Untitled - Fachbereich Sprachwissenschaft
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Inhalt<br />
Vorwort ........................................................................................................................... VII<br />
Typographische Konventionen und Abkürzungen ......................................................... IX<br />
1. Gegenstand und grammatiktheoretische Grundlagen .................................................. 1<br />
1.1 Der Untersuchungsgegenstand: Die Verb-Zweit-Stellung ..................................... 1<br />
1.2 Die grammatiktheoretischen Grundlagen: Die generative<br />
Prinzipien- und Parametertheorie ............................................................................ 7<br />
1.2.1 Grundlagen und Zielsetzungen der Prinzipien- und<br />
Parametertheorie ..................................................................................... 9<br />
1.2.2 Die Prinzipien- und Parametertheorie und die historische<br />
Syntaxforschung ................................................................................................... 11<br />
2. Die Verb-Zweit-Stellung in den germanischen und romanischen Sprachen .............. 16<br />
2.1 Die strenge Verb-Zweit-Stellung in den germanischen Sprachen .......................... 16<br />
2.1.1 Die Verbstellung in Verb-Zweit-Sprachen mit strenger<br />
Asymmetrie ............................................................................................ 16<br />
2.1.2 Die Verbstellung in Verb-Zweit-Sprachen mit eingeschränkter<br />
Asymmetrie ............................................................................................ 25<br />
2.1.3 Die Verbstellung in symmetrischen Verb-Zweit-Sprachen ......................... 30<br />
2.2 Verb-Zweit-Stellungseffekte in den modernen romanischen Sprachen ........... 33<br />
2.2.1 Verb-Zweit-Stellungseffekte in Interrogativsätzen .................................... 35<br />
2.2.2 Verb-Zweit-Stellungseffekte in Deklarativsätzen ....................................... 48<br />
3. Verbstellungswandel in den romanischen Sprachen. Ein Forschungsüberblick ............ 53<br />
3.1 Einleitung .............................................................................................................. 53<br />
3.2 Verbstellungswandel in den romanischen Sprachen:<br />
Gesamtromanische Studien ............................................................................... 55<br />
3.3 Verbstellungswandel im Französischen .................................................................. 58<br />
3.3.1 Deskriptive Ergebnisse ................................................................................. 58<br />
3.3.1.1 Die Verbstellung in Matrixsätzen .......................................... 63<br />
3.3.1.2 Die Verbstellung in Nebensätzen .......................................... 70<br />
3.3.2 Quantitative und statistische Ergebnisse ...................................................... 72<br />
3.3.3 Traditionelle Erklärungsansätze ................................................................. 79<br />
3.3.3.1 Psychologische Faktoren ........................................................ 81<br />
3.3.3.2 Rhythmische Faktoren .................................................................... 82<br />
3.3.3.3 Logisch-grammatische Faktoren ................................................ 85<br />
3.3.3.4 Morphosyntaktische Faktoren ........................................................ 88<br />
3.3.4 Generative Erklärungsansätze .................................................................. 89<br />
3.3.4.1 Prosodische und rhythmische Faktoren .................................... 93<br />
3.3.4.2 Morphophonologische Faktoren ................................................ 95<br />
3.3.4.3 Konkurrenz zwischen Verb-Zweit-Stellung und<br />
Freier Inversion ........................................................................................ 99
VI<br />
3.3.4.4 Symmetrie oder Asymmetrie? Verb-Zweit-Stellung<br />
im Nebensatz ............................................................................. 102<br />
3.4 Verbstellungswandel in anderen romanischen Sprachen ....................................... 105<br />
4. Verb-Zweit-Stellungswandel als Parameterwechsel .................................................. 108<br />
4.1 Verb-Zweit-Stellung als parametrisierte Eigenschaft ........................................ 109<br />
4.1.1 Implikationen für den Spracherwerb ....................................................... 109<br />
4.1.2 Implikationen für den Sprachwandel .......................................................<br />
4.1.2.1 Quantitative Veränderungen in der Erwachsenen-<br />
114<br />
sprache ......................................................................................<br />
4.1.2.2 Strukturelle Veränderungen in der Erwachsenen-<br />
114<br />
sprache ...................................................................................... 119<br />
4.2 Parameterwechsel durch Dialekt- oder Sprachkontakt? ...................................... 124<br />
5. Verbstellungswandel in den romanischen Sprachen. Eine empirische<br />
Untersuchung ............................................................................................................. 129<br />
5.1 Die Datenbasis ................................................................................................. 129<br />
5.2 Das Altfranzösische als Verb-Zweit-Sprache? .................................................. 133<br />
5.2.1 Verb-Zweit-Stellungseffekte in altfranzösischen Matrixsätzen ........ 133<br />
5.2.2 Verb-Zweit-Stellungseffekte in altfranzösischen Nebensätzen ........ 143<br />
5.2.3 Verlust der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft im Französischen ........ 146<br />
5.3 Entwicklung der Verb-Zweit-Stellung im Iberoromanischen ............................ 154<br />
5.4 Entwicklung der Verb-Zweit-Stellung im Rätoromanischen ............................ 161<br />
6. Schlussbetrachtung .................................................................................................... 165<br />
7. Quellen- und Literaturverzeichnis ......................................................................... 169<br />
7.1 Quellen ........................................................................................................... 169<br />
7.2 Sekundärliteratur zu den Quellen .................................................................... 171<br />
7.3 <strong>Sprachwissenschaft</strong>liche Literatur .................................................................... 172<br />
8. Autorenregister ...................................................................................................... 191
Vorwort<br />
Die Wortstellung der meisten modernen romanischen Sprachen ist dadurch gekennzeichnet,<br />
dass das Subjekt des Satzes in der Regel vor dem finiten Verb erscheint. In bestimmten<br />
Kontexten – insbesondere in Interrogativsätzen – ist allerdings die umgekehrte Reihenfolge<br />
von Subjekt und Verb die Regel. Diese Subjekt-Verb-Inversion war in den frühromanischen<br />
Sprachen, insbesondere im Alt- und Mittelfranzösischen, wesentlich häufiger und<br />
nicht nur auf wenige Kontexte beschränkt. Diese Beobachtung hat zu der Annahme geführt,<br />
dass die romanischen Sprachen ursprünglich über die Eigenschaft der 'germanischen Inversion'<br />
verfügt haben, d.h. über die für alle germanischen Sprachen – mit Ausnahme des Englischen<br />
– charakteristische Eigenschaft, wonach das finite Verb in deklarativen Matrixsätzen<br />
unabhängig von der Stellung des Subjekts stets in der zweiten Position erscheint. Die<br />
Annahme lautet, dass die romanischen Sprachen diese Eigenschaft der Verb-Zweit-Stellung<br />
im Laufe ihrer Entwicklung verloren und nur noch einige Relikte davon erhalten haben.<br />
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist eine kritische Auseinandersetzung mit dieser<br />
vielfach vertretenen Annahme und mit den damit verbundenen Konsequenzen. Es geht darum<br />
zu überprüfen, ob und inwiefern es gerechtfertigt ist, die in den frühen und in den modernen<br />
romanischen Sprachen zu beobachtenden Verb-Zweit-Stellungseffekte in ähnlicher<br />
Weise wie die strenge Verb-Zweit-Stellung der germanischen Sprachen zu erfassen. Ausgehend<br />
von der im Rahmen der generativen Grammatiktheorie vertretenen Annahme, wonach<br />
die Verb-Zweit-Stellungseigenschaft eine parametrisch festgelegte Eigenschaft darstellt,<br />
folgt, dass deren Verlust als ein parametrischer Wandel beschrieben werden muss.<br />
Daraus ergibt sich eine Reihe theoretischer Konsequenzen, die im Rahmen dieser Arbeit<br />
ausführlich diskutiert werden. In dieser Diskussion wird deutlich, dass die bisherigen generativen<br />
Analysen diese Konsequenzen gar nicht oder nur teilweise beachten. Es gelingt<br />
ihnen daher nicht, den in den romanischen Sprachen zu beobachtenden Wandel der Stellung<br />
des Verbs als einen parametrischen Wandel zu belegen. Auch in empirischer Hinsicht liefern<br />
diese Analysen keine Bestätigung für diese Annahme. Dies zeigt zum einen ein Vergleich<br />
mit den Ergebnissen der zahlreichen deskriptiven vorgenerativen Untersuchungen<br />
zum Wortstellungswandel in den romanischen Sprachen und zum anderen eine umfangreiche<br />
eigene empirische Untersuchung, die auf dem diachronischen Vergleich von Übersetzungen<br />
eines Bibelabschnittes aus dem Alten Testament basiert. Die Daten dieser Untersuchungen<br />
enthalten zahlreiche Sätze, die nicht mit der Annahme der Existenz einer strengen<br />
Verb-Zweit-Stellungseigenschaft in den frühromanischen Sprachen vereinbar sind und<br />
somit gegen die Annahme eines parametrischen Wandels dieser Eigenschaft sprechen. Entscheidend<br />
ist hierbei die Beobachtung, dass in bestimmten Kontexten diese Nicht-Verb-<br />
Zweit-Sätze in den frühromanischen Sprachen regelmäßig auftreten. Basierend auf dieser<br />
Beobachtung, wird die These vertreten, dass diese Sätze die ausschlaggebende Information<br />
für die parametrische Festlegung dieser Sprachen als Nicht-Verb-Zweit-Sprachen bilden.<br />
Dies hat zur Folge, dass alle frühen und modernen romanischen Sprachen als Nicht-Verb-<br />
Zweit-Sprachen angesehen werden müssen. Die einzige Ausnahme bilden das Bündnerromanische<br />
und einige regionale Varietäten des Dolomitenladinischen.
