Marcus Maeder: Ambient - Blog
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<strong>Ambient</strong><br />
<strong>Marcus</strong> <strong>Maeder</strong><br />
Umwelt<br />
<strong>Ambient</strong>/<strong>Ambient</strong>e bezeichnet in seiner Etymologie das Umgebende,<br />
die Umwelt, ein Milieu von Dingen und Zuständen. Eine moderne und<br />
bis heute maßgebliche Definition des Begriffs »Umwelt« unternahm der<br />
Biologe, Philosoph und Zoologe Jakob von Uexküll bereits vor 100 Jahren<br />
in seinem Buch »Umwelt und Innenwelt der Tiere.« 1 Uexküll gilt als<br />
Vaterfigur der Biosemiotik, eines interdisziplinären Forschungsgebiets,<br />
wo Kommunikation, Zeichen und deren Bedeutungen in lebenden Systemen<br />
untersucht werden. 2 Für Uexküll unterscheidet sich die Umwelt<br />
von der Umgebung dadurch, dass Letztere eine bloße räumliche Nachbarschaft<br />
von Dingen oder Organismen beschreibt, Erstere aber durch<br />
Lebewesen maßgeblich definiert und gestaltet wird. Ein Lebewesen ist<br />
Uexküll zufolge immer auch seine je besondere Umwelt – die Umwelt<br />
eines Tieres spiegelt sich in seiner Innenwelt, Umwelt konstituiert sich<br />
über die Interaktionen des Lebewesens mit ihr. Uexküll weitet später 3<br />
seine holistischen Beschreibungen von Umwelträumen in der Tierwelt<br />
auf die Lebenswelten des Menschen aus und gliedert diese in »Merk-<br />
und Wirkwelten«, welche die Erfahrungs- und Handlungssphären eines<br />
Individuums bis zur »fernsten Ebene« 4 hin gliedern.<br />
Interessant in Uexkülls Bedeutungslehre biologischer Systeme ist<br />
seine Formulierung eines »Erlebnistons« von Umwelterfahrungen: Uexküll<br />
beschreibt in einem musikalischen Vokabular die Bedeutung, die<br />
1 Vgl. Jakob von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin: Verlag Julius<br />
Springer 1909.<br />
2 Biosemiotik beschäftigt sich mit der Repräsentation und der Bedeutung in biologischen<br />
Codes und Zeichenprozessen, so zum Beispiel von Gencodesequenzen<br />
oder interzellulären Signalprozessen, vom Tierverhalten hin zu menschlichen semiotischen<br />
Artefakten wie der Sprache. Vgl. www.biosemiotics.org vom 30. Januar<br />
2010.<br />
3 Vgl. Jakob von Uexküll/Georg Kriszat: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren<br />
und Menschen: Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Hamburg: Rohwolt Verlag<br />
1956.<br />
4 Mit »die fernste Ebene« bezeichnet Uexküll den Wahrnehmungs- (Merkwelt) und<br />
Aktionshorizont (Wirkwelt) eines Organismus.<br />
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<strong>Marcus</strong> <strong>Maeder</strong><br />
Tönung, die Dinge in unserer Erfahrung der Umwelt bekommen, wenn<br />
wir in handelnde Beziehung zu ihnen treten. Sie werden zu Bedeutungsträgern,<br />
die einen der Art der Beziehung, die wir zu ihnen etablieren,<br />
entsprechenden »Ton« haben. Eine Ansammlung von Tönen wird so<br />
zur Melodie, zum Zusammenspiel von Subjekt und Umwelt, Uexküll<br />
spricht von der »Kompositionslehre der Natur: Wie bei der Komposition<br />
eines Duetts die beiden Stimmen Note für Note, Punkt für Punkt<br />
zueinander komponiert sein müssen, so stehen in der Natur die Bedeutungsfaktoren<br />
zu den Bedeutungsverwertern in einem kontrapunktischen<br />
Verhältnis.« 5<br />
Abbildung 1. »Jede Umwelt ist grundsätzlich nur von Bedeutungssymbolen<br />
erfüllt.« 6<br />
Wie sich Umwelt akustisch und klangsemantisch gliedert, hat fast 70<br />
Jahre nach Uexkülls Formulierung des Umweltbegriffs der kanadische<br />
Komponist und Klangforscher Ron Murray Schafer in seinem Konzept<br />
der Soundscape beschrieben. Im Buch »The Soundscape – Our Sonic<br />
Environment and the Tuning of the World« beschreibt Schafer 1976<br />
die uns allzeit umgebenden Gefüge von Geräuschen. Diese haben sich<br />
im Zuge der Industrialisierung dramatisch verändert und sind durch<br />
einen wahren »Sound-Imperialismus« von Flughäfen, Straßen und Fabriken<br />
übertönt worden – Schafer sprach wohl als erster von akustischer<br />
Umweltverschmutzung, die es zu bekämpfen gilt. Zur klanglichen Charakteristik<br />
der Natur ist die der Technik hinzugekommen, sie umgibt<br />
uns allgegenwärtig und ist Bestandteil unserer akustischen Lebenswelt<br />
geworden. Diese besteht längst nicht mehr nur aus Wind, dem Rauschen<br />
eines Flusses, den im Gebüsch zwitschernden Vögeln, sie ist um Maschinen,<br />
Medientechnologien und deren Klänge und Bedeutungen – deren<br />
5 Ebd., S. 131.<br />
6 Jakob von Uexküll: Bedeutungslehre, Leipzig: J. A. Barth 1940.<br />
96
<strong>Ambient</strong><br />
Erlebnistöne – erweitert worden. Schafer ist gleichzeitig Begründer der<br />
Acoustic Ecology, eines Forschungs- und Interventionszusammenhangs,<br />
welcher sich mit der Analyse und dem Erhalt von Klanglandschaften,<br />
Soundscapes, beschäftigt:<br />
»The sounds of the environment have referential meanings. For the Soundscape<br />
researcher they are not merely abstract acoustical events, but must be<br />
investigated as acoustic signs, signals and symbols.« 7<br />
Klänge und die gleichzeitige kognitive Kategorisierung ihrer Bedeutungen<br />
ermöglichen erst das Erkennen der Umwelt:<br />
»We classify information to discover similaritites, contrasts and patterns. Like<br />
all techniques of analysis, this can only be justified if it leads to the improvement<br />
of perception, judgement and invention«. 8<br />
Abbildung 2. Montreal Sound Map, ein aktuelles Beispiel der Kartografie<br />
aufgezeichneter Geräusche in einer Google Map, sogenannter »Audios«.<br />
7 Ron Murray Schafer: The Soundscape – Our Sonic Environment and the Tuning of<br />
the World, Rochester, Vermont: Destiny Books 1977, S. 169.<br />
8 Ebd., S. 133.<br />
97
<strong>Marcus</strong> <strong>Maeder</strong><br />
Im Begriffszusammenhang des Embodiment werden in der Kognitionswissenschaft<br />
und der Künstlichen Intelligenz Wahrnehmung und<br />
Bewusstsein (und somit die Konstitution von Intelligenz) als ein Zusammenspiel<br />
zwischen Umwelt und Körper beschrieben. Mentale Prozesse<br />
und Repräsentationen konstituieren sich aus der Geschichte der Interaktionen<br />
von Körper und Umwelt. Der »welterzeugende« Zusammenhang<br />
zwischen Körper, Kognition und Umwelt ist entscheidend für die folgenden<br />
Darlegungen, wenn wir den Blick auf Aspekte des Embodiment im<br />
Kontext neuzeitlicher Immanenzbestrebungen und -Konzeptionen richten.<br />
Der Fokus ist hier auf musikalische Praktiken gerichtet, die in den<br />
Interrelationen von Körper, Klang, Welt und Bedeutung im Begriffsfeld<br />
von <strong>Ambient</strong> verhandelt werden. <strong>Ambient</strong>-Erfahrungen sind Erfahrungen<br />
der Immersion in symbolischen 9 , zeichenangereicherten Settings/<br />
Räumen, die Immanenz zum Ziel haben: Der Welt innezuwohnen, verstehend<br />
Teil von ihr zu sein und sie über die richtige Interpretation ihrer<br />
Zeichen bewältigen zu können, das affirmierte Marshall McLuhan bereits<br />
in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts: »Das Streben unserer Zeit<br />
