phzh NDK Migration und Schulerfolg 2002-2004 - ankommen.info
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B.2. Zweitspracherwerb<br />
Inhalt<br />
<strong>phzh</strong> <strong>NDK</strong> <strong>Migration</strong> <strong>und</strong> <strong>Schulerfolg</strong> <strong>2002</strong>-<strong>2004</strong><br />
Projekt- <strong>und</strong> Lerngruppe "<strong>ankommen</strong>"<br />
1.Einleitung Seite B.2.1<br />
1.1.Definition Erst-, Zweit- <strong>und</strong> Fremdsprache Seite B.2.2<br />
1.1.1. Erstsprache Seite B.2.2<br />
1.1.2 Zweitsprache Seite B.2.2<br />
1.1.3. Fremdsprache Seite B.2.2<br />
2. Spracherwerb Seite B.2.3<br />
2.1. Erstspracherwerb Seite B.2.3<br />
2.2. Zweitspracherwerb Seite B.2.3<br />
2.2.1. Die Interdependenzhypothese Seite B.2.4<br />
2.2.2 Die Schwellenhypothese Seite B.2.6<br />
2.2.3 Identitätshypothese Seite B.2.7<br />
2.2.4. Zweitspracherwerb u. d. Bedingungen der Diglossie Seite B.2.9<br />
2.2.5. Fazit Seite B.2.10<br />
3. Konsequenzen für den Unterricht Seite B.2.11<br />
Quellenverzeichnis Seite B.2.12<br />
1. Einleitung<br />
Zwei- <strong>und</strong> Mehrsprachigkeit ist ein Phänomen, das bei ganzen Gesellschaften, wie auch bei<br />
einzelnen Gruppen <strong>und</strong> Individuen beobachtet werden kann. Bei uns in der Schweiz ist die<br />
Thematik aufgr<strong>und</strong> der vier Landessprachen seit je her aktuell. Allerdings sind diese Sprachregionen<br />
klar abgegrenzt, so dass von allen Gesellschaftsmitgliedern der jeweiligen Sprachregion<br />
die Verwendung der entsprechenden Sprache erwartet wird.<br />
Die Gründe, eine zweite Sprache zu erwerben, sind mannigfaltig. Hier soll aber nun der Fokus<br />
auf den Zweitspracherwerb unserer Migrantenkinder gesetzt werden.<br />
Die Mehrheit der ausländischen Kinder in der Schweiz unterscheidet sich von der Mehrheit der<br />
Schweizer Kinder durch die Tatsache ihrer Zweisprachigkeit. Die zweite Sprache ist die „von<br />
der Erstsprache sich in Lautung, Form <strong>und</strong> Syntax klar unterscheidende Sprache, die das<br />
Migrantenkind nach dem Erwerb der Erstsprache erwirbt“ (Müller 1995, S. 155) <strong>und</strong> die im Einwanderungsland<br />
hauptsächlich gesprochen wird.<br />
Es handelt sich dabei aber nicht um eine „natürliche“ Zweisprachigkeit, die im Kontext einer<br />
Familie erworben wird, sondern um eine, die unter dem Zwang der Lebenssituation gelernt<br />
werden muss. Charakteristisch dafür ist auch die Aufteilung des Sprachgebrauchs in unterschiedliche<br />
Bereiche. Die Erstsprache wird in der Regel im affektiv-emotionalen Rahmen von<br />
Familie <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en verwendet, während die Zweitsprache mehr im öffentlichen Rahmen<br />
wie Schule, Einkauf <strong>und</strong> Behörden angewandt wird. Eine Verbindung dieser Bereiche findet<br />
selten statt. Die Kinder werden damit in zwei Sprachen sozialisiert, aber für ihr schulisches Fortkommen<br />
ist lediglich die Zweitsprache massgeblich. Zudem steht ihnen zum Erwerb der Zweitsprache<br />
(Deutsch) eine viel geringere Lernzeit zur Verfügung als ihren deutschsprachigen Altersgenossen.<br />
Weder in der einen noch in der anderen Sprache durchlaufen die Kinder eine<br />
altersentsprechende Entwicklung.<br />
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Projekt- <strong>und</strong> Lerngruppe "<strong>ankommen</strong>"<br />
1.1. Definition Erst-, Zweit- <strong>und</strong> Fremdsprache<br />
Die Begriffe Erst-, Zweit- <strong>und</strong> Fremdsprache bezeichnen in erster Linie unterschiedliche Funktionen<br />
einer Sprache für eine bestimmte Person. Da die Begriffe in der Umgangssprache zum<br />
Teil unterschiedliche verwendet werden, ist eine Präzisierung notwendig.<br />
1.1.1. Erstsprache<br />
Die Erstsprache ist in der Regel die Sprache der Eltern, die ein Mensch nach seiner<br />
Geburt lernt. Sprechen die beiden Elternteile zwei verschiedene Sprachen mit dem<br />
Kind, dann wächst das Kind mit zwei Erstsprachen auf. Umgangssprachlich wird die<br />
Erstsprache auch Muttersprache genannt, in der Annahme, dass diese vor allem<br />
durch die Mutter vermittelt wird.<br />
Um Erstspracherwerb (ESE) handelt es sich, wenn der Lerner – in der Regel ein Kind –<br />
zuvor noch keine Sprache erworben hat. Der ESE geht Hand in Hand mit der sozialen<br />
<strong>und</strong> kognitiven Entwicklung des Kindes <strong>und</strong> wird im Familienkreis erworben. Die Erstsprache<br />
ist eine Lernsprache (L1), weil das Kind in dieser Sprache seine Umwelt kennen<br />
<strong>und</strong> erfahren lernt. Diese Funktionen sind gr<strong>und</strong>legend für die affektive <strong>und</strong> geistige<br />
Entwicklung des Kindes. Normalerweise hat ein Kind im Gr<strong>und</strong>schulalter beim<br />
Spracherwerb ein Niveau erreicht, das ihm ermöglicht, sich fliessend zu verständigen.<br />
