcher. Die<br />
Gans legte er vor sich zu Boden. Währenddessen war die<br />
Sonne schon verschwunden. Da, wo sie eben noch am<br />
Himmel gestanden hatte, war jetzt nur noch das blutrot gefärbte<br />
Firmament zu sehen. In nicht allzu langer Zeit würde<br />
Nacht sein. Rotes Messer drehte sich um und sah<br />
schon den Mond und einige Sterne blass leuchten. Beide<br />
Krieger standen auf, hoben die Arme zum Himmel und<br />
sprachen das kurze Gebet des Indianers: "Manitu steh mir<br />
bei!" Dann hob <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> seine Gans auf und sie gingen<br />
im Dämmerlicht den sanften Hügel hinunter. Am Dorf angelangt<br />
verabschiedeten sie sich wortlos und jeder ging<br />
zum Wigwam seiner Familie.<br />
Bei seinem Heim angekommen ließ <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> den<br />
Blick noch einmal über die Wälder schweifen und sah<br />
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auch zu den Sternen am nachtschwarzen Himmel hinauf.<br />
Dabei musste er daran denken, dass all diese wunderschöne<br />
Natur bald vielleicht nicht mehr seinem Volk gehören<br />
würde. Er beschloss, alles zu tun, was in seinen Kräften<br />
stand, um den weißen Eindringlingen Widerstand zu<br />
leisten. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> atmete noch einmal tief die frische<br />
Nachtluft ein, dann hob er das Eingangsfell und trat in die<br />
Hütte. Seine Familie hockte um das Feuer in der Mitte des<br />
Raumes. Der Bruder saß dem Vater Bugonaigeeshing auf<br />
einem <strong>Bär</strong>enfell gegenüber. Er wurde von dem Familienoberhaubt<br />
in den Märchen und Sagen des Stammes der<br />
Anishinabeg unterrichtet. Bugonaigeeshing war ein Ehrenname,<br />
den nur der oberste Häuptling der Anishinabeg<br />
tragen durfte.<br />
Die Mutter nähte eine kunstvoll mit Stachelschweinborsten<br />
bestickte Bogenhülle aus Elchleder und<br />
rührte von Zeit zu Zeit im großen Messingkessel über dem<br />
prasselnden Feuer, den man von einem Händler der Huronen<br />
eingehandelt hatte.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hängte seinen Bogen im Futteral und den<br />
Köcher mit den Pfeilen an einen Asthaken über seinem<br />
Nachtlager aus Büffelfellen. Dann setzte er sich ans Feuer<br />
auf die Decke eines Hirsches, zog seine vom Tau völlig<br />
durchnässten Mokassins aus und stellte sie an die Flammen.<br />
Aus der mit Fransen und Stachelschweinborsten<br />
verzierten Büffellederscheide am Gürtel zog <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> ein<br />
Messer mit handlichem Griff, der aus dem Knochen eines<br />
Rehs gefertigt war. Die Klinge war aus massivem Stahl<br />
gegossen und scharf geschliffen. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte sie gegen<br />
ein Waschbärenfell von einem Händler aus dem<br />
Stamm der Wyandot eingehandelt. Auch, wenn die Anishinabeg<br />
noch nichts mit den Weißen zu tun gehabt hatten,<br />
kamen sie doch durch Tauschhandel mit östlicheren<br />
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Stämmen an Metallwaren. Dinge aus Metall besaßen für<br />
Indianer damals für Indianer einen sehr hohen Wert. Nur<br />
ein guter Jäger, der viele Pelze erbeutete, konnte sich<br />
damals eine Seltenheit wie eine stählerne Messerklinge<br />
leisten.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> schnitt mit seinem Messer der Gans den<br />
Bauch auf und nahm die Eingeweide aus dem toten Körper.<br />
Dabei stand Schnapp, ein Wolfshund, der bisher zusammengrollt<br />
an der Wand der Hütte gelegen hatte, auf<br />
und kam zu <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>. Er schnappte nach den Gedärmen,<br />
aber <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> versetzte ihm einen Klaps auf die Schanuze<br />
und sprach: "Nicht so eilig, Schnapp, du bekommst<br />
deinen Teil noch früh genug!"<br />
Darauf schnitt er Herz, Leber und Magen aus dem<br />
wilden Knäul der Innereien heraus und gab sie zusammen<br />
mit dem toten Vogel seiner Mutter, die die Bogenhülle beiseite<br />
legte, das Tier entgegennahm und es rupfte. Dabei<br />
gab sie sorgfältig darauf Acht, die Schwung- und<br />
Schwanzfedern nicht zu knicken. Zuvor hatte sie es noch<br />
in ein Gefäß mit Wasser getaucht, damit sich die Flaumfedern<br />
nicht überall im Raum verteilten. Als kein Federkiel<br />
mehr in der Haut steckte, hängte sie die Gans oben an eine<br />
Stange des Wigwams. So kam Schnapp nicht an das<br />
heiß begehrte Fleisch heran. In der Zwischenzeit hatte<br />
sich dieser schon hungrig über die Därme, Füße und den<br />
Kopf der Gans hergemacht, die <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> ihm hingelegt<br />
hatte.<br />
Erst jetzt spießte der älteste Sohn des Oberhäuptlings<br />
der Anishinabeg mit dem Messer ein Stück Fleisch<br />
aus dem großen Kessel auf, schnitt das beste Stück des<br />
Brockens ab und warf es als Opfer für Manitu, das große<br />
Geheimnis ins Feuer. Dann begann er, seinen Teil mit den<br />
Fingern zu essen, wobei er das Messer wieder zur Hilfe<br />
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nahm. Während er aß, redete er nicht. Es war überhaupt<br />
bei den Kindern Manitus nicht üblich, während des Essens<br />
zu reden. Es kam sogar vor, dass einige Stunden lang<br />
kein Wort in einer Hütte viel, wenn nur zwei oder drei Leute<br />
zu Hause waren.<br />
Als er die Mahlzeit beendet hatte, redeten auch der<br />
Vater Bugonaigeeshing und der jüngere Bruder nicht<br />
mehr. Die Mutter hatte sich wieder der Bogenhülle zugewandt.<br />
Als sie jedoch sah, dass <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> fertig war, gab<br />
sie ihm die Schwungfedern. Dieser reichte die Hälfte seinem<br />
Bruder weiter und sagte:<br />
"Lass uns einige Pfeilfedern schneiden!"<br />
"Mein Bruder mag anfangen, ich will lernen, damit<br />
ich bald zu den Männern aufgenommen werde"<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> stand auf, ging einige Schritte zu seinem<br />
Lager und griff in eine bemalte Rohhauttasche � , welche<br />
vom Holzgerüst an einem Asthaken herunterbaumelte und<br />
holte ein kleines Holzbrettchen hervor. Dann setzte er sich<br />
zu seinem Bruder, legte eine Gänsefeder auf das Holz<br />
und spaltete mit seinem Messer den ihren Kiel der Länge<br />
nach. Nun schnitt er die Federhaare auf die gewünschte<br />
Länge. Nachdem er den abgetrennten Teil der Hährchen<br />
ins Feuer geworfen hatte, forderte er den Bruder auf, es<br />
selbst einmal zu versuchen. Die eigene legte er in die Tasche,<br />
aus der er zuvor das Holz geholt hatte.<br />
Der Läuft Wie Ein Hirsch versuchte indes sein<br />
Glück und nahm das eigene, mit Knochenperlen und Fellstreifen<br />
verzierte Messer, aus der Scheide. Er hielt die<br />
Feder nurnoch vorsichtig am untersten Ende des Kiels.<br />
Nun setzte er das Messer mit seiner Spitze auf die Stelle<br />
des Federkiels, an der die Haare ansetzten. Doch als er<br />
ein Wenig Druck auf die Schneide gab, drehte sich die<br />
� Rohhaut: geschabte und getrocknete Tierhaut<br />
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Feder blitzschnell um und das Messer fuhr in die hölzerne<br />
Unterlage. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>, der inzwischen wieder neben seinem<br />
Bruder saß, meinte:<br />
"Siehst du dort, in der Mitte des Kiels die kleine<br />
Rinne? Wenn du die Spitze des Messers dort hineindrückst,<br />
dreht sich die Feder in deiner Hand nicht so<br />
leicht. Außerdem spaltet sich dort die Feder bereitwilliger<br />
und gerader."<br />
Diese Worte waren mit keiner Spur von Besserwissen<br />
oder Spott gesprochen worden. Als Der Läuft Wie Ein<br />
Hirsch versuchte, diesen Ratschlag in die Tat umzusetzen,<br />
funktionierte es wirklich besser. Nun drehte er die eine<br />
Federhälfte auf die Seite und legte sie auf das Brett.<br />
Der Junge kürzte die Haare mit dem Strich auf die erwünschte<br />
Form und Länge. Der Läuft Wie Ein Hirsch legte<br />
diese Hälfte zur Seite, griff nach der anderen und brachte<br />
sie in die gleiche Form und Länge wie die Erste. Diesmal<br />
ging es schon besser. Nacheinander kam jede Feder aus<br />
dem Häufchen an die Reihe und am Ende lagen fertige<br />
Federn für mindestens so viele Pfeile dort, wie drei Menschen<br />
Finger haben.<br />
Währenddessen hatte sich <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> den Oberschenkelknochen<br />
eines Hirsches aus einer Ledertasche<br />
seines Vaters genommen. Selbstverständlich hatte er vorher<br />
um Erlaubnis gebeten und die Zustimmung des Häuptlings<br />
erhalten. Nun schnitzte er am Feuer sitzend die weiße,<br />
harte Stange, und jeder Messerschnitt hatte seinen<br />
genauen Platz und seinen eigenen bestimmten Zweck.<br />
Noch konnte niemand erkennen, welche Sache aus diesem<br />
Knochen, der einmal in dem Körper eines Hirsches<br />
über den Boden dahingeflogen war, entstehen würde.<br />
Hier, in dem Wigwam einer roten Familie aber fragte auch<br />
niemand; jeder hatte die Zeit und die Geduld, abzuwarten.<br />
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Langsam, Span für Span wurde der Knochen flacher, bis<br />
er ungefähr halb so stark war, wie ein Finger.<br />
Jetzt schnitt der Indianer eine Spitze an das eine<br />
Ende dieser Knochenplatte. Von hier aus ließ er langsam<br />
die Kanten breiter werden, bis sie fast eine halbe Daumenlänge<br />
weit voneinander entfernt waren. Als nächstes<br />
sägte er mit einer Feuersteinklinge aus einer kleinen, mit<br />
Stachelschweinborsten verzierten Tasche, die er um den<br />
Hals getragen hatte, genau auf die Mitte der Platte zu.<br />
Doch hörte er eine halbe Fingerstärke vor dieser auf und<br />
führte auf der anderen Seite genau das selbe durch. Anschließend<br />
trennte er ungefähr eine halbe Daumenlänge<br />
hinter diesen Einschnitten die gesamte Platte von dem<br />
Rest des Knochens und sägte von hier zu den Schnitten,<br />
so, dass eine Art Zunge aus der Platte herausragte. Allein<br />
das Sägen dieser fünf Schnitte benötigte so viel Zeit, dass<br />
die Mutter zehnmal Holz auf das Feuer hatte legen müssen.<br />
Allmählich konnte man aber schon die Form einer<br />
Pfeilspitze erahnen, obwohl noch wenigstens eine weitere<br />
Stunde voller Arbeit in dieser Sache steckte.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> stand auf, zog die Mokkassins an, ging<br />
zum Eingang, schob sachte das Fell, das den Eingang<br />
verhängte, an die Seite und trat nach draußen. Ohne ein<br />
Geräusch zu verursachen ging der älteste Sohn des Oberhäuptlings,<br />
der einmal dessen Rolle zu übernehmen<br />
hatte, über die weichen taufeuchten Moospolster zum<br />
großen Wasser. Er begab sich an eine Stelle, an der das<br />
Ufer steinig war und viele Felsbrocken mit rauher Oberfläche<br />
lagen. Hier bückte er sich, suchte einen Flachen, kleinen<br />
Stein aus einem Haufen heraus und hob ihn hoch.<br />
Im Schilf quarrten verschlafen die Enten und auf<br />
dem See sprang ein Fisch, der mit leisem Geräusch wieder<br />
in seinem Element verschwand. Als <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> seinen<br />
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Kopf hob, um die Sterne zu betrachten, wie er es so oft<br />
gerne tat, da flog wie ein Schatten ein kleines Käuzchen<br />
über seinen Kopf hinweg. Und jetzt hörte er auch, wie in<br />
der Ferne ein Wolfsrudel seinen Gesang erhob. Der junge<br />
Mann wandte sich um und schritt zurück in die Hütte seiner<br />
Familie. Während er das Dorf Weiße Erde durchquerte,<br />
vernahm er in manchen Wigwams noch leise murmelnde<br />
Stimmen.<br />
Als er das Eingangsfell hob, strömte ihm eine wohlige<br />
Wärme entgegen, die in die schon frostige Herbstnacht<br />
hinaus drang. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> ging schnell in das Familienheim<br />
hinein und schloss den Eingang wieder, damit<br />
nichts von der kostbaren Feuerwärme verloren ging.<br />
Nachdem er sich niedergelassen und die Schuhe ausgezogen<br />
hatte, fing er an, die Kanten der Pfeilspitze mit dem<br />
Stein, wegen dem er zum See gelaufen war, zu schärfen.<br />
Dabei dachte er: "Mit dem Pfeil, an dem diese Spitze befestigt<br />
ist, will ich einmal meinen ersten <strong>Bär</strong>en schießen."<br />
Nachdem die Spitze scharf genug schien, um auch durch<br />
die dickste und stabilste Tierhaut hindurch zu dringen,<br />
verspürte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> eine große Müdigkeit. Er steckte die<br />
Pfeilspitze in die Rohauttasche, in der auch schon die Federn<br />
untergebracht waren und legte sich auf das seinige<br />
Büffelfell. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite der mit<br />
Birkenrinde gedeckten Hütte, hatte sich die Mutter ein <strong>Bär</strong>enfell<br />
ausgebreitet und schlief schon. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> konnte<br />
die sich sacht hebende und senkende Brust beobachten.<br />
Im Halbschlaf bekam er noch mit, wie der Vater sich wieder<br />
seinem Bruder zuwandte und in seinen Lehren fortfuhr.<br />
Anscheinend waren sie noch nicht so müde.<br />
9
Am nächsten Morgen erwachte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> früh.<br />
Seine Familienmitglieder schliefen noch alle und er konnte<br />
hören, wie draußen gerade die ersten Vögel mit einigen<br />
verschlafenen Trillern die Sonne begrüßten. Nachdem er<br />
sich gründlich die Augen gerieben hatte, erhob er sich und<br />
kleidete sich an. Er hatte nachts nur den Lendenschurz.<br />
Der Lendenschurz wurde zwischen den Beinen hindurchgezogen<br />
und fiel vorne und hinten über einen Gürtel. Nun<br />
zog <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sein Hirschlederhemd an und schlang sich<br />
über dieses einen zweiten Gürtel um die Hüfte, an dem<br />
seine Messerscheide hing. Mit den Beinen schlüpfte er in<br />
Leggins, Lederbeinlinge, die mit einem Band am äußeren<br />
Gürtel zu befestigen waren. An die Füße zog er seine<br />
Mokkasins und um den Hals legte er eine Knochenperlenkette,<br />
die mit einem Hermelinschwanz verziert war. Nachdem<br />
er mit einem aus Knochen geschnitzten Kamm die<br />
langen Haare glatt gelegt hatte, setzte er sein Stirnband<br />
auf.<br />
Draußen durchbrachen gerade die ersten Strahlen<br />
der Sonne den Morgendunst über dem großen Wasser.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> schlug die Richtung zum See ein und wanderte<br />
auf dem Kiesstreifen am Ufer entlang bis zu der Stelle, an<br />
der die Kanus lagerten. Alle Boote des Dorfes lagen, soweit<br />
sie nicht zur Reperatur ins Dorf gebracht worden waren,<br />
hier. Zwischen den zahlreichen Rindenkanus ging <strong>Roter</strong><br />
<strong>Bär</strong> zielstrebig auf eines zu, das am Bug das Zeichen<br />
einer Schildkröte, ein ovales Rund für den Körper mit<br />
sechs kleinen Kreisen für die vier Beine, Kopf und<br />
Schwanz eingebrannt hatte. Hinter diesem Zeichen sah<br />
man den rot gefärbten Kopf eines <strong>Bär</strong>en. So konnte je-<br />
10
dermann erkennen, dass dieses Kanu dem Roten <strong>Bär</strong>en<br />
mit dem Totemtier Schildkröte gehörte.<br />
Dieses Totemtier hatte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sich vor vielen<br />
Jahren angeeignet. Damals hatte er tief im Walde auf einem<br />
einsamen Hügel lange Zeit gefastet und eines Tages<br />
war dann eine Schrildkröte zu ihm gekommen und hatte<br />
mit ihm gesprochen, sie hatte aber gesagt, dass <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong><br />
niemandem sagen durfte, was sie zueinander gesprochen<br />
hatten.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> nahm das federleichte Kanu auf die<br />
Schultern und trug es zum See. Am Ufer setzte er es<br />
sacht auf den Kies und überprüfte noch einmal, bevor er<br />
es ins Wasser ließ, ob alle Nähte dicht, alle Löcher in der<br />
Rinde geflickt und alle hölzernen Spanten noch biegsam<br />
genug waren. Inzwischen sah man schon einen kleinen<br />
Teil der Sonne, die in diesen Monaten oft mit einer blutroten<br />
Färbung aufging. Endlich hatte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sich vergewissert,<br />
dass sein Boot schwimmfähig war und ließ es zu<br />
Wasser. Mit einem genau gezielten Sprung kam der Indianer<br />
in sein Gefährt und gab ihm gleichzeitig noch genügend<br />
Schwung, um vom Ufer wegzukommen. Nun ergriff<br />
er das im Kanu liegende Paddel und begann, sein Boot<br />
auf das große Wasser hinauszutreiben. Am Anfang glitt er<br />
noch einige Paddelschläge am Ufer entlang. Dann ließ er<br />
sein Boot eine sachte Kurve in Richtung See beschreiben<br />
und tauchte langsam in dichteren Nebel ein.<br />
Weil man bei den Bewegungen der Paddel nicht<br />
einmal die Tropfen von den Blättern ins Wasser fallen hörte<br />
und der Nebel immer undurchdringlicher wurde, bekam<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> bei solchen Fahrten, die er regelmäßig an Morgenden<br />
machte, die dem heutigen an stiller Schönheit<br />
gleich kamen, fast ein Gefühl des Schwebens. Jeder<br />
Mann aus dem Stamm der Anishinabeg kannte diesen Teil<br />
11
des großen Wassers mit allen Tücken und Gefahren, wie<br />
er den Wald und seine eigene Seele kannte. Aber jeder<br />
Mann kannte auch die Stellen, an denen Regenbogenforellen<br />
und Barsche in großen Mengen standen.<br />
Heute Morgen aber war <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> nicht auf Fische<br />
aus. Heute Morgen wollte er auf dem See zu sich selbst<br />
finden. Ihn hatte das kurze Gespräch mit seinem Freund<br />
am vorigen Tag zutiefst aufgewühlt, wie das Wasser eines<br />
großen Wassers nach dem Sturm aufgewühlt und trübe<br />
von Schlamm war, auch wenn es normalerweise eine klare<br />
und kristallähnliche Färbung hatte. Jetzt trachtete er<br />
danach, an diesem Morgen einsam und allein den<br />
Schlamm aus seinen Gedanken und Gefühlen zu bringen<br />
und sie mit der Kristallklarheit des Wassers zu färben.<br />
Also paddelte er in seinem Kanu zwischen den<br />
noch schlafenden, manchmal leise quarrenden Enten und<br />
Kanadagänsen hindurch. Diese Tiere waren klüger als ihre<br />
Artgenossen gewesen und hatten die Nacht hier draußen<br />
auf dem See verbracht, wo sie vor Fuchs, Coyote und<br />
Wolf sicher waren, während die Vögel, die am Land übernachteten,<br />
ständig auf der Hut vor diesen Raubtieren sein<br />
mussten. Einige Enten hoben verschlafen den Schnabel<br />
unter dem Federkleid ihres Flügels hervor und sahen den<br />
Indianer von unten her verständnislos an. Als sie dann<br />
begriffen, dass es sich hier um einen Feind handeln musste,<br />
flohen sie einige Flügelschläge weit, wobei ihre<br />
Schwungfedern auf das Wasser klatschten und die Stille<br />
unterbrachen. Dann sahen sie sich verstohlen um und weil<br />
ihnen das Kanu mit dem Menschen darin nicht folgte,<br />
steckten sie den Kopf wieder unter ihren Flügel und schliefen<br />
noch ein wenig. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hätte ohne Weiteres eines<br />
dieser Geschöpfe mit dem Bogen schießen können, aber<br />
er hatte erst gestern ein Lebewesen getötet um Nutzen<br />
12
aus ihm zu ziehen und es war noch nicht aufgegessen. Es<br />
wäre nach indianischen Begriffen eine der größten<br />
Verbrechen gewesen, jetzt schon wieder einem Tier, das<br />
genauso, wie der Mensch unter dem Schutz des großen<br />
Geheimnisses stand, das Leben zu nehmen. Außerdem<br />
hätte das die Gedanken des Indianers abgelenkt von dem<br />
Punkt, auf den sie sich nun zu konzentrieren hatten.<br />
Die vorüberziehende Schönheit der Landschaft<br />
drang nur noch flach in die Empfindungen des Menschen<br />
ein, der hier in der Einsamkeit sein Selbst suchte. Instinktiv<br />
lenkte er das Boot um die in seinem Gedächtnis verankerten<br />
Steine und schroffen Felsspitzen herum. Seine Gedanken<br />
aber waren schon bei seiner Seele. In der Mitte<br />
der Bucht angekommen ließ er sein Kanu vom Schwung<br />
des letzten Paddelschlages noch einige Manneslängen<br />
weit ausgleiten, dann stand es still. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> erhob sich in<br />
dem kippeligen Gefährt, hob die Arme zum Himmel, der<br />
im Osten von der aufgehenden Sonne schon hell war, im<br />
Westen den Sternen noch Platz bot und sprach das gleiche<br />
Gebet, wie schon am Vortag: "Manitu steh mir bei!",<br />
fügte aber noch hinzu: "Und bringe Klarheit in meine Seele!"<br />
Einen Moment lang blieb er noch so stehen, mit erhobenen<br />
Armen, dann setzte er sich auf die Sitzbank im<br />
Boot und hielt Zwiesprache mit der Natur, dem großen<br />
Geheimnis und sich selbst.<br />
Diese Dinge waren alle verschieden, aber doch<br />
wusste er sich eins mit der Natur und Manitu. Aber wie<br />
war es mit den blassen Gesichtern? Standen sie auch unter<br />
dem Schutze Manitus? Wussten sie überhaupt, dass<br />
es das große Geheimnis gab? All diese Fragen beschäftigten<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und er dachte lange über sie nach.<br />
Als die Sonne schon hoch über den Wipfeln der<br />
Bäume stand, war er endlich zu einem Schluss gekom-<br />
13
men: Wenn diese Geschöpfe sich tatsächlich so gegenüber<br />
den Kindern Manitus verhielten, wie es berichtet<br />
wurde, konnten sie unmöglich von diesem selbst geschaffen<br />
sein. Also konnten sie nicht unter dessen Schutz stehen.<br />
Aber wenn sie das nicht taten, konnten sie auch nicht<br />
erfahren haben, dass dieser existiert.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte allen Schlamm aus seinem Geiste<br />
gewaschen und fühlte sich wieder frisch. Jetzt bedankte<br />
sich der Sohn des Bugonaigeeshing noch bei dem Geist<br />
der am vorigen Tag geschossenen Kanadagans und entschuldigte<br />
sich dafür, dass er sie getötet hatte. Auch dies<br />
tat er stehend mit erhobenen Armen, die Handflächen<br />
nach außen gekehrt. Dann kniete er sich in die Mitte des<br />
Rumpfes, ergriff die Paddel und fuhr in Richtung Ufer. Inzwischen<br />
waren die Enten wach und stoben aufgeregt<br />
auseinander, wenn sich der Bug des Kanus durch sie hindurch<br />
schob. Ein Paar Schritte hinter dem Rindenboot jedoch<br />
schloss sich der Vogelteppich wieder.<br />
Als er am Ufer anlegte, kamen ihm gerade die Kinder<br />