nach Ganzheit, Einfühlungsvermögen und Erkenntnistiefe ist eine natürliche<br />
Begleiterscheinung der Technik der Elektrizität«, 10 – und einer<br />
von Medientechnologien geprägten Gegenwart, ist dem 40 Jahre später<br />
anzufügen. Dass Immanenzstreben weit in die Geschichte des Menschen<br />
zurückreicht und dessen Fortbestehen sicherte, zeigen jüngere Erkenntnisse<br />
aus der evolutionären Musikpsychologie und der Biomusikologie. 11<br />
Mimetische Zeremonien<br />
Musik ist in ihrem Ursprung eine Anpassung der menschlichen Kommunikation<br />
an das Leben in größeren sozialen Gruppen. Es existieren<br />
verschiedene Theorien über ihre Entstehungsweise in unserer Frühgeschichte,<br />
so soll sich Musik aus der Sprache entwickelt haben, Sprache<br />
in ihrer emotionalen Verstärkung sein, oder umgekehrt soll die Sprache<br />
aus dem Singen, der musikalischen Gebärde, hervorgegangen sein,<br />
oder Sprache und Musik sich aus einem gemeinsamen Vorläufer entwickelt<br />
haben. Gewiss ist, dass Musik mindestens so alt wie der moderne<br />
Mensch ist. 12 So dient Musik aus der Perspektive der Evolutionsbiologie,<br />
9 Griech. Symbol = etwas Zusammengefügtes.<br />
10 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle/Understanding Media, Dresden: Verlag<br />
der Kunst 1994, S. 18.<br />
11 Vgl. Nils L. Wallin/Björn Merker/Steven Brown (Hg.): The Origins of Music,<br />
Cambridge, Massachusetts/London: MIT Press 2000.<br />
12 Vgl. ebd., S. 10.<br />
98
speziell der Evolutionären Erkenntnistheorie, 13 der sexuellen Werbung<br />
und der elterlichen Fürsorge, fördert Koordination, Zusammenhalt und<br />
Kooperation in sozialen Gruppen, und sie steigert die Überlebenschancen<br />
mittels mimetischer Praktiken – viele dieser Eigenschaften hat sie<br />
bis heute beibehalten.<br />
Zentral hierbei ist das musikalische Verhältnis zwischen Subjekt und<br />
Umwelt: Diese wurde schon in prähistorischen, musikalisch strukturierten<br />
Zeremonien analogistisch, mimetisch und ästhetisch beschworen,<br />
um sie in einem immersiven Setup verstehen und bewältigen zu können.<br />
Dafür gibt es ganz frühe Zeugen, etwa Höhlenmalereien, die zumeist<br />
auch in akustisch wirksamen Räumen von Höhlensystemen angelegt<br />
wurden. Vieles weist auf Bestrebungen hin, möglichst hohe Grade der<br />
Immersion, der Verstärkung einer audio-visuell simulierten Umwelt zu<br />
erzeugen. Hanns-Werner Heister nennt solche Handlungen gemeinsam<br />
mit ihrem Begriffsschöpfer Georg Knepler 14 »Mimetische Zeremonie«:<br />
»Sie ist einer der zentralen gesellschaftlichen Orte, an dem das Ästhetische<br />
konzentriert auftritt. Sie ist damit zugleich historisch-systematisch ein Entstehungsort<br />
der Kunst und sie ist ›Gesamtkunstwerk‹ lange vor der Entstehung<br />
von Einzelkünsten oder gar Kunst im neuzeitlichen Sinn.« 15<br />
Und weiter:<br />
<strong>Ambient</strong><br />
»Der übergreifende Zweck ist, eben als Mimesis, die Darstellung der Realität,<br />
gleichviel ob abstrahierend-stilisierend oder naturalistisch-›nachahmend‹. Sie<br />
existiert im Modus des Imaginär-Realen, eines spezifischen Als-Ob: imaginär,<br />
insofern sich die Aneignung der Wirklichkeit ästhetisch und nicht praktisch<br />
vollzieht, real, insofern diese Wirklichkeit sinnlich-gegenwärtig, fühlbar und<br />
fassbar wird.« 16<br />
Mimetische Zeremonien ziehen sich als roter Faden menschlicher Immersions-<br />
und Immanenzbestrebungen von Ritualen früher Stammeskulturen<br />
(vielerorts klanglich dominiert, denn Erfahrungsräume vieler<br />
13 Konrad Lorenz hat auf die Koevolution von »Natur und Kultur«, auf das Zusammenspiel<br />
genetischer und zivilisatorischer Einflüsse im Erkenntnisvermögen des Menschen<br />
hingewiesen, vgl. hierzu: Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels – Versuch<br />
einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München: dtv 1977, und weiter:<br />
Gerhard Vollmer: Biophilosophie, Stuttgart: Reclam 1995.<br />
14 Vgl. Georg Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode<br />
und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig: Reclam 1982, S. 261f.<br />
15 Hanns-Werner Heister: »Mimetische Zeremonie – Gesamtkunstwerk und alle Sinne.<br />
Aspekte eines Konzepts«, in: Hanns-Werner Heister (Hg.), Mimetische Zeremonien<br />
– Musik als Spiel, Ritual, Kunst, Berlin: Weidler Buchverlag 2007, S. 143.<br />
16 Ebd., S. 143ff.<br />
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<strong>Marcus</strong> <strong>Maeder</strong><br />
historischer Kulturen oder »Naturvölker« strukturieren sich akustisch) 17<br />
bis in die Gegenwart der Medien- und Popkulturen.<br />
Abbildung 3. »Neoschamanismus« im <strong>Ambient</strong>: Performance der Gruppe<br />
Coil in London, 2004.<br />
Das Nachpfeifen der Melodie eines Vogels, welcher an einer bestimmten<br />
Stelle des Waldes singt, das mit Rasseln simulierte Geräusch des<br />
herbeizubeschwörenden Regens in der nahen und fernen menschlichen<br />
Vergangenheit findet heute gewisse Analogien in der <strong>Ambient</strong>kultur<br />
und in der elektronischen, digitalen Musik: <strong>Ambient</strong> kann als Fest 18 der<br />
Aneignung der uns umgebenden Realität, als neuzeitlicher mimetischer<br />
Jagdzauber gesehen werden, der eine alltagsenthobene, multisensorische<br />
und ideale Wirklichkeit herstellt, welche in der Aufführung von elektronischer/digitaler<br />
Musik und der Inszenierung von medialen Räumen<br />
besteht und wo Sequenzen, Muster und Schemata medialer Funktionen<br />
und medialen Handelns 19 »inkorporiert«, das heißt über das Hören und<br />
subjektive Erleben Teil des verkörperten Wissens der Zeremonienteilnehmer<br />
werden. <strong>Ambient</strong> und elektronische/digitale Musik schaffen<br />
17 »In Stammesgemeinschaften dominiert bei der Organisation der Erfahrung die Sinneswelt<br />
des Ohrs, die visuelle Werte verdrängt. Der Gehörsinn ist ganz im Gegensatz<br />
zum distanzierten und neutralen Auge überempfindlich und allumfassend.« M.<br />
McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 136.<br />
18 »[…] alle Künste wie Sinne einschließenden Veranstaltungen des Typus ›Fest‹ samt<br />
seinen historischen und systematischen Ausfächerungen vom Symposion bis zu<br />
Oper und Konzert« H.-W. Heister: Mimetische Zeremonien, S. 12.<br />
19 Mehr dazu im Abschnitt »Rauschen«.<br />
100
<strong>Ambient</strong><br />
transrituell 20 Immanenz in einer hochtechnologisierten und -fragmentierten<br />
Welt; sie betten uns ein in Elektrizität und Kommunikationsflüsse.<br />
Doch um <strong>Ambient</strong> als differenzierte Form einer mimetischen<br />
Zeremonie klassifizieren zu können, ist eine Analyse der Beschaffenheit,<br />
eine Phänomenologie von <strong>Ambient</strong>musik, einschließlich der Orte und<br />
der Räume, wo sie stattfindet, vonnöten.<br />
Zur Ästhetik von <strong>Ambient</strong>musik<br />
Einer Beschreibung von heutiger <strong>Ambient</strong>musik muss vorausgeschickt<br />
werden, dass »<strong>Ambient</strong>« seit der Begriffsschöpfung durch den Musiker<br />