Die Bedeutung des ESE betont Wolfgang Klein folgendermassen: „Er ist der erste, <strong>und</strong><br />
er ist in aller Regel der Wichtigste“ (Klein 1992, S. 15). Und Gesa Siebert-Ott bemerkte<br />
im Rahmen eines Vortrages: „Der Spracherwerb kleiner Kinder ist eine der bemerkenswertesten<br />
Leistungen des Menschen“ (Siebert, 2001).<br />
Deutschschweizer Kinder erwerben die Erstsprache in Form eines alemannischen Dialektes.<br />
Die Standardsprache wird in der Regel im Vorschulalter durch Medien <strong>und</strong> im<br />
Schulalter vor allem im Schulunterricht vermittelt.<br />
1.1.2. Zweitsprache<br />
Viele lernen aber nicht nur eine Sprache sondern zwei oder mehr. Zweitspracherwerb<br />
ist die Aneignung einer weiteren Sprache nach dem ESE. Eine Zweitsprache wird natürlich<br />
aufgr<strong>und</strong> sozialer Kontakte <strong>und</strong> im gesellschaftlichen Umfeld, sowie auch im institutionalisierten<br />
Rahmen wie in der Schule erworben. Es handelt sich – im Gegensatz<br />
zur Fremdsprache - um die Sprache, die in der jeweiligen Gesellschaft gesprochen<br />
wird. In der Deutschschweiz erwerben Kinder aus anderssprachigen Familien, die im<br />
Schulalter in die Schweiz kommen, in der Regel zuerst die Standardsprache in der<br />
Schule. Die Dialektsprache wird eher natürlich im sozialen Umfeld erworben.<br />
Die Zweitsprache ist wie die Erstsprache eine Sozialisations- <strong>und</strong> Affektsprache <strong>und</strong><br />
wird für die Kinder sehr schnell zur Lernsprache (L2).<br />
1.1.3. Fremdsprache<br />
Fremdsprachen sind diejenigen Sprachen, die ausschliesslich in der Schule gelernt<br />
werden, um mit Angehörigen aus <strong>und</strong> in anderen Sprachregionen kommunizieren<br />
oder fremdsprachige Texte lesen zu können. Diese Sprachen lernt man sozusagen<br />
„auf Vorrat“ (Nodari/Neugebauer, <strong>2002</strong>), um sie in der entsprechenden Situation anwenden<br />
zu können. Fremdsprachen haben keine affektiv-soziale Aufgabe <strong>und</strong> sind in<br />
der Regel auch keine Lernsprachen. Für diese Arbeit sind die Fremdsprachen nicht<br />
von Bedeutung <strong>und</strong> werden nicht mehr weiter betrachtet.<br />
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2. Spracherwerb<br />
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Projekt- <strong>und</strong> Lerngruppe "<strong>ankommen</strong>"<br />
Die Vermutungen über den Erwerb einer Sprache sind zahlreich. Hier sollen die Theorien des<br />
ESE nur kurz gestreift <strong>und</strong> der Fokus vor allem auf den Zweitspracherwerb gesetzt werden.<br />
2.1. Erstspracherwerb<br />
Die Imitationstheorie geht davon aus, dass das Kind durch Nachsprechen von Gehörtem<br />
zur Sprache kommt. Die Imitationstheorie aus dem Behaviorismus wird schon dadurch widerlegt,<br />
dass auch taube Kinder plappern. Zimmer widerlegt diese Theorie der Imitation<br />
mit dem Argument, dass der Output reicher ist als der Input: „Aber eines der hervorstechendsten<br />
Merkmale der menschlichen Sprache ist gerade, dass sie ständig Aussagen<br />
bildet, die noch nie jemand hervorgebracht hat <strong>und</strong> damit auch nicht durch Imitation<br />
erworben werden konnte“ (Zimmer 1986, S. 12). Der navistische Standpunkt geht davon<br />
aus, dass dem Menschen die grammatikalischen Gr<strong>und</strong>regeln angeboren seien <strong>und</strong> andere<br />
Theorien wiederum vertreten die Meinung, dass dem Kind eine „Handvoll Arbeitsprinzipien“<br />
(ebd. S. 16) angeboren seien, die es zur Analyse der gehörten Sprache ermächtigen.<br />
Wie nun diese Vorgaben auch sind, die das Kind zur Grammatik seiner Muttersprache führen,<br />
so ist die Wissenschaft heute davon überzeugt, dass es „ohne genetisches Wissen völlig<br />
unvorstellbar“ (ebd. S. 17) ist. Einig ist sich die Wissenschaft heute auch darüber, dass<br />
der Spracherwerb „in bestimmten Stadien, die gesetzmässig aufeinander folgen <strong>und</strong> anscheinend<br />
für alle Kinder der Welt die gleichen sind, ...“ (ebd. S. 20) erfolgt <strong>und</strong> damit<br />
nicht vom Zufall geleitet ist. Der ESE verläuft weitgehend unreflektiert <strong>und</strong> lässt sich offenbar<br />
weder beschleunigen noch verhindern. Er ist „so gut wie immun gegen erzieherische<br />
Anstrengungen <strong>und</strong> Nachlässigkeiten“ (ebd., S. 21).<br />
Entscheidend für den Spracherwerb ist die sprachliche Interaktion. Das Kind lernt neue<br />
Begriffe dadurch, dass es sie anwendet. Sprache wird gelernt, indem das Kind viel Sprache<br />
hört <strong>und</strong> spricht. „Sprache erwirbt man, indem man sie selber hervorbringt. (......).<br />
Denn nur die Sprache, die einer hervorbringt, kann in seinen Besitz übergehen“ (ebd. S.<br />
23).<br />
2.2. Zweitspracherwerb<br />
In der früheren Zweisprachigkeitsforschung wurde Bilingualität als etwas Unnatürliches <strong>und</strong><br />