entgegen gerannt. Sie stürzten die Uferböschung herab<br />
und sprangen mit Anlauf in das kalte Wasser. Einige<br />
der Kleinsten stockten noch und wollten nicht recht springen,<br />
aber mit geschlossenen Augen und zugehaltener<br />
Nase flog doch schließlich ein Dreikäsehoch nach dem<br />
anderen in hohem Bogen in das nasse Element. Dieses<br />
Ritual wiederholten die Kinder des Stammes jeden Morgen.<br />
Und da niemand als Feigling dastehen mochte, badete<br />
auch jeder wenigstens kurz in der kalten Flut.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> trug sein Kanu auf den Schultern zum<br />
Lagerplatz und legte es wieder auf den Kopf, damit es<br />
trocknen könne. Dann entkleidete er sich schnell, rannte<br />
wie zuvor die Kinder ans Ufer und sprang mit einem großen<br />
Satz hinein. Er tauchte unter, ließ seine langen Haare<br />
14
mit der leichten Strömung spielen und bespritzte sich mit<br />
den größeren Jungen von elf oder zwölf Sommern und<br />
Wintern. Als den Kindern langsam zu kalt wurde, stiegen<br />
sie alle einschließlich <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> aus dem Wasser und<br />
trockneten sich mit Federbüscheln und Binsenmatten ab.<br />
Die Kinder trennten sich unter fröhlichem Geschrei in kleinere<br />
Gruppen und zogen in den angrenzenden Wald oder<br />
auf die umliegenden Hügel zum Spielen. Manche der größeren<br />
strebten auch dem Ufer zu, um zu Fischen.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> jedoch schlenderte seinem Vaterhaus zu.<br />
Hier setzte er sich zu seiner Mutter, welche gerade mit<br />
dem Frühstück beschäftigt war, ans Feuer. Bugonaigeeshing<br />
und Der läuft wie ein Hirsch saßen nicht hier. Vielleicht<br />
waren sie bei Sonnenaufgang zur Jagd in den Wald<br />
aufgebrochen, vielleicht mit einem Kanu zum Fischen auf<br />
das Wasser gefahren. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> wusste es nicht, er fragte<br />
aber auch nicht, das hätte sich nicht gehört. Er nahm ein<br />
Holzschälchen aus einer Ledertasche, die auf dem Boden<br />
lag und setzte sich an seinen Platz auf dem <strong>Bär</strong>enfell.<br />
Dann schöpfte er mit einem Holzlöffel Suppe aus dem<br />
Messingkessel in sein Schälchen und begann zu essen.<br />
Dabei musste er daran denken, wie er als fünfjähriger<br />
Knabe noch ständig Brühe auf sein Fell gekleckert hatte.<br />
Heute war sein Mund groß genug, damit der Löffel problemlos<br />
hinein und wieder hinaus kam.<br />
Während <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> das Schälchen in der Hand hielt<br />
und die Speise löffelte, fragte die Mutter nichts, obwohl sie<br />
unmöglich wissen konnte, wo er gewesen war. Aber der<br />
Sohn schwieg auch von sich aus und so bohrte sie nicht in<br />
seiner Seele.<br />
Die roten Kinder Manitus wussten, dass ein Mensch<br />
immer nur sich selbst richtig kennen konnte. Man konnte<br />
niemals einen anderen ganz kennen. Natürlich war es<br />
15
möglich, einen Menschen besser zu kennen, als einen<br />
anderen, aber man wusste doch immer nur, wie dieser<br />
Mensch von außen aussah. Höchstens ein heiliger Mann<br />
konnte sehen, wie ein Mensch von innen aussah, aber<br />
dann doch bei einem ganz kleinen Teil und er konnte und<br />
durfte es doch nur dann, wenn er sonst einen Kranken<br />
nicht heilen konnte.<br />
Als das Schälchen leer war, stand <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> auf<br />
und machte einige Schritte zur Tür, hob das Eingangsfell<br />
und trat vor die Hütte auf die Waldwiese, auf der das Lager<br />
lag. Langsam bewegte er sich zwischen den Wigwams<br />
auf die Behausung der Familie von Rotes Messer zu. Dort<br />
stand vor dem Eingang sein Freund und fütterte einen<br />
Hund. Als der Häuptlingssohn herantrat, blickte er auf und<br />
über seine Züge huschte ein freudiges Lächeln. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong><br />
fragte:<br />
"Willst du mit mir Aale fangen kommen, mein<br />
Freund, Sohn des brüllenden Büffels?" "Sohn unseres<br />
Häuptlings, als ich gestern Nacht zu unserem Wigwam<br />
lief, hörte ich, wie einige Frauen darüber sprachen, der<br />
Rat der Alten hätte beschlossen, eine Schar Männer hinauszuschicken.<br />
Die sollen sehen, ob Manoomin, der wilde<br />
Reis, schon reift. Verspürt mein Freund Lust, mit ihnen zu<br />
gehen?" "Ja, Rotes Messer, lass uns in mein Kanu steigen<br />
und mit diesen Männern fahren! Wir wollen auf das Wasser<br />
paddeln und sehen, ob die Ähren des Manoomin<br />
schon aufspringen!"<br />
"Komm, wir sagen sofort unseren Familien Bescheid,<br />
wo wir sind. Hole dir eine Büffelblase voll Pemmikan!<br />
Wir treffen uns bei den Booten!" Auf diese Worte hin<br />
verschwand Rotes Messer im Wigwam und der älteste<br />
Sohn des Häuptlings, der schon in seinem jungen Alter im<br />
Dorf einiges Ansehen genoss, suchte den des Häuptlings<br />
16
auf. Dort nahm er eine mit Pemmikan gefüllte Büffelblase<br />
von einem Asthaken an dem Holzgerüst des Rindenhauses<br />
und hängte sie sich mit einem Lederband an den Gürtel.<br />
Diese aus Fett, Erdnüssen, Beeren, Kräutern und Trockenfleisch<br />
zusammengesetzte Konserve war der platzsparende<br />
und energieliefernde Proviant der durch die<br />
Wälder streifenden Jäger und Wanderer. In Notzeiten<br />
konnte eine Hand voll dieser Masse den Hunger eines<br />
Tages stillen.<br />
Als nächstes nahm er den mit vielen Pfeilen gefüllten Köcher,<br />
welcher über seinem Lager hing und hängte ihn sich<br />
über den Rücken. Der Bogen steckte im Futteral aus<br />
Wolfsfell, das mit einigen Lederschnüren am Köcher festgeknotet<br />
war. Zu der Mutter sagte er, und das waren die<br />
ersten Worte, die sie heute Morgen miteinander sprachen:<br />
"Ich fahre mit anderen Männern hinaus auf das<br />
große Wasser, um zu sehen, ob der Wilde Reis reif ist."<br />
"Gut." <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> verließ den Wigwam und begab sich ans<br />
Ufer, wo einige Kinder versuchten, Steine möglichst weit<br />
in den See hinaus zu werfen. Als <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> bei seinem<br />
Kanu eintraf, wartete sein Freund schon auf ihn. Er hatte<br />
das Boot anhand der eingebrannten Zeichen am Bug erkannt.<br />
Außer ihm standen auch schon einige andere junge<br />
Männer, die offensichtlich auch nach dem Manoomin sehen<br />
wollten, an ihren Booten. Da endlich kam einer aus<br />
dem Rat der Alten, grauer Wolf, und forderte die jungen<br />
Krieger mit einem Ruf auf, sich zu sammeln. Die ganze<br />
Schar sammelte sich um den Greis, der einmal ein bedeutender<br />
Kriegshäuptling gewesen war. Heute machte er<br />
seinem Namen wieder alle Ehre: Er war mit einem Lendenschurz<br />
aus einem Wolfsfell, einem Hemd und Leggins<br />
bekleidet, die über und über mit Streifen aus Wolfsfell behängt<br />
waren. Grauer Wolf war dürr und sicherlich nicht<br />
17
mehr so in vollen Kräften, dass er noch als Führer mit einer<br />
Schar Krieger in die Schlacht ziehen konnte. Aber er<br />
bewegte sich geschmeidig und kraftvoll, wie ein junger<br />
Mann. Seine Augen und Ohren hatten nicht an Schärfe<br />
verloren und sein Geist war klar geblieben. Bei Verhandlungen<br />
mit feindlichen Führern pflegte er immer, dabei zu<br />
sein und dank seiner blitzschnellen Gedanken und spitzen<br />
Zunge ging er fast immer als Sieger vom Verhandlungsplatz.<br />
Wo immer er auftauchte, wurde ihm großer Respekt<br />
bezeigt. Dieser Respekt war fast so groß, wie der vor Bugonaigeeshing.<br />
Auch jetzt scharten sich die jungen Leute in gehörigem<br />
Abstand um den grauen Wolf. Er begrüßte sie kurz<br />
und forderte sie auf, mit ihm zu kommen und die Ähren<br />
des Wildreises zu begutachten, obwohl das gar nicht nötig<br />
gewesen wäre, da sowieso alle Zweck und Sinn dieser<br />
Ausfahrt kannten und darauf brannten, endlich loszufahren.<br />
Aber jeder beherrschte sich und keiner wollte seine<br />
Ungeduld vor den anderen zeigen.<br />
Schon rief der graue Wolf zum Aufbruch. Sämtliche<br />
Indianer hoben die Boote auf ihre Schultern und gingen<br />
zum Wasser. Als ein Boot aufschwamm, stiegen immer<br />
zwei, oder drei Leute hinein und nahmen die Paddel zur<br />
Hand. Der hintere benutzte das seine als Ruderblatt und<br />
sorgte dafür, dass man den Kurs hielt, auf keine Steine<br />
auflief und nicht mit anderen Booten kollidierte. Die restliche<br />
Mannschaft sorgte für den Vortrieb. Grauer Wolf saß<br />
allein in seinem Kanu und trieb es an die Spitze der langen<br />
Schlange von Rindenbooten. Er gab die Richtung an<br />
und alle Boote folgten ihm.<br />
Der Alte steuerte auf ein Reisfeld nahe am Ausgang<br />
der Bucht zu. Dort war die Sonneneinstrahlung am<br />
günstigsten und man konnte an diesem Ort die früheste<br />
18
Reife erwarten. Der Reis war nur an einigen Tagen im<br />
Jahr zu ernten und man musste genau aufpassen, um<br />
diese Tage abzupassen. Aber es wurden nicht alle Reisfelder<br />
gleichzeitig reif und das war auch gut so, denn<br />
sonst hätte man gar nicht alle abernten können. Und auf<br />
eine gute Reisernte waren die roten Menschen hier angewiesen,<br />
um den Winter zu überleben.<br />
Dieses Jahr ließ alles auf eine gute Ernte schließen,<br />
weil es günstiges Wetter und wenig Schädlinge gegeben<br />
hatte. Deshalb waren die Indianer in den Booten alle<br />
sorglos und gut gelaunt. Bis die Sonne schon über ihren<br />
Höhepunkt hinweg gewandert war, paddelten sie. Dann<br />
endlich hatten sie ihr Ziel erreicht und festgestellt, dass<br />
der Reis schon in voller Reife stand und sich der Stamm<br />
beeilen musste. Der graue Wolf wählte als Boten zwei<br />
junge Krieger, die eben erst in den Kreis der Männer aufgenommen<br />
waren: Jagender Wolf und Rote Wolke. Sie<br />
machten sich unverzüglich auf den Rückweg mit der Meldung<br />
an Bugonaigeeshing, der Stamm solle sofort alle<br />
Erntewerkzeuge zusammensuchen und so schnell, wie<br />
möglich zum Reisfeld am Munde der Bucht kommen. Die<br />
beiden jungen Menschen machten sich sofort stolz an ihre<br />
Aufgabe heran. Nach einiger Zeit waren sie nurnoch als<br />
kleine schwarze Punkte an der Stelle zu sehen, an der<br />
sich Himmel und Erde trafen.<br />
Inzwischen steuerte die Gruppe des grauen Wolfes<br />
an eine Stelle des Ufers zu, die nicht mit Schilf bewachsen<br />
war, und deshalb gut als Landeplatz für eine größere<br />
Kriegerschar dienen konnte. Der Sohn des Bugonaigeeshing<br />
hielt sich mit seinem Freund eher am Ende des Zuges<br />
auf und unterhielt sich mit den Insassen des Nachbarbootes,<br />
schleichender Luchs und stehender Hecht. <strong>Roter</strong><br />
<strong>Bär</strong> saß am hinteren Ende seines Kanus und kontrol-<br />
19
lierte ständig die Richtung. Von Zeit zu Zeit berichtigte er<br />
sie durch einen Paddelschlag, oder er umfuhr einen<br />
Schilfbusch, der mit seinen scharfen Halmen den aus Birkenrinde<br />
bestehenden Boden des Gefährtes aufgeschlitzt<br />
hätte.<br />
Rotes Messer gab dem Boot mit kräftigen Paddelschlägen<br />
den nötigen Schwung. Jetzt kam das Gespräch<br />
auch auf die Gerüchte, die der Irokesenhändler im Dorf<br />
über fremde Eindringlinge verbreitet hatte, die angeblich<br />
eine Haut haben sollten, so weiß, wie Schnee. Außerdem<br />
hatte der Händler von sonnengelben Haaren erzählt, und<br />
die Fremden sollten Blitz und Donner mit langen Stöcken,<br />
die sie an die Schulter hielten, machen könnten.<br />
Der stehende Hecht äußerte sich dazu abfällig: "Ich<br />
höre nicht auf das Singen vorbeifliegender Vögel, wie mag<br />
es denn möglich sein, dass Menschen Blitz und Donner<br />
machen können? Diese Worte glaube ich nicht eher, als<br />
dass ich einen solchen Mann gesehen habe" Da warf<br />
schleichender Luchs ein: "Dieser Händler kommt jeden<br />
Sommer und jeden Winter nach weiße Erde. Oft bringt er<br />
uns Neuigkeiten aus seiner Heimat mit und oft schon haben<br />
wir diese nicht geglaubt. Es stellte sich dann aber<br />
immer heraus, dass sie doch wahr waren. Vielleicht<br />
stimmt diese Nachricht jetzt auch, so unmöglich sie doch<br />
klingen mag" <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> mischte sich in das Gespräch ein:<br />
"Ich war an dem heutigen Morgen auf dem See und habe<br />
genau über diese Blassgesichter nachgedacht."<br />
>Blassgesichter
tu, dass Männer mit heller Haut und kurzen, gelben Haaren<br />
unser Land stehlen?"<br />
Der Hecht machte den Mund auf, um etwas zu sagen,<br />
doch der Sohn des brüllenden Büffels war schneller:<br />
"Die Blassgesichter sind nicht vom großen Geheimnis geschaffen,<br />
denn Blitz und Donner kann nur dieses selbst<br />
machen. Manitu selber würde aber kein lebendes Wesen<br />
machen, das seinen Kindern, mit denen er sich eins weiß,<br />
und die sich mit ihm eins wissen, bekämpft."<br />
Damit war das Thema für dieses Mal abgeschlossen.<br />
Inzwischen war das Ufer schon so nahe, dass jeder,<br />
der neben seinem Rindenboot hinuntersah, durch das<br />
glasklare Wasser den mit Wasserpflanzen bewachsenen<br />
Grund erkennen konnte. Und wer ein gutes Auge hatte,<br />
sah hin und wieder einen Hecht, oder eine Forelle zwischen<br />
den Stängeln stehen. Besonders der stehende<br />
Hecht hielt nach ersteren Ausschau, da es sich ja um seine<br />
Namenstiere handelte. Sie hatten mit ihm die Jagdweise<br />
gemeinsam: Wenn der stehende Hecht einem Wild auflauerte,<br />
lag er, genau wie das Tier, starr und reglos in seinem<br />
Versteck und wartete, bis die Beute nah genug herankam.<br />
Dann legte er blitzschnell einen Pfeil auf die Sehne<br />
und jagte ihn dem Tier ins Herz. Der Fisch stürzte sich<br />
selber mit Pfeilgeschwindigkeit auf ein kleineres Tierchen.<br />
Diese Jagd- und Kampfesweise war der Grund für den<br />
sonderbaren Namen des jungen Mannes.<br />
Die indianische Flotte erreichte langsam die Uferzone<br />
des Sees und wurde langsamer. Immer der hintere<br />
von den jeweils zwei Paddlern in einem Boot übernahm<br />
den Vortrieb, der vordere kniete im Bug nieder und lenkte<br />
von hier aus um Unterwasserhindernisse herum, da man<br />
von vorne besseren Überblick hatte.<br />
21
Sacht liefen die Kanus auf den flachen Sandstrand<br />
auf und schabten über die feinen Körner, bis diese zu viel<br />
Widerstand boten, und die Rindenboote festsaßen. Die Insassen<br />
stiegen aus und zogen die Boote vollends auf das<br />
Ufer. Dort drehten sie sie um und ließen ihre Gefährte<br />
trocknen. Trockenes Reisig wurde gesammelt und Feuer<br />
entfacht. Stahl und Stein konnten die Anishinabeg von<br />
Händlern der Irokesen oder Huronen, die mit den Weißen<br />
Kontakt hatten, gegen Felle erwerben. Bald huschte unruhiges<br />
Flammenlicht über die Zweige und Blätter der Bäume<br />
und ein leiser Wind, der gegen Abend aufgekommen<br />
war, säuselte in ihren Kronen.<br />
Die Sonne schickte sich schon an, hinter dem Horizont<br />
zu verschwinden und färbte das Wasser in ein orangerotes<br />
Licht, das eine Straße von der Sonne, bis zu den<br />
Augen der jungen Indianer bildete. Grauer Wolf stand<br />
noch am Ufer und sah über die endlose Weite des Gewässers,<br />
an dem bis jetzt nur rote Stämme lebten und<br />
siedelten. Keiner wusste, was in seinem Kopf vor sich ging<br />
und auch sein faltenreiches Gesicht verriet mit keinem Zucken<br />
und keiner Bewegung der Mundwinkel, was sich hinter<br />
der von Narben und Wetter gegerbten Haut abspielte.<br />
Aber jedermann konnte sehen, dass der Älteste der Alten<br />
seine Augen in die Ferne schweifen ließ und ganz offenbar<br />
an Dinge dachte, die noch weit weg lagen. Vielleicht<br />
hatte er ja auch von den Behauptungen des Irokesenmannes<br />
gehört.<br />
Plötzlich wandte sich der Greis um und rief einige<br />
Worte. Ein paar der Krieger bauten unter seiner Anleitung<br />
einen Windschutz aus den Rindenkörpern der Kanus auf<br />
und hielten so den Luftstrom ab, der des Nachts vom Land<br />
auf die riesige Wasserfläche wehte.<br />
22
Nach dieser Arbeit lagerte man sich um die Feuer,<br />
die nach Indianersitte nur gerade so groß gehalten wurden,<br />
dass gefährliche Tiere wie <strong>Bär</strong>en sich fernhielten.<br />
Außerdem bemühten sich die Menschen in dieser Wildnis<br />
um wenig rauchende Brandstellen, weil unnötiger Qualm<br />
feindlichen Spähern, die sich eventuell in der Gegend befanden,<br />
das Lager verriet. Hier und da kramte jemand in<br />
seiner Ledertasche nach der Büffelblase mit Pemmikan<br />
und aß eine Hand voll dieser wohlschmeckenden Konserve.<br />
Dann wurde das Gefäß mit einem Lederriemen verschnürt<br />
und wieder weggepackt. Man musste sparsam mit<br />
Nahrung umgehen.<br />
Auch <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>, Stehender Hecht, Schleichender<br />
Luchs und Rotes Messer griffen in ihre Blase. Die vier saßen<br />
an ihrem Feuer, das sie am Übergang vom Sandstrand<br />
zum Wald entfacht hatten. Von hier hatte man guten<br />
Ausblick auf das Wasser und konnte in den Wald hinein<br />
sehen. Die Freunde sprachen über die Sache, die sie<br />
im Moment anscheinend am meisten beschäftigte und jeder<br />
der jungen Indianer fühlte, wie er bereit war, mit aller<br />
Macht, die in ihm stand, gegen die Eindringlinge zu kämpfen<br />
und koste es sein Leben.<br />
Jeder fühlte den Hass gegen die weißen Landräuber,<br />
die er doch selbst noch nie gesehen hatte, in sich<br />
stärker werden. Sie wussten ja noch nicht einmal, ob all<br />
das, worüber sie sich gerade Gedanken machten, nicht<br />
vielleicht nur ein falsches Gerücht des Irokesenmannes<br />
war und in Wirklichkeit nur in dessen Träumen existierte.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> merkte, wie seine Seele sich schwarz<br />
färbte von einem Dreck, den nicht auswaschen konnte<br />
und der so fest in ihr verwurzelt war, wie ein Baum in der<br />
Erde. Es brachte ihm nichts, den Baum, welcher aus Hass<br />
gemacht war, zu fällen, denn dieser würde immer wieder<br />
23
austreiben, wie eine gekappte Eiche, und er würde den<br />
Sohn des Häuptlings weiterhin quälen. Man musste diesen<br />
Baum entwurzeln, wenn man dieses Problem lösen<br />
wollte. Dann aber blieb in dem Seelenboden ein großes<br />
Loch, schwierig zu schließen und tief, dass man den Boden<br />
nicht sehen konnte. Wenn im Wald einer der Baumriesen<br />
bei Sturm aus der Erde gehoben wurde, schloss<br />
sich in einigen Jahren die Grube mit Pflanzen und Moos.<br />
In der Seele eines Menschen aber schloss sich eine solche<br />
Lücke nur, wenn ein heiliger Mann half. Ein solcher<br />
Mann stand mit höheren Wesen und mit dem großen Geheimnis<br />
viel stärker in Verbindung, als seine Stammesgenossen<br />
und konnte durch diese Kräfte Kranke heilen und<br />
sogar manchmal kleine Wunder vollbringen. Außerdem<br />
war er für alle Feste des Stammes verantwortlich. Wegen<br />
all dieser Dinge genoss er hohen Respekt bei den Mitgliedern<br />
des Stammes. Heilige Männer traten in mehreren<br />
Prüfungen dem Midewiwinbund bei, einer Gemeinschaft,<br />
die heilige Männer aus dem ganzen Stamm aufnahm. Zu<br />
den Männern der Midewiwin gingen auch Leute mit einer<br />
kranken Seele, und deshalb beschloss <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>, ihn aufzusuchen,<br />
sobald er wieder zu Hause in Weiße Erde war.<br />
Der stehende Hecht aß noch eine Hand voll Pemmikan<br />
und wickelte sich dann in sein Hirschfell, wohl, um<br />
zu schlafen. Auch die beiden anderen Freunde verspürten<br />
allmählich Müdigkeit und legten sich hin.<br />
Langsam legte sich die Dunkelheit über Bäume,<br />
Gräser und das Wasser, über die knisternden, hell lodernden<br />
Feuer und über die Menschen, die an ihnen saßen.<br />
Die Gespräche am Ufer wurden leiser und schliefen<br />
schließlich ganz ein. An den Kronen der Ahorne, der Eichen<br />
und der Buchen zuckten die Lichtspiele der Flammen.<br />
Einige Sterne blinkten schon verstohlen am großen,<br />
24
schon fast schwarzen Firmament. Da und dort hockte<br />
noch eine Gestalt mit langen Haaren an einem Feuer,<br />
wärmte sich daran die Hände und sah sinnend über die<br />
unendliche Wasserfläche, in der sich jetzt die Lichtpunkte<br />
der Sterne spiegelten.<br />
Aber auch jene, die noch wachten rollten sich bald<br />
in ihre Felle und schliefen den Schlaf, der dem Tier und<br />
dem Indianer eigen ist, jenen Schlaf, in den auch noch das<br />
kleinste Geräusch von außen eindringt, und der nie so tief<br />
wird, dass sich ein feindlicher Kundschafter unbemerkt<br />
anschleichen könnte.<br />
Es war nur einer, der in dieser Nacht an diesem Ort<br />
nicht schlafen konnte: <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>. Der älteste Sohn von<br />
Bugonaigeeshing musste immer fort daran denken, wie<br />
seinen Brüdern im Osten, in der Richtung der aufgehenden<br />
Sonne vielleicht in diesem Augenblick das Land, auf<br />
dem sie jagten, träumten, fischten und ihre Toten begruben,<br />
wie ihnen möglicherweise gerade in diesem Augenblick<br />
dieses Land gestohlen wurde.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> konnte sich nicht vorstellen, wie man<br />
Land stehlen konnte, weil die Erde die Mutter der Menschen<br />
war und man seine Mutter nicht besitzen konnte.<br />
Aber wenn man Mutter Erde nicht besitzen konnte, dann<br />
musste es doch auch ganz und gar unmöglich sein, ein<br />
Stück von ihr zu verkaufen, zu kaufen, oder sogar zu stehlen.<br />
Auf der anderen Seite aber konnte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> nicht<br />
glauben, dass der Händler der Irokesen gelogen hatte,<br />
was hätte der für einen Nutzen davon haben sollen? Diese<br />
Frage kehrte immer wieder zurück und ließ dem Roten<br />
<strong>Bär</strong>en keine Ruhe. Schließlich erhob er sich und bestieg<br />
einen Baum. In einiger Höhe setzte er sich in eine Astgabel<br />
und schaute auf den See. Ein heller Schimmer hinter<br />
den Bäumen verriet schon, wo bald der Mond aufgehen<br />
25
würde und <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> wartete, bis dieser sich über die<br />
dunklen Umrisse des Waldes hinausschob und ein kleiner<br />
Teil seiner Sichel erschien. Dann ließ sich der junge Indianer<br />
herunter und begab sich zum Schlafen ans Feuer.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> trat lautlos ans Feuer heran, um seine Freunde<br />