Brian Eno 1976 einen starken Wandel erfahren hat. Der Musikstil<br />
<strong>Ambient</strong> hat sich in einen Rezeptionsrahmen und ein Begriffsgefüge<br />
verwandelt, in welchem elektronische/digitale Musik wie auch bildende<br />
Kunst – das zeigt der diesem Beitrag Folgende von Sabine Gebhardt Fink<br />
auf – konzipiert und rezipiert wird. Was heute im Kontext von <strong>Ambient</strong><br />
produziert wird, unterscheidet sich in einigem von der popkulturellen<br />
Urform der <strong>Ambient</strong>musik, der esoterisch angehauchten »Kosmischen<br />
Musik« 21 der 1970er Jahre. Es haben sich Musikformen herausgebildet,<br />
welche größere Nähe zu Kunstkonzepten denn zur Popmusik oder zur<br />
orchestralen Musik aufweisen. Was heute als <strong>Ambient</strong>musik produziert<br />
wird, bedient sich aus dem reichen Fundus von Strategien der künstlerischen<br />
Avantgarden des 20. Jahrhunderts.<br />
Wird im <strong>Ambient</strong>-Zusammenhang von Medienmusik gesprochen,<br />
dann sind bislang außermusikalisch verwendete Technologien und<br />
Kommunikationsformen in die Herstellung und Kontextualisierung<br />
von Musik involviert. 22 Bei Digitaler Musik handelt es sich meist nicht<br />
um absolute Musik, vor einigen Jahren hat der Labelbetreiber Achim<br />
Szepanski darauf hingewiesen: »dass elektronische Musik immer eine<br />
Vielfalt textueller Fragmente, Sub- und Randtexte, Reviews und Konzeptualisierungen<br />
mit sich führt«. 23 Wenn hier eine Phänomenologie<br />
von Digitaler Musik und <strong>Ambient</strong> versucht werden soll, dann ist der Be-<br />
20 Bezügl. Assoziationen zu Schamanismus im Techno vgl. Peter Matussek: »Berauschende<br />
Geräusche«, in: Andreas Hiepko/Katja Stopka (Hg.), Rauschen – seine Phänomenologie<br />
und Semantik zwischen Sinn und Störung, Würzburg: Königshausen<br />
& Neumann 2001, S. 227f.<br />
21 »Synthesizing traditional folk with Middle European orchestral traditions, improvised<br />
rock, endless keyboard drones and mindaltering drugs.« David Keenan: »Kosmische<br />
music«, in: The Wire 308, Oktober 2009, S. 44.<br />
22 »Elektronische und digitale Musik ist zudem eingeschrieben in die Epochalität des<br />
Technischen, sie ist Medienmusik.« <strong>Marcus</strong> S. Kleiner: »Soundcheck«, in: <strong>Marcus</strong> S.<br />
Kleiner/Achim Szepanski, Soundcultures, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 9.<br />
23 Aram Lintzel: »Der Sound der Transcodierung«. Online: www.heise.de/tp/r4/<br />
artikel/7/7493/1.html vom 30. Januar 2010.<br />
101
<strong>Marcus</strong> <strong>Maeder</strong><br />
griffs- und Feedback-Apparat der in <strong>Ambient</strong> sich begegnenden Kulturszenen<br />
mitgemeint. Dieses Gefüge strukturiert sich hypertextuell, stellt<br />
eine Maschinik dar, die sich aus vielen weiteren Inhalten, die sich um<br />
ihren musikalischen Kern herum gliedern, zusammensetzt. Der Begriff<br />
»Medienmusik« bezeichnet also nicht nur die mediale, inhaltliche und<br />
ästhetische Vielstimmigkeit von <strong>Ambient</strong>, sondern auch technologische<br />
Neuerungen in der Musikproduktion, welche Medientechnologien zu<br />
Musiktechnologien gemacht haben (allen voran der Computer).<br />
Dass <strong>Ambient</strong> der musikalischen Moderne, insbesondere der<br />
elektronischen Kunstmusik des 20. Jahrhunderts, entspringt, weiß heutzutage<br />
nicht nur jeder Technomusiker. Darum wird hier auf eine Schilderung<br />
der Entwicklung elektronischer Musik verzichtet, es existiert zu<br />
diesem Thema bereits genügend Literatur. 24 Was in Bezug auf Klang, Bedeutung<br />
und Umwelt aufschlussreicher sein kann, ist eine Beschreibung<br />
der verwendeten Klänge, Klangstrukturen und ihrer Bedeutungen. Grete<br />
Wehmeyer nennt Letztere in ihrem Buch über Erik Satie »Assoziationshof<br />
musikalischer Formulierungen« 25 und schildert das Feld musikalischer<br />
Bedeutungen am Vorabend der Moderne folgendermaßen:<br />
»Innerhalb der französischen Tradition hat man sich seit den Programmstücken<br />
der Clavecinisten daran gewöhnt, bestimmte Klangbilder mit bestimmten<br />
Inhalten zu koppeln. Dabei braucht es sich nicht um deskriptive Musik<br />
zu handeln […,] sondern ebenso werden Stimmungen oder Eigenschaften<br />
musikalisch dargestellt. Daraus bildete sich einerseits ein musikalisches Vokabular<br />
für außermusikalische Dinge, andernteils legte sich um viele musikalische<br />
Erscheinungen ein Assoziationskranz, der das ursprünglich unabhängige<br />
Klangbild mit dem ausgewählten Inhalt verkettete. Große Teile der Musik des<br />
19. Jahrhunderts lebten davon, dass das Publikum diesen Bedeutungsgehalt<br />
kannte und erkannte.« 26<br />
Im Zuge der Verstädterung und Industrialisierung ab dem 18. Jahrhundert<br />
ist der Konzertsaal zu einer Art »substitute for outdoor life« 27<br />
geworden, die musikalische Mimesis der Natur wurde mit dem Aufkommen<br />
der Moderne zu derjenigen der Technik, Beispiele dafür sind die<br />
Rumuratore des Futuristen Luigi Russolo oder Stücke wie Ballet Méchanique<br />
von George Antheil. Der Lärm von Stadt und Industrie wurde in<br />
24 Vgl. Mark Prendergast: The <strong>Ambient</strong> Century, New York/London: Bloomsbury Publishing<br />
2000.<br />
25 Vgl. Grete Wehmeyer: Erik Satie, Kassel: Gustav Bosse Verlag 1997, S. 103ff.<br />
26 Ebd., S. 103.<br />
27 »The concert hall simultaneously brought about absolute musical expression and also<br />
the most decisive imitations of nature. The consientious imitation of landscape<br />
in music corresponds historically to the developmnet of landscape painting.« Ron<br />
Murray Schafer: The Soundscape, S. 104.<br />
102
den künstlerischen Avantgarden zur Kunst erklärt: »Russolo’s experiments<br />
mark a flash point in the history of aural perception, a reversal of<br />
figure and ground, a substitution of garbage for beauty.« 28<br />
Rauschen<br />
Als omnipräsentes Element im »Assoziationshof« von <strong>Ambient</strong> findet<br />
sich Rauschen. Es ist einerseits das paradigmatische Geräusch einer von<br />
technischen, medialen Kakophonien umgebenen Gesellschaft, andererseits<br />
besteht unser Wahrnehmungshorizont, Uexkülls fernste Ebene, aus<br />
Rauschen, welches als begriffliche Haut das Unfassbare vom Erfassbaren<br />
trennt. Der Physiker Heinz Bittel charakterisierte Rauschen in den<br />
1970er Jahren so:<br />
»Das Rauschen wird vielfach in erster Linie als etwas Störendes betrachtet.<br />
Bestimmt es doch die äußerstenfalls erreichbare Genauigkeit jeder Art von<br />
Messung […]. Man sollte dabei aber nicht vergessen, dass sich im Rauschen<br />
die Abweichungen des wirklichen Geschehens von den Gesetzmäßigkeiten<br />
der klassischen Physik offenbaren und es deshalb auch möglich ist, aus dem<br />
Rauschen etwas über atomare Vorgänge zu erfahren.« 29<br />
Alle Aussagen über Rauschen können nur statistischer und theoretischer<br />
Art sein, Rauschen ist der Moment, wo Zeichen nicht mehr individuiert<br />
und interpretiert werden können, wo sie sich in der Vielheit, Zufälligkeit<br />
