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Zwei Arten des Diskurses

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32<br />

MANAGEMENT<br />

Bild aus: „Facetten der Kantforschung – Festgabe für Norbert<br />

Hinske zum 80. Geburtstag“. (frommann-holzboog Verlag, 2011)<br />

Serie: „Selbstführung und Führung“, Teil 37<br />

<strong>Zwei</strong> <strong>Arten</strong> <strong>des</strong> <strong>Diskurses</strong><br />

Prof. (em.) Dr. Heiner Müller-Merbach<br />

Diskurse, d. h. Fachgespräche, auch<br />

(methodisch aufgebaute) Abhandlungen<br />

(lt. Duden), Streitgespräche<br />

usw. lassen sich in zwei <strong>Arten</strong> gliedern:<br />

Bei Diskursen der ersten Art besteht<br />

zwischen den Teilnehmern Übereinstimmung<br />

bezüglich <strong>des</strong> Problems,<br />

der zu lösenden Aufgabe usw. Die<br />

Beteiligten sind sich nahezu einig über<br />

die zu behandelnde Frage und suchen<br />

gemeinsam nach einer sinnvollen<br />

Lösung. Jedenfalls suchen die Beteiligten<br />

an Diskursen der ersten Art nach<br />

einem „richtigen“ bzw. „besten“ Weg.<br />

Bei Diskursen der zweiten Art besteht<br />

dagegen nicht einmal Einigkeit bezüglich<br />

<strong>des</strong> anstehenden Problems, d. h.<br />

es gebricht an einer gleichgerichteten<br />

Problemsicht bzw. an einer übereinstimmenden<br />

Zielsetzung.<br />

Diese Diff erenzierung ist grundlegend,<br />

denn für die erste Art kann<br />

man einen Grundkonsens unter den<br />

Beteiligten annehmen, während man<br />

bei einem Diskurs der zweiten Art<br />

von einem grundlegenden Gegensatz<br />

ausgehen muss. Für beide <strong>Arten</strong> von<br />

Norbert Hinske formulierte vier Empfehlungen<br />

für eine Kultur der Verständigung.<br />

technologie & management 01/2013<br />

Diskursen gibt es Anregungen aus der<br />

Philosophie. In der ersten Art geht es<br />

im Wesentlichen um Wahrheitsfi ndung,<br />

d. h. um Klärung der Entscheidungssituation,<br />

um Strukturierung der<br />

Ursache-Wirkungsbeziehungen, um<br />

zielkonfl iktfreie Analyse der Situation<br />

usw. Diese Position lässt sich durch<br />

zahlreiche Zitate von Philosophen<br />

wie Kant, Popper, Hinske, Konfuzius,<br />

Schweitzer usw. untermauern.<br />

Als Gegenposition zu Kant, Popper,<br />

Hinske usw., die hier der ersten Art<br />

zugeordnet sind, werden im Folgenden<br />

auch Schopenhauer, Machiavelli und<br />

Marx präsentiert, denen es nicht in erster<br />

Linie um die Entdeckung der Wahr-<br />

„Keine Meinung sei derartig<br />

falsch, dass ihr nicht von etwas<br />

Falschem verdunkelt werde.“<br />

heit ging, sondern um das weitgehend<br />

egoistische Ziel, Recht zu bekommen.<br />

In beiden <strong>Arten</strong> wird hier interpersonelles<br />

Problemlösen in den Vordergrund<br />

gerückt, d. h. Problemlösungsprozesse,<br />

an denen diverse Personen beteiligt<br />

sind.<br />

Kant und die Unmöglichkeit<br />

<strong>des</strong> totalen Irrtums<br />

Bei Diskursen der ersten Art sind<br />

sich die zwei (oder mehr) Teilnehmer<br />

weitgehend einig in ihrer Sicht <strong>des</strong><br />

Problems und stimmen in ihren Zielsetzungen<br />