VIII<br />
Die vorliegende Arbeit ist die vollständig überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift,<br />
die im Mai 1999 vom <strong>Fachbereich</strong> <strong>Sprachwissenschaft</strong>en der Universität Hamburg angenommen<br />
worden ist. Zu ihrer Entstehung und Fertigstellung haben viele Freunde und Kollegen<br />
mit Rat und Tat beigetragen. Ihnen allen möchte ich herzlich danken.<br />
Mein allererster Dank gilt meinem Lehrer Jürgen M. Meisel. Er hat mich nicht nur in der<br />
Zeit der Entstehung dieser Arbeit, sondern auch in den vielen Jahren davor stets kritisch<br />
unterstützt und freundschaftlich begleitet. Ich danke auch sehr Wolfgang J. Meyer, dessen<br />
Kommentare mir sehr geholfen und mich vor Fehlern bewahrt haben. Andolin Eguzkitza,<br />
Maria L. Goldbach, Esther Rinke und Giampaolo Salvi verdanke ich ebenfalls wertvolle<br />
Hilfen und vielfältige Anregungen.<br />
Bedanken möchte ich mich auch bei Peter Blumenthal, Werner Carigiet, Susanne E.<br />
Carroll, Cornelius Hasselblatt, Mary A. Kato, Carmen Kelling, Cecilia Poletto, Wolfgang<br />
Settekorn und Povl Skårup für hilfreiche Tipps und Hinweise. Florian Freitag, Annemarie<br />
Kastelsky, Regina Köppe, Hanna Reich und meiner Frau danke ich für wertvolle Unterstützung<br />
bei den Korrekturarbeiten und der Erstellung der Druckvorlage dieses Buches. Für<br />
Grammatikalitätsbeurteilungen und Hilfe bei den Übersetzungen der Sprachbeispiele danke<br />
ich Ana Maria Brito, Werner Carigiet, Sibrand van Coillie, Otília Dias, Thórhallur<br />
Eythórsson, Rudolf Harneit, Françoise Hasenclever, Unnur Klütsch, Nikolaus Schpak-Dolt,<br />
Gisela Villanueva, Marianne Vogel, Fred Weerman und Maarten de Wind.<br />
Mein ganz besonders herzlicher Dank gilt meiner Frau und meinen beiden Kindern, da<br />
sie mir in den vielen Jahren der Arbeit an diesem Buch den notwendigen Freiraum dafür<br />
gegeben haben. Gleichzeitig waren sie auch der ständige Ansporn dazu, sie zum Abschluss<br />
zu bringen.<br />
Konstanz, im März 2002 Georg A. Kaiser
Typographische Konventionen und Abkürzungen<br />
Abkürzungen der verwendeten Sprachen und Dialekte:<br />
afr. Altfranzösisch<br />
ait. Altitalienisch<br />
alt. Altlateinisch<br />
apg. Altportugiesisch<br />
asp. Altspanisch<br />
asur. Älteres Surselvisch<br />
bai. Bairisch<br />
bk. Baskisch<br />
bpg. Brasilianisches Portugiesisch<br />
dä. Dänisch<br />
dt. Deutsch<br />
en. Englisch<br />
fr. Französisch<br />
fs. Friesisch<br />
ipg. Iberisches Portugiesisch<br />
is. Isländisch<br />
it. Italienisch<br />
jd. Jiddisch<br />
lt. Lateinisch<br />
mfr. Mittelfranzösisch<br />
nfr. Neufranzösisch<br />
nl. Niederländisch<br />
npg. Neuportugiesisch<br />
nsur. Neusurselvisch<br />
pg. Portugiesisch<br />
pr. Provenzalisch<br />
psp. Puertorikanisches Spanisch<br />
sp. Spanisch<br />
sur. Surselvisch<br />
sw. Schwedisch<br />
tri. Triestinisch<br />
wfl. Westflämisch<br />
Typographische Kennzeichnungen in den Beispielsätzen:<br />
- fett = Subjekt<br />
- kursiv = finites Verb<br />
- einfach unterstrichen = dem finiten Verb voranstehende Konstituente<br />
- gestrichelt unterstrichen = dem finiten Verb voranstehendes Element, das nicht als<br />
Konstituente zählt<br />
- doppelt unterstrichen = nebensatzeinleitende Konjunktion oder andere außerhalb<br />
des Satzrahmens stehende Konstituente<br />
- gewellt unterstrichen: = sonstiges hervorzuhebendes Element
Numa visão superficial, o tema poderá parecer estranho, árido e<br />
destituído de interesse. Mas depois que o estudámos, cremos que<br />
essa opinião nasce do desconhecimento do assunto, poucas vezes<br />
abordado entre nós. Quando nos dedicamos a ele, mesmo que seja<br />
apenas a um aspecto restrito, reconhecemos, bem ràpidamente, a riqueza<br />
que possui e que só espera por ser descoberta. Com a continuação<br />
do trabalho, surgem constantemente novos aspectos a estudar,<br />
novas observações a fazer, novos pontos a meditar; e no<br />
próprio momento em que limitamos o âmbito da nossa actividade,<br />
desenha-se, com maior nitidez, a vastidão de tanto que fica por<br />
esclarecer e que quase surpreende. Só o caminhar, lento mas progressivo,<br />
dentro do próprio trabalho, dá esta consciência e esta revelação<br />
– como só a subida, talvez penosa, de qualquer encosta,<br />
desvenda a cada novo passo, a perspectiva de horizontes inesperados.<br />
(M. de Pádua 1960:1)
1. Gegenstand und grammatiktheoretische Grundlagen<br />
1.1 Der Untersuchungsgegenstand: Die Verb-Zweit-Stellung<br />
Eine der markantesten syntaktischen Eigenschaften aller germanischen Sprachen mit Ausnahme<br />
des Englischen besteht darin, dass das finite Verb in deklarativen Matrixsätzen stets<br />
in der zweiten Position, d.h. unmittelbar hinter der ersten Satzkonstituente, auftreten muss.<br />
Anders als bei sehr vielen anderen Wortstellungsphänomenen ist diese Stellungseigenschaft<br />
des Verbs rein syntaktischer Natur. Sie ist vollkommen unabhängig von prosodischen, semantischen,<br />
pragmatischen und/oder stilistischen Faktoren sowie von der syntaktischen<br />
Funktion oder Kategorie der satzinitialen Konstituente. Die folgenden Beispiele aus dem<br />
Deutschen und dem Niederländischen veranschaulichen deutlich, dass beide Sprachen über<br />
diese strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft verfügen:<br />
(1) dt. (a) Die Frau hat das Buch mit Vergnügen gelesen.<br />
(b) Das Buch hat die Frau mit Vergnügen gelesen.<br />
(c) Mit Vergnügen hat die Frau das Buch gelesen.<br />
(d) Gelesen hat die Frau das Buch mit Vergnügen.<br />
(e) Wenn sie Zeit gehabt hätte, hätte die Frau das Buch gelesen.<br />
(2) nl. (a) De vrouw heeft het boek met plezier gelezen.<br />
(b) Het boek heeft de vrouw met plezier gelezen.<br />
(c) Met plezier heeft de vrouw het boek gelezen.<br />
(d) Gelezen heeft de vrouw het boek met plezier.<br />
(e) Als ze tijd gehad had, had de vrouw het boek gelezen.<br />
In der Literatur wird diese besondere Eigenschaft der germanischen Sprachen häufig als<br />
'germanische Inversion' bezeichnet (Rohlfs 1982, Adams 1987a, de Bakker 1997). Meist ist<br />
nur allgemein von 'Inversion' oder 'Subjekt-(Verb-)Inversion' die Rede. Dieser Begriff ist<br />
allerdings zur exakten Kennzeichnung der Verb-Zweit-Stellung ungeeignet, da dadurch<br />
lediglich die "Umstellung einer als Normalform geltenden Wort- oder Satzgliedfolge [...],<br />
häufig bezogen auf die Stellung von Subjekt und Prädikat" beschrieben wird (Glück (Hg.)<br />
2000:316). Dabei kommt jedoch nicht die Obligatheit der Zweit-Stellung des finiten Verbs<br />
zum Ausdruck. Wie die Beispiele in (3)-(4) zeigen, ist die Verb-Zweit-Stellung im Deutschen<br />
und Niederländischen unabhängig von der Umstellung von Subjekt und Verb, d.h.<br />
sie ist auch dann obligatorisch, wenn das Subjekt dem finiten Verb vorangeht:<br />
(3) dt. (a) *Die Frau das Buch hat mit Vergnügen gelesen.<br />
(b) *Mit Vergnügen die Frau hat das Buch gelesen.<br />
(c) *Wenn sie Zeit gehabt hätte, die Frau hätte das Buch gelesen.<br />
(4) nl. (a) *De vrouw het boek heeft met plezier gelezen.<br />
(b) *Met plezier de vrouw heeft het boek gelezen.<br />
(c) *Als ze tijd gehad had, de vrouw had het boek gelezen.