oder Ferne ihres Auftretens auflösen. Rauschen ist, was jenseits unserer<br />
Wahrnehmung, unseres Verstehens liegt,<br />
»doch als bewusst von Menschen in die Strukturen von (Pop-)Musik integriertes<br />
Element wird das Rauschen den Produzenten wie Rezipienten zum Code,<br />
zu einem sinnvollen Unsinn, der für die Wahrnehmung der unübersichtlich<br />
erscheinenden Umwelt steht. Rauschen wird aber nicht negativ als Störung<br />
erfahren, sondern es steht stellvertretend für eine hyperkomplexe Umwelt,<br />
deren Zuviel nicht als beängstigend, sondern als lustvoll erfahren wird«,<br />
so Kristian Kißling. 30<br />
<strong>Ambient</strong><br />
28 Ebd., S. 111.<br />
29 Heinz Bittel/Leo Storm: Rauschen. Eine Einführung zum Verständnis elektrischer<br />
Schwankungserscheinungen, Berlin/Heidelberg/New York: Springer Verlag 1971,<br />
S. 2.<br />
30 Kristian Kißling: »Unsinn lesen, Unsinn hören. Rauschen im Grafikdesign und in<br />
der Popmusik«, in: Andreas Hiepko/Katja Stopka (Hg.), Rauschen. Seine Phänomenologie<br />
und Semantik zwischen Sinn und Störung, Würzburg: Königshausen &<br />
Neumann 2001, S. 203.<br />
103
<strong>Marcus</strong> <strong>Maeder</strong><br />
Abbildung 4. Vom signifikanten Geräusch im Vordergrund zum Rauschen<br />
des Hintergrunds: Die Stadt rauscht.<br />
Für Stadtbewohner gehört Rauschen zu ihrem alltäglichen Wahrnehmungshintergrund;<br />
die Stadt und die Vielzahl ihrer nahen und fernen<br />
Geräusche rauschen. Aus dem Rauschen, dem Hintergrund, tauchen<br />
signifikante Geräusche auf und verschwinden wieder. Rauschen als<br />
künstlerisches Simulakrum reflektiert die Phänomene auf der fernsten<br />
Ebene: »Erforscht wird nun das, was eigentlich den Hintergrund für<br />
jeden Gegenstand unserer Aufmerksamkeit bildet und selbst immer<br />
nur indirekt, beiläufig, unaufmerksam wahrgenommen wird. Damit<br />
wird aber die Kommunikations- und Wahrnehmungssituation insgesamt<br />
zum Objekt der Reflektion,« 31 diese Beobachtung von Sabine Sanio<br />
trifft umso mehr auf <strong>Ambient</strong>-Settings und -Musik als künstlerische<br />
Versuchsanordnungen zu.<br />
Clicks & Cuts<br />
Mediale Kommunikation prägt unsere Lebenswelt, dabei fällt eine Unzahl<br />
kommunikationstechnologisch generierter Artefakte und Fragmente<br />
an. Die Kommunikation, der Fluss von Bild, Musik, Sprache wird<br />
durch Übermittlungsfehler verkürzt, unterbrochen, gestört, verändert.<br />
Es clickt, stottert und zerrt in den Kanälen. Kommunikationsflüsse<br />
teilen sich in Übermittlungsfragmente auf, strukturieren sich in poly-<br />
31 Sabine Sanio: »Rauschen – Klangtotal und Repertoire. Zur Selbstreflexivität der ästhetischen<br />
Erfahrung«, in: A. Hiepko/K. Stopka: Rauschen, S. 208.<br />
104
<strong>Ambient</strong><br />
voke Rhythmen des Inhaltstransfers. Bedeutungsherstellung geschieht<br />
vermehrt und verstärkt über die individuelle Imaginationskraft und<br />
Interpretationsfähigkeit des Empfängers, es ist eine Kommunikation<br />
der Auslassungen und Verkürzungen entstanden (man könnte es als<br />
kommunikationstechnologisch bedingte Metaphorizität bezeichnen –<br />
Beispiele sind E-Mail-Verkehr und SMS). Die Digitale Musik bedient<br />
sich akustischer Fragmente und Störungen als künstlerischem Mittel,<br />
man nennt das seit den 1990er Jahren kategorisierend »Clicks & Cuts« 32 ,<br />
die Wendung stammt von Achim Szepanski, der damit eine Reihe von<br />
Kompilationen seines Labels betitelt hat. Mit dem »Cut« ist der »Click«,<br />
die Störung, zum Träger einer neuen Poetik, einer vielstimmigen, mikroskopischen<br />
Klangästhetik geworden, die dem Zufall ihre Reverenz erweist.<br />
Das Verwenden von Fehlergeräuschen und medialen Fragmenten<br />
lehnt sich an Strategien der Literatur (etwa der »cut-up«-Technik von<br />
William S. Burroughs) und der modernen Kunst an, ein Beispiel findet<br />
sich mit Kurt Schwitter‘s Collage Mz 30, 39 auf Seite 108.<br />
Bedeutung wird nicht mehr nur durch die Hand des Künstlers hergestellt<br />
und vermittelt, Zusammenhang entsteht beim Rezipienten des<br />
Kunstwerks, er schafft das Werk als über seine Wahrnehmung und<br />
Imaginationskraft Involvierter mit. Umberto Eco hat ein derart konzipiertes<br />
und funktionierendes Kunstwerk in den 1960er Jahren »offenes<br />
Kunstwerk« 33 genannt, ein Begriff, welcher sich auch in der Struktur und<br />
im Erlebnisrahmen von <strong>Ambient</strong>musik angewandt sieht:<br />
»Die Poetik des ›offenen‹ Kunstwerks strebt […] danach, im Interpreten ›Akte<br />
bewusster Freiheit‹ hervorzurufen, ihn zum aktiven Zentrum eines Netzwerks<br />
von unausschöpfbaren Beziehungen zu machen, unter denen er seine Form<br />
herstellt, ohne von einer Notwendigkeit bestimmt zu sein, die ihm die definitiven<br />
Modi der Organisation des interpretierten Kunstwerks vorschriebe;« 34<br />
dazu Rolf Großmann zur Mediensituation der Clicks & Cuts im Jahr<br />
2003: »C & C können etwas, das in dieser Form nur in dieser historischen<br />
Situation möglich ist: Distanz und gleichzeitig Nähe zum Mediendispositiv<br />
vermitteln, ein nicht rein affirmatives aber dennoch sinnliches<br />
Erfahren von Medienmechanismen«. 35<br />
32 Vgl. Rolf Großmann: »Spiegelbild, Spiegel, leerer Spiegel. Zur Mediensituation der<br />
Clicks & Cuts«, in: M. Kleiner/A. Szepanski: Soundcultures, S. 52.<br />
33 Vgl. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 27ff.<br />
34 Ebd., S. 31; Eco argumentiert hier nach Pousseur: »La nouva sensibilità musicale«, in:<br />
Incontri Musicali, Nr. 2, Mai 1958, S. 25.<br />
35 M. Kleiner/A. Szepanski: Soundcultures, S. 68.<br />
105
<strong>Marcus</strong> <strong>Maeder</strong><br />
Abbildung 5. Aus dem Zusammenhang reißen, einen eigenen Zusammenhang<br />
herstellen. Kurt Schwitters: Mz 30, 39, 1930.<br />
106
<strong>Ambient</strong><br />
Drones, Patterns, Loops: Musique d’ameublement<br />
Weiterer Bestandteil einer Vielzahl von <strong>Ambient</strong>-Musikstücken ist eine<br />
Art Dauerton, das »Drone«. Meistens siedeln sich Drones im unteren<br />
Frequenzspektrum (d. h. dem Bassbreich) der Klänge an, daher ihr<br />
Name: Er entspringt im Englischen der Drohne, der männlichen Biene,<br />
respektive ihrem Brummen; im Deutschen entspricht er dem »Dröhnen«.<br />
Dröhnen ist ein künstlerisches Element in einer Vielzahl von Stücken<br />
des direkten Vorläufers der Digitalen Musik, des »Industrial«.<br />
Das Drone oder der Bordun (v. franz. Bourdon, ital. Bordone:<br />
»Brummbass«) findet sich in Europa bereits in der mittelalterlichen Folklore.<br />
Jeder Leierkasten oder Dudelsack erzeugt einen Bordun, einen<br />
tiefen Grundton oder eine Quint, auf dem die weiteren, meist improvisierten<br />
Tonfolgen aufbauen.<br />
In der europäischen Kunstmusik kam der Bordun bis zum Beginn der<br />
Moderne fast nie zum Einsatz, da er weniger eine Erzählung, eine narrative<br />
Abfolge von Klängen aufbaut, als vielmehr eine Art klingenden<br />
Zustand herstellt. Man findet ihn auch in der klassischen indischen Musik,<br />
wo er mit dem Tanpura unter die Improvisationen der Einzelinstrumente<br />