für die Entwicklung des Kindes Schädigendes betrachtet. Es wurde befürchtet, dass die<br />
Sozialisation in zwei Sprachen zu Identitätskrisen führe, <strong>und</strong> dass das Lernen von zwei<br />
Sprachen negative Auswirkungen auf die Schulsprache habe. Heute wird nun weniger<br />
der negative Einfluss auf die Identitätsbildung des Kindes befürchtet, als die Möglichkeit,<br />
dass viele „Fehler im grammatikalischen, lexikalischen <strong>und</strong> phonologischen Bereich“ (Müller<br />
1995a, S. 156/157) in der Zweitsprache auf die Erstsprache zurückzuführen sind.<br />
Laut den Ergebnissen der Interferenzforschung ist aber der negative Transfer von der Erst-<br />
auf die Zweitsprache weit geringer, als früher angenommen wurde. Die Bef<strong>und</strong>e der meisten<br />
Studien besagen, dass der kleinste Teil der Fehler durch Interferenzen bedingt ist. Fehler<br />
durch Interferenzen sind gemäss den Studien nur in der Anfangsphase des Zweitspracherwerbes<br />
hoch, nehmen mit dem Fortschreiten aber sehr stark ab. „So konnte<br />
nachgewiesen werden, dass nach vier bis sechs Monaten des Spracherwerbs nur noch<br />
ca. 4 – 6% aller Fehler in der Verwendung der Zielsprache auf Interferenzerscheinungen<br />
zurückzuführen sind“ (Ulrich Steinmüller).<br />
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Projekt- <strong>und</strong> Lerngruppe "<strong>ankommen</strong>"<br />
Müller betont, dass die Gr<strong>und</strong>problematik darin liege, dass der Erstsprache keine eigenständige<br />
Bedeutung zugewiesen werde. So wie die Frage nach einem Transfer von der<br />
Erst- auf die Zweitsprache gestellt wird, zeigt, dass der Erstsprache von der Seite der Schule<br />
eher eine störende, im besten Fall höchstens eine unterstützende, sek<strong>und</strong>äre Funktion<br />
zugeschrieben wird. „Man hat zwar nichts gegen die Erstsprache der Ausländerkinder,<br />
misst ihr aber auch keine oder bestenfalls eine sek<strong>und</strong>äre Bedeutung bei“ (Müller 1995a,<br />
S. 160).<br />
Welchen Einfluss auf den <strong>Schulerfolg</strong> hat nun die Zweisprachigkeit, <strong>und</strong> welches sind die<br />
Funktionen der Erstsprache für die sprachliche Entwicklung eines Kindes? Aufgr<strong>und</strong> von<br />
vielfältigen Untersuchungen kann man die Frage nach den Folgen einer möglichen Missachtung<br />
der Muttersprache recht eindeutig beantworten: „Die Vernachlässigung der<br />
Muttersprache wirkt sich in negativer Art <strong>und</strong> Weise auf die Niveaus in der Muttersprache<br />
(L1) <strong>und</strong> der Zweitsprache (L2), die gleichzeitig die Schulsprache ist, auf die Lese- <strong>und</strong><br />
Schreibfähigkeit <strong>und</strong> auf die allgemeine schulische Leistungsfähigkeit aus, <strong>und</strong> dies im<br />
Vergleich mit den Leistungen der Gleichaltrigen im Heimatland <strong>und</strong> der Gleichaltrigen im<br />
Gastland“ (ebd. S. 161). Ausserdem sind die negativen Folgen umso ausgeprägter, wenn<br />
• das Kind einer Minorität angehört, deren Sprache in der Mehrheitsgesellschaft<br />
wenig oder kein Prestige besitzt, nicht beachtet oder diskriminiert wird<br />
• das Kind einer niederen sozialen Schicht angehört <strong>und</strong> weniger Unterstützung<br />
beim schulischen Lernen erhält <strong>und</strong><br />
• die Erstsprache in Kindergarten <strong>und</strong> Schule in hohem Masse vernachlässigt wird<br />
(Baur/Meder 1989, nach Müller 1995a, S. 161).<br />
Im Folgenden wenden wir uns drei Erklärungsansätzen zur Bedeutung der Erstsprache für<br />
den Zweitspracherwerb zu: der Interdependenzhypothese, der Schwellenhypothese <strong>und</strong><br />
der Identitätshypothese.<br />
2.2.1. Die Interdependenzhypothese<br />
Die Interdependenzhypothese sieht eine enge Abhängigkeit von Erst- <strong>und</strong><br />
Zweitsprache <strong>und</strong> plädiert für eine Verzahnung von Erst- <strong>und</strong> Zweispracherwerb.<br />
Die Bilingualismusforschung hat gezeigt, dass der Erfolg im Zweitspracherwerb<br />
unter anderem vom Niveau der Erstsprache abhängig ist. „Bei der Entwicklung<br />
der Erstsprache wird eine Sprachkompetenz herausgebildet, die als<br />
Gr<strong>und</strong>lage für die Entwicklung der Zweitsprache anzusehen ist“(ebd. S. 160).<br />
Man ist sich heute darüber einig, dass sich gut entwickelte Erstsprachengr<strong>und</strong>lagen<br />
günstig auf die Zweitsprachentwicklung auswirken. Und umgekehrt: „Eine<br />
niedrige Entwicklung der Erstsprache ist eine denkbar schlechte Voraussetzung<br />
für den Erfolg der Zweitsprache“ (Cummins 1979, nach Müller 1995a, S.<br />
163). Die Interdependenzhypothese postuliert demzufolge, dass die Förderung<br />
der Erstsprache auch im Hinblick auf den Erwerb der Zweitsprache <strong>und</strong> den<br />
damit zusammenhängenden allgemeinen <strong>Schulerfolg</strong> sinnvoll ist.<br />