für die Lösung <strong>des</strong> Problems<br />

überein. Im Folgenden werden diesbezüglich<br />

Überlegungen von Immanuel<br />

Kant (1724 – 1804), dem großen<br />

deutschen Philosophen der Aufklärung,<br />

übernommen. Es ging Kant in erster<br />

Linie um Erkenntnis, um die Suche nach<br />

Wahrheit. Eine zentrale Rolle bei Kant<br />

spielt die Vernunft bzw. die „allgemeine<br />

Menschenvernunft“. Doch sei die<br />

Vernunft eines jeden Einzelnen nicht<br />

vollständig, perfekt oder grenzenlos.<br />

Daher könne jeder Mensch auch irren,<br />

und die Vernunft eines jeden kann<br />

Grenzen unterliegen. Jedoch sei je<strong>des</strong><br />

Urteil eines Einzelnen ein Ergebnis<br />

seiner Vernunftprozesse, d. h. seines<br />

Denkens. Dabei mögen einzelne Prozesse<br />

und Denkergebnisse falsch, also<br />

irrtumbehaftet sein. Gleichwohl sei<br />

auszuschließen, dass die Gesamtheit<br />

der Denkprozesse eines Einzelnen<br />

irrtumbehaftet sei. Insbesondere hat<br />

sich Norbert Hinske (1980, S. 31 – 66)<br />

ausführlich mit „Kants Theorie von der<br />

Unmöglichkeit <strong>des</strong> totalen Irrtums“ befasst.<br />

Hinske (1980, S. 49) zitiert Kant:<br />

„Keine Meinung sei derartig falsch, daß<br />

ihr nicht etwas Wahres beige-<br />

mischt wäre, wenngleich dasselbe<br />

durch die Beimischung<br />

von irgendetwas Falschem<br />

verdunkelt werde.“ Kant ermutigt<br />

uns ganz grundsätzlich,<br />

auch hinter jedem Irrtum eine<br />

wahre Wurzel zu suchen.<br />

Gesprächskultur von Hinske<br />

Auch an anderer Stelle knüpft Hinske<br />

(geb. 1931) an Kant an und stellt in<br />

seinen „Erinnerungen an Gesprächskultur“<br />

(Hinske 1989) vier Empfehlungen<br />

in den Vordergrund, die für eine Kultur<br />

der Verständigung von zentraler Bedeutung<br />

sind: Erstens solle man durch<br />

„Rückversicherung <strong>des</strong> Verstandenhabens“<br />

sicherstellen, dass sich der Gesprächspartner<br />

auch verstanden fühle.<br />

<strong>Zwei</strong>tens empfi ehlt Hinske den „Verzicht<br />

auf Nebensächlichkeiten“ (S. 10),<br />

so dass der zentrale Gesprächsfaden<br />

nicht abreiße. Drittens schlägt Hinske<br />

„Konzilianz gegenüber der Auff assung<br />

<strong>des</strong> Anderen“ (S. 10) vor, womit er das<br />

Öff nen für gegenläufi ge Argumente<br />

(gegenüber den eigenen Argumenten)<br />

meint. In Symmetrie dazu empfi ehlt<br />

Hinske viertens „Geduld gegenüber der<br />

Wirkung <strong>des</strong> eigenen Arguments“<br />

(S. 10), denn man könne nicht erwar-


ten, dass man die Gesprächspartner<br />

sofort überzeugen werde.<br />

Zwölf Regeln von Sir Karl Popper<br />

In eine ähnliche Richtung wie die vier<br />

Empfehlungen von Hinske (1989) gehen<br />

die zwölf Regeln <strong>des</strong> Philosophen<br />

Karl Popper (1902 – 1994). Sie zielen<br />

insbesondere auf die zwischenmenschliche<br />

Verständigung, nämlich auf das<br />

Verstehen von Mitmenschen „um von<br />

ihnen zu lernen“. Sie sind weitgehend<br />

selbsterklärend, lassen sich aber durch<br />

Kommentierung vertiefen (Popper<br />

1994; auch: Müller-Merbach 1995):<br />