gelegt wird, eine Klangästhetik, die sich in einer Vielzahl von New<br />
Age- und Esoterik-Musikproduktionen reproduziert sieht. Interessant<br />
am Bordun ist seine Fähigkeit, zeitliches Empfinden aufzuheben und<br />
ein Verweilen im Moment zu suggerieren, das macht ihn wohl auch für<br />
jede Form von sakraler und meditativer Musik attraktiv. Der Bordun<br />
schafft in <strong>Ambient</strong>situationen einen klanglichen Hintergrund, einen<br />
»getunten« Klangraum; er lädt den Raum mit einer Art Grundspannung<br />
auf und differenziert ihn auf diese Weise von alltäglichen Räumen und<br />
Situationen, er macht ihn zum quasi-sakralen Ort.<br />
Dem Bordun ähnliche Klänge zeigten sich im 19. Jahrhundert in der<br />
Klangmusik der Spätromantik und des Impressionismus, die beiden<br />
Ansätze unterschieden sich aber radikal: Während Richard Wagner mittels<br />
»unendlicher Melodie« eine musikalische Erzählung sich bis zum<br />
Showdown aufschwingen ließ, ging es den beiden jüngeren Komponisten<br />
Claude Debussy und Erik Satie um »Mood Music« – um narrationslose<br />
Klänge, die eine gewisse Stimmung erzeugen oder wiedergeben<br />
sollten. Beide faszinierte ein indonesisches Gamelan-Orchester, das an<br />
der Weltausstellung 1889 auftrat und dessen Musik sich aus »Patterns«,<br />
Mustern, die sich wiederholen und einen gleichmäßigen, musikalischen<br />
Fluss erzeugen, auszeichnete. Satie experimentierte in der Folge mit Reihung<br />
und Baukastenprinzip:<br />
107
<strong>Marcus</strong> <strong>Maeder</strong><br />
»Es entstanden Klangbänder von in sich einheitlicher Struktur, Tapis résonnant,<br />
musikalisches Klima, musique d’ameublement, […] in der sich Augenblick<br />
an Augenblick reiht.« 36<br />
Satie veranstaltete 1920 sein Experiment mit musique d’ameublement<br />
zusammen mit Darius Milhaud anlässlich eines Theaterabends in der<br />
Galerie Barbazange in Paris, Milhaud schildert dieses in seiner Autobiografie:<br />
»So wie es im Bereich des Sehens Formen gibt, die man wie etwa das Muster<br />
einer Tapete, die Deckenleiste oder den Rahmen eines Spiegels trotz ihres<br />
unzweifelhaften Daseins doch nicht wahrnimmt, so, dachte Satie, wäre es auch<br />
amüsant, Musik zu haben, auf die man nicht hinhören müsste, also gleichsam<br />
Musik als Ausstattung oder Hintergrundmusik, die veränderlich sein könnte<br />
wie die Möblierung der Räume, in denen diese Musik gespielt würde.« 37<br />
Solche Gebrauchs- und Funktionsmusik, ein »Tapis sonnant«, welcher<br />
sich gesellschaftlicher Aktivität unterordnet, war keine Neuschöpfung,<br />
denkt man etwa an Kammermusik, die ursprünglich dem aristokratischen<br />
Kartenspiel als Hintergrund diente. Satie und Milhaud entwickelten<br />
für diesen Abend aber eine prototypische Rezeptur für <strong>Ambient</strong>musik:<br />
Die Musiker wurden im Raum verteilt, »damit die Musik gleichzeitig<br />
von allen Seiten zu kommen schien« 38 , und spielten Ritornelle 39 – sich<br />
wiederholende Abschnitte von Stücken von Ambroise Thomas und<br />
Saint-Saëns. Das war nicht nur ein modernes, sondern ein eigentlich<br />
postmodernes Vorgehen, mittels musikalischer Loops, also Samples aus<br />
bestehender Musik, eine Raumstimmung zu erzeugen. Das Publikum<br />
verstand das nicht und das Experiment scheiterte:<br />
»Eine Programmnotiz informierte das Publikum, dass es den Ritornellen, die<br />
während der Pausen gespielt wurden, nicht mehr Bedeutung schenken solle<br />
wie den Kandelabern, den Sitzen oder dem Balkon. Ganz gegen unsere Absicht<br />
strömte das Publikum jedoch eilends zu den Sitzen zurück, sobald die<br />
Musik einsetzte.« 40<br />
36 Grete Wehmeyer: Erik Satie, S. 18.<br />
37 Darius Milhaud: Noten ohne Musik. Eine Autobiographie, München: Prestel Verlag<br />
1962, S. 96.<br />
38 Ebd.<br />
39 Man kennt das Ritornell aus der barocken Musik: Es bezeichnet jenen Teil eines Rondos,<br />
der im Verlauf eines Musikstücks mehrfach refrainartig wiederkehrt. Deleuze<br />
und Guattari verstehen das Ritornell in seiner begrifflichen Erweiterung als einen in<br />
der Natur ein Territorium definierenden Sound(track), eine Melodie, eine akustische<br />
Signatur.<br />
40 Darius Milhaud: Noten ohne Musik, S. 96.<br />
108
<strong>Ambient</strong><br />
Sich wiederholende Klangmuster fördern den Anteil an Kontemplation<br />
in einer Musiksituation: Satie ließ sich vom »mittelalterlichen<br />
Orationston« 41 der Gregorianik inspirieren. Loops sind der vielfachen<br />
Wiederholung in Gebeten und Litaneien verwandt – die Repetition von<br />
Klangsequenzen hat eine Intensivierungsfunktion, kann rauschähnliche<br />
Erfahrungen hervorrufen. Loops generieren und transportieren aber<br />
auch Wissen; Klangabfolgen und die dazugehörigen Assoziationen und<br />
Bedeutungen werden über ihre Wiederholung verinnerlicht. Zudem ist<br />
der Loop zur Mimesis der Massenproduktion des Industrie- und Technologiezeitalters<br />
geworden: in seinem Assoziationshof finden sich die<br />
Maschinen, welche Artefakte in endloser Zahl herstellen, sie produzieren<br />
Loops von Produkten und Klängen. Die technische Reproduktion hat<br />
direkten Einfluss auf Klang und Struktur der Musik, der Kunstwerke<br />
allgemein 42 genommen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts mechanisch<br />
(Wachszylinder und Schallplatte), dann magnetisch (mit dem Tonband,<br />
ohne das es die Musique Concrète nicht gegeben hätte) und heute über<br />
das digitale »copy and paste«.<br />
Field Recordings<br />
Nicht nur in der Musique Concrète, sondern auch in vielen Werken der<br />
aktuellen elektronischen/digitalen Musik kommen Field Recordings,<br />
Tonaufnahmen unserer Umwelt, als künstlerisches Mittel zum Einsatz.<br />
Für das medientechnologisch aufgezeichnete und wiedergegebene visuelle<br />
Abbild der Wirklichkeit ist im Lauf der Geschichte der Fotografie<br />
und des Films ein ganzer Theorieapparat entstanden, für die Tonaufnahme<br />
als Wurmfortsatz der Filmaufzeichnung sind bisher wohl nur halb so<br />
viele medientheoretische oder bedeutungswissenschaftliche, semantische<br />
Untersuchungen durchgeführt worden. Man trifft auf klangsemantische<br />
Analysen von Tondokumenten der Umwelt in der Acoustic Ecology –<br />
sie findet am Anfang dieses Beitrags mit ihrem Gründer Ron Murray<br />
Schafer Erwähnung, darüber hinaus in der Ethnologie oder der Bioakustik<br />
und neuerdings in der Geografie 43 .<br />
41 Vgl. Grete Wehmeyer: Erik Satie, S. 21ff.<br />
42 Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,<br />
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980.<br />
43 Vgl. Frédéric Roulier: »Pour une géographie des milieux sonores«.<br />
Online: www.cybergeo.eu/index5034.html, vom 30. Januar 2010.<br />
109
<strong>Marcus</strong> <strong>Maeder</strong><br />
Abbildung 6. Den Wald hören: CD-Cover von »recording artist« Chris<br />
Watson.<br />
Vieles lässt sich sicherlich auch aus der Perspektive der Filmtheorie über<br />
die Tonaufnahme sagen, den Umstand mitberücksichtigend, dass im<br />
