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Hören, Vernehmen, Verstehen

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Vorlesung:<br />

Anfänge der Medien-Philosophie<br />

WS 02/03; Mittwoch, 18-20, Hs A (Lorenz Engell)<br />

5. Vorlesung (20. 11. 02): <strong>Hören</strong>, <strong>Vernehmen</strong>, <strong>Verstehen</strong><br />

I<br />

1. Begrüßung, Ankündigungen, Ausblick<br />

- Theweleit-Vorlesung am Freitag, den 22.11. „was ist Realität“; Workshop<br />

„Blut schreiben“, ebenfalls am Freitag, Helmholtzstr. DEFA Film nach der<br />

Vorlesung. Weitere Ankündigung.<br />

- Ausblick: Anders als sonst heute kein Rückblick, statt dessen: Über die Maus.<br />

Dann über das <strong>Hören</strong>: 1. <strong>Hören</strong> im Mythos; 2. Struktur, Funktion, Leistung des<br />

<strong>Hören</strong>s; 3. Was erkennen wir, wenn wir hören: <strong>Vernehmen</strong>, <strong>Verstehen</strong> und<br />

<strong>Hören</strong> bei Martin Heidegger.<br />

Über die Maus, Teil 1. Anmerkung: Ausnahmsweise ein geschlossener Text.<br />

Über die Maus<br />

- In der digitalen Welt gilt: Die Maus ist alles, was der Fall ist. Genauer, die<br />

Maus ist das Werkzeug, mit dessen Hilfe darüber entschieden wird, was der<br />

Fall ist und was nicht; die Maus steuert an, markiert und wählt aus, was der<br />

Fall ist, und was nicht; sie macht, daß etwas ist und nicht vielmehr nichts,<br />

etwas Bestimmtes und nicht vielmehr etwas ganz anderes. Die Maus ist<br />

vielleicht nicht gleich die ganze Welt, aber sie ist auf ihre Weise die<br />

Bedingung der Möglichkeit einer Welt. Diese spezielle Welt der Maus besteht<br />

aus zwei Teilen oder Teilwelten, deren eine alles ist, was der Fall ist, also alle<br />

positiv gegebenen Sachverhalte, deren andere aber alles ist, was nicht, nicht<br />

mehr oder noch nicht der Fall ist, also alle vergangenen, zukünftig möglichen<br />

und kontingenten, statt des Tatsächlichen und neben ihm ebenso gut möglichen<br />

Sachverhalte. Jede der beiden Teilwelten enthielte selbstverständlich die<br />

jeweils andere und setzte sie voraus, denn alle positiv gegebenen Sachverhalte<br />

sind auch mögliche Sachverhalte, und die Wirksamkeit vergangener,<br />

gegenwärtiger und zukünftiger Möglichkeiten neben der gegebenen Welt ist<br />

ihrerseits ein wirklichkeitsmächtiger Sachverhalt. Die Differenz dieser beiden<br />

Welten, genauer: die Einheit der Unterscheidung beider Welten konstituiert<br />

das, was wir Welt nennen können. Und eben diese Unterscheidung ist es, die<br />

bei jedem Mausklick immer wieder getroffen wird. Der Mausklick aktualisiert<br />

die Möglichkeit von Welt; im Augenblick des Mausklicks realisiert sich Welt<br />

und wird sie erfahrbar, die sich ja sonst als Voraussetzung aller Erfahrung<br />

ihrerseits der Erfahrbarkeit meist entzieht außer in Extremsituationen wie der<br />

tiefen Langeweile oder der grundlosen Angst. Während aber diese<br />

Erfahrungsformen eher der Negation der Welt, dem Nichts, gelten, gilt die<br />

Form des Mausklicks unmittelbar der Positivität der Welt. Indem die Maus


zwischen dem positiv Gegebenen und dem daneben und als nächstes auch<br />

Möglichen unterscheidet, etwas in die Welt der Sachverhalte hebt, anderes<br />

aber ins das Reich des bloß Möglichen verweist, aktualisiert sie deren<br />

Differenz und bejaht damit die Welt. Wo Angst und Langeweile die Welt<br />

durch Negation zum Vorschein bringen, da verhält sich die Maus grundsätzlich<br />

affirmativ zur Welt.<br />

- Keine Sorge, wenn dies etwas rätselhaft erscheint, ich komme darauf zurück.<br />

Denn diese Betrachtungen über die Welt der Maus greifen zunächst weit<br />

voraus. Für sich genommen nämlich ist die Maus erst einmal so gut wie gar<br />

nichts. Funktion besitzt und Sinn entfaltet sie erst als Teil eines umfassenderen<br />

technischen Gefüges, in das sie eingelassen ist, und das etwa Betriebssysteme,<br />

Benutzeroberflächen, Vernetzungsformen mit umgreift. Nur im Verein mit der<br />

Fenstertechnologie und den Schaltflächen etwa kann die Maus greifen. Hierin<br />

gleichen sich viele Schreib-, Werk- oder Denkzeuge, Medien, die je für sich<br />

allein genommen wenig oder nichts vermögen und der Ergänzung durch<br />

Komplemente bedürfen, syntagmatische Zusammenhänge ausbilden. Zum<br />

Bleistift gehört das Papier, zum Buchdruck die Buchbinderkunst, zum<br />

Hochhaus der Fahrstuhl, zur Eisenbahn der Telegraph; die Fernbedienung gibt<br />

Sinn nur im Verein mit Kabel- und Satellitenempfang (und umgekehrt), der<br />

Walkman setzt die Compact Cassette voraus, die wiederum ohne den Walkman<br />

vermutlich längst vom Markt verschwunden wäre. Hinzu kommt, daß der<br />

Beitrag der Maus zu unseren Gedanken gar nicht unbedingt eng an die Maus<br />

gebunden ist. Die physische, gegenständliche Maus ist auf einer<br />

paradigmatischen Achse ersetzbar, etwa durch Trackball oder Touchpad. Die<br />

konkrete Maus ist eine mögliche Kristallisationsform ihrer Funktion im<br />

Kontext, eben der Mausfunktion, unter vielen anderen, auch wenn sie<br />

möglicherweise eine ideale Form ausbildet. In beiden Eigenschaften, der<br />

syntagmatischen Komplementarität mit anderen einerseits und der funktionalen<br />

paradigmatischen Substituierbarkeit durch andere andererseits, erweist sich die<br />