„1. Jeder Mensch hat das Recht auf<br />

die wohlwollendste Auslegung seiner<br />

Worte.“ Darin liegt eine Erwartung<br />

gegenüber der Toleranz <strong>des</strong> jeweiligen<br />

Gesprächspartners.<br />

„Wenn die Begriff e nicht<br />

richtig sind, stimmen<br />

die Worte nicht.“<br />

„2. Wer andere zu verstehen sucht,<br />

dem soll niemand unterstellen, er billige<br />

schon <strong>des</strong>halb deren Verhalten.“ Der<br />

Toleranz der Bemühung, den anderen<br />

zu verstehen, folgt nicht ohne weiteres<br />

die inhaltliche Zustimmung zu <strong>des</strong>sen<br />

Verhalten.<br />

„3. Zum Recht, ausreden zu dürfen,<br />

gehört die Pfl icht, sich kurz zu fassen.“<br />

Selbstdarsteller und Dauerredner, die<br />

pausenlos reden und quasi durch die<br />

Ohren atmen können, werden damit<br />

nicht ermuntert.<br />

„4. Jeder soll im voraus sagen, unter<br />

welchen Umständen er bereit wäre, sich<br />

überzeugen zu lassen.“ Die Bereitschaft<br />

zuzuhören sollte nicht bereits als Zustimmung<br />

zu den Inhalten fehlinterpretiert<br />

werden.<br />

„5. Wie immer man die Worte wählt,<br />

ist nicht sehr wichtig; es kommt darauf<br />

an, verstanden zu werden.“ Die Absicht<br />

hinter jedem Satz ist wichtig, nicht die<br />

Form.<br />

„6. Man soll niemanden beim Wort<br />

nehmen, wohl aber das ernstnehmen,<br />

was er gemeint hat.“ Es kommt auf die<br />

Meinung an, nicht auf die Wortwahl.<br />

„7. Es soll nie um Worte gestritten<br />

werden – allenfalls um die Probleme,<br />

die dahinter stehen.“ Worte sind quasi<br />

nur die Hülle der Argumente, nicht die<br />

Argumente selbst.<br />

„8. Kritik muß immer konkret sein.“<br />

Nur auf konkrete Kritikpunkte kann<br />

man konkret reagieren und sein eigenes<br />

Verhalten bzw. seine eigenen Argumente<br />

entsprechend korrigieren.<br />

„9. Niemand ist ernstzunehmen,<br />

der sich gegen Kritik unangreifbar<br />

gemacht, also ‚immunisiert‘ hat.“ Undifferenzierte<br />

Floskeln wie ‚Ich weiß, dass<br />

ich nicht vollkommen bin‘, sind<br />

wertlos.<br />

„10. Man soll einen Unterschied<br />

machen zwischen<br />

Polemik, die das Gesagte<br />

umdeutet, und Kritik, die den<br />

anderen zu verstehen sucht.“<br />

Auch im Streitgespräch komme es<br />

darauf an, dass jeder Teilnehmer sich<br />

bemüht, die Gesprächspartner zu verstehen.<br />

„11. Kritik soll man nicht ablehnen,<br />

auch nicht nur ertragen, sondern man<br />

soll sie suchen.“ Man soll Kritik herausfordern,<br />

ihr entgegengehen, sie als<br />

Vorschlag, als nützlichen Beitrag, als<br />

Stimulus zu Verbesserungen begrüßen.<br />

„12. Jede Kritik ist ernstzunehmen,<br />

selbst die in böser Absicht vorgebrachte;<br />

denn die Entdeckung eines Fehlers<br />

kann uns nur nützlich sein.“ Diese letzte<br />

Regel unterstützt die positive Einstellung<br />

zur Entgegennahme von Kritik.<br />

Albert Schweitzer<br />

Es ging Immanuel Kant, Norbert<br />

Hinske, Karl Popper und vielen anderen<br />

um Wahrheit, um Ehrlichkeit, um<br />

Humanität, um vorbildliches Verhalten.<br />

Der Philosoph Karl Popper (1902 –<br />

1994) formulierte zwölf Regeln für die<br />