2<br />
Außerdem lässt sich mit dem Begriff 'Inversion' nicht die Ungrammatikalität der Sätze wie<br />
(5)-(6) erfassen, in denen Subjekt und Verb zwar in invertierter Stellung erscheinen, dem<br />
Verb aber mehrere Konstituenten voranstehen:<br />
(5) dt. (a) *Das Buch mit Vergnügen hat die Frau gelesen.<br />
(b) *Wenn sie Zeit gehabt hätte, das Buch hätte die Frau gelesen.<br />
(6) nl. (a) *Het boek met plezier heeft de vrouw gelezen.<br />
(b) *Als ze tijd gehad had, het boek had de vrouw gelezen.<br />
Auch die Bezeichnung 'germanisch' zur Charakterisierung der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
ist nicht ganz zutreffend, da diese Eigenschaft auch in einigen nicht germanischen<br />
Sprachen anzutreffen ist. Insbesondere ist hier das Rätoromanische zu nennen. Die folgende<br />
Übersetzung der deutschen bzw. niederländischen Sätze in (1) und (2) in das Surselvische,<br />
eine der fünf regionalen Varietäten des Bündnerromanischen, belegt das Vorhandensein<br />
einer strengen Verb-Zweit-Stellung in dieser Sprache:<br />
(7) sur. (a) La dunna ha legiu il cudisch cun plascher.<br />
(b) Il cudisch ha la dunna legiu cun plascher.<br />
(c) Cun plascher ha la dunna legiu il cudisch.<br />
(d) Legiu ha la dunna il cudisch cun plascher.<br />
(e) Sche ella havess giu temps, havess la dunna legiu il cudisch.<br />
Die strenge Verb-Zweit-Eigenschaft zeigt sich auch darin, dass im Surselvischen ebenso<br />
wie im Deutschen und Niederländischen Sätze, die mehr als eine präverbale Konstituente<br />
enthalten, grundsätzlich ungrammatisch sind:<br />
(8) sur. (a) *La dunna il cudisch ha legiu cun plascher.<br />
die Frau das Buch hat gelesen mit Vergnügen<br />
(b) *Cun plascher la dunna ha legiu il cudisch.<br />
mit Vergnügen die Frau hat gelesen das Buch<br />
(c) *Sche ella havess giu temps, la dunna havess legiu il cudisch.<br />
wenn sie hätte gehabt Zeit die Frau hätte gelesen das Buch<br />
(d) *Il cudisch cun plascher ha la dunna legiu.<br />
das Buch mit Vergnügen hat die Frau gelesen<br />
(e) *Sche ella havess giu temps, il cudisch havess la dunna legiu.<br />
wenn sie hätte gehabt Zeit das Buch hätte die Frau gelesen<br />
Das Rätoromanische unterscheidet sich damit in syntaktischer Hinsicht deutlich von allen<br />
übrigen romanischen Sprachen. Allerdings gibt es innerhalb der sehr heterogenen Gruppe<br />
der dem Rätoromanischen zugerechneten Dialekte große Unterschiede hinsichtlich der<br />
Verb-Zweit-Stellungseigenschaft. Lediglich die bündnerromanischen Mundarten sind ausnahmslos<br />
durch eine strenge Verb-Zweit-Stellungsregel gekennzeichnet. Im Dolomitenladinischen<br />
gilt sie nur in einigen Dialekten und im Friaulischen überhaupt nicht (Salvi<br />
1997:297f., Poletto 2000:Kap.4, Kaiser / Carigiet / Evans 2001:201f.). 1<br />
1 Typologisch gesehen ist die strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft äußerst selten. Neben den<br />
germanischen Verb-Zweit-Sprachen und dem Bündnerromanischen werden bisweilen unter anderem<br />
auch Bretonisch und Kashmiri zur Gruppe der Verb-Zweit-Sprachen gerechnet (Schafer 1995,<br />
Bhatt 1999). Inwiefern dies gerechtfertigt ist, muss hier offen bleiben. Zumindest für das Bretonische<br />
gibt es starke Einwände gegen eine solche Charakterisierung (Borsley / Kathol 2000). Für die
In allen anderen romanischen Sprachen gibt es keinerlei Evidenz für die Existenz einer<br />
strengen Verb-Zweit-Stellungsregel. Die entsprechenden Übersetzungen der Sätze (1) und<br />
(2) zeigen, dass in französischen, spanischen und italienischen deklarativen Matrixsätzen<br />
die Zweit-Stellung des finiten Verbs offenbar nur dann grammatisch ist, wenn die satzinitiale<br />
Konstituente die grammatische Funktion des Subjekts innehat:<br />
(9) fr. (a) La femme a lu le livre avec plaisir.<br />
(b) *Le livre a la femme lu avec plaisir.<br />
(c) *Avec plaisir a la femme lu le livre.<br />
(d) *Lu a la femme le livre avec plaisir.<br />
(e) *Si elle avait eu le temps, aurait la femme lu le livre.<br />
(10) sp. (a) La mujer ha leído el libro con placer.<br />
(b) *El libro ha la mujer leído con placer.<br />
(c) *Con placer ha la mujer leído el libro.<br />
(d) *Leído ha la mujer el libro con placer.<br />
(e) *Si ella hubiera tenido tiempo, hubiera la mujer leído el libro.<br />
(11) it. (a) La donna ha letto il libro con piacere.<br />
(b) *Il libro ha la donna letto con piacere.<br />
(c) *Con piacere ha la donna letto il libro.<br />
(d) *Letto ha la donna il libro con piacere.<br />
(e) *Se ella avesse avuto tempo, avrebbe la donna letto il libro.<br />
Eine genauere Betrachtung dieser Sprachen macht jedoch deutlich, dass die Stellung des<br />
finiten Verbs in der zweiten Position keineswegs ausschließlich auf Kontexte beschränkt<br />
ist, in denen das Subjekt satzinitial steht. Unter bestimmten Bedingungen ist sie auch dann<br />
möglich, wenn ein Nicht-Subjekt den Satz einleitet. Dies ist im Spanischen und Italienischen<br />
etwa in Sätzen der Fall, die mit einer präpositionalen Ergänzung eingeleitet werden,<br />
allerdings – im Gegensatz zu den Sprachen mit einer strengen Verb-Zweit-Stellung – nur<br />
dann, wenn das Subjekt nicht zwischen dem Auxiliar und dem Partizip auftritt:<br />
(12) sp. (a) Con placer ha leído el libro la mujer.<br />
(b) Con placer ha leído la mujer el libro.<br />
(13) it. (a) Con piacere ha letto il libro la donna.<br />
(b) Con piacere ha letto la donna il libro.<br />
Diejenigen Sätze, in denen das Subjekt hinter dem Objekt steht, sind jedoch in beiden Sprachen<br />
markiert und i.d.R. nur möglich, wenn auf dem Subjekt eine besondere Betonung<br />
liegt. Dies gilt auch für solche Sätze des Spanischen und Italienischen wie in (14) oder (15),<br />
in denen das Objekt satzinitial erscheint. Es kann dort nur auftreten, wenn es gesondert<br />
betont ist und/oder in Kontrast zu anderen Konstituenten steht:<br />
(14) sp. UN LIBRO ha leído la mujer (y no un periódico).<br />
ein Buch hat gelesen die Frau und nicht eine Zeitung<br />
(15) it. UN LIBRO ha letto la donna (e non un giornale).<br />
ein Buch hat gelesen die Frau und nicht eine Zeitung<br />
von Koopman (1984) als Verb-Zweit-Sprachen analysierten afrikanischen Kru-Sprachen hat Haider<br />
(1993:72) nachgewiesen, dass diese Analyse nicht zutreffend ist.<br />
3
4<br />
Das Französische verhält sich deutlich anders als das Italienische und Spanische. Hier ist zu<br />
beobachten, dass sich die Ungrammatikalität der durch ein Nicht-Subjekt eingeleiteten<br />
Sätze in (9) weder durch eine Umstellung des postverbalen Subjekts noch durch eine gesonderte,<br />
kontrastive Betonung der satzinitialen Konstituenten ändert:<br />
(16) fr. (a) *Avec plaisir a lu la femme le livre.<br />
mit Vergnügen hat gelesen die Frau das Buch<br />
(b) *Avec plaisir a lu le livre la femme.<br />
mit Vergnügen hat gelesen das Buch die Frau<br />
(c) *UN LIVRE a lu la femme (et pas un journal).<br />
ein Buch hat gelesen die Frau und nicht eine Zeitung<br />
Dennoch ist im Französischen die Zweit-Stellung des finiten Verbs in Sätzen mit einem<br />
satzinitialen Nicht-Subjekt keineswegs kategorisch ausgeschlossen. Sie ist beispielsweise in<br />
Sätzen mit bestimmten satzeinleitenden Adverbien, wie z.B. peut-être oder ainsi, möglich.<br />
In diesem Fall muss das Subjekt allerdings pronominal sein. Außerdem besteht in Sätzen<br />
mit einem unakkusativischen oder sonstigen intransitiven Verb die Möglichkeit zur Verb-<br />
Zweit-Stellung, wobei es sich bei dem postverbalen Subjekt i.d.R. um eine indefinite Nominalphrase<br />
handelt. Ein pronominales Subjekt ist hier ausgeschlossen:<br />
(17) fr. (a) Peut-être a-t-elle lu le livre.<br />
vielleicht hat sie gelesen das Buch<br />
(b) *Peut-être a la femme lu le livre.<br />
vielleicht hat die Frau gelesen das Buch<br />
(18) fr. (a) Un jour est arrivé une femme avec un livre.<br />
eines Tages ist angekommen eine Frau mit einem Buch<br />
(b) *Un jour est-elle arrivée avec un livre.<br />
eines Tages ist sie angekommen mit einem Buch<br />
Ein kurzer Blick auf das Portugiesische zeigt, dass auch hier Verb-Zweit-Stellungseffekte<br />
zu beobachten sind. Ähnlich wie im Spanischen und Italienischen ist die Voranstellung<br />
eines Objektes i.d.R. dann möglich, wenn diesem eine besondere kontrastive Betonung zukommt.<br />
Der Unterschied zum Italienischen und Spanischen allerdings besteht darin, dass<br />
im Portugiesischen dabei das Subjekt adjazent zum Auxiliar stehen kann:<br />
(19) pg. (a) A mulher tem lido o livro com prazer.<br />
die Frau hat gelesen das Buch mit Vergnügen<br />
(b) UM LIVRO tem a mulher lido com prazer (e não um jornal).<br />
ein Buch hat die Frau gelesen mit Vergnügen und nicht eine Zeitung<br />
(c) Com prazer tem a mulher lido o livro.<br />
mit Vergnügen hat die Frau gelesen das Buch<br />
Ausgeschlossen ist im Portugiesischen hingegen – ähnlich wie im Französischen, Spanischen<br />
und Italienischen – die Verb-Zweit-Stellung nach einem satzinital stehenden Partizip,<br />
wobei die Ungrammatikalität dieser Konstruktion unabhängig von der Betonung des Partizips<br />