nicht zu wecken und schlug sein Büffelfell um sich. Dann<br />
legte er sich hin, das Gesicht zum Mond gedreht, welcher<br />
in diesen Tagen im Südwesten aufging.<br />
Die leuchtende Sichel hatte heute eine goldgelbe<br />
Färbung und war schon bis zur Hälfte über den bewaldeten<br />
Hügeln erschienen. Der Sohn des Oberhäuptlings des<br />
Stammes der Anishinabeg wartete geduldig darauf, dass<br />
der heilige Himmelskörper sich ganz zeigen würde und<br />
sah zu, wie er sich Stück um Stück über den Rand der Erde<br />
hinausschob. Schließlich wurde auch die untere Spitze<br />
der Sichel sichtbar und ein herrlicher Anblick bot sich dem<br />
jungen Mann: Die gelbe Form des Mondes stach gegen<br />
den nachtschwarzen Himmel in Farben ab, die nur die<br />
Steine beschreiben können, weil sie die weisesten Lebewesen<br />
dieser Welt sind.<br />
Schließlich übermannte den Krieger aber die Müdigkeit<br />
und er schlief traumlos bis zum Morgen.<br />
Zu der Zeit, zu der der Rote <strong>Bär</strong> in den Schlaf hinüberglitt,<br />
war im Dorf Weiße Erde höchster Betrieb. Vor<br />
einiger Zeit waren die Boten des grauen Wolfes eingetroffen<br />
und hatten ihren Häuptling Bugonaigeeshing dabei getroffen,<br />
als dieser gerade unten am Ufer sein Gebet an<br />
das große Geheimnis gesprochen hatte. Die Boten hatten<br />
ehrfürchtig gewartet, bis Bugonaigeeshing sein Gespräch<br />
mit Manitu beendet hatte. Dann trug Rote Wolke seine<br />
Meldung vor. Der Oberhäuptling ging sofort zum Wigwam<br />
seines Herolds und befahl ihm, dem ganzen Dorf mitzutei-<br />
26
len, dass er noch diese Nacht zum Reisfeld aufbrechen<br />
wollte.<br />
Innerhalb kürzester Zeit, waren alle Menschen, die<br />
in dem Dorf wohnten, auf den Beinen. Vom Säugling bis<br />
zum Greis lief jeder umher, es entstand aber kein Durcheinander,<br />
weil jeder Rücksicht auf die anderen nahm und<br />
so entfaltete sich auch kein Streit. Die kleinen Kinder hielten<br />
sich eng an ihrer Mutter und folgten dieser auf Schritt<br />
und Tritt. Die größeren Kinder packten die Dinge, die sie<br />
benötigten, in Ledertaschen: Bogen, Pfeile und Messer.<br />
Die Erwachsenen packten außerdem die Werkzeuge für<br />
die Reisernte zusammen. Dazu gehörten aus Holz geschnitzte<br />
Schlagstöcke und Rindenplanen, sowie große<br />
Kessel. Auch in dem Wigwam der Familie von Bugonaigeeshing<br />
ging es so zu. Wenn alle Familienmitglieder fertig<br />
waren, ging man nach unten ans Ufer und wartete, bis<br />
die anderen Familien von Weiße Erde ebenfalls fertig<br />
wurden. In dieser Wartezeit unterhielten sich die Erwachsenen.<br />
Die Kinder spielten und lachten. Oft wurden Scherze<br />
erzählt und es verbreitete sich eine vergnügte Stimmung.<br />
Dann verabschiedeten sich die Leute von den wenigen<br />
Männern, die zum Schutz des Dorfes in ihren Hütten<br />
geblieben waren.<br />
jeder Krieger trug sein Kanu ins Wasser und die<br />
Frauen und Kinder halfen ihm beim Beladen: Jede Ledertasche<br />
musste einzeln Schnüren an den hölzernen Spanten<br />
der Boote befestigt werden. Es wurde auch geprüft, ob<br />
das getrocknete Moos, das beim Kentern des Gefährts ein<br />
Sinken verhindern sollte, noch an seinem Platz in den<br />
hochgebogenen Enden steckte.<br />
Als alle damit fertig waren, stiegen immer drei Leute<br />
in ein Kanu: vorne und hinten je ein Erwachsener und in<br />
der Mitte ein Kind. Zwischen den Personen waren die Ge-<br />
27
päckstücke verstaut. Häuptling Bugonaigeeshing, der vorne<br />
in seinem Boot saß, paddelte an die Spitze des langen<br />
Zuges und schlug die Richtung des Reisfeldes ein. Jeder<br />
sah in der Dunkelheit nur die beiden Boote vor und hinter<br />
ihm richtig. Von den anderen Kanus waren bestenfalls die<br />
schemenhaften Umrisse auf der silbrig glänzenden und<br />
leise plätschernden Fläche des Sees zu erkennen. Wenn<br />
vorne der Häuptling eine Kurve machte, einen Felsen, oder<br />
eine kleine Insel umfuhr, dann machte die gesamte<br />
Schlange diese Biegung mit.<br />
So bewegten sich die Bewohner von Weiße Erde in<br />
einem ziemlich zügigen Tempo über das Wasser, ein Boot<br />
nach dem anderen. Nur hin und wieder hörte man das<br />
plätschern eines Paddels, das unsauber aus dem nassen<br />
Element gehoben worden war, oder das Geräusch von<br />
den vom Ruderblatt fallenden Tropfen. Sonst drangen in<br />
die Ohren der Indianer nur die Stimmen der Nacht, das<br />
Schreien der Eule, des Kauzes, oder das Heulen eines<br />
Coyoten. Einmal ließ auch ein Wolfsrudel seinen schönen,<br />
und doch zugleich schaurigen Gesang ertönen.<br />
Die ganze Nacht hindurch paddelten die Männer,<br />
die Frauen hielten die Richtung und die meisten Kinder<br />
schliefen. Diejenigen, die von ihnen wach waren, meist ältere,<br />
verfolgten die Reise mit aufmerksamen Blicken. Sie<br />
schauten hinauf zum Mond und zu den Sternen. Sie genossen<br />
die unendliche Stille der Nacht, die doch nicht<br />
schwieg.<br />
Die Sonne schickte gerade ihre ersten, blutroten<br />
Strahlen über das große Wasser, als die Flotte des Bugonaigeeshing<br />
auf den Strand auflief, an dem die Spähertruppe<br />
sich für die Nacht gelagert hatte. Jeder begrüßte<br />
seine Stammes- und Familienmitglieder. Die Männer entluden<br />
ihre Kanus. Gemeinsam wurde das aus Pemmikan<br />
28
estehende Frühstück eingenommen und einige Feuer<br />
wieder neu entfacht. Danach bestimmte Bugonaigeeshing<br />
eine Gruppe von vielleicht dreißig Mann, die am Ufer einige<br />
Trockengestelle für den Reis aufbauen sollte. Die übrigen<br />
Erwachsenen und größeren Kinder sollten mit dem<br />
Häuptling in Kanus auf den See hinaus fahren. Sie nahmen<br />
die von zu Hause mitgebrachten Schlagstöcke mit<br />
und je Boot eine lange Stange, die sie zuvor im Wald geschnitten<br />
hatten.<br />
Jetzt stieg immer ein Mann und zwei Frauen, oder<br />
größere Kinder in ein Kanu. Dann fuhren die Indianer in ihren<br />
Verkehrsmitteln zum Rand des Reisfeldes. Die Frauen<br />
und Kinder bogen nun mit einem Stock einige Reishalme<br />
über den Rand des Kanus und schlugen mit dem anderen<br />
einmal kräftig auf die Ähren. Dabei lösten sich die Samen<br />
aus der Pflanze und die meisten von ihnen fielen ins Boot,<br />
einige aber landeten auch im Wasser und sicherten so eine<br />
gute Reisernte für das nächste Jahr. Die Kunst des<br />
Mannes bestand darin, stehend mit der langen Stange, die<br />
er dabei auf den Grund aufsetzte, das Boot von einem<br />
Reisbüschel zum anderen zu bewegen, ohne dabei einen<br />
Felsen zu rammen, oder im Matsch und Schlick festzusitzen.<br />
Sobald das Kanu voll mit Reiskörnern war, stocherte<br />
der Mann es aus dem Reisfeld heraus und paddelte es<br />
zum Ufer. An einem Tag war ein Kanu ungefähr drei, oder<br />
vier mal so voll des kostbaren Lebensmittels, dass man<br />
zum Ufer fahren musste. Dort zog man sein Rindenboot<br />
aufs Ufer, legte eine der mitgebrachten Rindenplanen<br />
daneben und kippte das Gefährt auf die Seite. Der gesamte<br />
Inhalt landete auf der Plane und konnte so von zwei<br />
Menschen zusammen weggetragen werden. Das taten die<br />
Trockner, die Menschen, die für das Trocknen des Reises<br />
29
zuständig waren. Danach breiteten sie die Körner auf den<br />
Trockengestellen aus, die sie an Plätzen erbaut hatten, an<br />
denen möglichst lange am Tag die Sonne schien. Auf diesen<br />
Gestellen sog die Sonne die Feuchtigkeit, die im Reis<br />
verblieben war, auf und machte ihn bereit zum Rösten.<br />
Die Trockner hatten jede Menge zu tun, denn beständig<br />
kamen voll beladene Boote am Strand an und es war eine<br />
zeitaufwendige Aufgabe, die Samen so auf den Gerüsten<br />
zu verteilen, dass auf keinen Fall Schimmel an das<br />
Grundnahrungsmittel der Waldindianer kommen konnte.<br />
Als die Sonne am höchsten am Himmel stand, aßen<br />
die Anishinabeg von Weiße Erde gemeinsam und unterhielten<br />
sich ein Wenig. Danach ging die Arbeit bis zum<br />
Abend weiter. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte keine Zeit, weiter über das<br />
Thema nachzudenken, das ihn in den letzten Tagen so<br />
beschäftigte, er war zu den Trocknern eingeteilt worden.<br />
Ohne Unterlass verteilte er Körner auf den Gestellen und<br />
empfing neue Bootsladungen.<br />
Am Abend waren Viele sehr müde. Einige aßen<br />
nicht einmal, sondern legten sich gleich schlafen. Auch<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> war jetzt zu schläfrig, um noch weiter über seine<br />
Gefühle nachzudenken. Er hatte ja letzte Nacht nur sehr<br />
wenig geschlafen und vermochte jetzt nur noch, den Sonnenuntergang<br />
abzuwarten, dann schlief er ein.<br />
Auch seinen Freunden, mit denen er sich wieder an<br />
ein Feuer gesetzt hatte, ging es nicht anders. Sie nickten<br />
noch vor dem Sohn des Häuptlings ein. Bevor <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> in<br />
seinem Fell in den Schlaf hinüberglitt, bekam er noch mit,<br />
wie sein Vater und der graue Wolf an einem der benachbarten<br />
Feuer über den weißen Mann sprachen. Dann fielen<br />
ihm die Augenlieder zu und er wachte bis zum Sonnenaufgang<br />
am nächsten Tag nicht auf. Die folgenden<br />
30
Tage verstrichen nicht anders, als dieser und waren ebenso<br />
voll Arbeit.<br />
Als schließlich das ganze Reisfeld und noch einige<br />
andere in, die in der Nähe lagen vollkommen abgeerntet<br />
waren, hatte auch schon der Reis vom ersten Erntetag ein<br />
Trockenstadium erreicht, das zum Rösten genügte. Dazu<br />
rammten die Frauen um jede Feuerstelle je drei Stöcke<br />
von Manneslänge so in die Erde, dass sie sich in der Mitte<br />
über dem Feuer trafen. An dem Treffpunkt band man die<br />
Stangen mit Sehnen zusammen, die nicht so leicht zu<br />
brennen anfingen.<br />
Als Holz musste möglichst frisches Material benutzt<br />
werden, am besten waren frisch geschnittene Äste von<br />
Birke, Hasel, oder Ahorn. Dabei konnte man aber nur dicke,<br />
verholzte Triebe verwenden, da zu dünne Zweige<br />
leichter Feuer fingen. Auch war darauf zu achten, sich vor<br />
dem schneiden bei dem Baum zu entschuldigen und sich<br />
zu bedanken. Den Stangen selbst hatte man zu erklären,<br />
welche Aufgabe sie jetzt übernehmen sollten und sich dafür<br />
bedanken, dass sie die Qualen der Feuerhitze für die<br />
Menschen ertrugen. Jedermann war sich dessen bewusst,<br />
dass die Triebe irgendeines Baumes aus dem Wald eine<br />
riesige Verantwortung für das Überleben der Menschen<br />
hier trugen; denn wenn die Stangen sich weigerten, dem<br />
Menschen zu dienen, konnten die Anishinabeg ihren Wildreis<br />
nicht rösten und kamen nicht über den Winter.<br />
Bevor ein Holz in den Boden gestochen wurde,<br />
schälten die Frauen seine Rinde, in der sich das Feuer<br />
leicht verfangen konnte, mit ihren Messern ab.<br />
Oben an der Kreuzung der drei Stöcke wurde eine<br />
etwa unterarmlange Sehnenkordel befestigt, an deren unterem<br />
Ende eine kleine Schlaufe befindlich war. In dieser<br />
Schlaufe hing ein kleiner Haken, manchmal aus einfa-<br />
31
chem Holz geschnitzt, manchmal auch kunstvoll aus Knochen<br />
herausgearbeitet. Auf jeden Fall aber musste der<br />
Haken trotz aller Verzierungen stabil genug sein, um den<br />
mit Reis gefüllten Kessel zu halten, der an ihm hing. An<br />
jeder Feuerstelle stand, saß, oder lag eine Frau, meistens<br />
mit irgendeiner Handarbeit beschäftigt, und rührte ab und<br />
zu mit einem hölzernen oder knöchernem Löffel in den<br />
Körnern, damit diese nicht anbrannten. Waren alle Samen<br />
in dem Kessel von einer schön schwarzen Färbung, so<br />
nahm die Frau den Topf mithilfe eines Lederlappens, den<br />
sie dabei zwischen ihre Hand und den Henkel des Kessels<br />
legte, vom Haken und ging ans Ufer, wo einige Rindenplanen<br />
auf dem Boden lagen. Auf diese schüttete sie den<br />
Inhalt des Gefäßes und gab den Topf einer anderen Frau,<br />
die mit ihm wieder zu dem Feuer, an den er hingehörte,<br />
zurück und hängte das Gefäß an seinen Platz. Anschließend<br />
ging sie zum Trockengestell und füllte den Topf mit<br />
Reis. Jetzt übernahm sie die "Wache". Die Frau, die zuvor<br />
Feuerwache hatte, stellte sich jetzt mit vier anderen Frauen<br />
an die Ecken der Plane, fasste sie mit beiden Händen<br />
und dann bewegte man die Plane so auf und ab, dass die<br />
Reiskörner mitsamt der Spreu, die sich beim Rösten gelöst<br />
hatte, in die Luft flog. Das ganze wurde am Ufer gemacht,<br />
wo es einigermaßen viel Wind gab, damit die Luftströme<br />
die leichteren Hülsen davontrugen, die schwereren<br />
Körner aber wieder auf der Plane landeten. Wenn dieser<br />
Vorgang einigemal wiederholt worden war, trugen die vier<br />
Frauen ihre Folie zu einem Kanu, das gerade am Ufer lag<br />
und ließen den Reis in dieses Boot gleiten. Ein Mann setzte<br />
sich dann in sein Gefährt hinein und paddelte in Richtung<br />
Weiße Erde davon. Unterwegs nahm er hin und wieder<br />
eine, oder zwei Hände voll der harten, länglichen und<br />
schwarzen Körner zu sich. Auf diese Weise benötigte er<br />
32
keinen zusätzlichen Proviant. Wenn er Durst hatte,<br />
schöpfte er mit einem Rindengefäß Wasser aus dem See<br />
und trank es. Wenn der Mann in seinem Heimatdorf anlangte,<br />
zog er sein Boot aufs Land und holte einige der zu<br />
dieser Zeit am Ufer immer bereitstehenden, großen Rindengefäße.<br />
In diese verlud er nun seine Ladung und trug<br />
sie zum Lager im Dorf. Dieses Reislager bestand aus einem<br />
extra für diesen Zweck erbauten Wigwam, dessen<br />
Boden eine tiefe Mulde bildete und viel Platz für die Nahrung.<br />
Vor dem Eingang zum Wigwam stellte er seine Last<br />
ab, ging zum Ufer und trat seine nächste Fahrt an. Die vor<br />
der Hütte abgestellten Rindengefäße trugen Männer, die<br />
speziell für diesen Zweck bestimmt waren, in den Wigwam<br />
und stapelten sie dort. Nachdem all der Reis getrocknet,<br />
geröstet, gedroschen und zum Dorf transportiert war, fuhr<br />
jeder Mann noch einmal zum Lager am Reisplatz, an dem<br />
er jetzt fast zwei Wochen gehaust hatte, und nahm die<br />
Geräte, die Frauen und die Kinder mit. Als alle Familien<br />
vollständig in Weiße Erde eingetroffen waren, stellte sich<br />
allmählich wieder das normale Alltagsleben im Dorf der<br />
Anishinabeg ein: spielende Kinder, jagende Männer, kochende<br />
Frauen und sinnende Alte erfüllten die Tage von<br />
Morgen bis Abend. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> ging zum Medizinmann und<br />
ließ in einer langen Zeremonie sein Seelenloch flicken, er<br />
war wieder ganz der alte.<br />
33
Ungefähr einen Mond nach der Wildreisernte,<br />
im Spätherbst trafen sich <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und sein Freund Rotes<br />
Messer frühmorgens unten an dem Lagerplatz der Kanus.<br />
Sie hatten sich am letzten Abend verabredet, an diesem<br />
Tag aufzustehen, wenn bis auf einige Jäger, die jagen<br />
gingen, das ganze Dorf noch schlief. Sie wollten einen<br />
längeren Jagdzug unternehmen und hatten vor, einen halben<br />
Mond lang die Ufer der Seen und Flüsse abzufahren<br />
und das Wild zu jagen. Am Abend des Vortages hatten<br />
sich die beiden jungen Krieger auf ihre Reise vorbereitet,<br />
sie hatten Pemmikan in eine Büffelblase gefüllt und viele<br />
Mannslängen Lederschnur eingepackt. Jeder hatte seine<br />
Pfeilspitzen und sein Messer noch einmal mit einem<br />
Sandstein geschärft. Jeder hatte kontrolliert, ob der Sehnenbelag<br />
an seinem Bogen in Ordnung war und sich von<br />
seiner Familie verabschiedet.<br />
Jetzt standen sie hier am Ufer des großen Wassers,<br />
nachdem sie sich wortlos mit der erhobenen rechten<br />
Hand, die Innenfläche zum Freunde gedreht, begrüßt hatten.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und Rotes Messer trugen ihre Kanus ins<br />
Wasser und banden sie mit Lederschnüren mit Bug und<br />
Heck an je einem Baum fest. Dann liefen sie zu ihren<br />
Wigwams zurück und holten ihre gepackten Sachen, sowie<br />
Köcher mit Bogen und Pfeilen. Am Ufer machte zuerst<br />
Rotes Messer sein Boot los, gab dem Roten <strong>Bär</strong>en die<br />
Lederbänder in die Hand und belud es. Dann machte <strong>Roter</strong><br />
<strong>Bär</strong> das seine los und sein Freund hielt es fest, dabei<br />
lud der Sohn des Bugonaigeeshing seine Sachen hinein.<br />
Als beide Gefährte fertig bepackt und die Ladung auch mit<br />
Lederriemen festgezurrt war, setzte sich jeder der beiden<br />
34
Freunde in das hintere Ende seines Kanus, nahm das<br />
Paddel zur Hand und trieb das kleine Kunstwerk aus Birkenrinde<br />
durch das Wasser vorwärts. Nebeneinander glitten<br />
die beiden Indianer über die spiegelglatte Fläche. Es<br />
war genauso ein schöner Morgen, wie der, an dem <strong>Roter</strong><br />
<strong>Bär</strong> alleine auf die Bucht hinausgefahren war, nur, dass es<br />
heute früher war und die Sonne noch hinter den Hügeln<br />
auf der anderen Seite der Bucht verborgen blieb. Die Enten<br />
wichen quarrend den beiden Menschen aus und gaben<br />
den Kanus den Weg frei. Die beiden Freunde hielten<br />
sich dicht am Ufer, manchmal fuhren sie sogar unter den<br />
kahlen Kronen der überhängenden Bäume. Weil sie kein<br />
Wort sprachen, konnten die beiden Anishinabeg es rascheln<br />
hören, wenn sich ein Tier, sei es eine Maus, oder<br />
ein Fuchs in dem Laub bewegte, das so hoch am Boden<br />
lag, dass ein erwachsener Mann darin bis zur Hüfte versinken<br />
konnte. Aus genau diesem Grund hatten die Beiden<br />
auch das Kanu als Verkehrsmittel gewählt. Wenn sie<br />
zu Fuß durch den Wald gestreift wären, wäre jedes Tier<br />
schon auf weite Distanz geflüchtet und sie hätten es nicht<br />
einmal zu Gesicht bekommen, geschweige denn, dass sie<br />
zu einem Schuss gekommen wären. Wenn man in einem<br />
Kanu die Ufer entlangfuhr, dann bestand viel mehr Chance,<br />
ein Wild zu erlegen.<br />
Als sie schon viele viele Manneslängen weit<br />
gefahren waren, hielt <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> an und sein Freund folgte<br />
seinem Beispiel. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> zeigte still zum jenseitigen Ufer<br />
hinüber und die Blicke des Roten Messers folgten seinem<br />
Finger. Den beiden Beobachtern bot sich ein herrliches<br />
Schauspiel: In glutroter Farbenbrunst erhob sich die Sonne<br />
hinter den dunklen Umrissen der Bäume und Hügel.<br />
Jetzt flog mit lautem Geschnatter und heftigem Flügelschlag<br />
ein riesiger Entenschwarm vor dem Feuerball, der<br />
35
schon zur Hälfte über den Wald hinauslugte, her. Die<br />
schwarzen Konturen der kleinen Vögel hoben sich eindrucksvoll<br />
von dem leuchtenden Hintergrund ab. Die beiden<br />
jungen Anishinabeg sahen in schweigender Dankbarkeit<br />
und Demut dem Sonnenaufgang zu. Sie saßen regungslos<br />
in ihren Booten und schauten auf die Sonne, bis<br />
diese sich ganz zeigte.<br />
Mit dem Tageslicht wachte die ganze Natur auf, die<br />
Enten lieferten sich Streitereien um Futter und die Stille<br />
der Nacht wich den Geräuschen der Helligkeit. Die Füchse<br />
verkrochen sich in ihren Bauten und überall raschelte es.<br />
Die jungen Herzen der beiden Indianer füllten sich mit<br />
Freude und sie standen in ihren Kanus auf, richteten die<br />
Arme zum Himmel, die Handflächen nach oben gekehrt<br />
und beteten. Dann sprachen sie mit der Sonne, der Energie<br />
alles Lebenden und dankten ihr dafür, dass sie wieder<br />
aufging und jeden Tag die Helligkeit auf die Erde brachte.<br />
Sie begrüßten den neuen Tag und freuten sich, wie sich<br />
nur Menschen freuen konnten, die so eng mit der Natur in<br />
Verbindung standen, wie die Indianer. Die zwei Krieger<br />
dankten auch ihren Herzen dafür, dass sie immer weiter<br />
schlugen und sie am Leben erhielten. Sie atmeten tief<br />
durch und erheiterten sich an allem, was um sie herum<br />
geschah. Als sie diese Sachen, die ihre Vorfahren einst<br />
von Manitu selbst erlernt hatten, getan hatten, setzten sie<br />
sich wieder und fuhren gemächlich weiter. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und<br />
Rotes Messer, sie beide genossen die Fahrt. Langsam<br />
wurde es auch wärmer und <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> zog den Mantel aus<br />
Hirschfell, den er zum Schutz vor der nächtlichen Kälte<br />
getragen hatte, aus, wickelte ihn zusammen und legte ihn<br />
mit zu den anderen Gepäckstücken in die Mitte des Bootes.<br />
Sein Freund hatte auf ihn gewartet, jetzt glitten sie<br />
wieder nebeneinander über das Wasser dahin und ließen<br />
36
die Landschaft an sich vorüberstreichen. Sie fuhren an<br />
Kiesstränden, Sandstränden und Steilufern aus Lehm vorbei,<br />
in die Eisvögel ihre Nistlöcher gegraben hatten.<br />
Manchmal reichte der Wald auch bis an den See heran<br />
und man konnte die seltsamen Figuren sehen, die die<br />
Wurzeln der halb im Wasser stehenden Pflanzen bildeten.<br />
Einmal konnten die beiden Freunde den Brunftschrei eines<br />
Wapiti hören, der zu dieser Jahreszeit des Öfteren<br />
über die Wälder und Hügel tönte.<br />
Gegen Mittag, als die Sonne am höchsten stand,<br />
erreichten die beiden Kanufahrer die Mündung eines kleinen<br />
Flüsschens, die an beiden Seiten von abgestorbenem<br />
Gras umgeben war. Die beiden jungen Indianer bogen in<br />
diesen kleinen, langsam strömenden Wasserlauf ein und<br />
fuhren stromauf zwischen tiefstem Wald immer weiter den<br />
Fluss der springenden Lachse hinauf. Diesen Namen hatte<br />
das Gewässer aufgrund der vielen Lachse, die hier im<br />
Frühjahr die vielen Stromschnellen hinaufwanderten, erhalten.<br />
Zur Zeit der Lachswanderung baute der Stamm<br />
der Anishinabeg an diesem Fluss viele Fischhecken, kleine<br />
Wehre, die quer durch den Fluss aufgestellt wurden<br />
und nur eine kleine Öffnung in der Mitte hatten. Hinter dieser<br />
Öffnung war mit Bast eine Reuse befestigt, die man<br />
nur jeden Tag zweimal abnehmen und lehren musste.<br />
Jetzt, im Spätherbst aber, zu der Zeit, zu der fast alle<br />
Blätter schon von den Bäumen abgefallen waren und es<br />
nachts schon den ersten Frost gab, war hier, am Fluss der<br />
springenden Lachse, kein Mensch zu sehen, oder zu hören.<br />
Nur die zwei einsamen Kanus bewegten sich den<br />