zwischenmenschliche Verständigung.<br />

Auch Albert Schweitzer (1875 – 1965),<br />

der Philosoph und Theologe, Arzt und<br />

Ethiker, gehört in diese Reihe unserer<br />

Vorbilder. Über sein Verhältnis zur<br />

Wahrheit schreibt er: „Als unverlierbaren<br />

Kinderglauben habe ich mir den<br />

an die Wahrheit bewahrt. Ich bin der<br />

Zuversicht, daß der aus der Wahrheit<br />

kommende Geist stärker ist als die<br />

Macht der Verhältnisse“ (Schweitzer<br />

1990, S. 73; auch: Müller-Merbach<br />

1996, S. 186).<br />

Ratschläge von Konfuzius<br />

Weitere Ratschläge kommen von<br />

Konfuzius (551 – 479 v. Chr.), dem bedeutenden<br />

Philosophie-Lehrer Chinas.<br />

Ihm geht es u. a. um das Verhältnis<br />

zwischen Wort und Tat: „Wenn die Begriff<br />

e nicht richtig sind, so stimmen die<br />

Worte nicht; stimmen die Worte nicht,<br />

so kommen die Werke nicht zustande;<br />

(…) Darum sorge der Edle, daß er seine<br />

Begriff e unter allen Umständen zu<br />

Worte bringen kann und seine Worte<br />

unter allen Umständen zu Taten machen<br />

kann. Der Edle duldet nicht, daß in<br />

seinen Worten irgend etwas in Unordnung<br />

ist“ (Konfuzius 1955, S. 131; auch<br />

Müller-Merbach 1995, S. 190).<br />

Kontrast: Bemühungen, Recht<br />

zu haben<br />

Die bisher zitierten Denker bzw. Philosophen<br />

plädieren für Ehrlichkeit;<br />

sie konzentrieren ihr Denken auf die<br />

MANAGEMENT<br />

Bild LSE Library<br />

technologie & management 01/2013 33


34<br />

MANAGEMENT<br />

Bild: Wikipedia.<br />

Arthur Schopenhauer (1788 – 1860)<br />

propagiert die Kunst zu disputieren, und<br />

zwar so zu disputieren, dass man Recht<br />

behält.<br />

Suche nach Wahrheit, auf Erkenntnis.<br />

Im Gegensatz dazu stellte Arthur<br />

Schopenhauer (1788 – 1860) in seiner<br />

„Eristischen Dialektik“ (um 1830) Regeln,<br />

Tricks, Kunstgriff e dar, um Recht<br />

zu bekommen bzw. Recht zu behalten.<br />

Er ersetzt das altruistische Ziel der Erkenntnis<br />

und Wahrheitsfi ndung durch<br />

das egoistische Ziel der Rechthaberei.<br />

Diesbezüglich steckt er u. a. mit Machiavelli<br />

(1469 – 1527) und Karl Marx<br />

(1818 – 1883) unter einer Decke (s. u.).<br />

Schopenhauer lässt den Leser nicht<br />

im Unklaren über seine egoistische<br />

Orientierung: „Eristische Dialektik ist<br />

die Kunst zu disputiren, und zwar so zu<br />

disputiren, daß man Recht behält (…)<br />

Man kann nämlich in der Sache selbst<br />

objektiv Recht haben und doch in den<br />

Augen der Beisteher, ja bisweilen in<br />

seinen eignen, Unrecht behalten. Wann<br />

nämlich der Gegner meinen Beweis<br />

widerlegt, und dies als Widerlegung<br />

der Behauptung selbst gilt, für die es<br />

jedoch andre Beweise geben kann; in<br />

welchem Fall natürlich für den Gegner<br />

das Verhältniß umgekehrt ist; er behält<br />

Recht, bei objektivem Unrecht. Also die<br />

objektive Wahrheit eines Satzes und<br />

die Gültigkeit <strong>des</strong>selben in der Approbation<br />

der Streiter und Hörer sind<br />

zweierlei“ (Schopenhauer 1989, S. 9).<br />

Er fährt fort: „Woher kommt das?<br />

– Von der natürlichen Schlechtigkeit<br />