oder der Stellung des Subjekts ist. Ungrammatisch ist außerdem die Subjekt-Verb-Inversion<br />
nach einem satzeinleitenden Nebensatz:<br />
(20) pg. (a) *Lido tem a mulher o livro com prazer.<br />
gelesen hat die Frau das Buch mit Vergnügen<br />
(b) *Se ela tivesse tido tempo, teria a mulher lido o livro.<br />
wenn sie hätte gehabt Zeit hätte die Frau gelesen das Buch
Die Beispiele machen deutlich, dass in den vier hier betrachteten romanischen Sprachen<br />
Stellungsmöglichkeiten des finiten Verbs zu beobachten sind, die denen der Sprachen mit<br />
einer strengen Verb-Zweit-Stellung sehr ähnlich sind. Gleichzeitig zeigen die Beispiele<br />
aber auch, dass das Auftreten dieser Verb-Zweit-Stellung je nach Einzelsprache sehr unterschiedlichen<br />
Beschränkungen unterliegt und von unterschiedlichen Faktoren abhängig ist.<br />
Damit unterscheiden sich diese romanischen Sprachen deutlich von den germanischen<br />
Verb-Zweit-Sprachen und vom Bündnerromanischen, in denen solche Unterschiede nicht<br />
zu beobachten sind. Sie verfügen folglich nicht über eine strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft,<br />
die festlegt, dass das finite Verb in deklarativen Matrixsätzen stets und unabhängig<br />
von prosodischen, semantischen, pragmatischen oder stilistischen Faktoren die zweite<br />
Position im Satz einnehmen muss.<br />
Dieser Unterschied zwischen den germanischen Sprachen und dem Bündnerromanischen<br />
einerseits und den übrigen romanischen Sprachen andererseits fällt allerdings dann weniger<br />
deutlich aus, wenn man die frühromanischen Sprachen zum Vergleich heranzieht. Hier<br />
zeigt sich, dass insbesondere das Altfranzösische große Ähnlichkeiten zu den Verb-Zweit-<br />
Sprachen aufweist. Im Altfranzösischen unterliegt die Zweit-Stellung des finiten Verbs wesentlich<br />
geringeren Beschränkungen, als dies im Neufranzösischen der Fall ist. Wie die<br />
Beispiele in (21) veranschaulichen, gibt es im Altfranzösischen Belege für das Auftreten<br />
der Verb-Zweit-Stellung in allen typischen Kontexten, in denen in den germanischen Verb-<br />
Zweit-Sprachen und im Bündnerromanischen die Verb-Zweit-Stellung zu beobachten ist:<br />
(21) afr. (a) Et li baron regardent les letres<br />
und die Edelmänner betrachten die Buchstaben (=Brief)<br />
(que S.5,22) 2<br />
(b) les deniers prenderons nos<br />
die Geldstücke nehmen-werden wir<br />
(auc 18,37) (Thurneysen 1892:291)<br />
(c) Dunc prent li pedre de se(s) meilurs serjanz<br />
dann nimmt der Vater (einige) von seinen besten Dienern<br />
(ale 111)<br />
(d) Bu(e)ns fut li s(i)ecles al tens anciënur<br />
gut war die Welt zur Zeit (der) Vorfahren<br />
(ale 1)<br />
(e) É cume en la terrse Suph vindrent é nule nuvele nen<br />
und als in das Land Zuf (sie)-kamen und keine Nachricht nicht-darüber<br />
oïrent, fist Saül á sun serjant: 'Returnum! ...'<br />
hörten machte (=sagte) Saul zu seinem Diener kehren-wir-um<br />
(qlr 17: 1 Sam 9,5 ) (Haarhoff 1936:43)<br />
2 Die Abkürzungen der Quellen sind im Quellenverzeichnis aufgeführt. Sofern dies möglich war,<br />
sind alle Beispielsätze, die anderen Untersuchungen entnommen sind, von mir überprüft worden.<br />
Bei denjenigen Beispielen, deren Quellen mir nicht zugänglich waren oder von mir nicht ermittelt<br />
werden konnten, übernehme ich jeweils die Angaben der Untersuchung, der das Beispiel entnommen<br />
wurde. Für die Beispiele aus Texten der neuromanischen Sprachen verzichte ich auf eine<br />
Quellenangabe. Da die syntaktische Stellung der Konstituenten Gegenstand der vorliegenden Untersuchung<br />
ist, wird in der Regel nur eine Wort-für-Wort-Übersetzung der Beispiele gegeben. Eine<br />
sinngemäße Übersetzung wird nur dann geliefert, wenn sie zum Verständnis der syntaktischen<br />
Konstruktion notwendig erscheint.<br />
5
6<br />
Im Altspanischen und Altportugiesischen ist ebenso wie im Altfranzösischen die Verb-<br />
Zweit-Stellung wesentlich häufiger als in den modernen Varietäten zu beobachten. Außerdem<br />
tritt sie auch in Kontexten auf, in denen sie im modernen Spanischen bzw. modernen<br />
Portugiesischen gar nicht oder nur selten vorkommt:<br />
(22) asp. (a) Muça avia vn fijo<br />
Muça hatte einen Sohn<br />
(alf 152,1)<br />
(b) mas mis pecados propios devo traer delante de mi<br />
aber meine Sünden eigene (ich)-muss tragen vor PRÄP mir<br />
(abc 58-59) (England 1980:8)<br />
(c) E entonces le dixo Muget:<br />
und dann ihm sagte Muget<br />
(alf 137,76)<br />
(d) tan prieta et tan luzia es aquella pretura<br />
so schwarz und so glänzend ist dieses Amt<br />
(luc 5, S.80,13) (England 1984:388)<br />
(e) Si el vna vez en su poder me touiesse, non sería yo bien<br />
wenn er einmal in seiner Macht mich halten-würde nicht wäre ich wohl<br />
seguro de la vida<br />
sicher von dem Lebens<br />
(luc 9, S.89,17-19)<br />
(23) apg. (a) Esseu padre Panunçio deu todo oqui avia ao moesteiro<br />
und-ihr Vater Panunçio gab alles was (er)-hatte dem Kloster<br />
(euf S.365,32-33)<br />
(b) Esto dizia oabbade de Eufrosina quesse chamava Asmarado<br />
dies sagte der-Abt von Eufrosina die-sich nannte Asmarado<br />
(euf S.362,40-41)<br />
(c) E emtom chamou oabbade h u mõge<br />
und dann rief der-Abt einen Mönch<br />
(euf S.361,5-6)<br />
(d) Bem aventurados ssom estes baroões<br />
sehr glücklich sind diese Männer<br />
(euf S.358,23)<br />
(e) Depois queo monge disse estas cousas e outras semelhavees<br />
nachdem dass-der Mönch sagte diese Sachen und andere ähnliche<br />
a Eufrosina, veo Paununçio sseu padre<br />
zu Eufrosina kam Paununçio ihr Vater<br />
(euf S.359,24-25)<br />
Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch hinsichtlich des Italienischen machen. So liefert<br />
Benincà (1983/84) Belege aus den Testi di Lio Mazor, einem norditalienischen – möglicherweise<br />
venezianischen – Text aus dem 14. Jhdt., für die Verb-Zweit-Stellung in allen<br />
hier beobachteten Kontexten mit Ausnahme des Falls, bei dem ein Nebensatz den Satz<br />
einleitet:<br />
(24) ait. (a) Piçol Pare levà un runchun<br />
Piçol Pare aufgehoben -hat eine Hippe<br />
(Lio Mazor 6r,19) (zitiert nach Benincà 1983/84:182)<br />
(b) questo avrò- e<br />
dieses haben-werde ich<br />
(Lio Mazor 14r,7) (zitiert nach Benincà 1983/84:181)
(c) E così vogà eli fina ala punta del canal<br />
und so ruderten sie bis zum Ende des Kanals<br />
(Lio Mazor 21r,24) (zitiert nach Benincà 1983/84:181)<br />
(d) Condanà fo ser Nicholò<br />
verurteilt wurde Herr Nicholò<br />
(Lio Mazor 2t,27) (zitiert nach Benincà 1983/84:181)<br />
Diese Belege deuten darauf hin, dass die altromanischen Sprachen offenbar in ähnlicher<br />
Weise wie die germanischen Sprachen durch eine strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
charakterisiert waren und somit möglicherweise als Verb-Zweit-Sprachen analysiert werden<br />
können. Aus diesem Grund werden die in den modernen Varietäten dieser Sprachen zu<br />
beobachtenden Verb-Zweit-Stellungsmuster sehr häufig als ein 'Überbleibsel' einer ursprünglich<br />
generell gültigen Verb-Zweit-Stellungsregel betrachtet. Stellvertretend für diese<br />
Auffassung kann Foulets Bemerkung über den Status adverbial eingeleiteter Inversionskonstruktionen<br />
im modernen Französischen gesehen werden (cf. auch Goldsmith 1981:547,<br />
Rohlfs 1982:241, Rizzi 1990b, 1990c):<br />
De nos jours, l'inversion après quelques adverbes ou locutions adverbiales est un héritage de la<br />
vieille langue et tout ce qui reste d'une construction autrefois si répandue et si familière. (Foulet<br />
1928:315)<br />
Den Gegenstand der vorliegenden Arbeit bilden die hier beobachteten Verb-Zweit-Stellungs-<br />
oder Inversionskonstruktionen der frühen und der modernen romanischen Sprachen.<br />
Dabei geht es primär darum zu klären, ob und auf welche Weise diesen Konstruktionen<br />
tatsächlich eine Verb-Zweit-Struktur zugeordnet werden kann. Zunächst soll im Kapitel 2<br />
in einem Vergleich mit den germanischen Verb-Zweit-Sprachen der Frage nachgegangen<br />
werden, ob die in den modernen romanischen Sprachen auftretenden Verb-Zweit-Stellungsmuster<br />
in gleicher Weise analysiert werden können wie die strenge Verb-Zweit-Stellung<br />
der germanischen Sprachen und inwiefern somit deren Charakterisierung als "héritage<br />
de la vieille langue" gerechtfertigt ist. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die daran anschließende<br />
Untersuchung der diachronischen Entwicklung der Verbstellung in den romanischen<br />
Sprachen, wobei die Entwicklung im Französischen den Schwerpunkt bildet, da hier die<br />
gravierendsten Veränderungen eingetreten sind. Die zentrale, empirisch zu überprüfende<br />
Frage lautet, ob diese Sprachen eine ursprüngliche strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
verloren haben und wie der zu beobachtende Wandel im Rahmen der hier gewählten generativen<br />
Prinzipien- und Parameter-Theorie erklärt werden kann.<br />
1.2 Die grammatiktheoretischen Grundlagen: Die generative Prinzipien- und<br />
Parametertheorie<br />