kleinen Fluss hinauf, von ihren Fahrern geschickt um die<br />
Stromschnellen und Steine gesteuert. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und Rotes<br />
Messer verstanden es, die Paddel zu führen und ihre<br />
Boote bekamen kaum eine Schramme.<br />
37
Als es langsam dämmerig wurde, rief <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>, der<br />
in seinem Kanu voran fuhr,: "Laß uns einen Lagerplatz für<br />
die Nacht suchen, es wird langsam schon dunkel!"<br />
"Ich bin deiner Meinung, mein Freund, wir wollen<br />
dort an Land gehen!", antwortete Rotes Messer und deutete<br />
dabei auf die Innenseite einer Kurve, die der Fluss<br />
machte. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> steuerte auf sie zu und hielt im Strömungsschatten<br />
eines ins Wasser gestürzten Baumes an.<br />
Er stand auf, ging in das vordere Ende seines Bootes und<br />
legte die Lederschnur um den Stamm, dann verknotete er<br />
sie fest. Jetzt ging er an das Heck, nahm die Lederschnur,<br />
die hier lag, in die Hand und sprang mit einem einzigen,<br />
großen Satz an Land. Rotes Messer kam in seinem Boot<br />
heran und band es an dem seines Freundes fest. Dann<br />
stieg er zuerst in dieses hinüber und sprang von hier aus<br />
auch auf das Land. In der Zwischenzeit hatte der Sohn<br />
des Häuptlings sich schon nach einem passenden Lagerplatz<br />
umgesehen und eine flache Erdmulde in der Nähe<br />
entdeckt. Er zeigte sie dem Roten Messer. Der war einverstanden<br />
mit der Idee, an dieser Stelle zu übernachten<br />
und erklärte sich bereit, eine Abendmahlzeit zu jagen. <strong>Roter</strong><br />
<strong>Bär</strong> wollte sich nach Feuerholz umsehen. Jedoch<br />
mussten erst die Boote entladen werden, bevor die beiden<br />
Anishinabeg ihren Aufgaben nachgehen konnten. Also<br />
gingen sie zurück zu ihren Kanus, lösten die Schnüre und<br />
trugen alles, was in den Gefährten war, zu der Erdmulde.<br />
Danach nahm Rotes Messer seinen Bogen und einige<br />
Pfeile und machte sich auf, ein Tier zu schießen. <strong>Roter</strong><br />
<strong>Bär</strong> schnitt sich ersteinmal eine große Astgabel und entfernte<br />
mit ihr alles Laub vom Platz. Als die Kuhle sauber<br />
genug war, öffnete er eine mitgebrachte Ledertasche und<br />
nahm seinen Tomahawk in dessen Scheide heraus. Die<br />
Scheide hatte eine Schlaufe, an der sich <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> das<br />
38
Beil, das gleichermaßen als Waffe und Werkzeug diente,<br />
an den Gürtel neben sein Messer hängte. Dann ging er zu<br />
den Bäumen und bat sie um das Totholz, das noch in ihren<br />
Kronen hing, weil die Äste und Zweige, die beim letzten<br />
Herbststurm heruntergefallen waren für ihn unerreichbar<br />
unter der dicken Laubschicht lagen. Wenn er die<br />
Pflanzen um die Erlaubnis gebeten hatte, das Totholz zu<br />
nehmen, stieg er hinauf in ihre Kronen, löste dort alle abgestorbenen<br />
Äste und ließ sie einfach herunter fallen. Diesen<br />
Vorgang wiederholte er bei fünf, oder sechs Bäumen,<br />
dann war genug Holz für eine Nacht zusammengekommen.<br />
Er las es vom Boden auf, trennte es mit seinem Beil<br />
in handliche Stücke und stapelte diese an einer Seite der<br />
Mulde.<br />
Dann schichtete er in der Mitte des Lagerplatzes<br />
ein Feuer auf, das er dann mit Birkenrinde, Zunder und<br />
Stahl und Stein entflammte. Jetzt schnitt er zwei kleinere<br />
Astgabeln von einer Birke und steckte sie rechts und links<br />
des Feuers senkrecht in den Boden. Oben legte er über<br />
beide eine wagrechte, gerade Birkenstange, die er zuvor<br />
entrindet hatte. An diese Stange würde man später die<br />
Jagdbeute des Roten Messers hängen können.<br />
Als <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> diese Sachen erledigt hatte, bereitete<br />
er das Nachtlager vor: Der junge Indianer löste die zusammengerollten<br />
verschiedenen Felle aus ihrer Verschnürung<br />
und breitete sie auf dem schon gefrorenen Boden<br />
aus. Von Zeit zu Zeit legte er Holz in die wärmenden<br />
Flammen, oder schob mit einem frischen Stock die Glut<br />
zurecht, so, dass das Feuer noch größer und wärmer<br />
wurde. Es stoben allerdings nur sehr selten Funken, da<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> bei der Holzsuche Bäume ausgesucht hatte, deren<br />
Holz sehr ruhig verbrannte und nicht mit Funken die<br />
Felle gefährdete. Nachdem nichts mehr zu tun war, ließ<br />
39
sich der Anishinabe auf einem Hirschfell an der Wärmequelle<br />
nieder und sah mit nachdenklichem Blick in die<br />
züngelnden und knisternden Flammen. Er dachte darüber<br />
nach, dass auch das Feuer genauso wie das Land niemandem<br />
gehören konnte. Aber das Land konnten die<br />
weißen Landräuber auch stehlen, konnten sie den roten<br />
Leuten dann auch das Feuer nehmen und an sich reißen?<br />
Sie konnten Blitz und Donner mit langen Stöcken machen.<br />
Warum also sollten sie dann nicht auch die Sachen, die<br />
Manitu seinen Kindern, dem roten Volk gegeben hatte<br />
nehmen können? Es gab so viele Fragen in diesen Monden,<br />
auf die der Sohn des Häuptlings Bugonaigeeshing<br />
keine Antwort wusste. Und er konnte auch nicht ahnen,<br />
dass er bälder, als er in seinen schlimmsten Träumen je<br />
gefürchtet hatte, auf grausame Weise die Antwort auf seine<br />
Gedanken erhalten sollte.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> fuhr aus seinen Träumen auf, weil hinter<br />
ihm das Laub geraschelt hatte. Er drehte sich um und hinter<br />
ihm stand sein Freund. Er lachte über das ganze Gesicht<br />
und hielt dem Roten <strong>Bär</strong>en stolz seine Jagdbeute<br />
hin, ein prachtvolles Auerhuhn. Der Vogel hatte nur ein<br />
Schussloch und das genau im Herz. Er wog fast so viel,<br />
wie ein Kind, das schon zwei Sommer und zwei Winter<br />
gesehen hat. Seine Federn glänzten im Schein der Flammen<br />
in einem schillernden Schwarzton.<br />
Der Sohn des Bugonaigeeshing ließ ein anerkennendes<br />
Brummen hören und nickte dabei mit dem Kopf.<br />
Das war bei ihm schon ein großes Lob, er machte nie viele<br />
Worte. Sein Freund berichtete: "Ich hatte meine Leggins<br />
ausgezogen und ging im Wasser, das mir bis an die Unterschenkel<br />
reichte. Das war die einzige Möglichkeit, lautlos<br />
zu gehen. Als es mir an den Beinen schon langsam<br />
kalt wurde und ich schon fast aufgeben wollte, da saß die-<br />
40
ses Tier kaum zehn Schritt weit von mir entfernt auf einem<br />
quer über dem Bach liegenden Baumstamm. Es blieb regungslos<br />
sitzen, so, als bemerke es mich nicht, sah aber<br />
unverwandt zu mir herüber. Ich legte langsam einen Pfeil<br />
auf und zog den Bogen. Das Tier musste genau wissen,<br />
dass sein Leben für mich bestimmt war, denn es blieb<br />
immer noch ohne irgendeine Bewegung auf seinem<br />
Stamm hocken. Ich zielte, ließ den Pfeil los und traf den<br />
Vogel. Der machte noch ein paar Bewegungen, dann fiel<br />
er rücklings in das Wasser. Ich ging hin, zog meinen Pfeil<br />
heraus und hob ihn hoch. Dabei schätzte ich sein Gewicht<br />
und bewunderte das Huhn von oben bis unten. Dann bedankte<br />
und entschuldigte ich mich bei ihm und bei Manitu.<br />
"Nun bin ich hier und habe Hunger"<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> gab ihm das Huhn wieder und Rotes<br />
Messer nahm es aus und rupfte es. Vor dem Rupfen hatte<br />
er es einmal in warmes Wasser getaucht, das zuvor einige<br />
Zeit in einem Metallkessel über den Flammen gehangen<br />
hatte. Dabei verging so viel Zeit, dass es schon stockfinster<br />
war, als der Vogel bratfertig vor den beiden Freunden<br />
lag. Der Sohn des brüllenden Büffels spitzte den Stab, der<br />
über den Astgabeln gelegen hatte, mit seinem Messer an<br />
und stach ihn von der Afteröffnung durch den Körper und<br />
den Hals, so, dass der Stock zum Schnabel wieder aus<br />
dem Tier hinauskam. Rotes Messer schob den Stab so<br />
zurecht, dass zu beiden Seiten des toten Körpers ungefähr<br />
die Länge eines Unterarmes überstand. Jetzt legte er<br />
diese beiden Aststücke auf je eine Astgabel. Holz wurde<br />
auf das schon sehr weit heruntergebrannte Feuer gelegt.<br />
Bald schon loderten die Flammen empor und erreichten<br />
fast das Tier, das immerhin auf Hüfthöhe eines erwachsenen<br />
Mannes hing.<br />
41
Die beiden Freunde saßen sich gegenüber, sie hatten<br />
die heilige Wärmequelle zwischen sich und von Zeit zu<br />
Zeit drehte einer von beiden das Huhn ein Stückchen auf<br />
dem Ast. Auf diese Weise wurde es nicht an einer Seite<br />
schwarz, sondern überall gleichmäßig knusprig und<br />
schmackhaft. Gewürzt wurde das Fleisch nicht; auf eine<br />
Jagd konnte man keine Kräuter und Salz mitnehmen, das<br />
hätte viel zu viel Platz benötigt.<br />
Ab und zu legten <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong>, oder sein Freund ach<br />
neue Äste und Zweige auf die Glut, so gaben sie dem<br />
Feuer neue Nahrung und es konnte sie weiter wärmen.<br />
Solange sie sich nicht um die Flammen, oder<br />
ihr Essen kümmerten, saßen die zwei Indianer auf ihren<br />
Fellen, <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> auf einem Hirschfell, Rotes Messer auf<br />
dem eines <strong>Bär</strong>en. Das Tier, zu dem dieses Fell gehörte,<br />
hatte er auf einem Jagdzug im Frühjahr des letzten Jahres<br />
erlegt, auf dem er mit seinem Vater allein gewesen war.<br />
Seitdem nahm er es auf alle Reisen mit. Die meiste Zeit<br />
schauten die jungen Krieger sinnend dem Spiel des Feuers<br />
zu und sahen die Formen der Glut, die sich bildeten,<br />
wenn ein Stück eines heißen Astes abbrach und knackend<br />
zu Boden fiel. Manchmal trafen sich die Blicke der beiden<br />
Freunde auch, dann konnte jeder tief in die schwarzen<br />
Augen seines Gegenüber blicken.<br />
Endlich war der Vogel rundherum von einer bräunlichen<br />
Färbung und schien auch gar. Dem Roten Messer<br />
kam als Jäger dieses Tieres die Ehre zu es zu zerteilen<br />
und sich ein Teil des Vogels auszuwählen, den er als erstes<br />
essen wollte. Er zog also sein Messer und zerlegte es<br />
fachgerecht. Dann wählte er ein Bein aus und schnitt von<br />
diesem ein Stück ab, das er in die Glut warf und dazu das<br />
Gebet sprach, das die Indianer bei jeder Mahlzeit sagten.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> machte es seinem Freund nach. Die Beiden<br />
42
aßen viel, an diesem Abend, die Kanufahrt hatte sie hungrig<br />
gemacht.<br />
Während des Essens wurde von keinem gesprochen,<br />
wie es bei dem roten Volk Sitte war. Erst nach dem<br />
Mahl begann Rotes Messer:<br />
"Sohn des Bugonaigeeshing! Ich bin entschlossen,<br />
gegen die Männer zu sein, die uns und unseren Brüdern<br />
von anderen Stämmen das Land stehlen. Ich habe lange<br />
darüber nachgesonnen, jetzt bin ich zu einem Entschluss<br />
gekommen: Ich werde viele Leute mit blassem Gesicht töten,<br />
gleich, ob sie dann auch mich morden werden. Ich will<br />
nicht dulden, dass unseren Verwandten grundlos das Leben<br />
genommen wird und fremde Leute uns unterwerfen."<br />
Bei diesen Worten hatte der junge Mann seinem Freund<br />
eindringlich in die Augen gesehen. Er hatte nicht nur mit<br />
seinem Mund gesprochen, sondern mit seinem ganzen<br />
Körper und er hatte voll Leidenschaft geredet, wie man es<br />
sonst von ihm nicht kannte. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> war durch diese<br />
wenigen Sätze erregt. Diese wenigen Sätze berührten<br />
Dinge, die im Augenblick den Kern seiner Seele bildeten<br />
und er freute sich, über sie mit einem anderen Menschen<br />
sprechen zu können. "Mein Freund, ich werde dich begleiten,<br />
wohin auch immer du gehen magst. Wir werden zusammen<br />
gegen die Weißen kämpfen. Unsere Pfeile werden<br />
die Herzen vieler Feinde zum Stillstand bringen. Die<br />
Männer mit der blassen Haut werden in ihren Häusern<br />
nicht mehr sicher sein, wenn sie es wagen, uns, den roten<br />
Kindern Manitus unsere Jagdgebiete, unsere Äcker, unsere<br />
Vorräte und unsere Gräber zu klauen. Ich habe gesprochen."<br />
Rotes Messer erwiderte nichts, aber sein Freund<br />
fühlte die Zustimmung seines Herzens. Er legte sich in<br />
seinem Fell hin und schlief.<br />
43
Der Morgen des nächsten Tages graute, die Sonne<br />
schickte gerade ihre ersten Strahlen durch die Wipfel der<br />
Bäume und weckte mit ihren leuchtenden Pfeilen alles Leben<br />
auf. Es war abzusehen, dass dieser Tag genauso<br />
schön werden würde, wie der letzte. Überall zwischen den<br />
Stämmen der mächtigen Waldriesen raschelte das Laub,<br />
durch das Amseln und Rotkehlchen auf der Suche nach<br />
der wenigen Nahrung, die sie um diese Jahreszeit noch<br />
fanden, hüpften.<br />
Auch <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und sein Freund, das Rote Messer,<br />
wurden heute geweckt, weil ihnen die Sonne ins Gesicht<br />
schien. Sie setzten sich auf, reckten sich und brachten als<br />
erstes das Feuer wieder in Gang, von dem nur noch einige<br />
glühende Stücke übrig geblieben waren.<br />
Als die ersten Flammen aus den trockenen Zweigen<br />
prasselnd empor schlugen, flatterten ein paar Meisen<br />
erschrocken aus einem Haselbusch in der Nähe davon.<br />
Rotes Messer sah ihnen nach, bis sie zwischen den Zweigen<br />
eines anderen Strauches verschwunden waren. Ab<br />
und zu hörten die beiden das Fiepen und Zwitschern der<br />
kleinen Vögel.<br />
In den Herzen der zwei Indianer glühte bei diesen<br />
Lauten eine unbefangene Freude auf, ihre Augen leuchteten<br />
und sie erfrischten sich an der Schönheit der Natur,<br />
wie sie sich ihnen an diesem Morgen deutlich wie selten<br />
zeigte.<br />
Die Reste des Auerhuhnes vom Vortag wurden<br />
zum Frühstück kalt verzehrt. Wieder verlief die Mahlzeit<br />
ohne Sprechen.<br />
Nachdem alles Essbare dieses Vogels aufgegessen<br />
war, schabten die Freunde sorgfältig alle Fleischfetzten<br />
von den Knochen und sammelten diese in einer Ledertasche.<br />
Man würde später aus ihnen eine gute Brühe ko-<br />
44
chen können. Aus den Federn eines Huhnes konnte nichts<br />
hergestellt werden. Sie verbrannten die beiden Indianer<br />
als Opfer an das Große Geheimnis.<br />
Als schließlich auch die Felle zusammengerollt,<br />
verschnürt und mit den anderen Gepäckstücken gemeinsam<br />
in den Kanus verstaut waren, als auch das Feuer gelöscht<br />
war, setzten sich die beiden Indianer in ihre Boote.<br />
Zuerst machte Rotes Messer das seine los und<br />
paddelte zur Bachmitte, wo das Gewässer am tiefsten<br />
war. Sein Freund machte es ihm nach. So fuhr diesmal<br />
Rotes Messer vorran und <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> folgte ihm. Die Jäger<br />
fuhren wie am Vortag stromauf. Da die Strömung immer<br />
stärker, das Bachbett immer schmaler und der Grund immer<br />
steiniger wurden, mussten sie all ihre Kraft anstrengen,<br />
um die Gefährte an Stromschnellen und Strudeln<br />
vorbei zu zwingen. Des öfteren drohte eines der beiden<br />
Rindenboote, umzuschlagen und entging dem nur durch<br />
den feinen Gleichgewichtssinn seines Fahrers.<br />
Hin und wieder konnte man eine Forelle sehen, die<br />
im Strömungsschatten eines größeren Steines, oder eines<br />
ins Wasser gefallenen Holzes vorbeiziehenden Wasserflöhen<br />
und anderen kleinen Tierchen auflauerte. Fiel jedoch<br />
der Schatten eines der beiden Boote auf den stromlinienförmigen<br />
Körper eines Fisches, dann verschwand er<br />
mit einem kräftigen Schlag der Schwanzflosse in einer<br />
Felsnische.<br />
Die beiden Indianer fuhren und fuhren, bis sie keinen<br />
Weg mehr zwischen den vielen Steinen, Ästen und<br />
Stromschnellen keinen Weg mehr für ihre Kanus fanden.<br />
Auch war der Bach inzwischen zu einem Bächlein geworden<br />
und der Grund war schon so dicht unter der Wasseroberfläche,<br />
dass sie ohnehin bald nicht mehr hätten weiterfahren<br />
können.<br />
45
Die zwei Jäger stiegen mitten im Bach aus ihren<br />
Booten – vorher hatten sie sich selbstverständlich die<br />
Mokkassins ausgezogen und ihre Leggins hochgeschoben,<br />
denn feuchte Kleider können in der Wildnis schon bei<br />
Herbsttemperaturen, wie sie hier herrschen, den Tod bedeuten.<br />
Von dem Gewicht ihrer Insassen befreit lagen die<br />
Boote schon nicht mehr so tief im Wasser. Die beiden<br />
Freunde zogen ihre Gefährte ans Ufer und machten sie<br />
mit Stricken an Bäumen fest.<br />
Nachdem die Indianer ans Land gestiegen waren,<br />
ihre Kleidungsstücke wieder angelegt und einen guten Lagerplatz<br />
ausfindig gemacht hatten, entluden sie ihre Kanus.<br />
Alle Sachen wurden auf der Seite des Lagerplatzes<br />
gestapelt, aus der der Wind in dieser Gegend meistens<br />
kam. So war die kleine Lichtung, aus der der Lagerplatz<br />
bestand vor Wind gut geschützt. Das war auch nötig, denn<br />
inzwischen war ein starker Luftstrom aufgekommen und<br />
bewegte heftig die Kronen der Bäume. Zwar konnte man<br />
keine Wolke am Himmel sehen, doch es konnte gut sein,<br />
dass am nächsten Tag einer der vielen Herbststürme über<br />
das Land fegen würde.<br />
Noch war es hell, doch der Tag würde bald zur Neige<br />
gehen, in diesen Monden ging die Sonne schon recht<br />
früh unter. Trotzdem musste noch, bevor die Dunkelheit<br />
ihren Schleier über das Land breitete, etwas zu essen für<br />
den Morgen des nächsten Tages geschossen werden. Die<br />
Brühe aus den Auerhuhnknochen würde die beiden hungrigen<br />
Indianer heute Abend noch sättigen, für den Anbruch<br />
des morgigen Tages aber reichte sie nicht.<br />
Dieses Mal wollte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> die Aufgabe übernehmen,<br />
für etwas Essbares zu sorgen. Seinen Freund gelüstete<br />
es dafür danach, die Brühe zu kochen. Vielleicht ge-<br />
46
lang es ihm auch, einige Forellen aus dem Bach zu fischen<br />
und sie zur Suppe über das Feuer zu hängen.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hängte sich sofort den Köcher über seinen<br />
Rücken, es war keine Zeit zu verlieren. Zuvor hatte er<br />
seinen Bogen aus dessen Futteral genommen, dieselbe<br />
Waffe, mit der er vor einigen Monden die junge Wildgans<br />
geschossen hatte. Einen Pfeil hatte er in die Hand genommen,<br />
um gegebenenfalls möglichst schnell schussbereit<br />
zu sein. Es war das Geschoss, dessen Spitze er am<br />
Abend nach seinem ersten Gespräch mit dem Roten Messer<br />
über die Blassgesichter hergestellt hatte. Er hatte sie<br />
in der Zwischenzeit an dem geraden Trieb irgendeines<br />
Busches vom Waldrand befestigt und den Pfeil mit Federn<br />
und Nocke fertiggestellt. Nun entfernte sich der Sohn des<br />
Häuptlings leichten, federnden Schrittes vom Lager und<br />
seinem Freund. Erst schlenderte er am Ufer des Bachlaufes<br />
entlang, das hier meist kiesig war. Die Steine knirschten<br />
unter seinen Füßen und durch die dicken Sohlen aus<br />
gegerbtem Hirschnacken spürte er, wie sich die Kiesel<br />
auseinander schoben. Als er schon unzählige Schritte weit<br />
gegangen war, es schon langsam dunkel wurde und er<br />
immer noch kein jagbares Tier zu Gesicht bekommen hatte,<br />
beschloss er umzukehren. Da im Dunkeln ohnehin nur<br />
sehr nahe Ziele zu treffen waren, entschied sich der Rote<br />
<strong>Bär</strong> für den Weg durch den Wald. Dieser war angenehmer<br />
für die Füße, als das Bachufer. Auf dem steinigen Untergrund<br />
wurde es auch für den geübten Läufer auf Dauer<br />
mühselig, da die Muskeln immer auf die Bewegungen der<br />
Steine reagieren mussten. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> also betrat einen<br />
schmalen Wildwechsel, der ins Uferdickicht führte und<br />
jetzt, abends, kaum noch zu sehen war. Er führte in die<br />
Richtung, in der auch das Lager gelegen war. Hier, im<br />
Wald herrschte schon ein dunkleres Dämmerlicht. <strong>Roter</strong><br />
47
<strong>Bär</strong> schritt durch den Wald, so leise, wie es ging, um die<br />
Natur nicht zu stören. Manchmal erschien rechts, oder<br />
links ein gelbes, grünes oder weißes Augenpaar, das ihn<br />
verwundert anschaute. Nach einigen Augenblicken verschwanden<br />
die leuchtenden Punkte wieder in der Nacht.<br />
Die nächtlichen Geräusche öffneten das Ohr des einsamen,<br />
erfolglosen Jägers. Die Waldohreulen schrien, hier<br />
buhte dumpf ein Uhu, dort antwortete ein anderer mit<br />
demselben, leisen Ruf. Die Wölfe und Coyoten blieben still<br />
in dieser Nacht, es war Neumond. Jetzt fauchte irgendwo<br />
in der Nähe ein Puma. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte keine Angst, er<br />
wusste: Die Dunkelheit ist da, um die Sinne der Menschen<br />
zu schärfen. Zu dieser Jahreszeit waren die Sterne am<br />
dunklen Himmelszelt auch im Wald unter den Kronen der<br />
Bäume zu sehen, das Laub war ja schon von ihren Zweigen<br />
abgefallen. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sah gerade zu den blinkenden<br />
Lichtpunkten hinauf. Noch war es nicht ganz dunkel, die<br />
Kälte kroch jedem, der sich jetzt ohne warme Kleider<br />
draußen zeigte, in alle Glieder. Der Indianer hatte sich mit<br />
Leggins und Hemd aus dickem Büffelfell bekleidet, ihm<br />
konnten die Temperaturen nichts antun.<br />
Plötzlich hörte <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> Schritte in dem Laub auf<br />
dem Wildpfad, die ihm entgegenkamen. Es waren schwere,<br />
dumpfe Schritte und es war auch ein Schnaufen und<br />
Keuchen zu hören. Der Jäger fuhr zusammen, er kannte<br />
diese Art von Schritten genau. Diese Gangart war jedem<br />
Mann bei den Indianern bekannt. Jeder wusste, was zu<br />
tun war, wenn er diese Schritte vernahm.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sprang mit einem gewaltigen Satz in das<br />
Gebüsch neben dem Pfad, doch sein unsichtbarer Gegner<br />
schien in schon bemerkt zu haben, denn er blieb heftig<br />
schnaufend stehen. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sah ein, dass es wenig<br />
48
Zweck hatte, sich weiterhin versteckt zu halten und trat<br />
langsam und vorsichtig aus den Sträuchern heraus.<br />
Jetzt konnte er das Tier sehen, das vor ihm stand,<br />
auf den Hinterbeinen stehend und mächtig brüllend. Es<br />
hatte ein zotteliges, schwarzes Winterfell und gelbe, spitze<br />
Reißzähne. Der Indianer fühlte sich bestätigt in dem, was<br />