<strong>des</strong> menschlichen Geschlechts. Wäre<br />

diese nicht, wären wir von Grund aus<br />

ehrlich, so würden wir bei jeder Debatte<br />

technologie & management 01/2013<br />

bloß darauf ausgehn, die Wahrheit zu<br />

Tage zu fördern, ganz unbekümmert<br />

ob solche unsrer zuerst aufgestellten<br />

Meinung oder der <strong>des</strong> Andern gemäß<br />

ausfi ele: dies würde gleichgültig oder<br />

wenigstens ganz und gar Nebensache<br />

seyn. Aber jetzt ist es Hauptsache. Die<br />

angeborne Eitelkeit, die besonders hinsichtlich<br />

der Verstan<strong>des</strong>kräfte reizbar<br />

ist, will nicht haben, daß was wir zuerst<br />

aufgestellt sich als falsch und das <strong>des</strong><br />

Gegners als Recht ergebe.“<br />

Sodann: „Aber zur angebornen<br />

Eitelkeit gesellt sich bei den Meisten<br />

Geschwätzigkeit und angeborne Unredlichkeit.<br />

Sie reden ehe sie gedacht<br />

Schopenhauer lässt den Leser<br />

nicht im Unklaren über seine<br />

egoistische Orientierung.<br />

haben und wenn sie auch hinterher<br />

merken, daß ihre Behauptung falsch<br />

ist und sie Unrecht haben; so soll es<br />

doch scheinen als wäre es umgekehrt.<br />

Das Interesse für die Wahrheit, welches<br />

wohl meistens bei Aufstellung <strong>des</strong><br />

vermeintlich wahren Satzes das einzige<br />

Motiv gewesen, weicht jetzt ganz dem<br />

Interesse der Eitelkeit: wahr soll falsch<br />

und falsch wahr scheinen“ (Schopenhauer<br />

1989, S. 10f.).<br />

Schopenhauer fährt fort: „Jedoch<br />

hat selbst diese Unredlichkeit, das Beharren<br />

bei einem Satz der uns selbst<br />

schon falsch scheint, noch eine Entschuldigung:<br />

oft sind wir anfangs von<br />

der Wahrheit unsrer Behauptung fest<br />

überzeugt: aber das Argument <strong>des</strong><br />

Gegners scheint jetzt sie umzustoßen:<br />

geben wir jetzt ihre Sache gleich auf; so<br />

fi nden wir oft hinterher, daß wir doch<br />

Recht hatten: unser Beweis war falsch;<br />

aber es konnte für die Behauptung<br />

einen richtigen geben: das rettende<br />

Argument war uns nicht gleich beigefallen.<br />

Daher entsteht nun in uns die<br />

Maxime, selbst wann das Gegenargument<br />

richtig und schlagend scheint,<br />

doch noch dagegen anzukämpfen, im<br />

Glauben daß <strong>des</strong>sen Richtigkeit selbst<br />

nur scheinbar sei, und uns während<br />

<strong>des</strong> Disputirens noch ein Argument<br />

jenes umzustoßen und eines unsre<br />

Wahrheit anderweitig zu bestätigen<br />

einfallen werde: hiedurch werden wir<br />

zur Unredlichkeit im Disputiren beinahe<br />

genöthigt, wenigstens leicht verführt.<br />

Diesergestalt unterstützen sich wechselseitig<br />

die Schwäche unsers Verstan<strong>des</strong><br />

und die Verkehrheit unsers Willens.<br />

Daraus kommt es daß wer diputirt in<br />

der Regel nicht für die Wahrheit, sondern<br />

für seinen Satz kämpft“ (Schopenhauer<br />

1989, S. 11f.).<br />

Schopenhauer knüpft in seiner<br />

Argumentation an Niccoló Machiavelli<br />

(1469 – 1527), den ita-<br />

lienischen Staatsmann und<br />

Geschichtsschreiber, an: „Machiavelli<br />

schreibt dem Fürsten<br />