Nun sind bei den meisten Migrantenkindern sehr wohl alltägliche kommunikative<br />
Fähigkeiten in der Zweitsprache vorhanden. Dies genügt aber laut Cummins<br />
(1981, nach Müller 1995a) nicht, um den Anforderungen in der Schule zu<br />
genügen. Um die Schule erfolgreich zu durchlaufen, werden sprachliche Fä-<br />
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higkeiten benötigt, mit denen an sachbezogenen Diskursen in formelleren Kontexten<br />
teilgenommen werden kann. „Fachkommunikation, also auch Unterrichtsgespräche,<br />
sind eine Form kontextreduzierter Kommunikation, die erhöhte<br />
sprachliche <strong>und</strong> kognitive Anforderungen stellt“ (Siebert-Ott 2001, S. 33). Zusätzlich<br />
zu den gr<strong>und</strong>legenden Kommunikationsfertigkeiten (basic interpersonal<br />
communicative skills, BICS) muss das Kind deshalb auch kognitivschulbezogene<br />
Sprachfähigkeiten (cognitive-academic language proficiency,<br />
CALP) ausbilden. CALP spielt für den <strong>Schulerfolg</strong> eine Schlüsselrolle, denn die<br />
zentralen schulischen Lerninhalte verlangen vor allem CALP-bezogene Fähigkeiten<br />
wie beispielsweise das Verstehen von komplexen Sachverhalten <strong>und</strong><br />
Abstraktem, das Erkennen von kausalen Zusammenhängen <strong>und</strong> das Verstehen<br />
von schwierigen Texten (Neugebauer/Nodari 1999).<br />
Anhand verschiedener empirischer Untersuchungen konnte eine deutliche Korrelation<br />
zwischen Erst- <strong>und</strong> Zweitsprache festgestellt werden. „Eine deutliche<br />
Korrelation zum <strong>Schulerfolg</strong> sehen wir (...) bei den schriftsprachlichen Leistungen<br />
der Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler in der Muttersprache. Alle Kinder, die in den<br />
ersten Klassen frühzeitig eigene Texte in der Muttersprache schreiben <strong>und</strong> die<br />
im zweiten Schuljahr Geschichten <strong>und</strong> Briefe aus eigener Motivation produzieren,<br />
die gern <strong>und</strong> mit Interesse muttersprachliche Texte <strong>und</strong> Bücher lesen <strong>und</strong><br />
nacherzählen, erreichen Real- <strong>und</strong> Gymnasialempfehlungen, unabhängig von<br />
ihren Deutschkenntnissen bei Schulbeginn“ (Harnisch/Fromeyer 1993, S. 34).<br />
Die Interdependenzhypothese kann nun also dahingehend differenziert werden,<br />
dass zwischen der Erst- <strong>und</strong> der Zweitsprache nicht nur bei den gr<strong>und</strong>legenden<br />
kommunikativen Fähigkeiten eine Interdependenz besteht, sondern<br />
auch bei den schulisch-kognitiven Kompetenzen. Für den <strong>Schulerfolg</strong> bedeutet<br />
dies, dass dafür die BICS nicht ausreichend sind, die entscheidende Variable<br />
stellt die CALP dar. Wer also in seiner oder ihrer Erstsprache keine CALP erworben<br />
hat, wird sie mit grösster Wahrscheinlichkeit auch in der Zweitsprache nicht<br />
erwerben <strong>und</strong> in der Schule versagen. Mit der Interdependenzhypothese liesse<br />
sich so auch erklären, weshalb auch ausländische Schüler der zweiten Generation<br />
in schulischen Belangen immer noch deutlich schlechter abschneiden<br />
als Schweizer Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen. Sie haben zwar in der Erstsprache ein<br />
ausreichendes Mass an BICS entwickeln können, aber zur Ausbildung für die<br />
schulrelevante CALP fehlten die Voraussetzungen.<br />
Bei den CALP-bezogenen Fähigkeiten handelt es sich um transferfähiges<br />
sprachliches Wissen. Wie Neugebauer <strong>und</strong> Nodari (1999) feststellen, sind Fähigkeiten<br />
wie Geschichten zusammenfassen, Vorträge vorbereiten, Aufsätze strukturieren,<br />
komplexe Sachtexte verstehen etc. sprachübergreifend <strong>und</strong> müssen,<br />
egal in welcher Sprache, nur einmal gelernt werden. Dies setzt aber voraus,<br />
dass sie überhaupt einmal gelernt worden sind. Und genau dafür bringen viele<br />
fremdsprachige Kinder denkbar ungünstige Voraussetzungen mit. Wenn nämlich<br />
keine altersgemässe Entwicklung der BICS in der Zweitsprache vorhanden<br />
ist, ist der schulische Input für diese Schüler oft schlichtweg unverständlich, weil<br />
CALP nicht über eine Sprache vermittelt werden kann, die nur ungenügend<br />
verstanden wird. Und wenn die Familie durch entsprechende Anregungen via<br />
Erstsprache nicht kompensieren kann, muss mit Verzögerungen in der kindlichen<br />
Entwicklung gerechnet werden. Neugebauer <strong>und</strong> Nodari kritisieren denn<br />
auch, dass CALP an den Schweizer Schulen nicht systematisch aufgebaut,<br />
sondern eher vorausgesetzt wird. Dies trifft wohl zu für Kinder aus bildungsnahen<br />
Familien, während diejenigen aus bildungsfernen Familien benachteiligt<br />
werden.<br />
12.01.<strong>2004</strong> B.2. Seite - 5 - www.<strong>ankommen</strong>.<strong>info</strong><br />
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Bei Kindern, welche die alltägliche Kommunikation in der Zweitsprache gut<br />