er schon gewusst hatte, bevor das Tier sich ihm gezeigt<br />
hatte. Er sprach den riesigen Schwarzbären an: "Bruder<br />
<strong>Bär</strong>, wenn du mich angreifst, wird dich mein Pfeil töten. Du<br />
allein weißt, wie deine Bestimmung lautet, an deinem Verhalten<br />
werde ich sehen, ob Manitu will, dass ich dich umbringe,<br />
oder ob ich dich am Leben lassen soll. Versuchst<br />
du, mich zu fressen, wird mein Pfeil tief in dein Leben<br />
dringen und dein Fleisch wird mich ernähren. Dein Fell<br />
wird mich wärmen und dein Geist wird mir immer beistehen.<br />
Rührst du mich aber nicht an, lasse ich dir dein Leben<br />
und wir werden beide wieder unserer eigenen Wege<br />
gehen, unser eigenes Leben leben."<br />
Die Augen des <strong>Bär</strong>en hatten bei diesen Worten wütend<br />
geblitzt, <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> aber hatte gewusst, dass sein<br />
Namenstier ihn nicht angreifen würde, während er mit diesem<br />
redete. Es war ja bei den Indianern auch nicht üblich,<br />
während einer Friedensverhandlung zu kämpfen. Aber<br />
jetzt, wo der Mensch fertig mit seiner Rede war, musste er<br />
jeden Augenblick auf eine Attacke des Tieres gefasst sein.<br />
Diese kam denn auch unweigerlich, der Koloss ließ sich<br />
wieder auf alle Viere fallen und stürzte sich mit aufgerissenem<br />
Maul auf den Menschen, der dem ersten Versuch<br />
geschickt auswich und geschwind den Pfeil, den er in der<br />
Hand getragen hatte, in die Sehne legte. Der Griff war ihm<br />
Fleisch und Blut geworden. Jetzt spannte er den Bogen<br />
zum Zerbrechen und jagte den Pfeil mit der Schnelligkeit<br />
eines Blitzes in das Herz des <strong>Bär</strong>en, der gerade einen<br />
49
neuen Angriff startete und sich aufrichtete. Er tat noch einige<br />
taumelnde Bewegungen, versuchte verzweifelt, das<br />
Gleichgewicht halten. Sein gefährliches und Angst einflößendes<br />
Brummen hatte sich zu einem herzzerreißenden<br />
Quieken gewandelt. Plötzlich wurde er stumm und fiel auf<br />
den Boden. Er bewegte sich nicht mehr, neben dem Pfeil,<br />
der im Herz des Tieres steckte, quoll Blut an die Luft. Vorsichtig<br />
näherte sich der erfolgreiche Jäger, vergewisserte<br />
sich, dass auch wirklich kein Leben mehr in seinem Tierbruder<br />
war und schaute dann in dessen Augen. Das waren<br />
tiefe Augen, durch sie sah man tief in die <strong>Bär</strong>enseele<br />
hinein. Diese Augen waren auch der Grund für den Namen<br />
des Sohnes des Bugonaigeeshing. In den Augen<br />
dieses jungen Menschen glühte immer ein unergründbares<br />
und unauslöschliches Feuer, sie konnten so warm und<br />
tief blicken, wie die eines <strong>Bär</strong>en. Der junge Jäger ließ sich<br />
auf dem toten Leib des Tieres nieder und fuhr mit seinen<br />
Fingern durch die dichten Zotteln des Pelzes.<br />
Nun war es ganz dunkel. Nur die wenigen Sterne<br />
spendeten ein kleines Bisschen Helligkeit. Unter der unendlichen<br />
Himmelskuppel erhob sich jetzt der Rote <strong>Bär</strong>,<br />
streckte die Arme den Sternen entgegen, die Handflächen<br />
nach außen. Er sprach mit halblauter Stimme in der Sprache<br />
des Stammes der Anishinabeg das Gebet, das jeder<br />
Jäger nach dem Erlegen einer Beute sprach:<br />
"Ich war bedürftig.<br />
Ich habe dir Schönheit,<br />
Anmut und Leben genommen<br />
Ich habe deine Seele<br />
Von ihrem weltlichen Leib<br />
Gesondert.<br />
Nie mehr wirst du in Freiheit<br />
Laufen,<br />
50
Weil ich bedürftig war.<br />
Ich war bedürftig.<br />
Im Leben hast du<br />
Deinesgleichen in Güte gedient.<br />
Mit deinem Leben<br />
Will ich meinen Brüdern dienen.<br />
Ohne dich<br />
Muss ich hungern und werde<br />
Schwach.<br />
Ohne dich bin ich hilflos, nichts.<br />
Ich war bedürftig.<br />
Gib mir Kraft durch dein Fleisch.<br />
Gib mir deine Hülle als Schutz.<br />
Gib mir deine Knochen<br />
Für meine Arbeit,<br />
Und es wird mir an nichts fehlen.<br />
O Manitu, steh mir bei!"<br />
Nach diesen Worten blieb <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> stehen, die<br />
Arme noch immer erhoben und hielt innere und stumme<br />
Zwiesprache mit dem Geist des Tieres. Dann prägte er<br />
sich den Platz genau ein und ging langsam in Richtung<br />
des Lagers, wo sein Freund schon auf ihn wartete. Den<br />
Pfeil hatte er im Körper der Beute stecken lassen, ihn<br />
musste man beim Zerlegen des <strong>Bär</strong>en aus dem Fleisch<br />
herausschneiden, da die Spitze mit Widerhaken versehen<br />
war.<br />
Am Lagerplatz angelangt verriet er nichts von den<br />
Vorfällen im Wald. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> setzte sich neben seinen<br />
Freund ans Feuer und sagte: "Wie du siehst, mein Bruder,<br />
51
habe ich kein Fleisch von der Jagd mitgebracht." "Wie du<br />
siehst, mein Bruder habe ich zwei Forellen gefangen. Sie<br />
braten dort über den Flammen. Auch für den nächsten<br />
Tag sind noch genügend da." Rotes Messer zeigte auf die<br />
beiden Fische, die ausgenommen an zwei geraden Birkenruten<br />
steckten, deren eines Ende durch die Fische gesteckt<br />
worden war. Das andere Ende steckte in der Erde.<br />
Jetzt beugte sich Rotes Messer vor und drehte die Stöcke<br />
ein wenig, so dass die Fische von allen Seiten gleichmäßig<br />
braun wurden.<br />
In der Zeit, in der die beiden Forellen garten, nahmen<br />
die zwei jungen Krieger die Suppe aus den Hühnerknochen<br />
zu sich und wärmten so ihre ausgekühlten Körper<br />
auf. Als sich keine Brühe mehr im Kessel befand,<br />
konnte man auch schon die Fische zerlegen und essen.<br />
Ein Tag draußen in der Wildnis war anstrengend und<br />
machte hungrig. Wenn genügend Nahrung vorhanden<br />
war, dann konnte man seinen Magen ja auch füllen, warum<br />
sollte man hungern?<br />
Erst nach der Mahlzeit berichtete <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> von<br />
seinen Erlebnissen. Der Freund hörte mit leuchtenden<br />
Augen zu. Als der Sohn seines Häuptlings die Erzählung<br />
beendet hatte, war alles, das Rotes Messer dazu sagte:<br />
"Lass uns jetzt sofort deine Beute holen!" Der Rote <strong>Bär</strong><br />
stimmte zu, es wurde immer windiger, ja, man konnte<br />
schon fast sagen, es war stürmisch. Wenn sich das Wetter<br />
so weiter entwickelte, dann war es gut möglich, dass die<br />
beiden Indianer auch morgen den <strong>Bär</strong>en nicht holen konnten.<br />
Denn wenn ein heftiger Sturm tobte, war es ein Risiko<br />
durch den Wald zu gehen, das auch ein mutiger Mann nur<br />
im Notfall einging. Ein herunterfallender Ast konnte den<br />
Menschen verletzen oder sogar töten. Wenn <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong><br />
seine Beute nicht diesen Abend holte und am nächsten<br />
52
Morgen nicht holen konnte, dann konnten sich in der Zwischenzeit<br />
Raben, Coyoten und Wölfe über das Fleisch<br />
hermachen.<br />
Also gingen die beiden Freunde gemeinsam in der<br />
Richtung in den Wald, in der der tote <strong>Bär</strong> lag. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong><br />
hatte sich die Stelle ja genau gemerkt und sein untäuschbarer<br />
Richtsinn führte ihn nun. Dieses Orientierungsvermögen<br />
hatten die Indianer mit den Tieren gemeinsam. Sie<br />
verirrten sich so gut wie nie, diese Fähigkeit hatten die<br />
weißen Leute verloren. Nach einiger Zeit, als der Jäger mit<br />
seinem Gefährten bei dem Tier angekommen war, hörte<br />
man endlich, weit entfernt ein Rudel Wölfe, das den nicht<br />
vorhandenen Mond ansang. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> zog seinen Tomahawk<br />
aus der Scheide am Gürtel und fällte eine junge Birke,<br />
die er zuvor darum gebeten hatte. Er hatte ihr erklärt,<br />
wofür sie gebraucht wurde und er hatte sich dafür bedankt,<br />
dass sie ihr Leben für ihn opferte. Von diesem jungen<br />
Baum schlug der Jäger dann mit seinem kleinen Beil<br />
alle Seitenäste ab, die nicht in eine bestimmte Richtung,<br />
oder in die entgegengesetzte Richtung wiesen. Die abgeschlagenen<br />
Äste wurden von den beiden Indianern zwischen<br />
diejenigen geflochten, die stehen geblieben waren.<br />
Auf diese Art und Weise entstand ein Teppich aus Ästen<br />
und Zweigen. Diese Matte wurde nun neben den <strong>Bär</strong>en<br />
gezogen und die Beute in mühsamer Arbeit von Hand<br />
darauf gewälzt. All diese Dinge geschahen in völliger<br />
Dunkelheit, keine Petroleum- oder Taschenlampe spendete<br />
Licht. Allein die Sterne befähigten den Menschen, etwas<br />
zu sehen. Nachdem der <strong>Bär</strong> auf dem Geflecht zu liegen<br />
gekommen war, zogen beide Freunde vorne am<br />
Stamm der Birke. So bewegte sich der Schleppzug langsam,<br />
Schritt für Schritt, Mannslänge für Mannslänge dem<br />
Lager zu. Keiner der beiden Indianer keuchte, keiner<br />
53
presste die Lippen zusammen. Aber es sagte auch keiner<br />
etwas während dieses langen Fußmarsches. Jeder tat so,<br />
als koste ihn das Ziehen dieses schweren Tieres keine<br />
Mühe. Und doch mussten beide ihre ganze Kraft einsetzen,<br />
damit der Koloss sich überhaupt bewegte. Erst nach<br />
Mitternacht kamen die Gefährten an ihrem Lager an. Sie<br />
schliefen bis zum Mittag des folgenden Tages. Der Sturm<br />
hatte inzwischen schon nachgelassen, war aber noch immer<br />
stark genug. Überall im Wald zeugten Blätterhaufen<br />
und heruntergebrochene Äste von der Gewalt, die der<br />
Sturm noch vor wenigen Stunden gehabt haben musste.<br />
Am Rand der kleinen Lichtung, die als Lager diente,<br />
lag der tote <strong>Bär</strong>. Gestern Abend hatte der Jäger seine<br />
Beute nicht mehr ausgenommen, jetzt machte er sich an<br />
die Arbeit. Er machte mit seinem stabilen Messer einen<br />
langen Schnitt, der zwischen den Hinterbeinen begann<br />
und zwischen den Vorderbeinen endete. Dann fasste er<br />
weit in den inzwischen kalten Körper hinein und trennte<br />
die Eingeweide hinter dem Kopf mit einem Schnitt ab.<br />
Auch wurden an der Afteröffnung alle dort mündenden<br />
Kanäle durchschnitten. Jetzt zog der Rote <strong>Bär</strong> alle Gedärme<br />
aus der Bauch- und Brusthöhle und breitete sie auf<br />
der Erde aus. Nur diejenigen Organe, die für den Menschen<br />
verwertbar waren, legte er beiseite: das Herz, die<br />
Leber und den Magen. Mit den anderen Innereien, wie<br />
Darm, Lunge, Nieren konnte man Fische fangen. Alle<br />
Raubfische waren auf solche Köder aus.<br />
Nun konnte dem Tier der Pelz abgezogen werden.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte noch nie einen <strong>Bär</strong>en enthäutet, er hatte<br />
aber schon einige Male zugesehen, wie die erwachsenen<br />
Jäger das taten. Rotes Messer jedoch hatte ja schon Erfahrung<br />
in dieser Sache. Er half seinem Freund, eine <strong>Bär</strong>enhaut<br />
war sehr zäh. Deshalb musste man nicht so sehr<br />
54
aufpassen, keine Löcher in die Decke zu schneiden. Außerdem<br />
hatte sich der <strong>Bär</strong> eine dicke Fettschicht angefressen,<br />
er musste kurz vor dem Winterschlaf gewesen<br />
sein. Also löste sich das Fell auch recht leicht vom Körper<br />
ab. Trotzdem machte das Enthäuten viele Mühe, es war<br />
Knochenarbeit.<br />
Als endlich die Decke des <strong>Bär</strong>en ausgebreitet vor<br />
ihnen auf dem Boden lag, beschlossen die beiden Indianer,<br />
heute nichts zu unternehmen, sondern nur bei ihrem<br />
Lager zu bleiben. Das Zerlegen der Fleischstücke und erste<br />
Bearbeiten des Pelzes würde wohl auch noch seine Zeit<br />
beanspruchen.<br />
So wandten sie sich auch zuerst dem arbeitsaufwendigeren<br />
Teil des Tages zu, dem Zerlegen des Tieres.<br />
Jeder nahm sein Messer zur Hand und schnitt handliche<br />
Brocken aus der leblosen Muskelmasse heraus. Diese<br />
legten sie erst einmal auf den Erdboden, ordentlich sortiert.<br />
Auf diese Weise arbeiteten sie sich von den Beinen<br />
zum Körper vor.<br />
Nach viel anstrengender Arbeit lag von dem toten<br />
Tier nur noch das Gerippe auf der Erde. Den Schädel verpackte<br />
man in einer Ledertasche, da das Gehirn zum<br />
Gerben des Fells verwendet werden würde. Die übrigen<br />
Knochen trennten die beiden Indianer nach ihrer Beschaffenheit.<br />
Alle Gebeine, die hohl waren oder Mark enthielten<br />
konnte man später als Hundefutter benutzen, oder für eine<br />
schöne, fette Brühe auskochen.<br />
Die anderen, die nicht hohl waren, wurden auch in<br />
Ledertaschen gesteckt, aus ihnen konnte man schöne<br />
Dinge, Werkzeuge, oder Waffen schnitzen.<br />
In der Zwischenzeit dämmerte es schon und die<br />
zwei Freunde spürten ihre Müdigkeit stark. So wickelten<br />
sie sich in ihre Felle ein und legten sich zum Schlafen auf<br />
55
den Boden. Gegessen wurde nicht, nur ein kurzes Gebet<br />
gesprochen.<br />
Am nächsten Tag erwachten Rotes Messer und<br />
sein Freund schon früh, sie waren ja am Vortag auch früh<br />
eingeschlafen. Heute war das Gerben des Pelzes an der<br />
Tagesordnung, auch das Fleisch musste haltbar gemacht<br />
werden. Doch zu allererst hatten die beiden Krieger Hunger<br />
und wollten das nachholen, was sie gestern Abend<br />
nicht zu sich genommen hatten. Zwei Tatzen des Meister<br />
Petz wurden aus den anderen Fleischstücken herausgesucht.<br />
Rotes Messer spießte sie auf zwei Stöcke und<br />
steckte diese schräg in die Erde, sodass die Bratenstücke<br />
über dem entfachten Feuer zu hängen kamen. <strong>Bär</strong>entatzen<br />
waren eine Delikatesse, die man nur sehr selten zu<br />
essen bekam. Deshalb achteten jetzt die jungen Männer<br />
auch sorgsam darauf, das Fleisch gut zu braten. Nach<br />
dem schweigenden Frühstück machten sich <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und<br />
Rotes Messer zuerst an die übrigen Fleischstücke. Sie<br />
bauten aus starken Ästen, die sie mit den Sehnen des<br />
Schwarzbären verbanden, zwei lange Gerüste, welche<br />
ungefähr die Höhe eines erwachsenen Mannes hatten.<br />
Auf jeder Seite eines Gerüsts wurden zwei Äste schräg in<br />
die Erde gesteckt und mit Sehnen so verbunden, dass<br />
sich oben eine Gabel bildete, in die eine lange Stange gelegt<br />
und befestigt wurde. An dieser Stange hängten die<br />
Jäger die Fleischstücke mit Sehne auf. Weil die Gerüste<br />
an einem Platz standen, der nicht schattig war, würde die<br />
Sonne ihnen in den nächsten Tagen jegliche Flüssigkeit<br />
entziehen. Nur die zwei noch nicht verzehrten Tatzen des<br />
<strong>Bär</strong>en hob man auf, diese wollten die Beiden abends braten.<br />
Während dieser Arbeit hatte der feurige Ball am Himmel<br />
schon seinen Höhepunkt erreicht, trotzdem verspürten<br />
56
die Indianer nach dem herzhaften Frühstück noch keinen<br />
Hunger. Sie bereiteten die Gerbung des <strong>Bär</strong>enpelzes vor:<br />
Überall am Rand der Decke stach man mit dem<br />
Messer Löcher ins Leder. Durch diese wurden Sehnenfäden<br />
gesteckt, mit denen die beiden Indianer das Fell in ein<br />
Gerüst einspannten. Für diese Vorrichtung wurden einfach<br />
zwei starke, gerade Äste in einem Abstand, der der Breite<br />
des Pelzes entsprach, übereinander an zwei Bäume gebunden.<br />
Jetzt schabten die zwei Anishinabeg mit ihren Messern<br />
die Fleischreste von der Innenseite, also der Haut<br />
des Felles. Als diese Arbeit verrichtet und das Fell wieder<br />
von seinem Gestell entfernt worden war, sank die Sonne<br />
schon, was die Jäger allerdings nur am schwächer werdenden<br />
Licht erkannten, da der Horizont hinter dem Wald<br />
verborgen war.<br />
Am nächsten Tag wurde nach dem Frühstück der<br />
große Kessel ganz und gar gesäubert, sodass auch nicht<br />
der kleinste Krümel Fleisch noch an seinen Wänden haftete.<br />
Dann lief Rotes Messer zum Bach, um das Gefäß mit<br />
Wasser zu füllen und der Sohn des Bugonaigeeshing holte<br />
das Gehirn des von ihm erlegten Tieres hervor. Nun<br />
legte er neues Holz auf die Glut und blies kräftig, damit es<br />
möglichst hohe Flammen gebe. Inzwischen war Rotes<br />
Messer mit dem geholten Wasser wieder zurück und<br />
hängte den Kessel an das dafür vorgesehene Gerüst.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> tat das Gehirn hinein und man wartete,<br />
bis dieses sich in der kochenden Flüssigkeit aufgelöst hatte.<br />
Dann kam das Fell in den Topf, wobei man aufpassen<br />
musste, dass es sich nicht an dem hoch lodernden Feuer<br />
entzündete. So brodelte es in dem Gefäß den ganzen Tag<br />
lang. Die beiden Freunde legten oft Holz nach und achte-<br />
57
ten sorgsam darauf, dass die Flammen nicht erloschen.<br />
Ansonsten erholten sie sich von der anstrengenden Arbeit<br />
der letzten Tage. Heute Abend würde man den Pelz nur<br />
aus dem Kessel nehmen und zum Trocknen ausbreiten<br />
müssen.<br />
58
General Squire, Sohn einer alten englischen<br />
Adelsfamilie, von den Eingeborenen "Brüllende Stimme"<br />
genannt, saß in seinem Zelt, das in einem Lager am Ufer<br />
des Lake Superior gelegen war. Vor dem Eingang seiner<br />
ärmlichen Behausung hörte er die Schritte der Wachen,<br />
die auf und ab schritten. Er saß auf einem klobigen Schemel<br />
aus roh behauenem Ahornholz. Vor ihm stand noch<br />
eine Sitzgelegenheit, die von genau der gleichen Beschaffenheit<br />
war und auf seinen Knien hatte der hohe Offizier<br />
eine selbstgezeichnete Landkarte liegen. Dieses Papier<br />
zeigte die Teile der neuen Welt, die schon erkundet waren.<br />
Squire aber sah nur auf einen Teil des kostbaren Blattes,<br />
der den Küstenabschnitt darstellte, an dem er sich<br />
jetzt befand. Durch den Kopf des Generals gingen viele<br />
Gedanken, die ihn schon seit Monaten beschäftigten und<br />
sich alle um eine Angelegenheit drehten: Wie kann man<br />
am besten in das Land eindringen, in dem die Chippewa<br />
lebten? Dieses rote Gesindel war doch gar der Ansicht,<br />
ganz Amerika gehöre ihm und wollte sich nicht der europäischen<br />
Zivilisation anpassen. Deshalb war für diese<br />
Menschen - falls man sie überhaupt als solche bezeichnen<br />
konnte – kein Platz über der Erde, unter dem Boden war<br />
genug Raum, hier nicht. Squire vertrat felsenfest die Ansicht,<br />
alles, was rote Haut trägt, müsse ausgerottet werden,<br />
wie es zu diese Zeit in Amerika unter den Weißen üblich<br />
war. Wenn der General es schaffte, das Gebiet der<br />
nordwestlichen Küste vom Lake Superior zu erobern, hatte<br />
die britische Regierung ihm mehrere tausend Pfund Belohnung<br />
versprochen. Für den Fall, dass ihm das gelang,<br />
59
würde er für den Rest seines Lebens nicht mehr zu arbeiten<br />
brauchen.<br />
So saß er nun da in seinem Zelt, wie immer die<br />
sauber gebrannte Perücke auf dem Kopf, darüber einen<br />
Dreispitz. Auf der Brust seiner maßgeschneiderten roten<br />
Uniform prangten unzählige Orden und Würdensymbole.<br />
Am Gürtel hingen eine Messerscheide und die lederne<br />
Hülle eines älteren Colts. Diese Waffe war selbstverständlich<br />
längst durch den neuesten und besten Revolver ausgewechselt.<br />
Der General war es gewohnt, stets gute und<br />
neue Waffen bei sich zu tragen.<br />
Jetzt stand der Mann mittleren Alters auf, schritt in<br />
angemessener Haltung auf die Türöffnung seines Zeltes<br />
zu und befahl mit schroffem Ton in der Stimme dem einen<br />
der beiden Wächter: "Robertson, holt die oberen Offiziere!"<br />
Der Soldat nahm seine Rechte an die Hutkrempe und<br />
nickte steif, dann ging er eilig fort. General Squire begab<br />
sich indes wieder in sein Zelt, nahm auf seinem Schemel<br />
Platz und wartete.<br />
Nach nicht allzu langer Zeit erschienen fünf Männer,<br />
alle ungefähr im Alter des Generals oder jünger und<br />
stellten sich um den Tisch herum. Alle schauten sie ihren<br />
Befehlshaber erwartungsvoll an.<br />
Dieser begann die Unterredung, die beiden Wachen<br />
vor der Tür hatte man weggeschickt, damit sie nicht<br />
lauschen konnten.<br />
"Es geht um die Eroberung des Landes nordwestlich<br />
des Lake Superior", ergriff Squire das Wort, "Ich habe<br />
Sie alle hier zusammengerufen, um mir bei einer wichtigen<br />
Entscheidung behilflich zu sein. Ich möchte mir Ihren Rat<br />
heranziehen, bevor ich einen Plan fasse.<br />
Zwei Möglichkeiten der Eroberung dieses Landesteiles<br />
könnten wir durchführen: Entweder machen wir<br />
60
unsere Boote fertig und fahren auf dem Wasserweg in<br />
Richtung Westen, oder wir begeben uns auf den langen<br />
Fußmarsch durch die Wälder. Bedenkt, dass beide Wege<br />
gefahrvoll und unsere Truppen nicht allzu zahlreich sind."<br />
Als erstes meldete sich Major Harlan zu Wort: "Sir,<br />
ich stimme für den Wasserweg. Zwar kennen wird die<br />
Gewässer hier nicht und laufen deshalb immer Gefahr, ein<br />
Leck in unsere Boote zu schlagen, aber es ist uns möglich,<br />
mehr Waffen und Munition mit zu führen, als zu Fuß.<br />
Wir besitzen hier keine Ochsen, können also keinerlei<br />
schwere Geschütze ziehen und wir müssen immer fürchten,<br />
es plötzlich zwischen den Bäumen heulen zu hören<br />
und viele Heiden zu sehen, die uns morden wollen. Auf<br />
dem See hingegen sind wir in der Lage, um uns herum die<br />
ganze Wasserfläche einzusehen und im Fernkampf sind<br />
wir diesen Rothäuten doch weit überlegen."<br />
So ähnlich fielen auch die Äußerungen der anderen<br />
Männer aus und Squire entschloss sich, noch in dieser<br />
Woche abzureisen. Er befahl: "Sie gehen jetzt und sagen<br />
Ihrer Abteilung, dass wir übermorgen in die Boote steigen.<br />
Die Soldaten sollen ihre Waffen packen und Proviant zusammensuchen.<br />
Dann kehren Sie hierher zurück und wir nehmen<br />
gemeinsam das Abendmahl zu uns."<br />
Jeder der Offiziere nahm ehrfürchtig seine Hand an<br />
den Hut und verließ mit gemäßigtem Schritt die Behausung.<br />
Der General aber ließ einige Flaschen Brandy bringen<br />
und befahl, noch einige Schemel zu holen.<br />
Am Morgen des zweiten Tages nach dieser Unterredung<br />
herrschte im Lager große Aufregung, alles lief,<br />
rannte, hastete und fluchte durcheinander. Hier und da<br />
61
stand noch das Gerüst eines Zeltes, die übrigen waren alle<br />
abgebaut.<br />
Die großen schwerfälligen Ruderboote aus Holzplanken<br />
lagen noch am Ufer vertäut. Doch schon lud man<br />
die Sachen von je zwei, oder drei Leuten in ein Boot und<br />
stieg ein. Das Abfahrtskommando ertönte, die Knoten<br />