vor jeden Augenblick der<br />

Schwäche seines Nachbarn zu<br />

benutzen um ihn anzugreifen:<br />

weil sonst dieser einmal den Augenblick<br />

benutzen kann wo jener schwach<br />

ist. Herrschte Treue und Redlichkeit, so<br />

wäre es ein andres: weil man sich aber<br />

deren nicht zu versehn hat, so darf man<br />

sie nicht üben, weil sie schlecht bezahlt<br />

wird: – eben so ist es beim Disputiren:<br />

gebe ich dem Gegner Recht sobald er<br />

es zu haben scheint; so wird er schwerlich<br />

dasselbe thun, wann der Fall sich<br />

Albert Schweitzer (1875 – 1965): „Als<br />

unverlierbaren Kinderglauben habe ich<br />

mir den an die Wahrheit bewahrt.“<br />

Bild: Bun<strong>des</strong>archiv


Bild: International Institute of Social History, Amsterdam<br />

Karl Marx (1818 – 1883): „Kritik ist<br />

eine Waff e!“<br />

umkehrt: er wird vielmehr per nefas<br />

verfahren, also muß ich‘s auch“ (Schopenhauer<br />

1989, S. 12).<br />

Die Argumentation von Schopenhauer<br />

ist in eigenartiger Weise von<br />

Misstrauen gegenüber den anderen<br />

gekennzeichnet: Da jeder vermutet, der<br />

andere würde unfair argumentieren,<br />

die Wahrheit auf den Kopf stellen und<br />

sich seinen Anspruch, Recht zu haben,<br />

auf unfaire Weise erkämpfen, empfi ehlt<br />

Schopenhauer es diesem auch.<br />

Schopenhauers Empfehlungen umfassen<br />

37 + 1 „Kunstgriff e“. Das gipfelt<br />

in der Empfehlung (1989, S. 76ff .):<br />

„Wenn man merkt, daß der Gegner<br />

überlegen ist und man Unrecht behalten<br />

wird; so werde man persönlich,<br />

beleidigend, grob. Das Persönlichwerden<br />

besteht darin, daß man von dem<br />

Gegenstand <strong>des</strong> Streites (weil man da<br />

verlornes Spiel hat) abgeht auf den<br />

Streitenden und seine Person irgend<br />

wie angreift: man könnte es nennen<br />

argumentum ad personam, zum Unterschied<br />

vom argumentum ad hominem:<br />

dieses geht vom rein objektiven Gegenstand<br />

ab, um sich an das zu halten, was<br />

der Gegner darüber gesagt oder zugegeben<br />

hat. Beim Persönlichwerden aber<br />

verläßt man den Gegenstand ganz, und<br />

richtet seinen Angriff auf die Person<br />

<strong>des</strong> Gegners: man wird also kränkend,<br />

hämisch, beleidigend, grob.“<br />

Marx: Kritik als Waff e<br />

Das erinnert auch an Karl Marx (1818<br />

– 1883). Er schrieb in seinem Aufsatz<br />

„Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“:<br />

„Krieg den deutschen Zuständen!<br />

(…) Mit ihnen im Kampf ist die Kritik<br />

keine Leidenschaft <strong>des</strong> Kopfs, sie ist<br />

der Kopf der Leidenschaft. Sie ist kein<br />

anatomisches Messer, sie ist eine Waff e.<br />

Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie<br />

nicht widerlegen, sondern vernichten<br />

will. (…) Die Kritik, die sich mit diesem<br />

Inhalt befasst, ist die Kritik im Handgemenge,<br />

und im Handgemenge handelt<br />

es sich nicht darum, ob der Gegner ein<br />

edler, ebenbürtiger, ein interessanter<br />

Gegner ist, es handelt sich darum, ihn<br />

zu treff en.“ (Marx 1964, auch: Hinske<br />

1980, S. 59f., auch: Müller-Merbach<br />