Maus als ein typisches Medium. Medien bilden noch immer<br />

Systemzusammenhänge aus, sie beziehen sich stets auf andere Medien, die sie<br />

zu Komplexen ergänzen oder in Komplexen ersetzen können. Schon Marshall<br />

McLuhan wußte, daß man Medien weniger in der Differenzperspektive<br />

erklären kann im Hinblick auf irgend eine außerhalb ihrer liegende Realität<br />

und sog. „Inhalte“, als vielmehr in der funktionalen Perspektive im Hinblick<br />

auf die Funktionen, die sie im Gefüge der Medien einnehmen, auf den<br />

Zusammenhang, der sie mit anderen zusammenschließt.<br />

- Die Mausfunktion ist ihrerseits komplex, sie kann ihrerseits – getreu den<br />

Fundamentalkategorien Peirces - aufgegliedert werden in drei Teilbereiche.<br />

Erstens oder als Erstheit ist die Maus funktional in sich, ohne weitere Hinsicht<br />

auf das, was sie leistet oder bedeutet. Damit hat die Maus, wie Morris dies<br />

nennt, syntaktische Funktionen für das materielle und visuelle Geschehen auf<br />

der Bildschirmoberfläche; das Ausgangsmaterial, mit dem sie arbeitet, sind<br />

bestimmte Handbewegungen und Handlungen, die sie einer strengen<br />

Systematik in der Art einer Grammatik unterwirft. Zweitens oder als Zweitheit<br />

steht die Maus in einer Beziehung zu etwas anderem; koordiniert sie die<br />

Geschehensabläufe auf der Bildschirmoberfläche mit solchen außerhalb des<br />

Bildschirms in der physischen und gedanklichen Welt des Nutzers ebenso wie<br />

in der technischen Binnenwelt des Geräts. Sie besitzt dann in der semantischen<br />

Dimension eine Repräsentationsfunktion, indem sie etwa Bewegungen des<br />

Nutzers und Abläufe des Programms miteinander verschränkt und auch auf


dem Bildschirm ablesbar, sichtbar macht, auf- und anzeigt. Und erst drittens<br />

oder als Drittheit, in der pragmatischen Dimension in der Terminologie<br />

Morris’, stellt sie Zusammenhänge her, indem sie Dinge außerhalb ihrer selbst<br />

miteinander verknüpft. Sie läßt Verbindungen und Zusammenhänge erstehen<br />

und schießlich gibt sie, was uns mit Nietzsche am meisten interessiert, der<br />

Welt, die sie erschließt, eine bestimmte und bestimmbare Form, interpretiert<br />

sie die Welt, erzeugt sie Wahrnehmungs-, Sinngebungs- und<br />

Denkgewohnheiten.<br />

2. Erste Unterbrechung<br />

4. Fortsetzung<br />

- Nachbetrachtung zu Erstheit, Zeitheit, Drittheit: Natürlich ist die Maus als<br />

technisch konstituiertes, real begegnendes Artefakt immer vom Charakter der<br />

Zweitheit.<br />

- Dennoch können auch an realen Gegenständen die drei Kategorien<br />

unterschieden werden, wenigstens analytisch, weil Zweitheit immer Erstheit<br />

einschließt; und weil diese Unterscheidung immer schon Drittheit erfordert (es<br />

gibt auch andere Argumente, aber das soll hier genügen).<br />

- Der erste, der syntaktische Funktionsbereich der Maus umfaßt folglich das<br />

Rohmaterial, aus dem das Maushandeln sich aufbaut; all das, was die<br />

Bewegung des Cursors über das Bildfeld betrifft (und dasjenige der Maus<br />

selbst über den Mauspad, die Handbewegung). Das ist zunächst und zuerst das<br />

bloße, oft zunächst noch orientierungslose Fahren und Schwenken über die<br />

Bildschirmoberfläche. Es hat mitunter, zu Beginn einer Computersitzung, rein<br />

phatische Funktion und meldet Gerät und Betriebssystem zur Stelle. Dann aber<br />

folgt das mehr oder weniger gezielte Suchen oder gar Aufsuchen bestimmter<br />

Stellen auf der Bildschirmoberfläche, wie auch entsprechend das Innehalten,<br />

das Ansteuern, Anzeigen und Hervorheben bestimmter Punkte, Flächen und<br />

Fenster. Jeder beliebige Punkt der Bildschrimoberfläche kann von jedem<br />

beliebigen anderen aus auf jedem beliebigen Weg angesteuert und aufgesucht<br />

werden. Es gibt, trotz oder gar wegen der digitalen, also diskreten<br />

Bildtechnologie etwa des Flüssigkristalbildschirms keine feste Organisation<br />

der Fläche etwa in Zeilen, Linien und Spalten mehr und keine diskrete Struktur<br />

der Nutzeroberfläche. Damit gewinnt die Maus auf der Bildschirmoberfläche<br />

etwas von der Freiheit des Blicks im Raum oder derjenigen des Zeichenstifts<br />

auf dem Papier zurück und führt über das konventionelle Schreiben hinaus, das<br />

sich die Welt schließlich in geordneten Bahnen erschließt. Zweitens gehört in<br />

diesen Bereich materieller Funktion der Maus essentiell das Auswählen durch<br />

den berühmten Mausklick, die Betätigung der Taste. Am Übergang vom<br />

Ansteuern zum Anklicken können sehr schön die Selektionsstufen der -<br />

revidierbaren, noch virtuellen - Vorauswahl und der gültigen Wahl markiert<br />

werden, wie sie für den Aufbau von Sinnsystemen kennzeichnend ist, in denen<br />