wurden gelöst und alle "Nussschalen" stießen vom Strand<br />
ab.<br />
Als der Schwarm einige Schritt vom Ufer entfernt<br />
war, formierte er sich. General Squire in seinem Boot fuhr<br />
in der Mitte der Gruppe, nach allen Seiten gut gedeckt.<br />
Diejenigen, die vorne oder hinten fuhren, wurden alle halbe<br />
Stunde ausgewechselt, da hier die gefährlichsten Orte<br />
waren. Squire hatte heute außer dem Messer und dem<br />
Revolver noch einen langen Offiziersdegen und einen Kugelbeutel<br />
am Gürtel hängen. Um die Schulter trug er ein<br />
Pulverhorn und neben ihm auf der Bank lag seine Flinte,<br />
ein teures Stück, das er in Detroit erworben hatte. Von<br />
Zeit zu Zeit gab er seinem Ruderer einen Befehl, welcher<br />
besagte, dass der Untergebene weiter links, schneller oder<br />
langsamer fahren sollte. Aber im Wesentlichen saß<br />
der General der vierten Infanterie der britischen Krone auf<br />
dem roh behauenen Holzbrett, das die Bank bildete und<br />
genoss die Reise.<br />
Schnell waren die plumpen Ruderboote im Vergleich<br />
zu indianischen Rindenkanus nicht, sie legten<br />
höchstens zehn Meilen am Tag zurück. So benötigte die<br />
kleine Flotte drei Tage, um aus der bekannten Umgebung<br />
heraus zu gelangen. Abends wurde am Ufer Halt gemacht<br />
und man trank billigen Schnaps, sang und grölte, dass alle<br />
Hirsche im Umkreis von drei Meilen flüchteten. Keiner der<br />
Soldaten kam auf den Gedanken, der Lärm könnte etwa<br />
Indianer anziehen. Sie alle kannten nur die versoffenen<br />
62
und herumlungernden Indianer aus Detroit, Chicago und<br />
New York, die jede Begegnung mit einem Weißen scheuten<br />
und die Straßen blockierten. Man fühlte sich sicher vor<br />
dem rothäutigen Gesindel.<br />
Niemand bemerkte das leise Knistern im Gebüsch<br />
und alle schliefen selig – noch.<br />
63
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> kam atemlos in das Lager gestürzt.<br />
Der Köcher hing schief auf seinem Rücken, er hatte sich<br />
keine Mühe gegeben, lautlos zu gehen. Sein Freund, der<br />
während des Streifzuges seines Kameraden zurückgeblieben<br />
war, hatte ihn schon von weitem kommen gehört<br />
und war ihm entgegen gelaufen. Wenn <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> so<br />
schnell rannte, dann musste etwas Schlimmes passiert<br />
sein. Aber Rotes Messer fragte nicht, er wartete, bis der<br />
andere wieder einigermaßen zu Atem gekommen war und<br />
von selbst zu erzählen begann.<br />
"Ich war bis an das Ufer des großen Wassers gegangen,<br />
ich schlenderte am Wasser entlang und sah den<br />
Vögeln zu, wie sie auf der Fläche trieben. Plötzlich bemerkte<br />
ich, dass einer nach dem anderen seine Flügel<br />
hob und aufflog. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> dachte sich, es wäre eine große<br />
Gruppe Menschen unterwegs, da vor einem einzelnen<br />
Mann nicht so viele Tiere flüchten würden. Ich legte mich<br />
flach auf den Boden, sodass jeder, der vorüber kam mich<br />
für ein Stück Holz oder etwas ähnliches halten musste.<br />
Lange brauchte ich nicht zu warten bis ich Lärm vernahm.<br />
Ich konnte mir denken, dass nur Leute von einem Stamm,<br />
der hier wohnte, so viel Krach machen könnten, alle anderen<br />
würden sich verraten. Also wollte ich schon aufstehen<br />
und die Menschen begrüßen, als ich einige große, breite<br />
Kanus erblickte. In ihnen saßen viele Menschen mit weißer<br />
Haut einige von ihnen hatten Töpfe auf dem Kopf. Auf<br />
beiden Seiten der Kanus ragten lange Stangen aus dem<br />
Bootskörper, die Männer schienen sich mit ihnen fort zu<br />
bewegen.<br />
64
Als die Leute vorüber waren, begann ich, hierher zu<br />
laufen. Lange bin ich gerannt, oft gestolpert und hingefallen.<br />
Aber nun bin ich hier, wir müssen noch vor dem Abend<br />
unser Lager abgebrochen haben und auf dem<br />
Heimweg sein."<br />
So geschah es dann auch. Alles, was die beiden<br />
Jäger mitgehabt hatten, wurde in den Kanus verstaut und<br />
noch bevor es dämmerte waren <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und sein<br />
Freund auf dem Weg in ihre Siedlung. Heute waren die<br />
beiden Kanuten schneller, als auf dem Hinweg, da sie<br />
damals gegen den Strom hatten paddeln müssen und es<br />
nicht eilig gehabt hatten. Auch schwangen sie die gesamte<br />
Nacht hindurch die Paddel und so kam es, dass sie mit<br />
Anbruch des neuen Tages zu Hause waren. Heute hatte<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> keinen Sinn für die Schönheit der Natur, er hatte<br />
so schnell wie irgend möglich seinen Vater zu sprechen.<br />
Der Sohn des Bugonaigeeshing hastete ganz entgegen<br />
seiner sonstigen Art die Uferböschung hinauf zum<br />
Wigwam der Häuptlingsfamilie. Dort schlief noch alles,<br />
aber <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> ging zu der Lagerstatt seines Vaters und<br />
weckte ihn, obwohl ihm das der Respekt vor dem Alter<br />
sonst eigentlich nicht erlaubte.<br />
Der Häuptling begriff sofort, dass es sich aufgrund<br />
dieser Tatsache um etwas Wichtiges handeln musste und<br />
schaute ihn fragend an.<br />
Sein Sohn erzählte die Erlebnisse, der Bruder und<br />
die Mutter, die beide durch das Gemurmel geweckt worden<br />
waren, hörten auch zu. Als <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> mit dem Bericht<br />
geendet hatte, zeichnete sich auf dem Gesicht des Vaters<br />
keine Gemütsbewegung ab, trotz der großen Bestürzung,<br />
die dahinter walten musste. Er überlegte lange Zeit, die<br />
Mutter reichte inzwischen ihrem Sohn einen kalten Rest<br />
Fleisch vom letzten Abendessen und der begann hungrig<br />
65
zu essen. Schließlich sprach Bugonaigeeshing: "Ich werde<br />
den Rat der Alten einberufen und mit ihm bereden, was zu<br />
tun ist." Mit diesen Worten verschwand er aus dem Wigwam<br />
und lief zu den Behausungen der Ratsmitglieder.<br />
Gegen Mittag erst endete die Versammlung der Ältesten,<br />
Bugonaigeeshing kam nach Hause und berichtete<br />
seinem ältesten Sohn: "Wir haben beschlossen, zuerst einen<br />
Spähtrupp voraus zu schicken, der die Blassgesichter<br />
unbemerkt beobachten soll. Die übrigen Krieger werden<br />
dann nachkommen. Für den Spähtrupp sind einige junge<br />
Männer auserwählt, unter anderem du und Rotes Messer.<br />
Ihr werdet unter meiner Leitung die Nachtlager der Feinde<br />
umschleichen und diese belauschen. Schon morgen werden<br />
wir aufbrechen."<br />
Am Nachmittag dieses Tages schien die Sonne<br />
schön und voll vom Himmel herab, doch hatte sie schon<br />
nicht mehr die Kraft, die Mutter Erde zu erwärmen. Das<br />
tiefe Blau des Himmels war mit der Zeit einer kälteren Tönung<br />
gewichen, die Männer, Frauen und Kinder, welche<br />
sich in der Mitte des Dorfes versammelt hatten, trugen<br />
warme Kleidungsstücke aus Pelz. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> stand mitten<br />
in der Menschenmenge, er hatte sich in seinen <strong>Bär</strong>enpelz<br />
gewickelt. Neben dem Sohn des Häuptlings standen<br />
Schleichender Luchs, Rotes Messer und Stehender<br />
Hecht. Alle hielten ihre Blicke nach vorne gewandt, auf die<br />
Stelle, an der Bugonaigeeshing jetzt auf eine Wurzel stieg,<br />
um ein wenig höher zu sein, als seine Stammesgenossen.<br />
Jetzt hob er die linke Hand und ringsherum wurde es still,<br />
jegliche Stimmen, alles Flüstern verstummten und der<br />
Häuptling der Anishinabeg ließ seine Augen eine Weile<br />
über die seinen schweifen.<br />
66
Dann tat er den Mund auf und seine mächtige<br />
Stimme erscholl, dass man sie auf dem ganzen Dorfplatz<br />
hören konnte, der mindestens hundert Schritt im Durchmesser<br />
maß: "Männer und Frauen, Mädchen und Jungen,<br />
die ihr alle zu dem Stamme gehört, über den ich die<br />
Häuptlingsmacht habe! Hört, ihr Menschen vom Volke der<br />
Anishinabeg, seht mich an und lauscht meinen Worten! Es<br />
geht um eine Sache, die für uns alle und für unsere Brüder<br />
aus anderen Stämmen in höchstem Maße wichtig ist. Ich<br />
will euch erzählen von einer Plage, die über uns kommen<br />
wird, uns quälen und vernichten wird, wenn ihr nicht stark<br />
seit. An den Kriegern unseres Stammes liegt es, ihr Land<br />
zu verteidigen.<br />
Wir alle hörten von dem Händler der Irokesen, der<br />
im Frühherbst hier in Weiße Erde war, dass weiße Männer<br />
kämen und das Land der Stämme weiter im Osten stehlen<br />
würden. Damals prophezeite derselbe Mann uns, die<br />
Blassgesichter kämen sicherlich eines Tages auch zu uns.<br />
Wir glaubten ihm nicht, einige von uns nannten ihn einen<br />
Lügner und einen Dummkopf, wir hielten es für unmöglich,<br />
dass es Männer mit weißer Haut gebe. Aber nun hat einer<br />
aus unserem Kreis solche Menschen gesehen."<br />
In der Menge von braunhäutigen Leuten wurde ein<br />
Gemurmel laut. Wer hatte diese gefährlichen und seltsamen<br />
Geschöpfe mit eigene Augen erblickt, wer?<br />
Bugonaigeeshing hob wieder die Linke, es wurde<br />
wieder still auf dem Dorfplatz. Man wollte ja hören wie es<br />
weiterging.<br />
"Ihr alle kennt meinen Sohn, den Roten <strong>Bär</strong>en. Er<br />
sah die Landräuber, er erzählte es mir heute früh. Ich frage<br />
euch, hat mein Sohn schon jemals gelogen?" Viele<br />
Leute schüttelten ihren Kopf, einige taten gar nichts. Sie<br />
warteten einfach ab, was ihr Häuptling nun tun würde.<br />
67
"Da es sich aber jetzt um das Wohl vieler Männer,<br />
Frauen und Kinder geht, soll <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> schwören. Wenn<br />
er jetzt die Unwahrheit sagt, wird ihm schlimmes Unheil<br />
widerfahren in seinem Leben. Die heilige Pfeife wird ihm in<br />
diesem Falle viel Leid zufügen." Bugonaigeeshing gab<br />
seinem ältesten Sohn <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> einen Wink zu ihm zu<br />
kommen. Dieser bahnte sich einen Weg durch seine<br />
Stammesgenossen, die ihm achtvoll Platz machten. Er trat<br />
neben seinem Vater auf die Wurzel und nahm die kunstvoll<br />
mit Adlerfedern verzierte Pfeife von ihm entgegen. Er<br />
hielt sie in der Rechten, hob den Arm und ließ das Mundstück<br />
des Pfeifenstieles in Richtung Osten auf den Himmel<br />
zeigen. Im Osten ging die Sonne auf und von hier kam die<br />
Energie sämtlichen Lebens auf der Erde. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> rief in<br />
diese Richtung: "Ich schwöre bei der heiligen Pfeife und<br />
unter dem Himmel Manitus und vor dem Vater Sonne, ich<br />
schwöre bei den heiligen vier Winden und allen Geistern,<br />
dass ich Blassgesichter sah, die von Osten in unsere<br />
Richtung kamen. Sie saßen in großen breiten Kanus mit<br />
zwei langen Paddeln und fuhren nicht sehr schnell. In<br />
zweien dieser Kanus lagen schwarze kurze Baumstämme,<br />
die vorne eine Öffnung hatten."<br />
Viel Gerede und Geschwätz machte sich unter den<br />
Menschen des Dorfes breit und Bugonaigeeshing hatte<br />
seine liebe Mühe, die Menschen von Weiße Erde wieder<br />
zum Schweigen zu bringen. "Jetzt habt ihr alle gehört, was<br />
mein Sohn gesagt hat. Heute, am Vormittag beschloss der<br />
Rat der Alten, morgen eine Schar Späher in die Richtung<br />
der Feinde zu schicken. Diejenigen Männer, die für diesen<br />
Trupp bestimmt sind, wissen bereits Bescheid. In vier Tagen<br />
wird die gesamte Streitmacht unseres Stammes, einschließlich<br />
der anderen Dörfer bis auf einige Männer, die<br />
68
zum Schutz der Siedlungen zu Hause bleiben würden,<br />
hinterherziehen.<br />
Eine große Unruhe verbreitete sich unter den Menschen<br />
des Dorfes und Bugonaigeeshing hatte seine Mühe,<br />
die Bevölkerung von Weiße Erde wieder zum Schweigen<br />
zu bringen. Er kannte aber seine Leute und wusste, dass<br />
sie nicht mehr lange zuhören würden.<br />
"Ihr alle saht und hörtet soeben, was mein Sohn<br />
geschworen hat.<br />
Lasst uns kämpfen und die Feinde einzeln niederschießen,<br />
wie wir es mit unserer Jagdbeute tun. Aber keiner<br />
von uns wird einen weißen Mann vorher um die Erlaubnis<br />
bitten, oder sich gar bei ihm entschuldigen. Die<br />
Blassgesichter werden uns um Gnade anflehen, aber keiner<br />
der Landdiebe wird verschont werden. Wir werden unter<br />
dem Schutze Manitus stehen. Er wird uns helfen, die<br />
Gegner zu besiegen.<br />
Und nun geht, ihr jungen Krieger, die ihr als Späher<br />
bestimmt seid. Geht und sucht eure Sachen zusammen,<br />
wir werden morgen noch vor dem Morgengrauen aufbrechen.<br />
Schärft eure Waffen, repariert eure Pfeile und<br />
schlaft früh, damit ihr morgen nicht müde seid."<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sprang von der Wurzel herunter, sein Vater<br />
tat das selbe. Sie gingen zwischen den vielen Dorfbewohnern<br />
in ihren Wigwam. Dort wurde von der Mutter viel<br />
Pemmikan zusammengepackt, für Vater und Sohn je zwei<br />
große Büffelblasen voll. Die beiden Männer schärften ihr<br />
Messer, fertigten vielleicht noch einen angefangenen Pfeil,<br />
kontrollierten den Sehnenbelag auf ihren Bögen. Sie legten<br />
ihren Kriegsschmuck zurecht. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> freilich besaß<br />
noch nicht so viele Auszeichnungen, wie sein Vater, aber<br />
doch immerhin eine Adlerfeder, die er für das Erschießen<br />
69
eines Mannes aus dem Stamme der Bwaanag 1 erhalten<br />
hatte.<br />
Am nächsten Tag, man konnte noch nicht einmal<br />
ahnen, wo die Sonne aufgehen würde, erwachten <strong>Roter</strong><br />
<strong>Bär</strong> und sein Vater fast gleichzeitig. Sie kleideten sich an,<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> steckte sich seine Feder in den Schopf und Bugonaigeeshing<br />
hatte sechs Federn mit vielerlei Symbolen<br />
und Einschnitten, die auch eine große Auszeichnung waren,<br />
im Haar.<br />
Jeder steckte noch ein zweites Paar Mokkassins in<br />
seine Ledertasche, in der sich auch der Pemmikan befand,<br />
dann liefen sie zum Ufer des großen Wassers. <strong>Roter</strong><br />
<strong>Bär</strong> setzte sich auf den Bug eines Kanus, der Häuptling<br />
aber blieb stehen. Man wartete, bis alle Krieger eingetroffen<br />
waren, dann hob Bugonaigeeshing die rechte Hand<br />
zum stillen Gruß. Schweigend und ohne ein Geräusch zu<br />
verursachen folgten ihm etwa zwanzig junge Krieger, alle<br />
mit dem Köcher über dem Rücken, den Bogen und einen<br />
Pfeil in der Hand und das Messer am Gürtel. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong><br />
bildete mit seinem Freund den Schluss der Schlange aus<br />
beweglichen, muskulösen und sehnigen Körpern. Der Zug<br />
bewegte sich am Seeufer entlang, wobei man immer darauf<br />
achtgab, vom Wasser aus nicht gesehen werden zu<br />
können. Zwischen den Stämmen hindurch aber sahen die<br />
Indianer alles, was sich da draußen bewegte. Aber auch,<br />
wenn sich ein großer Teil der Aufmerksamkeit auf die<br />
schwarze Fläche richtete, so trat doch niemand auf einen<br />
dürren Ast oder Zweig, der ein Geräusch hätte verursachen<br />
können. Sie liefen, bis die ersten Sonnenstrahlen<br />
den Wald beleuchteten und sie nicht mehr in Sichtschutz<br />
vom Wasser aus waren. Jetzt ordnete Bugonaigeeshing<br />
1 Bwaanag: Dakota<br />
70
an, weiter in das Waldesinnere vorzudringen und dort eine<br />
Rast einzulegen. Über Nacht war man schnell gegangen<br />
und so verzehrten nun alle Menschen hungrig ihre Hand<br />
voll Pemmikan, schnürten die Büffelblase wieder zu und<br />
verstauten sie in ihren Ledertaschen.<br />
Dann ging es weiter, wieder ging der Häuptling voran<br />
und wieder achtete man sorgfältig darauf, keinen Lärm<br />
zu verursachen, obwohl der See weit entfernt war.<br />
Gegen Nachmittag musste man damit rechnen,<br />
kurz vor den Feinden zu sein und der kleine Spähtrupp<br />
begab sich kriechend zum Ufer.<br />
Dort suchte sich jeder der jungen und noch mehr<br />
oder weniger unerfahrenen Krieger einen Platz, an dem er<br />
gut liegen und den man vom Wasser aus nicht einsehen<br />
konnte. Hinter Baumstämmen, hinter Büschen und hinter<br />
noch so kleinen Bodenwellen wimmelte es nur so von rothäutigen<br />
kampflustigen Männern.<br />
Bugonaigeeshing selbst hatte sich hinter einen dicken<br />
Baum gestellt, eng an die Borke geschmiegt konnte<br />
er vorsichtig am Stamm vorbeisehen und gut schießen.<br />
Außerdem hatte er von diesem Standplatz aus die Wasserfläche<br />
und seine Krieger gut im Auge. Seinen Köcher<br />
trug der oberste Häuptling der Anishinabeg schon längst<br />
nicht mehr über der Schulter, er lehnte am Baumstamm,<br />
der Bugonaigeeshing als Versteck diente. Den Bogen und<br />
einen Pfeil mit scharfer Spitze hatte der Vater des Roten<br />
<strong>Bär</strong>en in der Hand, immer bereit zum Schuss.<br />
Lange warteten die Männer so, in gedeckter Position.<br />
Die Sonne stand schon tief über dem Horizont und<br />
nahm schon eine rötliche Färbung an, um hinter dem endlosen<br />
Wasserspiegel zu verschwinden.<br />
Endlich, es war nur noch die obere Hälfte des glühenden<br />
Feuerballes zu sehen, vernahmen die Indianer<br />
71
lautes Gelächter und das Geräusch von aufspritzendem<br />
Wasser. Alle pressten sich mit angehaltenem Atem an ihre<br />
Mutter, die Erde. Jeder Kopf verschwand, nur hinter Zweigen,<br />
die Sichtschutz boten, lugten noch einige Paare<br />
schwarzer Augen hervor.<br />
Und nun sahen sie ihre Feinde. Da hinten bogen<br />
sie gerade um eine Biegung, die das Ufer machte.<br />
Keiner dieser blasshäutigen, schmutzigen und<br />
großmäuligen Männer hatte auch nur die leiseste Ahnung<br />
davon, dass er stets von 40 wachsamen Augen verfolgt<br />
wurde. Man redete mit dem, der mit im Boot saß, nahm ab<br />
und zu einen Schluck aus der bereitstehenden Whiskyflasche<br />
und ruderte nach Leibeskräften, um den Wünschen<br />
des großen Herrn General gerecht zu werden. Von Zeit zu<br />
Zeit sah man sich nach diesem um und wurde doch etwas<br />
neidisch, wenn man sah, wie er dort auf seiner Bank saß<br />
und sich rudern ließ. Aber solche Gedanken vertrieben die<br />
Soldaten schnell wieder aus ihrem Gehirn, er hatte es ja<br />
verdient. So ging es manchem der Männer, obwohl keiner<br />
wusste, womit es sich der Befehlshaber verdient hatte.<br />
Gut verdeckt hinter Zweigen und Erderhebungen<br />
lagen vollkommen regungslos die indianischen Krieger.<br />
Nur der Wind raschelte in den Blättern, sonst war alles<br />
still. Die Gestalten in Pelzkleidung warteten, bis die feindliche<br />
Abteilung vorüber war, dann erhoben sie sich. Bugonaigeeshing<br />
hieß seinen Leuten, ihm in den tieferen Wald<br />
zu folgen. Falls die Blassgesichter so vorsichtig gewesen<br />
waren, eine Nachhut zu verwenden, wollte er nicht gesehen<br />
werden. Auf einer kleinen Lichtung zwischen kleinen<br />
Bäumen versammelte er die Krieger und teilte ihnen den<br />
weiteren Ablauf des Geschehens mit. Sie würden jetzt den<br />
Feinden folgen und sie überwachen, bis in einigen Tagen<br />
72
die gesamte Macht aller Anishinabeg- Dörfer in den Wäldern<br />
Südkanadas eintreffen würde.<br />
"Dann vereinen wir uns mit ihnen und überfallen<br />
nachts gemeinsam das Lager der weißen Landdiebe. Wir<br />
werden sie niederschießen, wie unsere Kinder im Herbst<br />
Eichhörnchen fangen. Aber ihr, meine Krieger dürft euch<br />
nicht vor den Donnerbüchsen der Blassgesichter fürchten.<br />
Diese Stöcke blitzen, knallen und qualmen furchterregend,<br />
doch sagen die Händler aus dem Osten, dass man nach<br />
einem Knall lange warten muss, bis sie wieder schießen."<br />
Jetzt hatten alle die weißhäutigen Männer gesehen,<br />
auch der letzte Gedanke an eine Lüge war verflogen und<br />
in den jungen Menschen stieg die Kampfeslust in allen<br />
Adern empor. Manch eine Faust ballte sich fester um den<br />
Griff des Bogens, hier und da nahm einer seine Kriegskeule<br />
aus dem Gürtel. Überall verbreitete sich Unruhe,<br />
doch noch musste man sich gedulden, bis die Stammesgenossen<br />
unter der Führung eines Unterhäuptlings aus<br />
dem Nachbardorf, dem Fliegenden Habicht, eintrafen.<br />
Am Morgen des nächsten Tages erwachten zehn<br />
der Späher von den goldenen Strahlen der Sonne, die<br />
sacht über ihr Gesicht strichen. Sie hatten ihr Lager nahe<br />
dem der Feinde aufgeschlagen, jedoch tiefer im Wald.<br />
Man nahm seine Ration Pemmikan zu sich, packte das<br />
Fell, auf dem man geschlafen hatte zusammen und begab<br />
sich dann mit Bugonaigeeshing auf den Weg zum feindlichen<br />
Lagerort. Im dichten Unterholz konnten die Blassgesichter<br />
nicht weit sehen. Doch trotzdem ließen sich die indianischen<br />
Krieger etwa 200 Schritt entfernt auf alle Viere<br />
nieder und krochen so bis auf 100 Schritt an die kleine<br />
Lichtung heran, auf der einige Zelte aus weißem Segel-<br />
73
tuch standen, die aber aufgrund von Schmutz schon eine<br />
gräuliche Tönung angenommen hatten.<br />
Der Häuptling ließ das Fauchen eines Fuchses hören<br />
(die Tiere beendeten um diese Tageszeit gerade ihre<br />
nächtliche Jagd) und nach einiger Zeit kamen auf das verabredete<br />
Signal diejenigen Leute, die die nächtliche Wache<br />
übernommen hatten, zu dem Rest ihrer Gruppe. Gemeinsam<br />
wurde gewartet, bis die Weißen ihr Lager abbrachen,<br />
Richtung Ufer marschierten, in ihre Boote stiegen<br />
und weiterfuhren. Dann folgten ihnen zwanzig dunkelhäutige<br />
Gestalten, verdeckt hinter Buschwerk und Bäumen.<br />
So verliefen die folgenden Tage, bis der Morgen<br />
anbrach, an dem die anderen Krieger der Anishinabeg<br />
kommen sollten. In dieser Nacht hatte der Spähtrupp nicht<br />
in der Nähe des Feindes sein Lager aufgeschlagen, sondern<br />
an einer verabredeten Stelle des Flusses der springenden<br />
Lachse, an dem vor einigen Tagen <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> und<br />
sein Freund ihr Lager gehabt hatten. Der Sohn des Bugonaigeeshing<br />
musste an den <strong>Bär</strong>en denken, auf dessen<br />
Fell er in den letzten Nächten immer geschlafen hatte.<br />
Noch bevor die Sonne richtig aufgegangen war, trafen<br />
die befreundeten Männer ein, sie traten geräuschlos<br />
aus dem Wald. Man hatte sie nicht kommen gehört, man<br />
hatte sie zwischen den hohen Stämmen auch nicht gesehen.<br />
Die Männer des Spähtrupps erhoben sich von ihren<br />
Fellen, auf denen sie gesessen und gegessen hatten und<br />