beherrschen, ist es möglich, CALP direkt über die Zweitsprache zu vermitteln.<br />
Einmal erworben, sollten sie – bei schulischer Förderung der Erstsprache – auf<br />
die Erstsprache transferierbar sein.<br />
Aus diesen Überlegungen heraus ist somit die Schlussfolgerung zu ziehen, dass<br />
für (v. a. neuzugezogene) Kinder mit ungenügender Zweitsprachbeherrschung<br />
erstsprachlicher Unterricht für den schulischen Erfolg unabdingbar ist, da nur<br />
über die Erstsprache die kognitiv-schulbezogenen Fähigkeiten, die untrennbar<br />
mit dem <strong>Schulerfolg</strong> verknüpft sind, erworben werden können.<br />
Bei Schülern <strong>und</strong> Schülerinnen mit <strong>Migration</strong>shintergr<strong>und</strong> stellt sich oft das Problem,<br />
dass sich „Lehrer <strong>und</strong> Lehrerinnen in ihrem Urteil über die in der Zweitsprache<br />
entwickelten Fähigkeiten häufig durch die gute mündliche Kommunikationsfähigkeit<br />
ihrer Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen täuschen (lassen) <strong>und</strong> (...) bei der<br />
Vermittlung des Lernstoffes nicht ausreichend (berücksichtigen), dass sie<br />
(auch) Zweitsprachlerner unterrichten“ (Siebert-Ott 2001, S. 34). Kinder lernen<br />
die alltägliche Umgangssprache ausserordentlich schnell, was aber nicht bedeutet,<br />
dass auch das Erlernen der kognitiv-schulbezogenen Sprache auf diesem<br />
Wege <strong>und</strong> quasi automatisch erfolgt. Hier würde der Wissenserwerb durch<br />
erstsprachlichen Unterricht zwei Funktionen erfüllen: Erstens würde er den<br />
Schulstoff, der in der Zweitsprache vermittelt wird, verstehbar machen <strong>und</strong><br />
zweitens würde er die kontinuierliche kognitive Förderung von Migrantenkindern<br />
garantieren.<br />
Diese Überlegungen deuten darauf hin, dass für das Erlernen einer Zweitsprache<br />
der Entwicklungsstand der Erstsprache von Bedeutung ist, <strong>und</strong> genau diesen<br />
Aspekt greift die Schwellenhypothese auf.<br />
2.2.2. Die Schwellenhypothese<br />
Die Schwellenhypothese beruht auf einer empirischen Studie der UNESCO über<br />
den Bilingualismus von finnischen Migrantenkindern in Schweden aus dem Jahre<br />
1977. Dabei stellte sich heraus, dass die Gefahr des „Semilingualismus“, also<br />
der ungenügenden Beherrschung beider Sprachen, am grössten war, wenn<br />
die Kinder bei Schulbeginn eingewandert waren. Die vor Schulbeginn eingewanderten<br />
oder in Schweden geborenen Kinder befanden sich in einer besseren<br />
Position, obwohl ihre Sprachentwicklung wegen ihren bescheidenen<br />
Kenntnissen in der Muttersprache verzögert war. Am besten waren jedoch die<br />
Voraussetzungen für diejenigen Schüler im Alter von etwa 12 Jahren, welche<br />
ihre Fähigkeiten in der Erstsprache bereits bis zum abstrakten Niveau entwickelt<br />
hatten. Damit wird angedeutet, dass in der Sprachentwicklung verschiedene<br />
Stufen zu durchlaufen sind.<br />
Ein kritischer Punkt ist demzufolge dann erreicht, wenn in der Erstsprache zwar<br />
gr<strong>und</strong>legende Kommunikationsfertigkeiten (BICS) erworben wurden, aber<br />
noch keine kognitiv-schulbezogenen (CALP). Im Falle einer Emigration zu diesem<br />
Zeitpunkt, oder allgemeiner formuliert, im Falle der Notwendigkeit des Erlernens<br />
einer Zweitsprache, muss diese zeitgleich mit den kognitivschulbezogenen<br />
Fähigkeiten erworben werden, was rasch zu Überforderung<br />
<strong>und</strong> „relativ schweren Beeinträchtigungen der Erst- <strong>und</strong> Zweitsprache <strong>und</strong> einem<br />
niedrigen schulischen Erfolg allgemein“(Müller 1995a, S. 169) führen kann.<br />
Eine erste Schwelle hingegen ist erreicht, wenn in der Erstsprache nicht nur die<br />
12.01.<strong>2004</strong> B.2. Seite - 6 - www.<strong>ankommen</strong>.<strong>info</strong><br />
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BICS, sondern auch ein Mindestmass an CALP ausgebildet wurde, welches<br />
dann aufgr<strong>und</strong> der Interdependenz auf die Zweitsprache übertragen werden<br />
kann.<br />
Gemäss der Schwellenhypothese sind also diejenigen Migrantenkinder am<br />
meisten gefährdet, die im Kindergarten- oder im Unterstufenalter (1.-3. Klasse)<br />
neu zugezogen sind; diejenigen, die zwar hier aufgewachsen sind, dies aber<br />
relativ isoliert, sowie Kinder, die in der Zweitsprache zwar relativ gut kommunizieren<br />
können, von zu Hause aber mit wenig Hilfe beim Aufbau von CALP-<br />
Fähigkeiten rechnen können. Erschwerend kommt dazu, dass in der deutschen<br />
Schweiz M<strong>und</strong>art gesprochen wird, die schulsprachlichen Fähigkeiten aber in<br />
der Deutschen Standardsprache aufgebaut werden müssen.<br />
Hier stellt sich nun die Frage, ob Defizite, die während der Sprachentwicklung<br />
aufgr<strong>und</strong> mangelnder Förderung <strong>und</strong>/oder wenig Anregung aus der Umwelt<br />