an eine Aussage oder an eine Handlung keineswegs irgend eine beliebige<br />

andere als sinnvoll folgen kann, wohl aber eine sehr große, durch den<br />

Sinnrahmen schon vorstrukturierte und vorausgewählte Vielzahl, aus der dann<br />

eine aktuelle Folgehandlung oder Folgeaussage sinnhaft ausgewählt wird. Auf<br />

das bloße Abschwenken eines möglichen Angebots folgt also im Mausklick<br />

eine Entscheidung für etwas Bestimmtes und gegen etwas oder alles andere,


wobei diese Entscheidung in aller Regel weitere Entscheidungsmöglichkeiten<br />

oder weiteren Entscheidungszwang nach sich zieht; neue Fenster werden<br />

geöffnet, die neue Betrachtung erfordern und neue Selektionsmöglichkeiten<br />

darbieten. Schließlich wäre eine dritte Variante des materiellen<br />

Funktionsbereichs zu nennen, nämlich die Kombination der beiden ersten, also<br />

die Bewegung der Maus bei gedrückter Taste bzw. die Veränderung der<br />

Flächen und Fenster, das Verkleinern, Vergrößern und Umsortieren, die<br />

Verschiebung der Fenster und Symbole, das berühmte „Ziehen“, mit dem man<br />

etwa ein Dokument „hervorziehen“ oder von einem Ordner in einen anderen<br />

„hinüberziehen“ kann. Damit ist bereits der Bereich der Bearbeitung benannt,<br />

d. h. des Eingriffs in die vorstrukturierte Welt, die jetzt nicht mehr nur als<br />

nachvollziehbarer Entscheidungsbaum, als Selektionsmasse zur Verfügung<br />

steht, sondern zu einer regelrechten Umgebung (und damit erst überhaupt zu so<br />

etwas wie einer Welt) werden kann, an und in der, neben den reversiblen, auch<br />

irreversible, in dieser Form so nicht vorselegierte Handlungen vorgenommen<br />

werden können, eine dynamische, temporalisierte Welt also. In allen drei<br />

Fällen, dem Fahren, dem Klicken und dem Ziehen, entwickeln sich im übrigen<br />

alsbald routinemäßige Handlungs- und Bewegungsbabfolgen, optimierte<br />

Standardverläufe, Programmen ähnlich. Zwischen den programmierten<br />

Abläufen des Rechners und jenen des Nutzers muß hier nicht unterschieden<br />

werden; die Maus funktioniert gleichsam in beiderlei Richtung, indem sie nicht<br />

nur dem Rechner sagt, was er als nächstes tun soll, sondern auch dem Nutzer,<br />

und so Vorschriften und Befehle in beiderlei Richtung und Hinsicht erteilt.<br />

3. Zweite Unterbrechung: Iconizität, Indexikalität und Symbolizität<br />

- Damit komen wir zur zweiten Ebene der Maus, nämlich zu ihrer<br />

Darstellungsfunktion<br />

- Dazu eine grundsätzliche, wichtige Erweiterung: Erstheit, Zweitheit und<br />

Drittheit sind nicht nur zusammen gegeben, sondern sie können auch<br />

aufeinander bezogen, aufeinander abgebildet werden.<br />

- Das ist ja auch ganz logisch: Seiendes jeder Kategorie kann auftreten oder<br />

gegeben sein wiederum im Modus der Erstheit, Zweitheit oder Drittheit.<br />

- Für den besonderen Fall der Zweitheit bedeutet das: Die beiden in der<br />

Zweitheit zusammen auftretenden Gegebenheiten können je nach der Art ihres<br />

Zusammehangs unterschieden werden:<br />

- Haben Sie etwas gemeinsam (Ähnlichkeit): Erstheit des Zusammenhangs (das<br />

kann aber auch z.B. der Ort oder der Zeitpunkt ihres Auftretens sein o.ä.);<br />

- Treten sie als Ursache und Wirkung bzw. Grund und Folge auf: Zweitheit des<br />

Zusammenhangs;<br />

- Treten sie als frei gestifteter Zusammenhang auf, der konventionell (also über<br />

etwas Drittes, Unabhängiges) vermittelt ist: Drittheit des Zusammenhangs.<br />

- Erstheit: ICONIZITÄT, Zweitheit: INDEXIKALITÄT, Drittheit:<br />

SYMBOLIZITÄT<br />

4. Fortsetzung Maus<br />

- Im zweiten Funktionsbereich, dem Bereich der Semantik oder der<br />

Repräsentation, haben wir es dagegen mit Visualisierungen, Koordinationen<br />

und Anzeigen sowie mit komplexen Darstellungsvorgängen zu tun. Als erstes<br />

und für sich genommen stellt die Maus natürlich, aufgrund ihrer ergonomisch


gewonnen Form, eine Maus dar; allein dies schon, die Metapher der Maus,<br />

immerhin ein Lebewesen, und ein niedliches dazu, bietet viel Raum für<br />

Interpretation. Die iconischen und indexikalischen Darstellungsbeziehungen<br />

des gesamten Maus-Komplexes aber sind hier von größerem funktionalen<br />

Gewicht. In einer ganzen Kette von Analogiebeziehungen - und auch<br />

Analogiebeziehungen können digital codiert sein -, die zum Teil physiologisch<br />

begründet sind, zum Teil technisch und zum Teil rein konventionell,<br />

repräsentiert der Cursor auf dem Bildschirm den Blick des Benutzers auf<br />

einzelne Teile und Ausschnitte des Bildfeldes, oder genauer: den Focus; und<br />

zwar sowohl den Focus als Blick- und visuelles Schärfezentrum wie auch als<br />

Zentrum der Aufmerksamkeit, jenseits dessen zunächst ein Unschärfebereich,<br />

eine Dunstzone noch abgeblendeter möglicher nächster oder vorhergehender<br />

Focusssierung liegt. Diese Kette verläuft von der Aufmerksamkeit des Blicks<br />