Für die Untersuchung eines Phänomens, das rein syntaktischer Natur ist, liegt es nahe, als<br />
theoretischen Rahmen ein Grammatikmodell zu wählen, das von der Annahme ausgeht,<br />
dass jede menschliche Sprache über ein autonomes mentales System verfügt, dessen Prinzipien<br />
und Regularitäten nicht auf semantische oder pragmatische Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt<br />
werden können, sondern ausschließlich auf syntaktischen Kategorien und Be-<br />
7
8<br />
grifflichkeiten aufgebaut sind. Auf dieser Annahme basiert bekanntlich die generative<br />
Grammatiktheorie, deren Ziel es ist, dieses autonome System der menschlichen Sprache zu<br />
beschreiben und dessen Regularitäten zu erfassen. Es darf vermutet werden, dass die rein<br />
syntaktisch motivierten Regeln der Verb-Zweit-Stellung ein Bestandteil dieses Systems<br />
sind (Fanselow / Felix 1987:71f.). Daher sollte zu erwarten sein, dass die generative Grammatiktheorie<br />
eine angemessene Grundlage für die Untersuchung des Verb-Zweit-Stellungsphänomens<br />
und dessen historische Entwicklung liefert.<br />
Hinter der Entscheidung für diese Grammatiktheorie steht zunächst natürlich auch die<br />
Überzeugung, dass eine solche Untersuchung nur dann zu angemessenen und aussagekräftigen<br />
Ergebnissen gelangen kann, wenn sie in eine Theorie eingebettet ist, die über ein fundiertes<br />
und detailliert ausgearbeitetes Grammatikmodell zur Beschreibung menschlicher<br />
Sprachen und darüber hinausgehend über ein umfangreiches Forschungsprogramm zur Klärung<br />
weiter reichender Fragen über die menschliche Sprachfähigkeit verfügt. Beide Voraussetzungen<br />
sind meiner Überzeugung nach in der generativen Grammatiktheorie erfüllt. Sie<br />
legt als kognitionswissenschaftlich zu verstehender Ansatz für alle Erklärungsversuche und<br />
deren Bewertungen einen spezifischen Rahmen fest, nämlich insofern als diese mit den derzeit<br />
akzeptierten Hypothesen über die Repräsentation von Sprache, die Modalitäten ihrer<br />
Verarbeitung und ihres Erwerbs vereinbar sein müssen. Betont werden muss, dass der Untersuchungsgegenstand<br />
der generativen Grammatiktheorie die interne, jedem kompetenten<br />
Sprecher internalisierte Sprache (I-Sprache) ist, deren Grammatik ein mental repräsentiertes<br />
System von Regeln und Prinzipien darstellt. Ziel der generativen Grammatiktheorie ist<br />
es, die Strukturen dieser Grammatik zu erfassen und zu beschreiben. Dabei können auch<br />
Beschreibungen verschiedener historischer Zustände einer Sprache geliefert und somit<br />
Aussagen über die Grammatiksysteme von Sprechern einer Sprache zu verschiedenen Zeiten<br />
gemacht werden. Dementsprechend geht es in einer generativen Theorie des Sprachwandels<br />
darum, "Sprachwandel durch die Unterschiede zwischen verschiedenen grammatischen<br />
Regelsystemen zu beschreiben und diese Unterschiede formal zu definieren" (Lenerz<br />
1993:1167), d.h. dahingehend zu betrachten, ob und inwiefern die interne Grammatik der<br />
Sprache Veränderungen erfahren hat.<br />
Die Entscheidung für diese Theorie impliziert nicht, dass sie als die einzige angesehen<br />
wird, die es ermöglichen würde, adäquate Aussagen über den hier behandelten Untersuchungsgegenstand<br />
zu machen. Vielmehr stellt die generative Grammatiktheorie nur eine der<br />
verschiedenen Möglichkeiten der linguistischen Beschreibung dar. Allein auf Grund der<br />
Tatsache, dass bereits vor der Entwicklung der generativen Grammatiktheorie umfangreiche<br />
Studien zur Wortstellung und Wortstellungsentwicklung in den romanischen Sprachen<br />
betrieben worden sind, basiert der weitaus größte Teil dieser Untersuchungen auf nicht<br />
generativen Theorien. Eines der Ziele einer generativen Untersuchung könnte daher darin<br />
gesehen werden, komplementäre Ergebnisse zu diesen nicht generativen Arbeiten zu liefern.<br />
Dies setzt eine gründliche Auseinandersetzung mit den Ergebnissen dieser Untersuchungen<br />
voraus. In den bisherigen generativen Arbeiten ist dies allerdings kaum geschehen.<br />
In der Regel werden dort nicht generative Arbeiten nur marginal zur Kenntnis genommen.<br />
Dies hängt wohl auch damit zusammen, dass die generative Syntaxforschung sehr mit sich<br />
selbst und der internen Theorieentwicklung beschäftigt ist. Die intensive interne Diskussion<br />
hat zur Folge, dass die Theorie eine sehr rasche Entwicklung genommen hat, die durch<br />
mehrere, mitunter sehr radikale Veränderungen geprägt ist und zur Herausbildung verschiedener,<br />
teilweise miteinander konkurrierender Modellansätze geführt hat. Diese Ent-
wicklung hat natürlich auch Auswirkungen auf eine generative historische Syntaxforschung:<br />
Unfortunately for the historical linguist, however, generative syntax is characterized by a great variety<br />
of often radically different theoretical approaches and practical concerns. Moreover, generative<br />
syntax exhibits great variability not only 'synchronically', but also 'diachronically', in that – it<br />
seems – every five years or so, at least one radically new theory appears on the scene. (Hock<br />
1991:309)<br />
In der Tat stellen diese rasanten Entwicklungen und Veränderungen in der generativen<br />
Grammatiktheorie jeden historisch arbeitenden Linguisten, der sich an dieser Grammatiktheorie<br />
orientiert, vor das Problem, bis zu welchem Punkt der Entwicklung der Theorie<br />
gefolgt werden soll, um schließlich mit der eigenen Untersuchung zu beginnen. Hier kann<br />
nur eine pragmatische Lösung gewählt werden. Sie besteht darin, dasjenige Modell auszuwählen,<br />
das einerseits geeignet ist, den zentralen Fragen des Sprachwandels gerecht zu werden,<br />
und das andererseits eine adäquate Grundlage dafür liefert, die bisherigen generativen<br />
Untersuchungen zum Sprachwandel und zum Untersuchungsgegenstand der eigenen Arbeit<br />
diskutieren und miteinander vergleichen zu können. Auf Grund dieser Vorgaben fällt die<br />
Entscheidung eindeutig zu Gunsten der in den 80er-Jahren entwickelten Prinzipien- und<br />
Parametertheorie aus (Chomsky 1981, 1982, 1986a, 1986b). Insbesondere die darin entworfene<br />
Theorie der Parameter liefert den Rahmen für ein vielversprechendes Programm<br />
zur Erforschung der historischen Syntax, das mittlerweile Eingang in eine generative Theorie<br />
des Sprachwandels gefunden hat (Lightfoot 1991, 1993a, Roberts 1992, 1993). Gleichzeitig<br />
bildet die Prinzipien- und Parametertheorie auch die theoretische Grundlage für eine<br />
zu Beginn der 80er-Jahre einsetzende sehr intensive Diskussion der Verb-Zweit-Stellungseffekte<br />
in den germanischen sowie in den (früh-)romanischen Sprachen.<br />
1.2.1 Grundlagen und Zielsetzungen der Prinzipien- und Parametertheorie<br />
Die zentrale Motivation für die Entwicklung der Prinzipien- und Parametertheorie basiert<br />
auf der für die generative Sprachtheorie fundamentalen Hypothese, die besagt, dass es nicht<br />
möglich ist, komplexe und systematische grammatische Eigenschaften natürlicher Sprachen<br />
durch allgemeine Lernstrategien oder induktive Verfahrensweisen zu erwerben, so dass die<br />
genetische und damit vorgegebene Determination der Sprachfähigkeit an eine sprachspezifische<br />
Komponente geknüpft ist. Diese Hypothese leitet sich aus Beobachtungen des kindlichen<br />
Erstspracherwerbs ab, die deutlich machen, dass alle Kinder ihre Muttersprache prinzipiell<br />
in gleicher Weise und unter normalen Voraussetzungen stets erfolgreich und innerhalb<br />
einer relativ kurzen Zeitspanne erwerben. Das Bemerkenswerte daran ist vor allem,<br />
dass dies der Fall ist, obwohl die Regeln und Gesetzmäßigkeiten der zu erwerbenden Sprache<br />
sehr komplexer Natur sind und vielfach an den oberflächlichen Struktureigenschaften<br />
der sprachlichen Daten nicht erkennbar sind. Mit anderen Worten, die Daten, denen ein<br />
Kind während des Spracherwerbs ausgesetzt ist, sind unterdeterminiert, d.h. sie reichen<br />
nicht aus, um den Erwerb derart komplexer Regeln und Prinzipien zu ermöglichen. Kinder<br />
können den Daten nur entnehmen, welche Sätze in ihrer Muttersprache möglich sind (positive<br />
Evidenz). Dabei hören sie allerdings keineswegs alle möglichen Sätze ihrer Muttersprache<br />
und erhalten außerdem keine – zumindest keine regelmäßige und eine individuell sehr<br />
verschiedene – Information darüber, welche Sätze in ihrer Muttersprache ausgeschlossen<br />
9
10<br />
sind (negative Evidenz). Dennoch sind sie innerhalb kurzer Zeit in der Lage, korrekte Sätze<br />
in ihrer Muttersprache zu bilden und zu verstehen und nicht korrekte Sätze als ungrammatisch<br />
zu beurteilen.<br />
Erklärtes Ziel der generativen Grammatik ist es, eine Erklärung für dieses 'logische Problem<br />
des Spracherwerbs' zu finden. 3 Es geht also darum, diejenigen Regeln und Prinzipien<br />
zu formulieren, die den kindlichen Erwerb jeder menschlichen Sprache gewährleisten. Auf<br />
Grund der beschriebenen Spracherwerbsproblematik muss die Vielfalt dieser Regeln und<br />