entstehen, überhaupt jemals kompensiert werden können. Eine interessante<br />
Antwort liefert hier eine Studie über gehörlose Kinder aus Amerika. Die Studie<br />
kommt zum Ergebnis, dass Kinder, die die Zeichensprache erst im Schulalter<br />
lernen gegenüber denjenigen, die bereits von Geburt an damit in Berührung<br />
kommen, wesentliche sprachliche Defizite aufweisen. Als Konsequenz wird eine<br />
frühsprachliche Förderung vor allem für Kinder aus einem sprach- <strong>und</strong> anregungsarmen<br />
Umfeld gefordert.<br />
Die Theorie, dass die Sprachentwicklung verschiedene Stufen durchläuft, wird<br />
auch von der Identitätshypothese unterstützt.<br />
2.2.3. Identitätshypothese<br />
Die Identitätshypothese besagt, dass es für den Spracherwerb nicht relevant<br />
ist, ob es sich um eine Erst- oder Zweitsprache handelt. Die Sprache wird<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich nicht in willkürlicher Reihenfolge sondern in systematischen Schritten<br />
erworben. Pienemann führte dazu 1981 eine Längsschnittstudie an italienischen<br />
Mädchen durch, um die Stadien des Deutscherwerbs zu ermitteln. Daraus<br />
ergab sich, dass sich die Lerneräusserungen zum einen in einem Teil zwar<br />
stark unterschieden, während sie sich aber in der Wortstellung systematisch<br />
<strong>und</strong> parallel entwickelten. (Griessehaber). In einer weiteren Studie von 1986<br />
zeigt Pienemann auf, dass lediglich die unterrichteten Instruktionen der nächsten<br />
Erwerbsstufe Erfolge erzielten, während Instruktionen weiter entfernter Stufen<br />
keine Erfolge zeitigten, bzw. Störungen im Erwerbsprozess brachten.<br />
In der Studie von Erika Diehl <strong>und</strong> Helen Christen aus dem Jahr 2000 geht es um<br />
den Erwerb der deutschen Grammatik im Fremdsprachenunterricht. Untersuchungsgegenstand<br />
sind schriftliche Arbeiten von frankophonen Schülern an<br />
Genfer Schulen von der 4. Primarschulklasse bis zur Maturität. Die Ergebnisse<br />
zeigen, dass der Erwerb der Verbalflexion, der Satzmodelle <strong>und</strong> des Kasussystems<br />
bei allen Lernern in jeweils festen Phasenfolgen verläuft, die sich nicht mit<br />
der schulischen Grammatikprogression decken.<br />
„Das heisst nicht anderes, als dass sich die im natürlichen Erwerbsprozess ermittelten<br />
Erwerbsstufen auch im Unterricht gegen die jahrelang vermittelte<br />
Grammatik durchsetzt.“ (Griessehaber). Für den Unterricht bedeutet dies, dass<br />
der schulische Deutschunterricht nur erfolgreich sein kann, wenn er sich an den<br />
natürlichen Spracherwerbsphasen orientiert.<br />
12.01.<strong>2004</strong> B.2. Seite - 7 - www.<strong>ankommen</strong>.<strong>info</strong><br />
Zweitspracherwerb re
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Projekt- <strong>und</strong> Lerngruppe "<strong>ankommen</strong>"<br />
Spracherwerbsstände nach Altersstufen nach Diehl u.a. 2000<br />
VERB Phase I Phase II Phase III Phase IV Phase V<br />
Präkonjugal<br />
PRÄS MOD + INF AUX + PART PRÀT<br />
Primarschule <br />
<br />
Sek. I <br />
Matura <br />
(A) Erwerbsstand nach Altersstufen im Verbalbereich<br />
SATZ Phase I Phase II Phase III Phase IV Phase V<br />
HS: S + V Koord. HS DIST NS INV : X-V-S<br />
Primarschule <br />
<br />
Sek. I <br />
Matura <br />
(B) Erwerbsstand nach Altersstufen im Satzmodelle<br />
MORPH I I / II II II / III III III / IV IV<br />
1- Kasus: 1- Kas.<br />
2-Kas.<br />
3-Kas. N+A+D<br />
N<br />
bel.<br />
N+O<br />
Primarschule <br />
<br />
<br />
Sek. I <br />
Matura <br />
(C) Erwerbsstand nach Altersstufen im Kasusmorphologie<br />
Die Übersichten zeigen, dass im Bereich der Kasusmorphologie die geringsten<br />
Fortschritte erzielt werden. Selbst die Maturanden kommen kaum über das 2-<br />
Kasus-Modell hinaus. Auch im Verbalbereich erreichen nur etwa zwei Drittel<br />
der Maturanden die fünfte Stufe, obwohl die Autorinnen betonen, dass die<br />
ermittelten Erwerbsstände das Ergebnis eines Deutschunterrichts sind, in welchem<br />
grossen Wert auf Grammatikunterweisung <strong>und</strong> –übung gelegt worden<br />
ist.<br />
Die Schweizer Autorinnen plädieren denn auch, dass der Erwerb der Zweitsprache<br />
differenziert auf der Basis des jeweils erreichten Standes erfolgen muss.<br />
Aufgr<strong>und</strong> der Erkenntnisse aus der Untersuchung, dass nur wenige Schüler die<br />
oberste Erwerbsstufe überhaupt erreichen, regen sie an, die Grammatikerklärungen<br />
auf einfache Regeln zu beschränken <strong>und</strong> den Grammatikstoff nicht um<br />
jeden Preis durchzuziehen.<br />
Die Erkenntnisse aus der Zweitspracherwerbsforschung im Unterricht erfordern<br />
einen neuen Blick auf die Äusserungen der Lernenden. Vor allem sollte die Bewertung<br />
weniger auf die Fehler ausgerichtet werden als vielmehr auf die jeweils<br />