über die Auge-Hand-Beziehung zur Maus selbst und von dort über das<br />

Mousepad bis zum Cursor auf dem Bildschirm. In vielen Anwendungen<br />

repräsentiert der Cursor sogar den Benutzer selbst, nämlich alle seine<br />

funktionalen Handlungsmöglichkeiten in der dargebotenen Welt. Daraufhin<br />

erst wird es möglich und sinnvoll, den Cursor auch visuell als Figur, als<br />

Abbildung einer Hand, eines Körpers zu gestalten und ihn als virtuelle Person,<br />

als Avatar im wahrsten Sinne des Wortes auszuführen, wie er uns<br />

beispielsweise im Videospiel begegnet. Die nächste, die indexikalische Stufe<br />

der Repräsentationsfunktion wird wiederum im Mausklick erreicht, diesem<br />

technischen und auch epistemologischen Zentrum des gesamten Maus-<br />

Komplexes. Der Cursor repräsentiert jetzt die Hand; genauer: den Zeigefinger,<br />

das digitum des Benutzers und das Moment der Berührung. Das Aufleuchten,<br />

Hinterlegen, Beschriften oder sonstige Herausheben des repräsentiert die<br />

Deixis, die Zeigehandlung, durch die die eigentliche Selektion bereits angelegt<br />

und dann in der Berührung der Taste realisiert wird. Die gesamte<br />

Kulturtheorie der Deixis, die semiotischen, psychologischen und<br />

epistemologischen Verzweigungen der elementaren und primären „Dies-Dort-<br />

Du-Dann“-Relation und des Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs, die durch<br />

die Deixis aufgepannt wird und die bis hin zu magischen und rituellen<br />

Praktiken der Berührung und des Handauflegens, zu den Schöpfungsmythen<br />

und zu seltsamen Alltagsbräuchen wie dem Händedruck führt, braucht hier<br />

nicht ausgeführt zu werden. Wichtig ist, daß durch den Mausklick in dem<br />

durch den Bildschirm zur Unterscheidung freigegebenen Material eine<br />

konkrete Unterscheidung getroffen wird (dieses hier und alles andere -<br />

wenigstens jetzt erst einmal - nicht), und zugleich die ausgewählte Seite der<br />

Unterscheidung positiv markiert, bezeichnet wird (dies hier). Die Maus wählt<br />

jedoch nicht nur aus, sie löst auch aus und gibt ganze Handlungsroutinen frei,<br />

die sich sich entlang mehr oder weniger fester Schemata aus dem<br />

Zusammenspiel der getroffenen Wahl und der dadurch ausgelösten Arbeit des<br />

Rechners selbst ergeben. Auch zum Phänomen der Auslösung als der<br />

spezifischen Funktion des Schalters existiert eine ausgearbeiteter<br />

Theoriekontext, in dem insbesondere als Kern maschineller und<br />

maschinisierter Vorgänge nicht etwa der energetische oder der mechanische<br />

Prozeß ausgemacht wird, sondern vielmehr der regelungstechnische Eingriff<br />

der Unterbrechung und Auslösung der mechanischen Bewegung. In diesem<br />

Sinne repräsentiert die Maus nicht nur die Welt des Benutzers und seine<br />

Handlungsmöglichkeiten auf dem Bildschirm, sondern zugleich auch die Welt<br />

des Gerätes und seiner Möglichkeiten; gleichsam das Innere des Geräts oder


doch einen Teil davon. Erst dadurch wird der Bildschirm zur Schnittstelle oder<br />

zur Berührungsfläche des Mensch-Maschine-Zusammenhangs. Der Mausklick<br />

wird zu einem Befehl, und erst dadurch wird, wie vorhin beim Avatar, die<br />

Einrichtung konventioneller oder iconischer Schaltflächen sinnvoll, die<br />

bestimmte Arbeitsvorgänge in toto repräsentieren und bei Berührung und<br />

Anwahl auslösen.<br />

- In der dritten, der symbolischen Stufe der Repräsentationsfunktion schließlich<br />

läßt sich die Maus zunächst als Performanzsymbol für die Funktions- und<br />

Leistungsfähigkeit der digitalen Informationsverarbeitung überhaupt lesen,<br />

pars pro toto für den medialen Gesamtzusammenhang, für den und in dem sie<br />

steht. Ähnlich wie bei der Fernbedienung hat, wer die Maus hat, auch die<br />

Macht über das Geschehen auf dem Bildschirm, die anderen können nur über<br />

die Schulter schauen. Weiterhin nimmt sie, etwa als avancierte Designermaus,<br />

Anteil am Haushalt kultureller Statussymbole, in dem jedes Ding als Ware mit<br />

Bedeutsamkeit zur Aussage beispielsweise über seinen Besitzer aufgeladen<br />

wird. Sinn und Funktion der Maus konvergieren hier typischerweise mit<br />

ökonomischen Werten.<br />

- Damit kommen wir zur Frage nach dem Sinn der Maus als dem<br />

Zusammenhang, den sie stiftet. Wir betrachten sie abschließend unter dem<br />

Aspekt der Drittheit und kehren somit zurück zum Problem einer möglichen<br />

Welt der Maus, nach den Welterschließungs- und Sinngebungsstrategien dieses<br />

Werkzeugs. Die Welt der Maus ist in Sonderheit gekennzeichnet durch das<br />

Nebeneinander von Wirklichem und Möglichem - oder von Aktuellem und<br />

Virtuzellem - , das sich in den motiven der Selektivität, wie gesehen, realisiert.<br />

der gängige, aber logisch eher merkwürdige Ausdruck von der „Virtuellen<br />

Realität“ hat hier seinen Sinn. Gilles Delueze spricht, wenngleich nicht in<br />