Prinzipien möglichst restriktiv gehalten werden. Sie muss aber gleichzeitig groß genug sein,<br />
um die grammatischen Gemeinsamkeiten aller Sprachen zu erfassen. Neben diesen universalgrammatischen<br />
Regeln und Prinzipien gibt es darüber hinaus auch grammatische Eigenschaften<br />
von Sprachen, durch die nicht alle, jedoch mehrere Sprachen gekennzeichnet sind.<br />
Um dies zu erfassen, wird angenommen, dass die Universalgrammatik neben den besagten<br />
Regeln und Prinzipien Strukturoptionen ('Parameter') zur Verfügung stellt, deren Wert für<br />
jede Einzelsprache gesondert festgelegt ist. Dieser Wert besagt, ob eine Sprache eine (oder<br />
mehrere) bestimmte Eigenschaft(en) besitzt oder nicht. Im Verlauf des Spracherwerbs muss<br />
das Kind auf Grund der ihm zugänglichen Sprachdaten ('Input') für die verschiedenen Parameter<br />
den jeweiligen Wert, der für seine Muttersprache in Frage kommt, festlegen. Entscheidend<br />
ist hierbei vor allem die Annahme, dass diese Parameterfixierung den Erwerb<br />
mehrerer Eigenschaften, die gebündelt mit einem Parameterwert verbunden sind, impliziert.<br />
Das bedeutet, dass Kinder diese Eigenschaften nicht separat und nacheinander erlernen<br />
müssen, sondern dass diese mit der Festlegung des betreffenden Parameters auf einen<br />
bestimmten Wert gleichzeitig und 'automatisch' in die Grammatik integriert werden.<br />
Im Zusammenhang mit dem von Chomsky (1995) entworfenen 'Minimalistischen Programm'<br />
ist die Diskussion der Parameter stark in den Hintergrund getreten. Da jedoch das<br />
Minimalistische Programm in die generative Prinzipien- und Parametertheorie eingebettet<br />
ist, bedeutet dies keineswegs eine Aufgabe der Parametertheorie, sondern lediglich eine<br />
Verschiebung des Schwerpunkts der aktuellen generativen Grammatikdiskussion. Im Zentrum<br />
stehen gegenwärtig vorwiegend technische Fragen bzgl. des Aufbaus und der Funktionsweise<br />
universal- und einzelsprachlicher Regeln und Prinzipien. Ausgelöst durch die<br />
Arbeiten von Pollock (1989) und Chomsky (1991) ist eine intensive Diskussion über Art<br />
und Anzahl funktionaler Kategorien entstanden. Obwohl gegen die Einführung zusätzlicher<br />
funktionaler Kategorien neben den Kategorien INFL und COMP zahlreiche und gut begründete<br />
Einwände vorgebracht wurden (Iatridou 1990, Abeillé / Godard 1994, Meisel<br />
1994), ist die Annahme der INFL-Aufspaltung in mehrere funktionale Kategorien sowie die<br />
Einführung einer Neg(ations)-Phrase oder einer D(eterminierer)-Phrase weitgehend akzeptiert<br />
worden. Etwas umstrittener ist die Annahme einer in mehrere funktionale Kategorien<br />
unterteilten CP (Müller / Sternefeld 1993, Rizzi 1997).<br />
In der vorliegenden Untersuchung wird dennoch davon ausgegangen, dass auf die Annahme<br />
solcher zusätzlicher funktionaler Kategorien verzichtet werden kann, um die hier<br />
untersuchten Verb-Zweit-Stellungseffekte zu erfassen. Es wird angenommen, dass es möglich<br />
ist, auf der Grundlage eines Phrasenstrukturbaums, der lediglich die beiden funktiona-<br />
3 Chomsky (1986b:xxvii) sieht darin einen Sonderfall von 'Platons Problem', das darin besteht zu<br />
erklären, "how we know so much, given that the evidence available to us is so sparse".
len Phrasen CP und IP enthält (Chomsky 1986a), eine adäquate Verb-Zweit-Stellungsanalyse<br />
zu erarbeiten: 4<br />
(25) CP<br />
SpezCP C'<br />
COMP IP<br />
SpezIP I'<br />
INFL VP<br />
SpezVP V'<br />
V 0 NP<br />
Diese Auffassung steht im Einklang mit der Mehrzahl der bisherigen generativen Verb-<br />
Zweit-Stellungsanalysen, die mehrheitlich im vorminimalistischen Rahmen entworfen worden<br />
sind. Insbesondere, was die Struktur der CP betrifft, die für die generative Analyse der<br />
Verb-Zweit-Stellung von zentraler Bedeutung ist, konnte auch in minimalistischen Untersuchungen<br />
gezeigt werden, dass eine Aufspaltung dieser funktionalen Kategorie nicht notwendig<br />
ist (Abraham 1997). Die Annahme des Strukturbaums (25) impliziert allerdings<br />
keine grundsätzliche Ablehnung komplexerer Strukturbäume. Sie gibt lediglich die Auffassung<br />
wieder, wonach die Annahme weniger komplexer Strukturbäume immer dann wünschenswert<br />
ist, wenn diese zur Formulierung der notwendigen Generalisierungen ausreichend<br />
sind. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass der Strukturbaum (25) für die<br />
adäquate Bestimmung der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft und der damit verbundenen<br />
Generalisierungen geeignet ist.<br />
1.2.2 Die Prinzipien- und Parametertheorie und die historische Syntaxforschung<br />
Eine der Grundannahmen vieler moderner Sprachwandeltheorien besagt, dass die Vorgänge<br />
beim kindlichen Erstspracherwerb eine zentrale Rolle für den Wandel von Sprachen spie-<br />
4 Grundsätzlich stellt sich die Frage, inwiefern es überhaupt gerechtfertigt ist, die im Rahmen der<br />
Prinzipien- und Parametertheorie ursprünglich erarbeiteten und gut begründeten Annahmen über<br />
Satz- und Grammatikstrukturen aufzugeben. Bislang ist es nicht gelungen, in überzeugender Weise<br />
den Nachweis für die größere Erklärungsadäquatheit des Minimalistischen Modells gegenüber<br />
dem ursprünglichen rektions- und bindungstheoretischen Ansatz zu erbringen:<br />
"What is altogether mysterious from a purely scientific point of view is the rapidity with which a<br />
substantial number of investigators, who had significant research commitments in the Government-Binding<br />
framework, have abandoned that framework and much of its conceptual inventory,<br />
virtually overnight. In its place they have adopted an approch which, as far as we can tell, is in no<br />
way superior with respect to either predictive capabilities nor explanatory power." (Lappin /<br />
Levine / Johnson 2000:267)<br />
11
12<br />
len. Sie geht auf den Junggrammatiker Hermann Paul zurück, der als einer der ersten auf<br />
die Bedeutung des Spracherwerbs für den Sprachwandel aufmerksam gemacht hat:<br />
Es liegt auf der Hand, dass die Vorgänge bei der Spracherlernung von der allerhöchsten<br />
W ichtigkeit für die Erklärung der Veränderung des Sprachusus sind, dass<br />
sie die wichtigste Ursache für diese Veränderungen abgeben. Wenn wir, zwei durch einen längeren<br />
Zwischenraum von einander getrennte Epochen vergleichend, sagen, die Sprache habe sich in den<br />
Punkten verändert, so geben wir ja damit nicht den wirklichen Tatbestand an, sondern es verhält<br />
sich vielmehr so: die Sprache hat sich ganz neu erzeugt und diese Neuschöpfung ist nicht völlig<br />
übereinstimmend mit dem Früheren, jetzt Untergegangenen ausgefallen. (Paul 1920:34)<br />
Nach Auffassung von Paul (1920:34) können diese Vorgänge im Spracherwerb "entweder<br />
positiv oder negativ sein, d.h. sie bestehen entweder in der Schöpfung von etwas Neuem<br />
oder in dem Untergang von etwas Altem, oder endlich drittens sie bestehen in einer Unterschiebung,<br />
d.h. der Untergang des Alten und das Auftreten des Neuen erfolgt durch den<br />
selben Akt". Paul macht allerdings keinerlei konkrete Angaben über das Funktionieren<br />
dieser Spracherwerbsmechanismen und lässt die Frage offen, warum es dabei zu Veränderungen<br />
der Muttersprache kommen kann (cf. Weinreich / Labov / Herzog 1968:109).<br />
Einen Versuch, diese Frage zu beantworten, stellt das von Andersen (1973) entwickelte<br />
Sprachwandelmodell dar. Dieses Modell, das weitgehend in alle modernen Sprachwandeltheorien<br />
Eingang gefunden hat 5 , basiert auf der Annahme, dass Kinder keinen direkten Zugang<br />
zur "internalized grammar" der erwachsenen Sprecher ihrer Muttersprache haben.<br />
Stattdessen muss das Kind auf der Grundlage des erwachsenensprachlichen Inputs ("Output<br />
1") und unter Mitwirkung der von der Universalgrammatik vorgegebenen Regeln und<br />
Prinzipien die Grammatik der Erwachsenensprache rekonstruieren (Andersen 1973:767,<br />
Anttila 1989:197):<br />
(26)<br />
Universalgrammatik<br />
Grammatik der Erwachsenen Grammatik der Kinder<br />
Erwachsenensprache ('Output 1') Kindersprache ('Output 2')<br />
Zu einem Wandel des grammatischen Systems einer Sprache kann es diesem Modell zufolge<br />
dann kommen, wenn Kinder die Daten des erwachsenensprachlichen Inputs in einer<br />
anderen Weise interpretieren als in der im Grammatiksystem der Erwachsenen vorgegebenen<br />
Weise. Das heißt, "eine von den bisher üblichen Grammatiken abweichende neue<br />
Grammatik wird konstruiert", wobei "die sich aus ihr ergebende Sprechtätigkeit [...] von<br />
der bisherigen Sprechtätigkeit verschieden sein [kann], [...] es aber nicht [muß]" (Bechert<br />
1982:207). Gemäß der klassischen Definition von Reanalyse, die auf Langacker (1977:58)<br />
5 Andersens Modell diente ursprünglich nur der Erklärung von phonologischem Wandel (in einem<br />
tschechischen Dialekt in Nordostböhmen). Es wurde erst später zur Erklärung von syntaktischem<br />
Wandel herangezogen (für eine kritische Darstellung des Andersen'schen Modells cf. Bechert<br />
1982 und Anttila 1989:196ff.).