Gehirn beim Sehen und Hören ähnliche kognitive Assoziationsfelder<br />
aktiviert werden. 44 Walter Benjamin hat über den Film einige Gedanken<br />
geäußert, die ganz besonders auch für die Tonaufnahme gelten:<br />
»Seine Charakteristika hat der Film nicht nur in der Art, wie der Mensch sich<br />
der Aufnahmeapparatur bedient, sondern wie er mit deren Hilfe die Umwelt<br />
sich darstellt. […] Der Film hat unsere Merkwelt in der Tat mit Methoden bereichert,<br />
die an denen der Freudschen Theorie illustriert werden können. […]<br />
Sie hat Dinge isoliert und zugleich analysierbar gemacht, die vordem unbemerkt<br />
im breiten Strom des Wahrgenommenen mitschwammen. Der Film hat<br />
in der ganzen Breite der optischen Merkwelt, und nun auch der akustischen,<br />
eine ähnliche Vertiefung der Apperzeption zur Folge gehabt.« 45<br />
44 Ausgeführt im Beitrag von Mathias S. Oechslin.<br />
45 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,<br />
S. 34.<br />
110
Die Tonaufnahme vertieft die akustische Wahrnehmung und Erschließung<br />
der Umwelt, sie erweitert unser Wissen über diese und macht die<br />
Dokumentation ihrer Erscheinungsformen ortsunabhängig zugänglich.<br />
Dabei ist aber nicht zu vergessen, dass dieses Bild der Wirklichkeit<br />
ein von Wissenschaft und Technologie und unserer Imaginationskraft<br />
erzeugtes ist, keinesfalls ein neutrales, »realistisches«. Vilém Flusser<br />
schreibt in seiner Philosophie der Fotografie über das technische Bild<br />
Folgendes, das sicherlich auch auf die Tonaufnahme zutrifft:<br />
»Das technische Bild ist ein von Apparaten erzeugtes Bild. Da Apparate ihrerseits<br />
Produkte angewandter wissenschaftlicher Texte sind, handelt es sich bei<br />
den technischen Bildern um indirekte Erzeugnisse wissenschaftlicher Texte.<br />
[…] Sie sind Metacodes von Texten, die, […] nicht die Welt dort draußen<br />
bedeuten, sondern Texte. Die Imagination, die sie herstellt, ist die Fähigkeit,<br />
Begriffe aus Texten in Bilder umzucodieren; und wenn wir sie betrachten,<br />
sehen wir neuartig verschlüsselte Begriffe von der Welt dort draußen.« 46<br />
Frank Hartmann zur heutigen Situation im Buch Soundcultures – Über<br />
elektronische und digitale Musik:<br />
»Medien im fortgeschrittenen Zustand ihrer Entwicklung beziehen sich nicht<br />
mehr auf ›die Welt‹ mit dem Anspruch, diese zu repräsentieren, vielmehr wird<br />
Neues generiert und Wirklichkeit anders gesehen. Vor allem computerisierte<br />
Medien sind es, die eine scharfe Trennung zwischen Natur und Kultur hinter<br />
sich lassen und eine Informationsästhetik erzeugen, die auf den realen Referenzhintergrund<br />
sinnlich gegebener Wirklichkeit nicht mehr angewiesen<br />
ist.« 47<br />
Er folgert:<br />
<strong>Ambient</strong><br />
»Diese Medienwirklichkeit – erzeugt vom fotografischen, filmischen oder<br />
elektronischen Apparat – ist nicht als Reproduktion oder Repräsentation von<br />
Wirklichkeit entstanden, sondern als eine Fortsetzung der Umformung und<br />
Durchdringung von Wirklichkeit, die mit der Fotografie begonnen hat. Dies<br />
haben die jüngsten Bilder mit den ältesten Bildern der menschlichen Kultur<br />
gemein: Symbole sind entstanden als Instrumente der Beherrschung der äußeren<br />
Wirklichkeit.« 48<br />
46 Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen: European Photography<br />
1983, S. 13/14.<br />
47 Frank Hartmann: »Instant Awareness. Eine medientheoretische Exploration mit<br />
McLuhan«, in: M. Kleiner/A. Szepanski, Soundcultures, S. 37.<br />
48 Ebd., S. 43.<br />
111
<strong>Marcus</strong> <strong>Maeder</strong><br />
Microsound<br />
Kunst und Musik hört nicht beim künstlerisch-technischen Interagieren<br />
mit der Umwelt auf, sie reflektiert darüber hinaus als »epistemologische<br />
Metapher« 49 wissenschaftliche Erkenntnisse: »Man geht darum wohl<br />
nicht zu weit, wenn man in der Poetik des ›offenen‹ Kunstwerks […] die<br />
vagen oder präzisen Resonanzen der modernen Wissenschaft sieht,« 50<br />
schreibt Eco. Beispielsweise bildet sich mit den erweiterten Analyse- und<br />
Bearbeitungsmöglichkeiten der modernen Computertechnologie, die in<br />
den Mikrobereich der Klänge vorstößt, eine neue Ästhetik heraus. Einen<br />
grundlegenden Perspektivenwechsel erlebte bereits Heinz Bittel bei der<br />
ganz analogen Verstärkung von elektrischen Signalen: »Die Verstärkerschaltungen<br />
haben für elektrische Untersuchungen sicher dieselbe<br />
Bedeutung wie in der Optik das Mikroskop.« 51<br />
In den Assoziationsbereich des klanglichen Mikrokosmos, seiner<br />
»Microsounds«, rücken Chemie und Physik, es öffnet sich ein Reich<br />
molekularer Klang-Mannigfaltigkeiten. Der Komponist und Professor<br />
für Medienkünste und Technologie an der University of Santa Barbara,<br />
Curtis Roads, schreibt in seinem Buch »Microsound« dazu:<br />
»Below the level of the musical note lies the realm of microsound, of sound<br />
particles lasting less than one-tenth of a second. Recent technological advances<br />
allow us to probe and manipulate these pinpoints of sound, dissolving the<br />
traditional building blocks of music – notes and their intervals – into a more<br />
fluid and supple medium. The sensations of point, pulse (series of points),<br />
line (tone), and surface (texture) emerge as particle density increases. Sounds<br />
coalesce, evaporate, and mutate into other sounds.« 52<br />
Damit ist eine Form der Klanggenerierung beschrieben, die schon vor<br />
einigen Jahrzehnten entwickelt wurde, nun aber mit der um ein vielfaches<br />
höheren Leistungsfähigkeit der Computer ästhetisch erst richtig<br />
interessant wird – die Granularsynthese. Im Assoziationsbereich granularsynthetisch<br />
hergestellter Klänge findet sich die Welt der Atome und<br />
Moleküle. Die Theorie zur Granularsynthese stammt vom Ingenieur<br />
und Erfinder Dennis Gábor 53 , der die sogenannte »Gabor-Transformation«,<br />
eine gefensterte Fourier-Transformation, und die damit zusam-<br />
49 Vgl. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, S. 160ff.<br />
50 Ebd., S. 48.<br />
51 W. Schottky: »Über spontane Stromschwankungen in verschiedenen Elektrizitätsleitern«,<br />
in: Heinz Bittel/Leo Storm, Rauschen, S. 1.<br />
52 Curtis Roads: Microsound, Boston: MIT Press 2002, S. vii.<br />
53 Gábor erfand unter vielem anderem die Quecksilberdampflampe und entwickelte<br />
das Prinzip der Holografie.<br />
112
<strong>Ambient</strong><br />
menhängende Theorie der Klangquanten formulierte. Eine gefensterte<br />
Fouriertranformation ist eine mathematische Darstellung im Zeit- und<br />
Frequenzraum: Die Klangquanten stehen in einer gewissen Analogie zu<br />
Quantenphänomenen in der Teilchenphysik:<br />
»Sie [die epistemologischen Metaphern, d. V.] repräsentieren innerhalb der<br />
gestaltenden Tätigkeit die Spiegelung bestimmter Errungenschaften der modernen<br />
wissenschaftlichen Methodologien, die Bestätigung jener Kategorien<br />
der Unbestimmtheit, der statistischen Verteilung, die für die Deutung der<br />
natürlichen Fakten maßgebend sind, in der Kunst.« 54<br />