Hinsicht auf die Maus, sondern im Rahmen seiner Philosophie des Kinos, von<br />

einer Koaleszenz, einem Nebeneinanderliegen oder Oszillieren von<br />

Wirklichkeit ud Möglichkeit. Er macht zudem diese Modalitätenverschiebung<br />

als den Grund der Zeit aus. Demnach wäre die Maus also eine Zeitmaschine,<br />

die die verschiedensten Schichten des Abgelegten, des Noch-zu Betrachtenden<br />

oder Noch-zu Lesenden und des gerade jetzt Wirksamen, des „Geöffneten“<br />

oder „Aktivierten“ übereinander und nebeneinander legen und sogar in iher<br />

Schichtung beliebig verändern, etwa Abgelegtes wieder hervorziehen, kann.<br />

Das Interessante an dieser Anordnung der Zeiten in Schichten ist die<br />

Verräumlichung: Natürlich findet hier eine Projektion der Zeit in den Raum<br />

statt, aber der Projektionsraum (oder der Raum der Bearbeitung) ist ein<br />

Grenzfall zwischen Raum und Fläche. Das Desktop ist flächig, erlaubt aber<br />

eine Tiefenstaffelung von Flächen, ohne jedoch gänzlich in den<br />

Dreidimensionalen Raum auszuweiten. Man könnte auch in der Frage von<br />

Raum und Fläche von einer Koaleszenz, einem Nebeneinander beider<br />

Geometrien sprechen, die das Nebeneinander des Möglichen und des<br />

Wirklichen abbildet. In jedem Fall ist in der Welt der Maus alles, was<br />

erscheint, ein Produkt einer Wahl, die auch anders hätte ausfallen können und<br />

in vielen Fällen sogar spurlos revidierbar ist. Die Wirklichkeit ist eine<br />

kontigente Realität, die Möglichkeit eine virtuelle Realität, und zwischen<br />

beiden herrscht eine Selektionsbeziehung. Jede an- und ausgewählte Variante<br />

weist dabei imer schon und immer noch von sich selbst weg auf die nächst zu<br />

wählende oder die vorangegangene Wahl. Eine Webseite lädt nicht zum


Verweilen ein; die wichtigsten Flächen sind die Weiter- und<br />

Zurückschaltbefehle. Der Nutzer ist nie so richtig da, wo er gerade ist, sondern<br />

immer schon und immer noch woanders, dort. wo er herkommt oder dort, wo<br />

er als nächste hingehen könnte; und er fühlt sich immer weggezogen. Wir<br />

kennen den Effekt auch von der Fernbedienung, die das Verharren bei Ein- und<br />

Demselben zugunsten des Wechsels zum Anderen unwahrscheinlich macht. Es<br />

braucht nicht hervorgehoben zu werden, wie sehr diese Verfassung der<br />

digitalen Welt als Produkt von Wahl und Auswahl, als gesamtraum zu<br />

treffender Wahlen, auch die Suggestivkraft der revidierbaren Wahl, der<br />

umkehrbaren Entscheidung, der Gleichzeitigkeit des Nebeneinander<br />

Möglichen - das Eine und das Andere auch -, das Prinzip des Hier und zugleich<br />

anderswo, das auch beispielsweise in Medien wie dem Walkman und ganz<br />

besonders dem Handy wirksam ist, sich pragmatisch wie phänomenal in den<br />

Funktionszusammenhang eines hochgezüchteten Konsum- und<br />

Dienstleistungskapitalismus mit seinen Flexibilisierungsanforderungen, seinem<br />

Ubiquitätsdruck und seinen Komplexitätszumutungen fügt.<br />

- Das Restproblem jedoch bleibt der prekäre Status der so beschaffenen Welt<br />

selbst. Denn die digitale Welt als eine mithilfe geeigneter Werkzeuge - und<br />

zwar als Werkzeuge erkennbare Werkzeuge wie eben der Maus - eigens und<br />

künstlich verfertigte Welt ist nicht nur Fläche, Raum und Rahmen der<br />

Wählbarkeit, sondern selbstverständlich ihrerseits nur plural und kontingent<br />

vorstellbar, ein Selektionsprodukt, das genauso gut ganz anders ausfallen<br />

könnte. Damit ist das, was wir traditionell als „Die Welt“ für den Inbegriff der<br />

Einheit und der Differenzlosigkeit, für Allheit schlechthin halten, die uns auch<br />

allen gleichermaßen und vorazussetzungslos gegeben ist und der nur der<br />

Abgrund des Nichts gegenübersteht, nur mehr als unentrinnbare Vielheit zu<br />

haben, zu der es aber andererseits nicht einmal mehr ein Nichts als<br />

undenkbaren Außenraum zu geben scheint. Die digitale Welt ist aufgespalten,<br />

differenziert, plural, einerseits eine reine Innenwelt aber, ohne Außenraum<br />

andererseits. Die allfällige Rede von der Globalisierung hat genau hier ihren<br />

Sinnkern, sie meint nämlich eine binnendifferenzierte, aber unentrinnbare,<br />

gleichsam nur noch von innen begehbare Innenwelt ohne Außenansicht.<br />

Gemeinsamkeit kann in der digitalen Welt weder vorausgesetzt noch einfach<br />

angetroffen werden, die Welt ist keine bedingungslose Folie der<br />

Gemeinsamkeit mehr. Gemeinsamkeit muß vielmehr immer erst gewählt, jedes<br />

Mal einzeln erdacht und hergestellt werden, und es gäbe auch stets<br />

Alternativen zu ihr, so daß sie immer fragil, temporär und gefährdet bleibt. Die<br />

einzige apriorische Gemeinsamkeit, die niemand in Frage stellen kann, weil<br />

die Mittel dazu fehlen würden, sind eben die Mittel selbst, sind die Werkzeuge<br />

der Weltgenerierung, der Sinnerfahrung und der Selektion, von Nietzsches<br />

Schreibmaschine bis zur heutigen Computermaus.