begrüßten Freunde und Verwandten. Überall umarmte<br />
man sich, wechselte nette Worte.<br />
Dann begann es. Die für hiesige Begriffe riesenhafte<br />
Schar von fast 500 Kriegern machte sich auf den Weg<br />
zum feindlichen Lager, das an der Mündung des Baches<br />
74
gelegen war. Am letzten Abend waren von den Spähern<br />
drei Leute an diesem Ort zurückgelassen worden, die die<br />
Lagerstätte beobachten sollten. Jetzt kamen sie ihrem<br />
"Heer" entgegen, mit der Meldung, die Blassgesichter<br />
würden das Lager abbrechen. Also hieß es, sich zu beeilen,<br />
damit man die Feinde nicht aus den Augen verlor. Im<br />
Trab ging es vorwärts durch dichtes Unterholz, über umgestürzte<br />
Bäume und zwischen Ranken von Efeu und wildem<br />
Wein.<br />
Endlich war die Stelle, an der die Boote der weißen<br />
Soldaten zu Wasser gelassen worden waren, erreicht.<br />
Schon zu Sonnenaufgang mussten sie von hier weggefahren<br />
sein. Deshalb lief man weiter im Eilschritt, während es<br />
immer heller wurde. Um diese Jahreszeit war der Himmel<br />
schon kaltblau. Über Nacht hatte es starken Frost gegeben<br />
und es war nicht einfach, sich leise auf den gefrorenen<br />
Blättern fortzubewegen.<br />
Als die Indianer ihre Feinde eingeholt hatten, stand<br />
stand die Sonne schon an ihrem höchsten Punkt. Trotzdem<br />
war sie nicht mehr stark genug, um die Erde zu erwärmen.<br />
Die englischen Soldaten in ihren dünnen Stoffuniformen<br />
mussten schnell rudern, um nicht zu frieren und<br />
abends fühlten sie sich trotz der wärmenden Feuer wie<br />
Eiszapfen. Das hatte für sie aber immerhin den Vorteil,<br />
dass sie besser voran kamen, als in den letzten Tagen.<br />
Für die Indianer aber, die zu Fuß am Ufer folgten,<br />
immer darauf bedacht, Sichtschutz zu haben und trotzdem<br />
nicht den Sichtkontakt zu verlieren, war die Geschwindigkeit<br />
der Engländer ein entscheidender Nachteil. Obwohl<br />
sie in dem unwegsamen Gelände auch nicht so schnell<br />
laufen konnten, wie ihre Feinde auf dem Wasser fahren<br />
und sich der Abstand zusehens vergrößerte, gelang es ih-<br />
75
nen, General Squire zu folgen, bis der Abend dämmerte.<br />
Nachdem sie die Stelle, an der das andere Heer Rast machen<br />
wollte, ausfindig gemacht hatten, schliefen auch sie<br />
noch einige Zeit auf ihren Fellen, bis ihr Häuptling sie mit<br />
dem dumpfen Buhen eines Uhus weckte.<br />
Jetzt würde es nicht mehr lange zum großen Kampf<br />
dauern. Alle hatten ihn heiß ersehnt und sich in ihrer Heimat<br />
im Kriegstanz darauf vorbereitet. Sie alle wollten die<br />
blasshäutigen Eindringlinge aus ihrem Land vertreiben.<br />
76
Der Mond ging gerade auf, als es in dem La-<br />
ger lebendig wurde. Jederman wickelte sich aus seinem<br />
Schlaffell aus, rollte es zusammen und legte es irgendwo<br />
versteckt unter einen Strauch. Mehr Gepäck, als nötig,<br />
konnte man bei dem kommenden Gefecht nicht gebrauchen.<br />
Nachdem die Krieger alle ihre Waffen durchgesehen,<br />
Kriegskeule, Beil, Messer, Bogen und Pfeile mitgenommen<br />
hatten, betete jeder noch einmal und keiner<br />
wusste, ob es vielleicht das letzte Mal in seinem Leben<br />
sein würde. Trotzdem ließ sich niemand ein Anzeichen<br />
von Trauer anmerken, schließlich waren alle freiwillig mitgekommen.<br />
Man scharte sich um den Häuptling. Dieser<br />
schied seine Leute in fünf Unterabteilungen, denen er je<br />
einen Befehlshaber zustellte. Dann nahmen die Krieger in<br />
ihren Gruppen die Position ein, die ihnen zugewiesen<br />
worden war:<br />
Ganz links, sehr nah schon am Seeufer wollte Bugonaigeeshing<br />
selbst mit seinem Sohn und dessen<br />
Freund vorrücken. Neben ihm, vielleicht hundert Schritt<br />
entfernt, war die Schar des Fliegenden Habichts, wieder<br />
einige Schritt weiter befand sich die Schlaue Schlange,<br />
dann kamen der Treffende Pfeil und der Stehende Fels.<br />
Die Anführer standen an der Spitze ihrer Männer. Erwartungsvolle<br />
Stille hatte sich verbreitet und die schweigende<br />
Spannung legte sich über alle Glieder.<br />
Endlich, endlich hob der Oberhäuptling links die<br />
rechte Hand und lief vorwärts. Überall huschten die geduckten<br />
langhaarigen Gestalten durch die Nacht. Hier<br />
zwischen die Bäume drang nur sehr wenig Licht, jeder<br />
Schritt, jeder Sprung, jede Bewegung musste mit Bedacht<br />
77
getan werden, denn man konnte den Boden selbst mit den<br />
schärfsten Augen nicht gut sehen. Sehr weit konnte es<br />
nicht sein bis zum Lagerplatz der Feinde, höchstens 1000<br />
Schritt.<br />
Jetzt tauchten vor ihnen die Zelte auf. Da diese auf<br />
einer Lichtung standen und der Mond schien, reflektierten<br />
die hellen Segeltuchwände das spärliche Licht. Nun war<br />
höchste Vorsicht geboten, teilweise bewegten sich die<br />
Krieger kriechend, manchmal gingen sie gebückt, die weichen<br />
Mokassinsohlen erzeugten kein Geräusch.<br />
Nach einer Zeit, die den Männern schon fast als eine<br />
Ewigkeit erschien, erreichten sie endlich das Gebüsch,<br />
welches die Lichtung säumte. Die Gruppe des stehenden<br />
Felsens ging jetzt auf den Lagerplatz. Die einfachen Soldaten<br />
schliefen in Wolldecken gerollt auf dem nackten<br />
Erdboden, die Offiziere in ihren Zelten. Die Krieger, die bis<br />
auf den feindlichen Lagerplatz vorgedrungen waren, hatten<br />
ihren Bogen und die Pfeile im Wald zurückgelassen.<br />
Sie hatten nur ihr Messer und die Kriegskeule dabei. Alles<br />
andere wäre beim Kriechen hinderlich gewesen, außerdem<br />
konnte jemand, der von einem Pfeil tödlich getroffen<br />
war, noch schreien und das musste hier unter allen Umständen<br />
vermieden werden.<br />
Die hundert Krieger also krochen zwischen den<br />
schlafenden Soldaten herum und wenn einer von ihnen<br />
sich leise an einen der Weißen heran gearbeitet hatte, hob<br />
er das Messer und zog die Schneide kurz über dessen<br />
Kehle. – Der würde nie mehr Land stehlen.<br />
Auf diese Art lagen schon fast zwei Dutzend toter<br />
Männer im Gras auf dem Waldboden, da krachte urplötzlich<br />
ein Schuss und ein roter Krieger hörte, wie die Kugel<br />
knapp über seinem Kopf hinweg pfiff. Die Indianer auf der<br />
Lichtung dachten an die Worte ihres Häuptlings, dass sie<br />
78
sich nicht fürchten sollten vor den Gewehren der Soldaten<br />
und pressten sich dicht an die Erde. Diejenigen Krieger<br />
aber, die im Wald geblieben waren, legten einen Pfeil auf<br />
die Bogensehne, hielten danach Ausschau, wo der Schütze<br />
war. Doch dieser lag gut gedeckt hinter einer Bodenerhebung.<br />
Er hatte in dieser Nacht unruhig geschlafen und<br />
war aufgewacht. Er hatte sich dehnen wollen und hob den<br />
Kopf über die kleine Bodenerhebung, hinter der er lag.<br />
Jetzt hatte er gesehen, was mit seinen Kameraden los<br />
war. Der griff nach dem Gewehr, das wie immer neben<br />
dem Lager gelegen hatte, war mehr instinktiv, als bewusst<br />
abgelaufen. Dort unter den Toten lag auch sein Freund,<br />
Harrison, und neben ihm kroch gerade ein rothäutiger<br />
Hund mit blutigem Messer davon. Schnell war das Gewehr<br />
an der Schulter, nur ruhig halten, nicht zittern! Dann<br />
drückte der weiße Soldat ab, der Hahn klackte, der<br />
Schuss krachte, die Schulter des Schützen wurde zurückgeworfen.<br />
Aber was war das? Der Rote sackte nicht zusammen,<br />
er kroch einfach weiter bis hinter den nächsten<br />
Grasbüschel und verschwand. Langsam wurde dem Rächer<br />
bewusst, dass er nicht getroffen hatte. In diesem<br />
Licht waren Kimme und Korn nicht gut genug zu erkennen<br />
gewesen und er hatte auch sehr kurz gezielt. Die Wut<br />
packte ihn, in Windeseile griff er zum Pulverhorn, stieß mit<br />
dem Ladestock ein wenig der schwarzen Körnchen in den<br />
Lauf hinunter und klopfte die Kugel auf ihm fest. Während<br />
diesem Vorgang war trotz aller Eile mindestens eine halbe<br />
Minute vergangen, kostbare Zeit. Der Krieger musste<br />
schon irgendwo im Wald liegen, sicher versteckt hinter einem<br />
Busch. Trotzdem beschloss der Soldat, nachzusehen,<br />
ob nicht ein anderer Krieger für die Schandtat seines<br />
Stammesgenossen sterben könnte. Er schob zuerst das<br />
Gewehr mit dem Lauf nach vorne über die Erdwelle, hinter<br />
79
der er Deckung genommen hatte. Dann lugte er vorsichtig<br />
zwischen zwei Grasbüscheln hervor. Zuerst nur so, dass<br />
er gerade über den Boden hinweg spähen konnte, als er<br />
keine Feinde erblicken konnte, schob er den Kopf immer<br />
weiter nach oben, bis schließlich der Hals über die Erde<br />
kam.<br />
Da sah der Soldat irgendwo zwischen zwei Bäumen<br />
eine kleine Bewegung und legte sein Gewehr an, obgleich<br />
es auf diese Entfernung zwecklos war, zu schießen. Während<br />
er sorgfältig zielte, achtete er nicht darauf, dass sein<br />
Körper sich immer weiter über den schützenden kleinen<br />
Hügel hinausschob. Gerade wollte er abdrücken, er hatte<br />
schon den Finger am Abzug, als vor ihm ein Blitz die Luft<br />
durchschnitt und er einen Stoß gegen die Brust erhielt.<br />
Aufstöhnend wälzte sich der Soldat auf den Rücken und<br />
sah einen Indianerpfeil in seinem Herzen stecken. Das<br />
Ende mit den Federn zitterte noch und er dachte: "Dieser<br />
verfluchte rote Hund!" Dann drehte sich alles um ihn und<br />
er hörte nur noch ein ungeheures Rauschen. Jetzt war da<br />
nichts mehr, seine Augen sahen schwarz und ringsum<br />
Stille. Ein Landdieb war tot und die Sehne am Bogen des<br />
Bugonaigeeshing zitterte, als beklage sie den Tod des<br />
Büffels, aus dessen Leib sie kam.<br />
Von dem Schuss waren die englischen Soldaten<br />
aufgewacht. Einige von ihnen mussten bestürzt feststellen,<br />
dass sie neben dem Leichnam ihres Kameraden lagen.<br />
Sie sahen die durchschnittene Kehle und wussten:<br />
Das waren Indianer gewesen.<br />
General Squire selbst stand von seinem Lager im<br />
geräumigen Zelt auf und ärgerte sich über den, der diesen<br />
Schuss abgesandt hatte. Ein solcher Knall musste sie ja<br />
allen Indianern im Umkreis von sechs Meilen verraten. Er<br />
hatte nicht mitbekommen, dass er bereits von Indianern<br />
80
umgeben war und trat aus dem Einngang seine Behausung,<br />
um den Schützen zu strafen.<br />
Doch kaum hatte er den Schritt aus seinem Zelt<br />
hinaus gemacht, blieb er wie angewurzelt stehen. Er sah<br />
Pfeile gleich blitzschnellen Vögeln durch die Luft fliegen,<br />
sah fast 50 seiner Leute tot am Boden liegen. General<br />
Squire war kein Mann mit trägem Reaktionsvermögen,<br />
doch jetzt dauerte es lange, bis er sich gefasst hatte. Er<br />
rechnete kühl: 2000 Soldaten unterstanden seinem Befehl,<br />
50 Leben weniger würden nicht eine Niederlage seiner<br />
Truppen bedeuten. Aber wenn seine Männer nicht in<br />
ein Gebiet gelangen konnten, in dem sie bessere Deckung<br />
hatten, so war den Indianern der Sieg gewiss. General<br />
Squire wandte sich um, um die Büchse und seinen Revolver<br />
zu holen. Nur für wenige Sekunden konnte er das<br />
Kampffeld nicht überblicken, bis das schützende Zelt erreicht<br />
war. Doch diese wenigen Sekunden waren wenige<br />
Sekunden zu viel. Gerade wollte der oberste Befehlshaber<br />
die Segeltuchtür aufschlagen, als er einen schweren Stoß<br />
von hinten bekam und mit dem Gesicht nach vorne auf die<br />
Erde fiel. Ein stechender Schmerz in seinem Rücken war<br />
das Letzte, das ihm noch in die Sinne drang. Der General<br />
lag tot auf dem Boden, das Ende des Pfeiles in seinem<br />
Rücken zitterte, die Sehne am Bogen des Roten <strong>Bär</strong>es<br />
summte. Da die Armee aber einen Führer brauchte, übernahm<br />
der nächste Offizier, Harlan, das Amt des Führers.<br />
Er befahl allen Soldaten, die irgendwie in den Wald gelangen<br />
konnten, zu flüchten.<br />
Sie liefen weit landeinwärts, sie rannten, stolperten,<br />
fielen, rappelten sich wieder auf, liefen weiter. Die Lungen<br />
drohten, zu versagen. Das schwere Gewehr hing auf dem<br />
Rücken, schlug von einer Seite zur anderen und das rot-<br />
81
häutige Pack musste den Soldaten auf den Fersen sein.<br />
Nur nicht aufgeben, weiter, weiter, weiter!<br />
Einem der letzten Nachzügler in der großen Schar<br />
von Soldaten versagten die Beine den Dienst. Er fiel auf<br />
den Boden, war jeden Augenblick darauf gefasst, von einer<br />
Kriegskeule den Hinterkopf zerschmettert zu bekommen<br />
und blickte sich verwundert um, als dies nicht geschah.<br />
Was war das? Es waren ja überhaupt keine Indianer<br />
da. Er rief nach den anderen, die blieben stehen und<br />
sahen auch das Unfassbare.<br />
Eben waren sie noch in toller Angst geflohen, wie<br />
ein Hase vor dem Fuchs. Jetzt wurden sie wieder mutiger<br />
und die Angst wich den großen Sprüchen. Sie wollten zurück<br />
zum Kampfplatz und ihren Kameraden helfen. Harlan<br />
stimmte schließlich zu, nachdem sich immer noch kein Indianer<br />
sehen gelassen hatte.<br />
Bugonaigeeshing hatte, als er den Plan Harlans erkannte,<br />
dem Treffenden Pfeil den Befehl über die drei<br />
rechten Gruppen übergeben und mit der seinen und der<br />
des Fliegenden Habichts die Verfolgung der Flüchtenden<br />
übernommen. Es waren ungefähr 500 Mann, eine große<br />
Übermacht. Trotzdem wusste der Oberhäuptling der Anishinabeg<br />
schon, wie die Feinde zu besiegen waren. Jeder<br />
Krieger konnte an den Spuren erkennen, dass die Gegner<br />
Hals über Kopf die Flucht ergriffen hatten. Sie hetzten hinter<br />
ihnen her, doch immer so, dass sie noch nicht in<br />
Sichtweite kamen.<br />
Schließlich teilte Bugonaigeeshing seinen Trupp<br />
und ließ die eine Hälfte unter dem Fliegenden Habicht zurück.<br />
Diese Leute versteckten sich, legten sich an einem<br />
flachen Hügel hinter Büsche, stellten sich hinter Bäume,<br />
oder vergruben sich im Laub. Der Häuptling selbst schlug<br />
82
mit seiner Schar einen Laufschritt ein, die Männer rannten<br />
schon fast, und lief im Bogen um den feindlichen Haufen<br />
der Soldaten herum. Dieser Bogen musste so groß sein,<br />
dass die Weißen nicht die roten Krieger sehen konnten.<br />
Als Bugonaigeeshing ziemlich sicher davon ausgehen<br />
konnte, die Feinde überholt zu haben, lenkte er wieder auf<br />
den Wildpfad zu, den diese zur Flucht benutzt hatten.<br />
Langsam, vorsichtig und immer auf Deckung bedacht näherte<br />
man sich ihm. Schließlich ging es auf beiden Seiten<br />
entlang des Weges in die Richtung, in der die Stammesgenossen<br />
sich befanden. Hinter jedem noch so kleinen<br />
Gesträuch machte man Halt, dann huschte der Krieger<br />
weiter.<br />
Jetzt konnten die Männer auf dem Weg die Spuren<br />
der Feinde sehen. Hier, an dieser Stelle hatten sie umgedreht.<br />
Bugonaigeeshings Rechnung war aufgegangen: Als<br />
die Weißen gemerkt hatten, dass sie nicht verfolgt wurden,<br />
kehrten sie um, um ihren Freunden zu Hilfe zu kommen.<br />
Dass sie dabei geradewegs in einen Hinterhalt hineinliefen,<br />
davon merkten sie freilich nichts.<br />
Nun aber musste man wieder voran, damit sie nicht<br />
doch noch entkamen, diese schmutzigen Landdiebe. Also<br />
wieder ins Gebüsch, leise, huschend zwischen Ästen und<br />
Zweigen hindurch.<br />
Es hatte angefangen, zu schneien. Es war der erste<br />
Schnee in diesem Jahr. Schon wirbelten die Flocken dicht,<br />
auch hier im Wald. Die Indianer sahen nur, dass dieser<br />
Umstand für sie ein Nachteil war, da die Spuren leichter<br />
zu erkennen waren. Sie konnten aber nicht wissen, einen<br />
wie großen Vorteil sie dafür erhalten hatten.<br />
Die Gewehre in der damaligen Zeit wurden noch<br />
nicht mit Patronen geladen, auch besaßen sie kein wasserdichtes<br />
Schloss. Die Büchsen damals hatten lediglich<br />
83
in der Pfanne eine Aussparung, in die das Pulver gelegt<br />
wurde, oder man konnte sie mit einem Ladestock durch<br />
den Lauf laden. Kam aber Wasser auf die Pfanne, so wurde<br />
das Pulver nass und konnte nicht mehr explodieren.<br />
Also konnte die Kugel auch nicht aus dem Lauf geschickt<br />
werden und damit waren die gefürchteten Donnerbüchsen<br />
ungefährlich.<br />
Die Soldaten aber dachten nicht daran, liefen immer<br />
weiter, so schnell sie konnten zum Kampfplatz. Man<br />
konnte in dem dichten Schneetreiben nicht sehr weit sehen.<br />
Die ganze Konzentration war auf den Boden gelenkt,<br />
damit man nicht fiel. Immer weiter liefen sie. Harlan war<br />
am hinteren Ende des Haufens Männer, er konnte nicht so<br />
schnell rennen in seiner schweren Uniform mit den goldenen<br />
Orden und Auszeichnungen.<br />
Plötzlich ertönte vor dem Trupp der Kriegsruf der<br />
Anishinabeg, dunkel und dröhnend wie der Ruf eines<br />
kampfbereiten Büffelstieres hallte er zwischen den Bäumen.<br />
Die Engländer waren nur den grellen, schneidenden<br />
Kriegsschrei der Stämme weiter im Osten gewohnt, bei<br />
dem es den meisten von ihnen schon kalt den Rücken<br />
herunter lief. Aber diesen Laut kannten sie nicht. Er war<br />
unheimlich, so tief und auch bedrohlich. Außerdem waren<br />
die Feinde nicht zu sehen, da sie hinter Büschen und<br />
Bäumen Deckung genommen hatten. Bei den englischen,<br />
disziplinierten und gut abgerichteten Soldaten entstand eine<br />
heftige Unruhe. Zuvor waren sie in Reihen nebeneinander<br />
marschiert, deshalb war jetzt nicht genug Deckung<br />
vorhanden. Man stritt sich um die wenigen Verstecke,<br />
manch einer wurde von dem eigenen Kameraden zu Boden<br />
geschlagen. In der panischen Todesangst flohen auch<br />
einige blindlings in den Wald, doch sie kamen nicht weit.<br />
84
Ein, zwei, drei Pfeile flogen ihnen nach und die Engländer<br />
hatten ein Leben weniger, das für sie kämpfen konnte.<br />
Schließlich übertönte Harlan, der noch immer weit<br />
hinten stand, die vielen Fluche und das Brüllen: "Aufstellen,<br />
vorwärts!" Die Soldaten gehorchten, stellten sich wieder<br />
in Reihen auf, die Gewehrläufe nach vorne gerichtet,<br />
auf den unsichtbaren Feind. Wieder hörte man die Stimme<br />
Harlans: "Feuer!" Sämtliche Männer zogen die Finger, der<br />
Abzug bewegte sich, der Hahn klackte, aber es löste sich<br />
kein Schuss. Verwunderung machte sich breit, man fingerte<br />
nervös am Schloss herum, war für einige Zeit wehrlos.<br />
Die Indianer konnten mit ihren Bögen schießen, schießen<br />
und schießen. Pfeile hatten sie genug und die Soldaten,<br />
die sich nicht widersetzen konnten, waren gute Zielscheiben.<br />
Fast hundert Mann verloren die Weißen in diesen<br />
wenigen Minuten unter dem Pfeilehagel der Indianer. In<br />
einer Minute konnte ein roter Krieger sechs gut gezielte<br />
Schüsse abgeben, fast jeder Pfeil traf tödlich.<br />
Doch auch dieser Zustand dauerte nur kurze Zeit<br />
an. Ein neuer Befehl tönte von hinten: "Setzt die Stilletts<br />
auf!" Diese dolchartigen Messer, die vorne auf den Gewehrlauf<br />
gesteckt wurden, waren die von Indianern am<br />
meisten gefürchtetste Waffe. Für die Anishinabeg jedoch<br />
war dieses das erste Gefecht mit weißen Soldaten, sie<br />
wussten nicht, welch schreckliche Dinge diese Messer<br />
ausrichten konnten.<br />
Jetzt aber kam eine Wand aus Männern in roter Uniform<br />
auf sie zu, die stählernen Spitzen sahen aus ihr<br />
heraus, wie die Dornen aus einer Schlehenhecke. Die<br />
Krieger wichen langsam zurück. Sie hatte der Mut verlassen,<br />
von Busch zu Busch, von Erdhügel zu Erdhügel ging<br />
es nach hinten, langsam aber stetig. Die Soldaten rückten<br />
vor, trieben ihre Feinde zum Kampfplatz und fühlten sich<br />
85
ganz und gar als die Herren der Situation. "Diese Waffe<br />
hat doch noch nie gegen die roten Hunde versagt." So<br />
dachten die meisten von ihnen, niemand ahnte, wie nahe<br />
sie schon dem Punkt waren, an dem die Falle zuschnappen<br />
würde. Nein, ein englisches Heer mit Disziplin war<br />
eben doch mehr wert, als ein paar indianische, schmutzige<br />
und noch dazu heidnische Krieger. Straff und aufrecht<br />
marschierte man weiter, die Toten ließ man einfach liegen.<br />
Da! Ein Schrei von hinten, dann noch einer und<br />
noch einer. Alle blickten sich um, auf dem Boden lag Major<br />
Harlan und zwei Unteroffiziere. Alle mit einem Indianerpfeil<br />
im Rücken. Bugonaigeeshing war mit seinen Leuten<br />
da. Für die Weißen nicht sichtbar arbeitete er sich zwischen<br />
dichtem Unterholz heran. Hin und wieder kniete<br />
sich ein Krieger hinter einem Baum hin und sandte einen<br />
Pfeil in das Herz eines Soldaten. Aus der Wunde quoll<br />
Blut, die Uniform färbte sich an der Stelle noch roter und<br />
der Indianer kroch weiter.<br />
Inzwischen hatten Boten dem Trupp des Fliegenden<br />
Habichts Meldungen überbracht, er stoppte und die<br />
Krieger verteilten sich still um die Feinde. Das kleine englische<br />
Heer war eingekesselt, doch noch wussten die<br />
Männer mit blasser Haut nichts davon.<br />
Jetzt erscholl von irgendwo zwischen den Bäumen<br />
der Ruf eines Habichts, dann setzte der Pfeilregen ein.<br />
Zuerst nur aus der Richtung, aus der Bugonaigeeshing<br />
eben gekommen war. Die Weißen legten sich flach auf<br />
den Boden. Sie hatten keinen Führer mehr, der sie zur<br />
Disziplin gezwungen hätte. Man kroch hinter Buschwerk,<br />
Bäume oder Erdhügel, um nach dieser Seite gedeckt zu<br />
sein. Diejenigen, für die kein Versteck mehr frei war, wurden<br />
direkt niedergeschossen. So schrumpfte die Zahl der<br />
Soldaten auf nur noch gut zweihundert Mann, doch die,<br />
86
die gedeckt waren, waren nun vorsichtig. Sie achteten<br />
sorgfältig darauf, kein Körperteil von sich blicken zu lassen.<br />
Aber nun setzten die Pfeilschauer auch von den<br />
anderen Seiten her ein. Nur wenigen Engländern gelang<br />
es, sich in eine flache Mulde zu flüchten, in die man von<br />
keiner Seite her mit einem Pfeil hinein schießen konnte.<br />
Doch auch für dieses Problem wusste der Oberhäuptling<br />
eine Lösung: Er kletterte mit einigen anderen<br />
Kriegern auf eine Buche in der Nähe der besagten Grube.<br />
Die Soldaten konnten sie nicht daran hindern, sie konnten<br />
ja nicht schießen mit ihren Gewehren. In der Krone dieses<br />
Baumes suchten sich die Indianer eine Astgabel, in der sie<br />
gut sitzen konnten und schossen einem verhassten Landräuber<br />
nach dem anderen den tödlichen Pfeil ins Herz.<br />
Kein Mann der 500 Soldaten war mehr am Leben, keiner<br />
von ihnen würde Mord an Indianern begehen, niemand<br />