erreichte Erwerbsphase der Schüler. So betonen denn auch Nodari/Neugebauer,<br />
dass die Lernenden Fehler machen müssen, „...ohne Fehler<br />
findet kein Spracherwerb statt“ (Nodari/Neugebauer, <strong>2002</strong>, S.23). Die Anzahl<br />
der Fehler nimmt nicht zwangsläufig ab. Die Fortschritte im Spracherwerb lassen<br />
sich primär in der Komplexität der mündlichen <strong>und</strong> schriftlichen Äusserungen<br />
feststellen.<br />
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2.2.4. Zweitspracherwerb unter den Bedingungen der Diglossie<br />
Unter schulischer Sprachkompetenz wird in der deutschsprachigen Schweiz<br />
„die Fähigkeit, die Zweitsprache Deutsch in ihrer hochsprachlichen schweizerischen<br />
Variante mündlich <strong>und</strong> schriftlich im schulischen Kontext, <strong>und</strong> zwar in allen<br />
Fächern zu verstehen bzw. alters- <strong>und</strong> stufengemäss zu gebrauchen“<br />
(Neugebauer/Nodari 1999, S. 161) verstanden. Dies bedeutet, dass Migrantenkinder<br />
in der Schweiz die Zweitsprache unter den Bedingungen der Diglossie,<br />
d.h. des funktional getrennten Nebeneinanders von M<strong>und</strong>art <strong>und</strong> Standardsprache<br />
erwerben müssen.<br />
Hochdeutsch ist in der deutschsprachigen Schweiz vorwiegend die Sprache<br />
der Schriftlichkeit, was bedeutet, dass CALP, welche in hohem Masse an<br />
Schriftlichkeit orientiert ist, in der Standardsprache erworben wird. M<strong>und</strong>art ist<br />
die Sprache der Mündlichkeit <strong>und</strong> wird vorwiegend in Alltagssituationen angewandt.<br />
Alle Kinder, auch die schweizerischen, müssen nun mit Beginn der Einschulung<br />
die Standardversion des Deutschen lernen, Selektionsentscheidungen werden<br />
in hohem Masse von den standardsprachlichen CALP-relevanten Fähigkeiten<br />
der Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen abhängig gemacht. Für die meisten Kinder, die<br />
als Erstsprache eine schweizerische M<strong>und</strong>art sprechen, ist es normalerweise<br />
kein Problem, zwischen M<strong>und</strong>art <strong>und</strong> Standardsprache klar zu unterscheiden.<br />
Für die fremdsprachigen Kinder ist nun genau dies, gerade wenn noch eine<br />
ungenügende Beherrschung der M<strong>und</strong>art dazukommt, oft ein Ding der Unmöglichkeit.<br />
„Lernhemmend <strong>und</strong> verwirrend wirkt sich das Mischen von Dialekt<br />
<strong>und</strong> Standardsprache durch wichtige Bezugspersonen (z.B. Klassenlehrkraft,<br />
Förderlehrperson) aus.“ (Neugebauer/Nodari , <strong>2002</strong> S. 15). Oft herrschen in derselben<br />
Schulst<strong>und</strong>e, bei derselben Thematik, fliessende Übergänge zwischen<br />
M<strong>und</strong>art <strong>und</strong> Standardsprache. Es ist eine Tatsache, dass die meisten Schweizer<br />
<strong>und</strong> Schweizerinnen nur sehr ungern Standarddeutsch sprechen – dazu gehören<br />
auch die Lehrer. Da nun aber die kognitiv-akademischen Sprachfähigkeiten<br />
(CALP) in der Standardsprache erworben werden <strong>und</strong> die Standardsprache<br />
auch massgeblich für schulisches Fortkommen ist, wäre es wünschenswert,<br />
dass auf eine strikte Einhaltung der Standardsprache während den<br />
Schulst<strong>und</strong>en geachtet wird. Hiervon würden nicht nur die schweizerischen<br />
Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen profitieren, sondern in besonderem Masse auch die<br />
fremdsprachigen. Nodari/Neugebauer vermuten auch, dass die Motivation<br />
zum Erlernen der Standardsprache schwindet, sobald sich ein Kind im Dialekt<br />
einigermassen sicher ausdrücken kann. „Für den schulischen Erfolg unserer<br />
Zielgruppe <strong>und</strong> damit auch für eine erfolgreiche Integration ist es f<strong>und</strong>amental,<br />
dass die standardsprachlichen Kenntnisse stets weiter entwickelt sind als die<br />
Dialektkenntnisse.“(ebd. S. 15).<br />
Aus der Bilingualismusforschung weiss man, dass eine strikte Sprachtrennung<br />
nach Kontext (z. B. Elternhaus – Schule) für die zweisprachliche Entwicklung eines<br />
Kindes förderlich sein kann. Dies lässt sich übertragen auf den Zweitspracherwerb<br />
unter der Bedingung des gleichzeitigen <strong>und</strong> gleichwertigen Nebeneinanders<br />
von zwei Sprachformen in einer Sprachgemeinschaft. Es sollte für ein<br />
fremdsprachiges Kind durchaus möglich sein, zwischen dem Standarddeutsch,<br />
welches die ausschliessliche Schulsprache ist, <strong>und</strong> der M<strong>und</strong>art, die in <strong>info</strong>rmellen<br />
Kontexten ausserhalb der Schule verwendet wird, auch aktiv zu unterscheiden.<br />
Werden aber, wie in der Deutschschweiz üblich, beide Sprachfor-<br />
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2.2.5. Fazit<br />
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men im schulischen Kontext gleichwertig nebeneinander verwendet, ist diese<br />