Abbildung 7. Links: Visuelle Darstellung der Granularsynthese im<br />
Spektrumeditor des Musiksystems Kyma.<br />
Rechts: Konfokalmikroskopische Aufnahme von Molekülen.<br />
<strong>Ambient</strong>räume<br />
<strong>Ambient</strong> bezeichnet neben musikalischen Assoziationsfeldern auch eine<br />
physische Raumsituation, eine Installation, einen Ort, wo <strong>Ambient</strong>situationen<br />
hergestellt werden. Die Generation Techno kennt solche<br />
Settings aus den Chillout-Räumen der 90er-Jahre, wo sich Raver von<br />
den Strapazen der Tanzfläche erholten und entspannende Musik ohne<br />
54 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, S. 160. Weiter: »Von hier aus erhält eine offene<br />
Kunst ihre Funktion als epistemologische Metapher: In einer Welt, in der die<br />
Diskontinuität der Phänomene die Möglichkeit für ein einheitliches und definitives<br />
Weltbild in Frage gestellt hat, zeigt sie uns einen Weg, wie wir diese Welt, in der<br />
wir leben, sehen und damit anerkennen und unserer Sensibilität integrieren können.<br />
Ein offenes Kunstwerk stellt sich der Aufgabe, uns ein Bild von der Diskontinuität<br />
zu geben: es erzählt sie nicht, sondern ist sie. Es vermittelt zwischen der abstrakten<br />
Kategorie der Wissenschaft und der lebendigen Materie unserer Sinnlichkeit und<br />
erscheint so als eine Art von transzendentalem Schema, das es uns ermöglicht, neue<br />
Aspekte der Welt zu erfassen.« Ebd., S. 164.<br />
113
<strong>Marcus</strong> <strong>Maeder</strong><br />
Beat sowie die eine oder andere Droge konsumierten. Bald haben sich<br />
Chillout-Räume zu eigentlichen Hörräumen, zu Orten der Klangkunst<br />
entwickelt, da dort von <strong>Ambient</strong>-DJs des Öfteren ungehörte, neue<br />
Klänge gespielt wurden. Klänge, die bald nicht mehr nur kontemplative<br />
Wirkung hatten, sondern das Publikum aufhorchen ließen und die in<br />
diesem Beitrag geschilderten Prozesse der Imagination und der Immersion<br />
in Gang brachten. Musik findet in solchen Räumen im Gegensatz<br />
zum Konzertsaal im Hintergrund, azentrisch und omnidirektional statt,<br />
ist künstliche, akustische Umwelt und vermischt sich perzeptiv mit Gesprächen,<br />
Bildprojektionen, Lichtstimmung und Weiterem, hier ein Bild<br />
einer typischen <strong>Ambient</strong>situation:<br />
Abbildung 8. »Construction Sonor« im Club Transmediale, Berlin,<br />
2004.<br />
Obwohl der Künstler als technische Geräte bedienender Zeremonienleiter<br />
identifizierbar ist, steht er nicht im Zentrum, er ist Bestandteil einer<br />
Situation, gehört zur Ausstattung, zum musikalischen Mobiliar – und<br />
man sieht es den Gesichtern des Publikums irgendwie an: Hier sind<br />
angeregte, mentale Prozesse im Gang, in denen sich Eindrücke bündeln<br />
und Assoziationen anregen, die Imagination triggern. Man hört, schaut,<br />
reflektiert, kommuniziert. Physischer Raum, sozialer Raum, Medienraum<br />
schaffen einen immersiven Rezeptionsrahmen – Raum allgemein 55<br />
ist konstitutives Element jedes <strong>Ambient</strong>settings:<br />
55 Raum als Anschauung, als Vorstellung, ist traditionell Gegenstand der Metaphysik,<br />
er ist wie die Zeit weder ein Begriff noch ein Ding, nach Kant ordnet der Raum die<br />
Beziehungen unseres Denkens relational, er parametrisiert Extensionalität, Rezeptivität<br />
und Relationalität von Dingen und setzt sie in eine ideale Beziehung zueinander.<br />
114
<strong>Ambient</strong><br />
»Until recently music was inseparable from the space in which it was performed<br />
– including the social space. One very strong movement in the late<br />
nineteenth and twentieth centuries was towards music as an immersive, environmental<br />
experience. […] It’s a drift away from narrative and towards landscape,<br />
from performed event to sonic space.« 56<br />
Raum wird zum gestalteten Behältnis eines Milieus künstlerischer Kommunikation:<br />
Innerhalb der aufgeführten Musik mittels Raumsimulationen<br />
wie Hall, Echo oder Surround-Rendering, im Bild über dreidimensionale<br />
Raumdarstellungen. Durch die Integration des Virtuellen<br />
verschachtelt sich die <strong>Ambient</strong>situation in reale und fiktive Raumerfahrungen,<br />
man könnte sagen, dass sich im <strong>Ambient</strong> ein alter Wunsch<br />
der Surrealisten eingelöst hat. Ihr Vordenker André Breton schrieb hierzu<br />
1924 in seinem ersten surrealistischen Manifest: »Ich glaube an die<br />
künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von<br />
Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so<br />
sagen kann: Surrealität.« 57 Damit sind heutige, medientechnologischvirtuell<br />
geschaffene oder ergänzte <strong>Ambient</strong>situationen beschrieben, die<br />
nicht nur aus räumlichen/technischen Simulationen bestehen, sondern<br />
künstlerisch entworfen sind, was heißt, dass fiktive, erfundene – mögliche<br />
– Elemente Teil der immersiven Erfahrung sind. Die »reale« Welt<br />
wird durch das Mögliche erweitert, das Mögliche, der Entwurf wird Bestandteil<br />
der medientechnologisch mimetisierten Wirklichkeit. Raum<br />
und Imaginationskraft lassen so eine Emergenz entstehen, welche eine<br />
Neubeschreibung unserer Umwelt unternimmt.<br />
Die Immanenzebene<br />
Die Pfade der in diesem Beitrag ausgeführten Gedanken zu <strong>Ambient</strong><br />
führen uns zuletzt von der Immersion zur Immanenz als ihrer philosophischen<br />
Dimension. Immersion als Ausgangssituation beschreibt nicht<br />
nur Grade der realen Erlebbarkeit einer virtuellen Umwelt, sondern fördert<br />
als Emergenz einer mimetischen Zeremonie, einer <strong>Ambient</strong>situation<br />
eine umfassende Weltwahrnehmung. Die immersive mimetische<br />
Zeremonie verzahnt unser Bewusstsein analogistisch mit der Welt, auch<br />
wenn sie als Erlebnisrahmen meist von ihr abgekoppelt inszeniert wird.<br />
Die medientechnologisch erzeugten und performten, »zelebrierten«<br />
Soundscapes unserer Erfahrungswelt steuern Immanenzerfahrung an:<br />
es entsteht ein Soundtrack der Immanenz, ein polyphoner Erlebniston<br />
56 Brian Eno: Vorwort, in: Mark Prendergast, The <strong>Ambient</strong> Century, S. xvii.<br />
57 André Breton: Die Manifeste des Surrealismus, Hamburg: Rohwolt Verlag 2004,<br />
S. 18.<br />
115
<strong>Marcus</strong> <strong>Maeder</strong><br />
unserer Umwelt, welcher diese in ihrer Mannigfaltigkeit erst denkbar<br />
und erfahrbar macht. Im <strong>Ambient</strong> wird die technologisch geprägte<br />
Gegenwart ästhetisch erschlossen und urbar gemacht, es werden in ihr<br />
operierende, künstlerische Vokabulare entwickelt, die einer neuen Form<br />
des Philosophierens zu entsprechen scheinen, – einer bedeutungsherstellenden,<br />
begriffserzeugenden Art der medialen Reflexion, die klanglich<br />
und visuell analysiert und formuliert. Imagination, Denken, künstlerische<br />
Äußerung wird zum Handeln in und Umgang mit der Welt: »Die<br />
nächste Art des Umgangs ist […] aber nicht das nur noch vernehmende<br />
Erkennen, sondern das hantierende, gebrauchende Besorgen, das seine<br />