aus ihrer Schar konnte den roten Kindern Manitus Land<br />
stehlen. Viele Engländer lagen tot da, einige verstreut im<br />
Wald, andere an den Plätzen, an denen die Gefechte<br />
stattgefunden hatten. Eine große Masse war das, so viele<br />
Menschen, wie die gesamte Streitmacht der Anishinabeg<br />
umfasste.<br />
Doch wenn die Krieger gewusst hätten, wie viele<br />
Bleichgesichter von Osten nachkamen und wie viele Männer<br />
diese 500 Soldaten rächen würden, dann hätte sie der<br />
Mut verlassen. Dann wären sie nach Hause in ihre Dörfer<br />
gezogen und hätten nie mehr einen Bogen angerührt.<br />
Aber die Männer vom Stamme hatten nicht die geringste<br />
Anhnung von der Übermacht ihrer Feinde und so<br />
strebten sie alle zurück zum großen Kampfplatz, an dem<br />
einst das feindliche Lager gewesen war. Bugonaigeeshing<br />
hatte seine liebe Mühe, die Krieger zusammen zu halten.<br />
87
Wenn seine Männer allein vorgerückt wären, wären sie im<br />
Einzelkampf der Überzahl der Weißen unterlegen.<br />
Man näherte sich wieder dem eigentlichen Kampfplatz.<br />
Schon außer Sichtweite ließen sich die Indianer auf<br />
alle Viere nieder und krochen auf dem Schnee weiter.<br />
Bald waren die ledernen Leggins durchnässt und scheuerten<br />
auf der Haut, doch das kümmerte die Kämpfer nicht.<br />
Sie versuchten, sich möglichst schnell fort zu bewegen,<br />
denn ein Eilbote hatte gemeldet, dass die drei Gruppen<br />
indianischer Krieger, die zurückgeblieben waren, schon<br />
Tote hatten. Vier Mann hatten das Leben verlassen und<br />
gingen nun den weiten Weg. Viele Verluste waren das<br />
nicht, Bugonaigeeshing hatte damit gerechnet, dass es<br />
schlimmmer kommen würde, doch es waren Menschenleben.<br />
Die Leben von vier Söhnen Manitus waren beendet<br />
durch ein Blassgesicht. Zu Hause waren nun vier Familien,<br />
die von anderen Männern mit Fleisch und Fisch versorgt<br />
werden mussten.<br />
Aber nun war nicht die Zeit zu trauern. Nur den<br />
Kameraden helfen, bevor noch mehr Unheil geschehen<br />
konnte!<br />
Als sie im Unterholz lagen, das die Lichtung umgab,<br />
sahen die Indianer, wie viel sich verändert hatte: Die Weißen<br />
hatten gute Deckung hinter einem ziemlich hohen<br />
Hügel genommen und warteten darauf, dass es aufhörte,<br />
zu schneien. Hier hatte ein Unteroffizier mit Namen Anderson<br />
den Befehl übernommen. Er hielt es für das Klügste,<br />
abzuwarten bis die Roten abzogen. Anderson legte es<br />
nicht auf noch mehr Leichen auf seiner Seite an. Deshalb<br />
befahl er, auf dieser Seite des Hügels zu bleiben und sich<br />
nicht blicken zu lassen. Der Offizier selbst stand am Hang<br />
88
der Erhebung und überwachte seine Soldaten. Immerhin<br />
waren es noch gute tausend Mann. Er hatte vor, mit ihnen<br />
auf dem schnellstmöglichen Weg in den sicheren Osten<br />
zu fahren und Verstärkung zu holen, sobald diese lausigen<br />
Rothäute von ihm abließen. Er kannte sie als nicht<br />
sonderlich geduldig, meist hatten sie das Kämpfen bald<br />
satt, wenn sie genügend Ehren erkämpft hatten, mit denen<br />
sie daheim prahlen konnten. Wenn er dann mit anderen<br />
Kompanien zurückkehren würde, in den Westen, dann<br />
sollten aber alle Indianer im Umkreis von 50 Meilen die<br />
Flucht ergreifen. Er wollte ihnen schon noch das Fürchten<br />
lehren. Mit solchen Gedanken beschäftigte sich sein Kopf,<br />
während Stephen Anderson über seine untergebenen<br />
Soldaten wachte.<br />
Plötzlich fühlte er einen schneidenden Schmerz in<br />
der Kehle. Ein Gurgeln rang sich aus seinem Mund, er fiel<br />
nach hinten, sah einen Pfeil in seinem Hals stecken, hörte<br />
wie neben ihm ein Soldat fragte: "Sir, haben sie Probleme?",<br />
dann war es vorbei mit seinem Dasein. Ein für alle<br />
Mal vorbei.<br />
Der Stehende Fels hatte schon den nächsten Pfeil<br />
aufgelegt. Stehender Fels hatte Anderson sofort als den<br />
Anführer erkannt, da dieser einen blauen Dreispitz trug.<br />
Er war von Bugonaigeeshing hierher, auf die andere<br />
Seite des Hügels geschickt worden. Die anderen Krieger<br />
hatten die anderen Seiten der Erhebung umringt. Überall<br />
lagen die roten Männer zwischen Büschen und hielten<br />
Pfeile und Bogen bereit, beobachteten ihre Feinde.<br />
Die Blassgesichter saßen in der Falle: Wollten sie<br />
vor den einen Indianern am gegenüberliegenden Hang<br />
Deckung nehmen, begaben sie sich damit in das Schussfeld<br />
anderer Krieger. Und da der Hügel nicht mit Bäumen<br />
89
ewachsen war, sondern nur mit Gras, waren die hochnäsigen<br />
englischen Soldaten ganz und gar bloßgestellt.<br />
Die Indianer schossen, was der Bogen hergab und<br />
wo immer sie einen Flecken weißer Haut erblickten, der<br />
sich noch rührte, legten sie ihren Pfeil auf diesen an und<br />
binnen kurzer Zeit rührte er sich nicht mehr.<br />
Nur einmal konnten einige Engländer fliehen, sie taten<br />
sich zu einer kleinen Gruppe zusammen und brachen<br />
ungeachtet der vielen Pfeile, die ihnen entgegenflogen,<br />
durch die Reihen indianischer Krieger. Doch um sie kümmerte<br />
sich niemand, warum sollte man sich die Mühe einer<br />
Verfolgung antun, wenn es hier so viel Ehre gab, die<br />
auf leichterem Wege zu erlangen war, die wenigen Männer<br />
konnten den Indianern doch wohl nicht gefährlich werden.<br />
Schließlich lagen auf dem kleinen Hügel etwas<br />
mehr als tausend Leichen, alle mit weißer Haut, struppigen<br />
<strong>Bär</strong>ten und mit mindestens einem Pfeil im Herzen oder<br />
der Kehle. Das Gras und der Schnee waren an vielen<br />
Stellen blutrot gefärbt, die Wölfe und Coyoten würden viel<br />
zu fressen haben, in den nächsten Tagen.<br />
Bugonaigeeshing erhob sich. Da sich auf dem Hügel<br />
nichts mehr rührte, war keine Gefahr zu befürchten. Er<br />
machte den Mund auf, um seine Männer zusammenzurufen,<br />
da krachte ein Schuss und der oberste Häuptling,<br />
Führer des Stammes der Anishinabeg seit fielen Sommern<br />
und Wintern brach zusammen. Sein Herz hörte auf, zu<br />
schlagen, aus seinem noch immer geöffneten Mund kam<br />
der letzte Atemzug, sein Blick war noch lebendig.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> kam zu dem Häuptling gesprungen,<br />
beugte sich über ihn. Er sah seinem Vater noch einmal in<br />
die Augen, dann brachen sie. Die Augen des Bugonaigeeshing<br />
sahen nichts mehr, jetzt waren auch sie tot. Sie<br />
90
hatten noch ein letztes Mal den Sohn gesehen, jetzt ging<br />
der Häuptling auf den weiten und mühsamen Weg in das<br />
Land der ewigen Jagdgründe.<br />
Dem roten <strong>Bär</strong>en wollten die Tränen ins Gesicht<br />
treten, doch noch war nicht die Zeit dazu.<br />
"Rache!" Das war sein einziger Gedanke. Er hatte<br />
gesehen, wie einer der Soldaten, die durch die Umzingelung<br />
gebrochen waren, das Gewehr auf Bugonaigeeshing<br />
angelegt hatte. Irgendwie musste jener sein Pulver vor der<br />
Feuchtigkeit bewahrt und die tödliche Kugel aus dem lauf<br />
gesandt haben.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte sich das Gesicht des Mörders genau<br />
eingeprägt. Dieser Mann musste sterben, mit einem<br />
Pfeil im Körper, der von dem Sohn des Bugonaigeeshing<br />
geschossen war. Diesem Menschen war der frühe Tod<br />
gewiss.<br />
Aber wo war er? Der Weiße war verschwunden,<br />
fort. Bugonaigeeshing der jüngere setzte sich kriechend in<br />
die Richtung in Bewegung, in der er das letzte Mal den<br />
Mörder seines Vaters erblickt hatte, während seine Stammesgenossen<br />
sich um den alten Häuptling scharten.<br />
Bugonaigeeshing der jüngere wusste, dass der<br />
Mörder längst über alle Berge sein musste, doch er wusste<br />
auch, dass dieser sich wahrscheinlich zu den Booten<br />
seiner Armee geflüchtet hatte, denn im Wald würde er den<br />
Indianern ausgeliefert sein.<br />
Der neue Oberhäuptling hatte die Stelle erreicht, an<br />
der der Soldat beim Schuss gestanden hatte. Er hatte<br />
richtig vermutet: die Spuren führten zu den Booten. Bugoanigeeshing<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> richtete sich auf. Es war im Augenblick<br />
keine Gefahr für ihn, die Feinde befanden sich wahrscheinlich<br />
schon auf dem Wasser, hatten Kurs nach Osten<br />
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genommen und beeilten sich sehr, um aus dem gefährlichen<br />
Gebiet herauszukommen.<br />
Zum Ufer lief auch Bugonaigeeshing. Er schlug ein<br />
Tempo ein, bei dem ein weißer Soldat schon hätte rennen<br />
müssen. Er federte in großen Sprüngen über den weichen<br />
Waldboden dahin, setzte seine Füße so, dass sie keinen<br />
Laut erzeugten. Nur einmal fiel er, stand aber sogleich<br />
wieder auf und hastete weiter. Der Köcher auf seinem Rücken<br />
schlug von der einen Seite auf die andere, die Pfeile<br />
in ihm klapperten und nach der Zeit, die die Uhren der<br />
weißen Männer eine Stunde nennen, hatte er die Uferböschung<br />
erreicht.<br />
Es schneite inzwischen noch stärker, sodass man<br />
nicht weit sah. Trotzdem setzte sich Bugonaigeeshing der<br />
jüngere unbeweglich ans Ufer und wartete.<br />
Lange brauchte er nicht so zu sitzen, bald sah er<br />
seine Feinde kommen. Sie waren unvorsichtig genug, sich<br />
nahe am Ufer zu halten und so konnte der junge Häuptling<br />
sogar die Gesichter unterscheiden. Er legte einen Pfeil auf<br />
und stieß den Kriegsruf der Anishinabeg aus.<br />
Auf den Booten schraken die Männer, die das Gefecht<br />
überlebt hatten, zusammen und duckten sich<br />
schnell. Doch zu spät, der Mörder von Bugonaigeeshing,<br />
dem Älteren, schrie auf. Er hatte einen Pfeil im Herzen<br />
stecken. Das Geschoss war mit Truthahnfedern befiedert<br />
und hatte Ringe in roter Farbe um den Schaft. Das war<br />
das letzte, was Robert Salomon vor seinem Tode sah.<br />
Dann verdrehte er die Augen nach oben und sank im<br />
Bootskörper nieder.<br />
Bugonaigeeshing begab sich langsam wieder zurück<br />
zu seinen Gefährten. Der Vater war gerächt, <strong>Roter</strong><br />
<strong>Bär</strong> sah seine Gestalt vor sich, wie sie niedersank.<br />
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Großer Hass, größer als je zuvor, nahm von ihm<br />
Besitz und der junge Krieger spürte, dass selbst der beste<br />
Medizinmann ihn nicht von diesem Hass heilen konnte.<br />
Bugonaigeeshing der Jüngere hasste die Blassgesichter,<br />
wie nur ein Mensch hassen kann. Er begann, sich zu fragen,<br />
warum er nicht auch die anderen Feinde in den Booten<br />
getötet hatte, schwor sich, alles, was in seinen Kräften<br />
stand, gegen die Landräuber einzusetzen.<br />
Als <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> zurückkehrte, begrüßten seine Krieger<br />
ihren neuen Häuptling nicht sehr freudig. Überhaupt<br />
blickte kaum jemand auf, als er zu ihnen trat.<br />
In der Zeit, in der Bugonaigeeshing am Ufer gewesen<br />
war, hatten die Männer die übrigen Toten neben ihren<br />
ehemaligen Häuptling gelegt. Jetzt sah <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sie sich<br />
an. Insgesamt waren es nur sieben Männer, die da lagen<br />
und der neue Häuptling ging von einem zum anderen. Als<br />
er dem letzten Mann ins Gesicht sah, erschrak er. Vor ihm<br />
lag sein Freund Rotes Messer. Rotes Messer lag da, die<br />
Augen geschlossen, schon mit eingefallenem Gesicht.<br />
Sieben Mann Verlust, viel war das nicht und doch<br />
für Bugonaigeeshing der schwerste Schlag, den er in seinem<br />
ganzen Leben erhalten hatte. Der Vater und der<br />
Freund am selben Tag ermordet, vielleicht von demselben<br />
Mörder, das war zu viel für den jungen Häuptling. Er setzte<br />
sich in den Schnee neben den Toten und verbarg sein<br />
Gesicht. <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> war kein Weichling, aber jetzt weinte er<br />
und seine Hände wurden nass von den Tränen.<br />
Doch bald stand er wieder auf und nahm die Finger<br />
vom Gesicht. Seine Krieger umstanden ihn und auch unter<br />
ihnen gab es einige, deren Augen feucht waren. Bugonaigeeshing<br />
der Jüngere schämte sich nicht, dafür war seine<br />
93
Trauer viel zu groß. Er gab mit einer Stimme, die die anderen<br />
noch nicht von ihm kannten, Anweisungen.<br />
Einige Männer baten junge Bäume um deren Leben<br />
und fällten sie dann mit dem Tomahawk. Andere fügten<br />
mit Lederschnur die dünnen Stämme zu Baren zusammen.<br />
Es waren einfache Gestelle, aber sie trugen das<br />
Gewicht eines Toten. Nachdem die Leichen auf diese<br />
Tragen gebettet und in Bäumen sicher vor Füchsen und<br />
Coyoten aufgebahrt waren, gingen die Krieger, die am Leben<br />
geblieben waren, zu ihren toten Feinden. Sie zogen<br />
ihre Pfeile aus den reglosen Leibern, die Geschosse waren<br />
wertvoll und wenn irgend möglich versuchte man, sie<br />
nicht zu verlieren. Jeder erkannte die seinen daran, wie<br />
sie bemalt waren. Hin und wieder blieb eine Pfeilspitze in<br />
dem Leichnam stecken, weil die Widerhaken sie zu fest<br />
hielten. Doch das war kein Problem, eine Pfeilspitze war<br />
verhältnismäßig leicht herzustellen.<br />
Bevor die Schäfte mit oder ohne Spitze in den Köcher<br />
gesteckt wurden, säuberte ihr Besitzer sie im Moos,<br />
das stellenweise noch aus dem Schnee hervor lugte.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> sammelte auch die Pfeile seines Vaters<br />
ein, damit dieser sie später im Grabe haben konnte.<br />
Die Krieger verschmähten es, die Gewehre der<br />
Blassgesichter mitzunehmen, wie es die anderen Stämme<br />
nach Gefechten zu tun pflegten, wenn sie die Gewinner<br />
waren. Die Anishinabeg hatten gesehen, wie unpraktisch<br />
die großen Donnerbüchsen waren, sie schossen lieber<br />
weiterhin mit Pfeil und Bogen.<br />
Als sie sich wieder bei den Toten eingefunden hatten,<br />
hoben sie die Arme und dankten dem großen Geheimnis,<br />
dass sie noch am Leben waren. Niemand beklag-<br />
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te sich über die Toten, denn sie wussten, dass Manitus<br />
Wille so war, wie das, das geschah. Es war das selbe.<br />
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Die Männer, die die Baren trugen, gingen an<br />
der Spitze des Zuges, dahinter folgten die anderen Krieger.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> trug zusammen mit dem Stehenden<br />
Hecht die Bare, auf der der alte Bugonaigeeshing lag. <strong>Roter</strong><br />
<strong>Bär</strong> lief am vorderen Ende der Trage, sein Freund am<br />
hinteren. Vor ihnen war niemand, nur der Wald und der<br />
Pfad, auf dem sie zurück nach Weiße Erde gingen. Es war<br />
derselbe Wildwechsel, auf dem sie auch den Feinden entgegen<br />
gegangen waren. Damals war Bugoanigeeshing<br />
der Ältere noch selbst gegangen, an der Spitze des Zuges.<br />
Jetzt befand sich sein Sohn an dieser Position. Mit<br />
dem Tode des Vaters war im das Häuptlingsamt übertragen<br />
worden und damit auch die Ehre und Pflicht, bei solchen<br />
Veranstaltungen den Anfang der langen Schlange<br />
von Kriegern zu machen.<br />
Doch daran lag ihm jetzt nichts. Es war nur eine zusätzliche<br />
Last, die Entscheidungen für den ganzen Stamm<br />
treffen zu müssen. All seine Gedanken waren jetzt bei<br />
dem Vater, der leblos auf der Trage hinter seinem Rücken<br />
lag. Oft stolperte Bugonaigeeshing der Jüngere, er zwang<br />
sich aber, die Konzentration nach vorne auf den Pfad zu<br />
richten.<br />
Das Licht wurde schon fahl im Wald. Doch war es<br />
bestimmt noch nicht spät, denn bei den dicken Schneewolken<br />
kam kaum ein Sonnenstrahl bis auf die Erde. Bis<br />
in die Nacht liefen die Krieger, sie hatten sich einige halbwegs<br />
trockene Zweige von Bäumen abgeschnitten, die sie<br />
anzündeten. Der Schnee reflektierte das wenige Licht, so-<br />
96
dass genügend Helligkeit vorhanden war, um den Weg zu<br />
erkennen.<br />
Endlich erreichten sie das Dorf Weiße Erde. Die<br />
Männer aus den anderen Dörfern waren auch hierher gekommen,<br />
um der Bestattung ihres Häuptlings beizuwohnen.<br />
Bugonaigeeshing sorgte dafür, dass jeder der<br />
fremden Stammesgenossen in dem Wigwam einer Familie<br />
unterkam und begab sich dann in sein Heim. Dort saßen<br />
die Mutter und der Bruder gemeinsam am Feuer und aßen<br />
Hirschsuppe aus hölzernen Schälchen.<br />
Sie blickten auf, als <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> eintrat und er setzte<br />
sich zu ihnen an die wärmenden Flammen. Die beiden<br />
bemerkten zwar die ernste Miene des anderen, doch fragte<br />
ihn keiner nach dem Grund für seine Sorgen. Die Mutter<br />
und ihr jüngerer Sohn wunderten sich auch nicht, wo der<br />
Vater war. Es konnte sein, dass er noch zu einer anderen<br />
Familie hineingegangen war, oder dass er noch am Seeufer<br />
stand und mit dem Großen Geheimnis sprach.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> aber erzählte ganz entgegen der Sitte<br />
sehr bald von den Ereignissen am Kampfplatz. Zuerst<br />
glühten die Augen des Bruders, aber als er vom Tode des<br />
Vaters erfuhr, mahlte sich Entsetzen in seinen Zügen. Die<br />
Mutter regte sich nicht. Sie sagte nichts, sie dachte nichts.<br />
Sie starrte nur einfach in die Flammen.<br />
<strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> schlief unruhig in dieser Nacht. Er sah im<br />
Traum immer wieder den sterbenden Vater vor sich, konnte<br />
dem Bild nicht ausweichen. Er freute sich nicht über die<br />
Macht, die ihm zugeteilt war, er trauerte um den Vater und<br />
seinen Freund.<br />
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Draußen war es schon hell, als die Bewohner des<br />
größten Wigwams von Weiße Erde aufstanden.<br />
Bei dem Frühstück, das aus Wildreisfladen bestand,<br />
dachte Bugonaigeeshing der Jüngere daran, dass<br />
er von jetzt an allein für das Wohlergehen seiner Familie<br />
verantwortlich war. Er musste für sie jagen und fischen,<br />
trug aber auch die Verantwortung für das Wohlergehen<br />
des gesamten Stammes.<br />
Nach der Mahlzeit, bei der alle drei nicht viel gegessen<br />
hatten, führte Bugonaigeeshing die beiden anderen<br />
hinaus zum toten Häuptling. Er lag noch immer auf<br />
seiner Trage, <strong>Roter</strong> <strong>Bär</strong> hatte sie gestern Nacht noch in<br />
einen Baum gehängt, um den Leichnam vor den Tieren zu<br />
schützen. Jetzt nahm er ihn herunter und trug das Holzgestell<br />
auf den Dorfplatz, damit alle Stammesangehörigen<br />
Abschied von ihm nehmen konnten.<br />
Außerdem schickte der Häuptling, den schon jetzt<br />
alle mit seinem neuen Namen anredeten, Eilboten in die<br />
anderen Dörfer der Anishinabeg, die die Einwohner zur<br />
Begräbnisfeier rufen sollten. Wenn sie dann gekommen<br />
waren, würde der alte Bugonaigeeshing in ein Büffelfell<br />
eingerolt und zusammen mit seinen Waffen hoch droben<br />
in der Krone einer Weide bestattet werden.<br />
Langsam sammelten sich schon die Frauen, Kinder<br />
und Männer von Weiße Erde um den Toten. Bugonaigeeshing<br />
der Jüngere entfernte sich. Er stapfte durch den<br />
knöchelhohen Schnee nach Hause und zog sich einen<br />
warmen Fellmantel mit Kapuze, dicke Schneestiefel und<br />
Handschuhe an.<br />
Dann ging er um das Dorf herum zu dem Hügel, an<br />
dem er im Herbst mit dem roten Messer gesessen hatte.<br />
Bugonaigeeshing stieg an der Windseite die Erhebung<br />
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hinauf, weil an dieser Seite der Schnee nicht so hoch war.<br />
Er war müde, ging Schritt für Schritt und blieb oft stehen.<br />
Oben angelangt sah er, dass auf dem Baumstamm,<br />
auf dem er mit seinem Freund gesessen hatte, hoher<br />
Schnee lag. Er schaufelte sich mit der Hand eine kleine<br />
Stelle frei, gerade so groß, dass er darauf sitzen konnte,<br />
und ließ sich nieder.<br />
Bugonaigeeshing schaute über das weite, nun verschneite<br />
Land und sah immer seinen Vater vor sich. Er<br />
spürte wieder, wie der Hass gegen jene räuberischen<br />
Männer aufstieg, die Bugonaigeeshing den älteren ermordet<br />
hatten.<br />
Lange saß er so da, ließ seine Blicke über die<br />
Landschaft schweifen und hasste. Er tat nichts anderes.<br />
Sein ganzer Kopf, ja sein gesamter Körper war damit beschäftigt,<br />
zu hassen. Plötzlich brachte ihn eine Schneeflocke,<br />
die auf seiner Nase landete, wieder zur Besinnung.<br />
Er stand auf und ging bis zu einer hohen Birke in<br />
der Nähe, die schon mindestens vierzig Sommer und Winter<br />
gesehen hatte. Er umarmte sie und sprach einen Gruß.<br />
Dann setzte er sich vor ihr nieder und erzählte ihr von den<br />
Dingen, die ihn beschäftigten.<br />
Der Baum kannte ihn, Bugonaigeeshing hatte<br />
schon oft mit ihm gesprochen, wenn etwas seine Seele<br />
bedrückte. Als er zu Ende gesprochen hatte, kam ein<br />
leichter Wind auf, spielte mit dem Haar des Indianers und<br />
war wieder verschwunden. Windstill lag es da, das Land<br />
der roten Leute, windstill und verschneit.<br />
Da bewegte sich mit majestätischem Flug ein Adler<br />
auf den Häuptling zu. Er flog genau über ihn hinweg und<br />
Bugonaigeeshing folgte dem Vogel mit den Augen. Er<br />
bemerkte, wie sich aus dem Schwanz des heiligen Tieres<br />
eine Feder löste und herunter fiel. Sie landete genau vor<br />
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dem roten <strong>Bär</strong>en. Sie steckte mit dem Kiel im Schnee vor<br />
den Füßen des Indianers. Er schaute sie an, wie sie da<br />
steckte und jetzt fiel von oben, direkt neben sie das Ende<br />
eines Birkenzweiges. Auch dieses blieb im Schnee stecken.<br />
Bugonaigeeshing lächelte, die Birke und der Adler<br />
hatten mit ihm gesprochen. Er war bereit, den Weg zu betreten,<br />
der ihm bestimmt war. Die Traurigkeit hatte nachgelassen<br />
und er wusste: Er, der Sohn eines berühmten<br />
Häuptlings sollte selbst einmal ein großer Häuptling seines<br />
Volkes werden. Er stand auf und steckte sich die Adlerfeder<br />
ins Haar, den Birkenzweig hob er auf. Das Stück Holz<br />
würde in den Medizinbeutel des Häuptlings gelegt werden<br />
und die Adlerfeder würde er über seine Lagerstatt an das<br />
Gerüst des Wigwams hängen.<br />
© 2006 Jan Frederik Thomsen<br />
Gymnasium <strong>Adolfinum</strong> Moers , Klasse 7 a (2005/06)<br />
im Rahmen des Erweiterungsprojekts Begabtenförderung<br />
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