II<br />

Überleitung und Einleitung: <strong>Hören</strong>.<br />

- Soweit zum Tasten und zur technischen Instrumentierung des Tastens bis<br />

heute.<br />

- Nun: Übergang zum nächsten „Sinn“, nämlich dem Hörsinn.<br />

- Christoph Willibald Gluck: Che farò senza Euridice<br />

2. Vom Mythos des <strong>Hören</strong>s: Orpheus und Hermes<br />

- Orpheus, Sohn der für das Epos zuständigen Muse Kalliope, war berühmt für<br />

seine Qualitäten als Musiker und Sänger. Zwei Beispiele: Seine Durchfahrt<br />

durch die Straße von Messina (an der die Sirenen zu hören waren) mit den<br />

Argonauten: er besänftigte die Sirenen durch sein Spiel und gelangte hindurch<br />

(anders Odysseus, der seinen Gefährten die Ohren verstopfen und sich an den<br />

Mast binden ließ).<br />

- Zweites Beispiel: Orpheus und Euridice: Orpheus gelingt es durch sein Spiel,<br />

Hades zur Rückgabe seiner verstorbenen Frau zu bewegen; leider dreht sie sich<br />

auf dem Rückweg verbotswidrig um und muß doch zurück ins Totenreich.<br />

- ein anderer Mythos: Argos und Hermes. Zeus begehrt die schöne Io und<br />

verwandelt sie, um keinen Verdacht bei der eifersüchtigen Hera zu erregen, in<br />

eine Kuh, sich selbst in einen Stier. Hera, mißtrauisch, stellt aber die Kuh unter<br />

Dauerbewachung durch Argus, dessen Haut über und über mit Augen bedeckt<br />

ist und der deshalb in alle Richtungen zugleich sehen kann.<br />

- Zeus beauftragt Hermes deamit, Argus aus dem Weg zu räumen. Da man sich<br />

dem Argus aber nicht unbemerkt nähern kann, erfindet Hermes die Panflöte.<br />

Mit dem Flötenspiel gelingt es ihm, den Argus willenlos und arglos zu machen<br />

und ihn anschließend zu erschlagen.<br />

- Hera häutet den Erschlagenen dann ab und verleiht seine Haut dem Pfau.<br />

3. Struktur, Funktion und Leistung des Hörsinns<br />

- Was sagt uns das über das <strong>Hören</strong> ?<br />

- Raumstruktur: Tastsinn war auf den Punkt, auf die Berührung gerichtet; bei<br />

Dauerbeanspruchung „schaltet“ er „ab“. Sehsinn ist auf die Lokalisierung im<br />

Raum, die präzise Beobachtung gerichtet (Linienmetapher). Dagegen Hörsinn:<br />

Umgreifend, räumlich, Serres: „Global“. Daher die Überlegenheit des<br />

Flötenspiels gegenüber der Pan-Optik.<br />

- Zeitstruktur: Tastinn auf die Differenz vorher-nachher selbst gerichtet:<br />

Zeitpunkt, in dem das Differenzierte noch zugleich präsent ist. Sehsinn:<br />

Lineare Anordnung von Vorher und Nachher. Dagegen Hörsinn:<br />

Zusammenziehen des Gehörten in die Dauer, Beispiel Geräusch, Musik, aber<br />

auch Rede: Jedesmal wird das Nacheinander Erklingende zu einem Kontinuum<br />

zusammengezogen (Bergson, Husserl weiten in einem nahezu gleichlautenden<br />

Beispiel, den Glockentönen, darauf hin).


- Aber nicht nur in Zeit und Raum, sondern offenbar auch in der Dimension der<br />

Sozialität wirkt der Hörsinn zusammenziehend, Zusammenhang stiftend: Im<br />

Mythos immer wieder Aufgehgen des Individuums in einem Zusammenhang<br />

als Verlust des Willens oder der Gefährlichkeit, Betörung, Betäubung,<br />

Ablenkung usw.: Vereinnahmung. Überschreitung des Subjekts (Tastsinn:<br />

Unterschreitung).<br />

- Diese Überschreitung macht aber Selbsterfahrung des Subjekts erst möglich:<br />

Nur, wenn ich mich gleichsam von außen wahrnehmen kann, kann oich mich<br />

als Subjekt wahrnehmen und, wie wir sehen werden, auch die Anderen als<br />

Andere Subjekte.<br />

- Dafür fundamental. Die Rückkopplung von Stimme und Ohr: Externalisierung<br />

und Wiederaneignung; Zu sich selbst in Unterschied treten. Diese<br />

Rückkopplung ist auch, anders als die etwa Auge-Hand, nicht unterbrechbar<br />

und durch nichts anderes zu ersetzen. (Tasten ohne Sehen ist möglich;<br />

Sprechen ohne <strong>Hören</strong> aber nicht: Nur wer hört, kann sprechen, wer spricht.<br />

muß es hören). So wie die Hand genau am Übergang von Wahrnehmung und<br />

Handlung operiert (und sie folglich unterscheidbar macht), so das Ohr an<br />

demjenigen von Wahrnehmung und Kommunikation.<br />

- Überhaupt ist das Ohr natürlich privilegiert, weil es das Sprachprivileg trägt,<br />

aber dazu in einer anderen Vorlesung mehr.<br />

- Wenn Taster und Schalter die Externalisierungen, Technologisierungen des<br />

Tastsinns sind, dann ist die Technologisierung des Hörsinns nicht etwa der<br />

Lautsprecher oder das Mikrofon o.ä., sondern der<br />

Rückkopplungsmechanismus; Fliehkraftregler, Thermostat und Schaltkreis<br />

stehen in der Dimension des <strong>Hören</strong>s.<br />

- Schließlich eine Ansicht, die uzur Diskussion Anlaß gibt: Rudolf Arnheim<br />

(Anschauliches Denken): Im Hörsinn (Beispiel: Musik) denken wir rein<br />

differentiell, syntaktisch. Klänge stellen nichts dar, sie sind (anders als andere,<br />

von denen wir sie unterscheiden). Sie verweisen uns nicht an die Dinge.<br />

Deshalkb, so Arnheim, ist <strong>Hören</strong> ein Modus, in dem wir nicht über die Welt<br />