1989, S. 53f., und 1995, S. 191).<br />

Die Entscheidung<br />

Jeder, der in Streitgespräche eingebunden<br />

sein wird (und das wird vermutlich<br />

für jeden zu erwarten sein), sollte sich<br />

Literatur<br />

[1] Hinske, N.: Kant als Herausforderung<br />

an die Gegenwart. Freiburg/München:<br />

Alber 1980, insbesondere Kapitel<br />

II: Kant und die Aufklärung – Kants<br />

Theorie von der Unmöglichkeit <strong>des</strong><br />

totalen Irrtums, S. 31 – 66.<br />

[2] Hinske, N.: Erinnerungen an Gesprächskultur,<br />

in: technologie &<br />

management, 38. Jg., 1989, H. 4,<br />

S. 9 – 10.<br />

[3] Kungfutse (Konfuzius): Gespräche –<br />

Lun Yü. München: Diederichs 1955<br />

(Dieses ist eine von vielen deutschen<br />

Ausgaben <strong>des</strong> Lun Yü.).<br />

[4] Marx, K.: Zur Kritik der Hegelschen<br />

Rechtsphilosophie, in: Marx, Karl, und<br />

Friedrich Engels: Werke, hrsg. von<br />

Institut für Marxismus-Leninismus<br />

beim ZK der SED, Bd. 1, Berlin 1964,<br />

S. 380f.<br />

[5] Müller-Merbach, H.: Immanuel Kant:<br />

Die Wahrheit im Irrtum, in: technologie<br />

& management, 38. Jg., 1989, H.<br />

3, S. 51 – 54.<br />

auf beide möglichen <strong>Arten</strong> <strong>des</strong> <strong>Diskurses</strong><br />

vorbereiten und sich in beiden<br />

Künsten <strong>des</strong> Argumentierens üben.<br />

Es ist u. a. eine Frage <strong>des</strong> Charakters,<br />

ob man den Anleitungen von Kant,<br />

Popper, Hinske, Schweitzer, Konfuzius<br />

usw. folgt und nach Erkenntnis strebt,<br />

Karl Marx: „Kritik ist kein<br />

anatomisches Messer, sie<br />

ist eine Waff e.“<br />

den moralisch besten Weg sucht und<br />

nach der Wahrheit forscht, oder ob man<br />

Machiavelli, Schopenhauer und Marx<br />

usw. folgt und den für den eigenen<br />

Nutzen aussichtsreichsten Weg wählt.<br />

Vorteilhaft ist es jedenfalls, beide Wege<br />

zu kennen, um in jedem Einzelfall wählen<br />

zu können.<br />

Anregungen mag die kleine Sammlung<br />

„Zitate zu Ethik und Wirtschaft“<br />

(Müller-Merbach 1990) geben.<br />

[6] Müller-Merbach, H.: Zitate zu Ethik<br />

und Wirtschaft, in: technologie &<br />

management, 39. Jg., 1990, H. 4, S.<br />

11 – 12.<br />

[7] Müller-Merbach, H.: Mitmenschen<br />

verstehen, um von ihnen zu lernen<br />

– zwölf Regeln von Sir Karl Popper,<br />

in: technologie & management,<br />

44. Jg., 1995, H. 4, S. 188 – 193.<br />

[8] Müller-Merbach, H.: Das eigene<br />

Leben auf das Leben aller anderen<br />

beziehen – In Erinnerung an Albert<br />

Schweitzer: Bewußt Mensch sein, in:<br />

technologie & management, 45. Jg.,<br />

1996, H. 4, S. 184 – 188.<br />

[9] Popper, K.: Rechte und Pfl ichten<br />

derer, die von ihren Mitmenschen<br />

lernen wollen, in: Aufklärung und<br />

Kritik, 1. Jg., 1994, H. 1, S. 119.<br />

[10] Schopenhauer, A.: Eristische Dialektik<br />

oder Die Kunst, Recht zu behalten,<br />

Zürich: Haff mans 1989.<br />

[11] Schweitzer, A.: Worte über das<br />

Leben (Sammelband). Freiburg/Br.:<br />

Herder 1990.<br />

MANAGEMENT<br />

technologie & management 01/2013 35

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