eigene ›Erkenntnis‹ hat«, so Heidegger in Sein und Zeit, wo er das<br />
»In-der-Welt-sein« 58 als Umgang mit der Welt und dem »innerweltlich<br />
Seienden« als verstehendes Dasein beschreibt: »Dieses Seiende ist dabei<br />
nicht Gegenstand eines theoretischen ›Welt‹-Erkennens, es ist das Gebrauchte,<br />
Hergestellte und dgl.« 59<br />
Als Anschauung dem Raum verwandt, legt Immanenz die Ausdehnungen<br />
und Beziehungen des Denkens als innerweltliche fest. In ihrer<br />
langen Begriffsgeschichte finden sich ganz unterschiedliche Vorstellungen<br />
des »In-der-Welt-seins«, sie kommt als metaphysisches wie erkenntnistheoretisches<br />
Konzept in der Philosophiegeschichte bis zurück zu den<br />
Stoikern 60 vor, meist als Substanzbeschreibung oder als dialektischer<br />
Gegenpart zur Transzendenz – dem Übersinnlichen, Überweltlichen.<br />
Epistemologische Aspekte treten dann im Zuge der Neuzeit in den Vordergrund,<br />
mit Kant (als Verbleiben des Denkens in den Grenzen möglicher<br />
Erfahrung) dann mit Heidegger und später bei Deleuze/Guattari in<br />
ihrem Entwurf der Immanenzebene innerhalb ihrer »Geophilosophie«<br />
als Bild des Denkens innerhalb einer nichttranszendenten Weltwahrnehmung.<br />
Die Immanenzebene ist der Boden des Denkens, »der wie<br />
die Erde wäre, weder in Bewegung noch in Ruhe« 61 , denn »Denken geschieht<br />
vielmehr in der Beziehung zu dem Territorium und zu Terra,<br />
der Erde«. 62 Die Immanenzebene ist Weltsicht, »Sein-Denken«, »Natur-<br />
Denken«, sie ist der absolute Horizont der Begriffe und Ereignisse, des<br />
Wirklichen wie Möglichen und kann als gedachte Umwelt verstanden<br />
58 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1979,<br />
S. 52ff.<br />
59 Ebd., S. 67.<br />
60 »Die Strukturen des Daseins, die Zeitlichkeit selbst, sind nicht so etwas wie ein ständig<br />
verfügbares Gerüst für ein starres Vorhandenes, sondern sie sind ihrem eigensten<br />
Sinn nach Möglichkeit des Daseins, und nur das.« Giorgio Armato in Interpretation<br />
von Marc Aurel, VII 6, in: Giorgio Armato, Der stoische Immanenzbegriff, Berlin:<br />
Logos Verlag 2005, S. 210.<br />
61 Gilles Deleuze und Félix Guattari beziehen sich hier auf Husserl in: Gilles Deleuze/<br />
Félix Guattari: Was ist Philosophie?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 97.<br />
62 Ebd.<br />
116
<strong>Ambient</strong><br />
werden: Als der vom Denken erfassbare Kosmos, welcher in Uexkülls<br />
Funktionskreis die Merk- und Wirkwelt, die fernste Ebene ideal umschließt.<br />
Es existieren so viele Ebenen wie Subjekte, sie überschneiden,<br />
überlagern sich – die Immanenzebene ist »löchrig, blättrig«. Ältere<br />
Weltbilder liegen als Schichten der Geschichte des Denkens unter den<br />
Ebenen des Hier und Jetzt. 63<br />
Abbildung 9. Kalzit aus dem Bergwerk Gonzen, FocusTerra, Departement<br />
Erdwissenschaften, ETH Zürich.<br />
So könnte man sich einen Ausschnitt der Immanenzebene vorstellen:<br />
Schichten von Ebenen überlagern sich (»Die Immanenzebene ist blätt-<br />
63 »Entwirft nicht jeder große Philosoph letzten Endes eine neue Immanenzebene, liefert<br />
er nicht eine neue Materie des Seins und errichtet ein neues Bild des Denkens,<br />
so dass es keine zwei großen Philosophen auf derselben Ebene gäbe?«, meinen dazu<br />
Deleuze/Guattari augenzwinkernd, ebd., S. 60.<br />
117
<strong>Marcus</strong> <strong>Maeder</strong><br />
rig. 64 […] Sie ist eine stratigrafische Zeit, in der das Vorher und Nachher<br />
nur mehr eine Ordnung von Überlagerungen anzeigt« 65 ). Begriffe (hier<br />
als glitzernde Einschlüsse) besetzen die Ebenen: »endliche Bewegungen,<br />
[…] die stets eine Oberfläche oder ein Volumen bilden, einen unregelmäßigen<br />
Umriss, der einen Stillstand im Wucherungsgrad kennzeichnet.<br />
Erstere sind absolute Richtungen fraktaler Natur […], stets fragmentarische,<br />
intensiv definierte Oberflächen oder Volumina« 66 . Rechts oben der<br />
von der Position des Subjekts abhängige, relative, dahinter der absolute<br />
Horizont.<br />
Bei Deleuze und Guattari ist das Mögliche, die Utopie konstitutiv für<br />
die Immanenzebene: »Das Wort Utopie bezeichnet folglich diese Verbindung<br />
der Philosophie oder des Begriffs mit dem vorhandenen Milieu:<br />
politische Philosophie,« 67 – eine Philosophie, welche die Welt in<br />
Mannigfaltigkeiten denkt und mit dem Entwurf der Immanenzebene<br />
versucht, eine Welt-Konsistenz jenseits von transzendenten Konzepten 68<br />
zu denken und zu erzeugen. Eine Konsistenz, welche die Unendlichkeit<br />
der Bewegungen des Denkens mit einschließt. Die Immanenzebene impliziert<br />
»eine Art tastendes Experimentieren, und ihr Entwurf rekurriert auf schwer<br />
eingestehbare, wenig rationale und vernünftige Mittel. Es sind Mittel, die aus<br />
dem Reich des Traums stammen, aus dem pathologischen Prozess, aus esoterischen<br />
Erfahrungen, aus Trunkenheit oder Exzess. Man läuft auf der Immanenzebene<br />
bis zum Horizont, man kehrt mit roten Augen zurück, selbst wenn<br />
dies die Augen des Geistes sind. […] Man denkt nämlich nicht, ohne zugleich<br />
etwas anderes zu werden, etwas, das nicht denkt, ein Tier, eine Pflanze, ein<br />
Molekül, ein Partikel, die zum Denken zurückkehren und es von neuem in<br />
Gang setzen.« 69<br />
64 Ebd., S. 59.<br />
65 Ebd., S. 67.<br />
66 Ebd., S. 48.<br />
67 Ebd. S. 116<br />
68 »Auf den ersten Blick lässt sich nicht erkennen, warum die Immanenz so gefährlich<br />
ist, und doch ist es so. Sie verschlingt die Weisen und die Götter.« Ebd., S. 54.<br />
69 Ebd., S. 50.<br />
118
<strong>Ambient</strong><br />
Literatur<br />
Armato, Giorgio: Der stoische Immanenzbegriff, Berlin: Logos Verlag<br />
2005.<br />
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,<br />
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980.<br />
Bittel, Heinz/Storm, Leo: Rauschen. Eine Einführung zum Verständnis<br />
elektrischer Schwankungserscheinungen, Berlin/Heidelberg/New York:<br />
Springer Verlag 1971.<br />
Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, Hamburg: Rohwolt<br />
Verlag 2004.<br />
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, Frankfurt a.M.:<br />
Suhrkamp 1996.<br />
Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993.<br />
Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen: European<br />
Photography 1983.<br />
Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag<br />
1979.<br />
Heister, Hanns-Werner (Hg.): Mimetische Zeremonien – Musik als<br />
Spiel, Ritual, Kunst, Berlin: Weidler Buchverlag 2007.<br />
Hiepko, Andreas/Stopka, Katja (Hg.): Rauschen. Seine Phänomenologie<br />
und Semantik zwischen Sinn und Störung, Würzburg: Königshausen &<br />
Neumann 2001.<br />
Kleiner, <strong>Marcus</strong> S./Szepanski, Achim: Soundcultures, Frankfurt a.M.:<br />
Suhrkamp 2003.<br />
Knepler, Georg: Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie,<br />
Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig:<br />
Reclam 1982.<br />
Lintzel, Aram: »Der Sound der Transcodierung«. Online:<br />
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