(oder besser: Die Dinge in ihr) nachdenken. Das ist dem Sehen vorbehalten.<br />

5. Martin Heidegger: Aisthesis und Noein<br />

- Das gibt Anlaß zu der Frage: Was erkennen wir, wenn wir hören ? Heidegger<br />

spricht von einem spezifischen Erkenntnistyp, den er im Gegensatz zum<br />

„Erkennen“ (im engeren Sinne) als „<strong>Vernehmen</strong>“ bezeichnetund im<br />

Griechischen sowohl mit dem Begriff des „noein“ (im allgemeinen mit<br />

„Erkennen“ übersetzt, von Heidegger als „schlichtes <strong>Vernehmen</strong>“) identifiziert<br />

als auch mit dem der „aisthesis“ (im allgemeinen als „Wahrnehmung“<br />

bezeichnet).<br />

- Diesen Erkenntnistyp präpariert er aus seiner Aristoteles Lektüre heraus.<br />

Erkenntnis, so Aristoteles laut Heidegger, ist eine Frage des Zusammenhangs.<br />

Erkennen heißt, etwas ALS etwas zu behandeln. Behandelt man es als das, was<br />

es ist, so ist das eine richtige Erkenntis. Behandelt man es als das, was es nicht<br />

ist, so ist das eine falsche Erkenntis. Das gilt auch und besonders für


sprachliche Behandlung : Aussage. Etwas aussagen heißt, es mit etwas<br />

zusammenzuziehen, es als dies oder jenes anzusprechen oder nicht.<br />

- In jeder Erkenntis und jeder wahren Aussage sind also immer zwei Ebenen<br />

enthalten: Das, was behandelt bzw. angesprochen wird und das, ALS das es<br />

angesprochen bzw. behandelt wird. Normalerweise sind beide identisch, dann<br />

fällt das gar nicht auf. Erst wenn sie nicht identisch sind, nämlich: das Auto als<br />

Haus, der Tisch als Stuhl usw. behandelt bzw. angesprochen wird, ist Irrtum<br />

die Folge und fällt auf, daß es beide Ebenen gibt.<br />

- Kommentar dazu nebenbei: Das hängt natürlich mit der ZWEITHEIT alles<br />

Begegnenden zusammen. Dioes erlaubt es, etwas als etwas zu behandeln.<br />

- Das wird deutlich, wenn Aristoteles von allem Wirklichen als<br />

Zusammengesetztem spricht, das also so oder anders zusammengesetzt ist. Die<br />

Wahrheit sagen heißt dann, das sprachlich zusammen zu bringen, was<br />

zuzsammen gehört, und das sprachlich zu trennen (nämlich: durch negation),<br />

was nicht zusammengehört.<br />

- Heidegger weiter: Es gibt aber bei Aristoteles auch eine Ausnahme, solches<br />

Seiende nämlich, das nicht zusammengesetzt ist, sondern elementar und<br />

primär. Es kann nicht als etwas angesprochen werden, nicht als etwas<br />

wahrgenommen werden, weil es immer nur das ist, was es ist. Wir würden<br />

sagen: ERSTHEIT.<br />

- Solches Seiende, das nie verstellt werden kann, ist nur die aisthesis bzw. dem<br />

noein zugänglich, es ist darüber kein Irrtum möglich (sondern nur<br />

nichtwahrnehmen). Dies nennt Heidegger das „schlichte <strong>Vernehmen</strong>“.<br />

- Erkenntnis vom Typ des <strong>Hören</strong>s wäre also gerichtet auf derlei Erstheiten, oder<br />

anders: während etwa das Sehen speziell auf Zweitheit gerichtet ist (auch wenn<br />

die immer Erstheit involviert), ist das <strong>Hören</strong> mehr als jeder andere Sinn in der<br />

Lage, Erstheiten wahrzunehmen; das, was noch vor dem „Etwas“ liegt. Das<br />

könnte auch Arnheim meinen.<br />

- Oder anders, richtiger formulirt: der Hörsinn wird vom Sehsinn danach<br />

unterschieden, daß er sich speziell auf Erstheit richten kann; er wird zur<br />

Metapher dafür.<br />

6. Heidegger (Forts.): <strong>Verstehen</strong><br />

- An anderer Stelle entwickelt Heidegger eine andere Formulierung für eine<br />

Weise des Erkennens, die von dem Erkennen von etwas als etwas Bestimmtes,<br />

dem klaren Erkennen usw. verschieden ist und ihm vorgelagert. Auch sie<br />

bezeichnet er mit einer akustischen Metapher, nämlich dem <strong>Verstehen</strong>.<br />

- „<strong>Verstehen</strong>“ bezeichnet im Alltagsgebrauch sowohl das mentale Geschehen als<br />

auch die bloße Wahrnehmung: Erneut <strong>Hören</strong> als Differenz beider,<br />

Wahrnehumg und Kommunikation.<br />

- Heidegger: Alle Gegenstände, die uns begegnen, bilden einen Zusammenhang,<br />

etwa haben sie einen Zweck, oder gehören zueinander, sind miteinander<br />

verbunden usw.: Zeugzusammenhang, Verweisung. Wichtig: Für heidegger ist<br />

dieser Zusammenhang nicht eine Überschreitung es Einzeldings, also vom<br />

Einzelgegenstand her zu denken (denn wie soll das auch gehen ?), sondern


immer umgekehrt: Der Gegenstand „bezeichnet“, „aktualisiert“ eine Stelle in<br />

einem Zusammenhang. Der Zusammenhang ist primär. Die Anerkennung<br />

dieser primären Eingelassenheit des Einzeldings in einen Zusammenhang<br />

nennt Heidegger: „Bewendenlassen“: Bestehenlassen in dem Zusammenhang,<br />

in dem es steht.<br />

- Dieser Zusammenhang ist als konkreter z.B. Gebrauchs- oder Verwendugs,<br />

Zweck oder auch Sinnzusammenhang letztlich immer auch nur Teil größerer<br />

Verweisungsganzer und letztlich der Welt im Ganzen (im Gegensatz zur<br />

Anhäufung von Einzeldingen).<br />

- Die Fähigkeit des menschlichen Daseins, dieses Ganze bestehen zu lassen,<br />

nennt Heidegger das <strong>Verstehen</strong>. Das <strong>Verstehen</strong> bezieht sich also auf die<br />