zurückgeht, wird sogar explizit davon ausgegangen, dass diese Neuerung zunächst keine<br />
Auswirkungen auf die "Sprechtätigkeit" hat, sondern erst später zu Veränderungen der<br />
Oberflächenstruktur führen kann:<br />
I will define "reanalysis" as change in the structure of an expression or class of expressions that<br />
does not involve any immediate or intrinsic modification of its surface manifestation. Reanalysis<br />
may lead to changes at the surface level [...], but these surface changes can be viewed as the natural<br />
and expected result of functionally prior modifications in rules and underlying representations.<br />
(Langacker 1977:58)<br />
Eine solche Auffassung von Sprachwandel, in der die Existenz von mindestens zwei Repräsentationsebenen<br />
für Sprache postuliert wird, impliziert, wie Abraham (1992:7) zu Recht<br />
betont, eine Theorieorientierung, d.h. sie ist "in einem naturwissenschaftlichen Sinne absolut<br />
theorieverpflichtet":<br />
Reanalyse oder Restrukturierung setzen, wollen sie nicht zu trivialen Werkzeugen linguistischer<br />
Intuitionsbestätigung werden, eine typologisch leistungsfähige, abstrakte und formalisierte Syntax-<br />
und Morphosyntaxtheorie voraus, eine gesunde Mischung aus empirisch gut gesicherten Generalisierungen,<br />
gespeist aus Erscheinungen aus dem linguistischen Kernbereich, sowie ein theoretisches<br />
Konstrukt, das einerseits weitmaschig genug gebaut ist, alle Erscheinungsformen der Sprache<br />
zu erfassen, und das andererseits in seinen Konstruktformen eng genug vernetzt ist, soda[ß]<br />
weitläufige, Voraussagen erlaubende Zusammenhänge innerhalb der Theoriekomponenten sichtbar<br />
werden. Solche formalen Theorien legen ihrerseits den methodischen Experimentier- und [Ü]berprüfungsrahmen<br />
relativ fest aus (Distributionstests; relativ hohe Gewichtung von Wortstellungsbeobachtungen;<br />
Einengung des abzuprüfenden Erscheinungsbereichs auf minimale Unterschiede unter<br />
Fixierung aller anderer potentieller Einflu[ß]faktoren; deutliche Konzepte von semantisch-logischem<br />
Skopus; Fragestellungen aus dem Erst- und Zweitspracherwerb, deren Phänomene in die<br />
Zuspitzung der theoretischen Modellfragen miteingehen; etc.). (Abraham 1992:18f.)<br />
Für Abraham (1992:19) steht außer Frage, dass "die syntaktische Schule der Universalgrammatik"<br />
und damit die generative Prinzipien- und Parametertheorie diese hier geforderten<br />
Voraussetzungen erfüllt und somit ein adäquates Modell zur Erfassung diachronischer<br />
Restrukturierungsprozesse darstellt. Diese Theorie stellt nicht nur den notwendigen<br />
methodischen Experimentier- und Überprüfungsrahmen zur Verfügung, sondern liefert<br />
auch die Möglichkeit, unterschiedliche Sprachwandelphänomene als grundsätzlich verschiedene<br />
Prozesse zu beschreiben, die auf unterschiedlichen Ebenen der Grammatik operieren<br />
und unterschiedliche Module betreffen.<br />
Allmähliche, langwierige Sprachwandelprozesse können als Prozesse betrachtet werden,<br />
die ausschließlich oberflächliche Strukturen betreffen. Hierbei handelt es sich um Prozesse<br />
wie etwa der Grammatikalisierung oder der lexikalischen Entlehnung (Abraham 1992:8).<br />
Ein solcher Vorgang, den Roberts (1992:158) als "step" bezeichnet, führt i.d.R. zu einer<br />
Zunahme der Häufigkeit bestimmter Konstruktionen in der Sprache, d.h. der Gebrauch<br />
einer bestimmten Konstruktion hat einen Wandel erfahren, während deren zugrunde liegende<br />
Struktur unverändert bleibt. Es wird angenommen, dass dieser Wandel in der Erwachsenensprache<br />
dazu führen kann, dass die Kinder einer oder mehrerer Generationen<br />
damit beginnen, diesen Konstruktionen eine andere zugrunde liegende Struktur als in der<br />
Erwachsenengrammatik zuzuordnen, d.h. sie zu reanalysieren.<br />
Sehr umstritten ist in der gesamten Reanalyse-Diskussion vor allem, ob diese Veränderungen<br />
der zugrunde liegenden Struktur abrupt eintreten müssen (Lightfoot 1979, 1991,<br />
Haspelmath 1998) oder ob es sich hierbei vielmehr um langwierige Prozesse handeln kann<br />
13
14<br />
(Harris / Campbell 1995, Roberts 1993). Grundlegend für die generative Sprachwandelanalyse<br />
ist die Annahme, dass es Sprachwandelerscheinungen gibt, die plötzlich und abrupt<br />
eintreten ("catastrophic changes", Lightfoot 1991, 1997a). Sie werden entweder als das unmittelbare<br />
Resultat einer 'radikalen' Reanalyse erfasst oder als Folge einer Reanalyse, die<br />
erst später in eine abrupte Änderung, d.h. in die endgültige Aufgabe einer ursprünglichen<br />
Konstruktion, mündet. In beiden Fällen wird angenommen, dass einzelne Parameterwerte<br />
eine Umfixierung erfahren, wodurch eine Änderung des gesamten grammatischen Systems<br />
ausgelöst wird:<br />
[...] we have seen that in generative work on change, the emphasis is on abrupt change. This is<br />
primarily a consequence of the theoretical framework. Since parameter settings are typically an<br />
all-or-nothing phenomenon, a new parameter setting will represent an abrupt change in the I-language<br />
of the speaker with respect to those of the speakers in her language environment. (Kemenade<br />
/ Vincent 1997:4)<br />
Somit kann ein Vorteil einer auf der generativen Prinzipien- und Parametertheorie basierenden<br />
Sprachwandeltheorie darin gesehen werden, dass bestimmte Phänomene der diachronen<br />
Variation auf eine grundsätzlich andere Weise als in bisherigen Sprachwandeltheorien<br />
erfasst werden können. Die Attraktivität der Prinzipien- und Parameter-Theorie für eine<br />
Theorie des Sprachwandels, die Sprachwandelphänomene Vorgängen im kindlichen<br />
Spracherwerb zuschreibt, liegt außerdem insbesondere darin, dass sie auf Beobachtungen<br />
aus dem Erstspracherwerb beruht und diese zu erklären versucht. Damit besteht für eine<br />
generative Sprachwandelforschung auch die Möglichkeit, selbst einen Beitrag zur Erforschung<br />
des logischen Problems des Spracherwerbs zu leisten, da auf Grund der Ergebnisse<br />
aus der Sprachwandelforschung möglicherweise Rückschlüsse auf Prozesse des kindlichen<br />
Spracherwerbs gezogen werden können. Dies gilt auch im Hinblick auf die Theorie der<br />
Parameter, deren Funktionsweise noch weitgehend ungeklärt ist, da einerseits bislang<br />
"[g]rundsätzliche Überlegungen zur Natur solcher Parameter [...] weitgehend [fehlen]"<br />
(Lenerz 1993:1173) und andererseits die konkrete Ausformulierung einzelner Parameter –<br />
auch des hier betrachteten Verb-Zweit-Parameters – bislang nur in Ansätzen gelungen ist.<br />
Eine generative Untersuchung des Wandels von Parametern könnte hier einen zentralen<br />
Beitrag für die Weiterentwicklung der Parametertheorie liefern:<br />
Diachrone Untersuchungen könnten hier entscheidende Evidenz erbringen, so daß durch weitere<br />
diachrone Forschung sowohl das Verständnis des Sprachwandels wie der Grammatiktheorie zu<br />
fördern wäre. (Lenerz 1993:1173)<br />
Lenerz stellt allerdings fest, dass die historische generative Syntax bislang nur wenig zu einem<br />
tieferen Verständnis von Sprachwandel und Parametern beigetragen hat und äußert die<br />
Befürchtung, dass dieser "Dornröschenschlaf" der diachronen generativen Syntax noch längere<br />