Unterscheidung besonders für fremdsprachige Kinder <strong>und</strong> Jugendliche schlicht<br />
unmöglich.<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Wissen über die Prozesse beim<br />
Zweitspracherwerb noch relativ gering ist. Die Erklärungsansätze stimmen zumindest<br />
darin überein, dass es sich beim Zweitspracherwerb um einen komplexen<br />
Vorgang handelt, bei dem der Lerner Hypothesen bildet über die zu erlernende<br />
Sprache, diese überprüft <strong>und</strong> revidiert. Ebenso deutlich zeigt sich, dass<br />
unzählige Faktoren auf den verschiedensten Ebenen den Zweitspracherwerb<br />
beeinflussen. Einig sind sich die Theorien aber darüber, dass die Erstsprache als<br />
Gr<strong>und</strong>lage für den Zweitspracherwerb zu betrachten ist <strong>und</strong> ihn nachhaltig<br />
beeinflusst.<br />
Es muss immer wieder bedacht werden, dass Deutsch für unsere Migrantenkinder<br />
die Zweitsprache ist. Der Unterricht muss auf diese Kinder abgestimmt werden<br />
<strong>und</strong> kann nicht dem für deutschsprachige Kinder entsprechen. Das fehlende<br />
Sprachgefühl muss durch klare <strong>und</strong> einfache Regeln ersetzt werden.<br />
„Zunächst ist festzuhalten, dass die didaktischen Prinzipien der Vermittlung des<br />
Deutschen an nichtdeutsche Schüler sich gr<strong>und</strong>legend von denen unterscheiden,<br />
die für die Vermittlung der deutschen Sprache an deutsche Muttersprachler<br />
bedeutsam sind.“ (Gerhard Weil). Der Deutschunterricht muss demnach<br />
zwischen Erst- <strong>und</strong> Zweitlernern unterscheiden <strong>und</strong> differenziert auf die<br />
jeweiligen Bedürfnisse ausgerichtet werden, was leider nach wie vor häufig<br />
nicht der Fall ist. „Es ist immer wieder zu beobachten, dass DaZ-Kinder durch<br />
eine falsch verstandene ‚Gleichbehandlung’, die die Spezifik ihrer Spracherwerbssituation<br />
<strong>und</strong> ihres Erfahrungshintergr<strong>und</strong>es einfach ausblendet, benachteiligt<br />
werden. Dazu zählt der Einsatz von Verfahren, die für einsprachige Kinder<br />
entwickelt wurden <strong>und</strong> im Blick auf zweitsprachlernende Kinder unreflektiert<br />
übernommen werden“ (H. Rösch, 2001). Lehrkräfte müssen für diese spezielle<br />
Problematik sensibilisiert <strong>und</strong> in den gr<strong>und</strong>legenden Qualifikationen aus- <strong>und</strong><br />
weitergebildet werden.<br />
Der Zweitspracherwerb ist aber wesentlich mehr als nur das Erlernen eines<br />
fremden Regelsystems. Er beinhaltet auch das Hineinwachsen in eine fremde<br />
Sprache, in eine fremde Gesellschaft <strong>und</strong> deren Kultur. Deshalb ist es von<br />
gr<strong>und</strong>legender Bedeutung, wie der Zweitspracherwerb unserer Migrantenkinder<br />
optimiert werden kann.<br />
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3. Konsequenzen für den Unterricht<br />
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Unter Berücksichtigung der Forschungsergebnisse zum Zweitspracherwerb können ganz klare<br />
Forderungen definiert werden. Erfolgreicher Zweitspracherwerb <strong>und</strong> damit <strong>Schulerfolg</strong> für unsere<br />
Migrantenkinder ist nur möglich wenn:<br />
die Erstsprache nicht nur geduldet, sondern gefördert wird (Wertschätzung).<br />
CALP-Fähigkeiten (allenfalls auch in der Erstsprache) systematisch gefördert werden.<br />
Lehrkräfte spezifisch für den Unterricht Deutsch als Zweitsprache ausgebildet werden<br />
im Schulzimmer gr<strong>und</strong>sätzlich Standardsprache gesprochen wird (one person –<br />
one language).<br />
sich das Grammatikprogramm an der natürlichen Phasenfolge des Spracherwerbs<br />
orientiert.<br />
der Grammatikunterricht differenziert auf der Basis des jeweils erreichten Erwerbstandes<br />
erfolgt.<br />
die Grammatikerklärung auf einfache Regeln beschränkt werden (Regeln ersetzen<br />
das Sprachgefühl).<br />
die Bewertung nicht nach Fehlern, sondern an den jeweils erreichten Erwerbsphasen<br />
vorgenommen wird (Fehler sind erlaubt).<br />
die Zweisprachigkeit bei Qualifikationen <strong>und</strong> Selektionen berücksichtigt wird.<br />
HSK-Unterricht <strong>und</strong> -Lehrkräfte in den offiziellen Schulalltag eingeb<strong>und</strong>en werden.<br />
Bis diese Forderungen im Schulalltag zur Selbstverständlichkeit werden, wird noch sehr viel<br />
Überzeugungsarbeit zu leisten sein, nicht nur in Gesellschaft <strong>und</strong> Politik, sondern auch bei<br />
Eltern <strong>und</strong> Lehrkräften.<br />
12.01.<strong>2004</strong> B.2. Seite - 11 - www.<strong>ankommen</strong>.<strong>info</strong><br />
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Quellenverzeichnis:<br />
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Heckendorn-Heinimann, Brigitte: Nordostschweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz<br />
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