Eingelassenheit jedes Einzeldings in die Welt und letztlich auf die Welt als<br />

Gesamtzusammenhang, Das Besondere ist aber, daß das Dasein das kann, weil<br />

es selbst immer in die Welt eingebunden ist, nicht außerhalb ihrer steht.<br />

Deshalb begreift sich das Dasein letztlich im verstehen selbst als, wie<br />

Heidegger sagt, „in der Welt Sein“. Weil das Dasein die Welt versteht, versteht<br />

es sich, und zwar als dasjenige Seiende, das die Welt versteht.<br />

- „Wenn dem Dasein wesenhaft die Seinsart des In der Welt Seins zukommt,<br />

dann gehgört zum wesenhaften bestand seines Seinsverständnisses das<br />

<strong>Verstehen</strong> von In der Welt Sein. Das vorgängige Erschließen dessen,<br />

woraufhin die Freigabe des innerweltlichen Begegnenden erfolgt, ist nichts<br />

anderes als das <strong>Verstehen</strong> von Welt, zu der sich das Dasein schon immer<br />

verhält.“ (SuZ, 86).<br />

- „<strong>Verstehen</strong>“ ist als Wort dem Bezirk des Hölrens entnommen. Wenn Arnheim<br />

also sagt, daß das <strong>Hören</strong> nicht auf die Dinge im Einzelnen gerichtet ist und daß<br />

<strong>Hören</strong> nicht heißen kann, über die Welt nachzudenken, dann könnte dies mit<br />

Heidegger dahin gewendet werden, daß statt dessen <strong>Hören</strong> heißen kann, IN<br />

DER WELT nachzudenken: Aspekt des Umgreifenden, des Globalisierenden<br />

beim <strong>Hören</strong>.<br />

7. Heidegger: <strong>Hören</strong><br />

- Auch das <strong>Hören</strong> taucht schließlich bei Heidegger (nach <strong>Vernehmen</strong> und<br />

<strong>Verstehen</strong>) auf. Und auch er schreibt dem <strong>Hören</strong> ein spezielles Verhältnis zur<br />

Kommunikation und damit zur Sozialität zu:<br />

- In der Welt nämlich begegnen wir nicht nur Gegenständen, sondern auch<br />

anderen Menschen, also dem anderen Dasein. Menschliches Dasein ist deshalb<br />

nicht nur durch In der Welt sein besonders bezeichnet (da es die Welt, wie<br />

gesehen, verstehen kann), sondern auch durch die Begegnung mit dem anderen<br />

Dasein, dem (Heidegger) Mit-Sein. Mit-Sein gehört wesentlich zum Dasein.<br />

- Der Andere begegnet uns aber besonders als sprechendes Dasein. Wir können<br />

die Anderen von den begegnenden Dingen zunächst deshalb unterscheiden,<br />

weil sie sprechen. Hier wird also, um über Heidegger hinaus zu gehen, die<br />

primäre Rückkopplungsschleife erweitert, verdoppelt: Ich nehme den<br />

sprechenden Anderen als Meines Gleichen wahr, nämlich als einen, der sich<br />

beim Sprechen ebenfalls selber wahrnimmt und deshalb für sich selbst


8. Schluß<br />

ebenfalls da ist. ich erkenne mich selber (nicht als Individuum, sondern als<br />

Dasein) im Anderen.<br />

- Heidegger formuliert so: „Das Reden ist für das <strong>Hören</strong> konstitutiv. Und wie die<br />

sprachliche Verlautbarung in der Rede gründet, so das akustische <strong>Vernehmen</strong><br />

im <strong>Hören</strong>. Das <strong>Hören</strong> auf (jemanden, L.E.) ist das existenziale Offensein des<br />

Daseins als Mit-Sein für den Anderen. Das <strong>Hören</strong> konstituiert sogar die<br />

primäre eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenes Sein-Können. als<br />

<strong>Hören</strong> der Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt“. (SuZ, 163)<br />

- Für Heidegger ist also die Stimme des Anderen primär; die vermeintlich<br />

ursprüngliche Rückkopplung als Selbstwahrnehmung ist die – internalisierte -<br />

Folgeerscheinung: Das Mitsein ist konstitutiv.<br />

- „Das Dasein hört, weil es versteht (und nicht umgekehrt, L.E.). Als<br />

verstehendes In der Welt Sein mit den Anderen ist es dann Mitdasein und ihm<br />

selbst hörig und in dieser Hörigkeit zugehörig. Das Aufeinander <strong>Hören</strong>. in dem<br />

sich das Mitdasein ausbildet, hat die möglichen Weisen des Folgens,<br />

Mitgehens, die provativen Modi des Nicht <strong>Hören</strong>s, des Widersetzens, des<br />

Trotzes, der Abwehr“. (SuZ, 163).<br />

- Hier kehrt also das Sozialisierungsmotiv wieder und auch das<br />

Überwältigungsmotiv, die Hörigkeit, klingt wieder an, die wir im Mythos<br />

schon angetroffen haben. Heidegger verwendet dann ja auch viel Mühe auf die<br />

Analyse der Verfalllsformen des Mitdaseins, nämlich der Verfallenheit an das<br />

„Man“, das „Gerede“, die Öffentlichkeit usw.<br />

- Alle technischen Instrumentierungen der Stimme, von den Musikinstrumenten<br />

bis zu den modernen Schallaufzeicnungs- und Verstärkungstechniken, müssen<br />

in diesem Zusammenhang gesehen werden. Heideggers Gedanken halten dazu<br />

an, auch Massenmedien über die Hör- und <strong>Verstehen</strong>sfunktion aufzuschlüseln.<br />

Nächstes Mal deshalb als Ausblick: Über das Radio.

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