Zeit anhalten wird. Seine Skepsis führt Lenerz (1993:1173) auf die "fehlende diachrone<br />
Ausbildung der meisten generativen" Linguisten zurück. Von den diachron geschulten<br />
Linguisten erwartet Lenerz (1993:1173) aber auch "kaum [...] eine baldige durchgreifende<br />
Änderung", da diese über eine "mangelnde generative Ausbildung" verfügen. 6<br />
6 Noch pessimistischer ist die Sichtweise von Werner (1993). In einer profunden Kritik bisheriger<br />
Sprachwandeltheorien stellt er fest, dass diese Theorien u.a. deshalb als inadäquat anzusehen sind,<br />
weil sie auf linguistischen Modellen basieren, die nicht in der Lage sind, in angemessener Weise
In der vorliegenden generativen Studie wird versucht, diesem Manko entgegenzutreten,<br />
indem hier auch ausführlich nicht generative Literatur berücksichtigt wird. Ich schließe<br />
mich dabei der Vorgehensweise von Janßen (1993:4) an, der die "wesentlichen Grundlagen<br />
und Methoden" der generativen Grammatiktheorie verwendet, dennoch "nicht die formalen<br />
generativen Mechanismen im Forschungsinteresse" sieht, sondern "die Eigenschaften der<br />
zu beschreibenden sprachlichen Strukturen". Ziel ist es daher, nicht nur einen Beitrag zu<br />
einem besseren Verständnis des Funktionierens von Parametern im Allgemeinen und des<br />
Verb-Zweit-Parameters im Besonderen zu leisten, sondern auch zu zeigen, dass eine<br />
Sprachwandelanalyse auf der Grundlage der generativen Grammatiktheorie keineswegs nur<br />
theorieinterne Ergebnisse liefern, sondern auch Ergebnisse erzielen kann, die "auch in<br />
anderen Theorieansätzen sinnvolle und notwendige Bausteine sein können [...]" (Janßen<br />
1993:4). Gleichzeitig muss aber klar sein, dass es ohne eine theoretische Grundlage gar<br />
nicht möglich wäre, die hier untersuchten Sprachdaten zu interpretieren und neue Erkenntnisse<br />
über den Untersuchungsgegenstand zu gewinnen:<br />
It can be maintained [...] that there is no relevant raw syntactic data independent of interpretation<br />
and analysis, and that any account of syntactic history must be firmly rooted in a theory of syntactic<br />
structure. (Posner 1997:347)<br />
Im folgenden Kapitel soll daher zunächst diskutiert werden, wie im Rahmen der generativen<br />
Grammatiktheorie die strenge Verb-Zweit-Stellung der germanischen Sprachen am<br />
adäquatesten erfasst werden kann. Im Anschluss daran wird auf dieser Grundlage überprüft,<br />
ob und inwiefern die in den modernen romanischen Sprachen zu beobachtenden Verb-<br />
Zweit-Stellungseffekte in der gleichen Weise analysiert werden können.<br />
Das Ergebnis wird sein, dass dies – ausgenommen im Bündnerromanischen – nicht der<br />
Fall ist, sondern dass es sich bei diesen Verb-Stellungsmustern lediglich um scheinbare<br />
Verb-Zweit-Stellungseffekte handelt, die in einer grundsätzlich anderen Weise analysiert<br />
werden müssen als in den Sprachen, die über eine strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
verfügen.<br />
der Komplexität natürlicher Sprachen gerecht zu werden. Resignierend konstatiert Werner<br />
(1993:126), dass man bislang noch weit entfernt ist von einem "successful modelling of the complexitiy<br />
of natural languages with formal means". Folglich gibt es für Werner gegenwärtig kein<br />
linguistisches Modell, das als theoretische Grundlage für eine Untersuchung von Sprachwandel<br />
geeignet wäre.<br />
15
2. Die Verb-Zweit-Stellung in den germanischen und romanischen<br />
Sprachen<br />
2.1 Die strenge Verb-Zweit-Stellung in den germanischen Sprachen<br />
2.1.1 Die Verbstellung in Verb-Zweit-Sprachen mit strenger Asymmetrie<br />
Ausgehend von den Arbeiten von Thiersch (1978) und den Besten (1983) ist den meisten<br />
generativen Verb-Zweit-Analysen des Deutschen und Niederländischen die Annahme gemeinsam,<br />
dass die Verb-Zweit-Stellung das Resultat einer Bewegung des finiten Verbs in<br />
die Komplementierer-Position ist. Diese Annahme basiert auf der Beobachtung, dass in<br />
diesen Sprachen die Zweit-Stellung des finiten Verbs in den Sätzen ausgeschlossen ist, die<br />
einen Komplementierer enthalten. Während im Matrixsatz das finite Verb obligatorisch in<br />
der zweiten Position auftritt, kann es in einem durch eine Konjunktion eingeleiteten Nebensatz<br />
diese Position nicht einnehmen (Thiersch 1978:12f., den Besten 1983:54f.):<br />
(1) dt. (a) Die Frau hat ein Buch gelesen.<br />
(b) *Die Frau ein Buch gelesen hat.<br />
(c) *Ich glaube, dass die Frau hat ein Buch gelesen.<br />
(d) Ich glaube, dass die Frau ein Buch gelesen hat.<br />
(2) nl. (a) De vrouw heeft een boek gelezen.<br />
(b) *De vrouw een boek gelezen heeft.<br />
(c) *Ik geloof dat de vrouw heeft een boek gelezen.<br />
(d) Ik geloof dat de vrouw een boek gelezen heeft.<br />
Die gleiche komplementäre Verteilung zwischen finitem Verb und Konjunktion ist in Nebensätzen<br />
zu beobachten, die einen Matrixsatz einleiten. Am Beispiel satzeinleitender Konditionalsätze<br />
wird deutlich, dass entweder nur das finite Verb oder nur eine Konjunktion<br />
satzinitial stehen können. Das gleichzeitige Auftreten von finitem Verb und Konjunktion in<br />
satzinitialer Position ist ausgeschlossen (cf. Vikner 1995:43):<br />
(3) dt. (a) Wenn die Frau Zeit gehabt hätte, hätte sie ein Buch gelesen.<br />
(b) *Wenn hätte die Frau Zeit gehabt, hätte sie ein Buch gelesen.<br />
(c) Hätte die Frau Zeit gehabt, hätte sie ein Buch gelesen.<br />
(d) *Hätte wenn die Frau Zeit gehabt, hätte sie ein Buch gelesen.<br />
(4) nl. (a) Als de vrouw tijd gehad had, had ze een boek gelezen.<br />
(b) *Als had de vrouw tijd gehad, had ze een boek gelezen.<br />
(c) Had de vrouw tijd gehad, had ze een boek gelezen.<br />
(d) *Had als de vrouw tijd gehad, had ze een boek gelezen.<br />
Eine weitere Beobachtung, die darauf hindeutet, dass finites Verb und Konjunktion die<br />
gleiche Position im Satz einnehmen, ist die, dass die unbetonten Pronomen im Matrixsatz<br />
bevorzugt unmittelbar rechts vom finiten Verb und im Nebensatz bevorzugt unmittelbar<br />
hinter der Konjunktion auftreten (Tomaselli 1990:25):
(5) dt. (a) Gestern hat ihm die Frau ein Buch geschenkt.<br />
(b) Gestern hat es die Frau dem Mann geschenkt.<br />
(c) Gestern hat es ihm die Frau schon gesagt.<br />
(6) dt. (a) ..., dass ihm die Frau ein Buch geschenkt hat.<br />
(b) ..., ob es die Frau dem Mann geschenkt hat.<br />
(c) ..., dass es ihm die Frau schon gesagt hat.<br />
Thiersch (1978) und den Besten (1983) sowie die meisten anderen daran anknüpfenden generativen<br />
Analysen versuchen diesen Beobachtungen durch die Annahme Rechnung zu tragen,<br />
dass das finite Verb in Sprachen mit einer Verb-Zweit-Stellung im Matrixsatz in die<br />
COMP-Position angehoben wird, d.h. in die Position, in der im Nebensatz die subordinierende<br />
Konjunktion generiert wird.<br />
Die entscheidende Frage, die auf Grund einer solchen Analyse der Verb-Zweit-Sprachen<br />
gestellt werden muss, ist die nach dem Auslöser (Trigger), der diese Bewegung des Verbs<br />
bewirkt. Hierzu sind zahlreiche Vorschläge gemacht worden, die fast alle darin übereinstimmen,<br />
dass in den Verb-Zweit-Sprachen die COMP-Position mit besonderen Eigenschaften<br />
bzw. Merkmalen ausgestattet ist, wodurch die Verbanhebung ausgelöst wird. In<br />
den meisten Analysen wird angenommen, dass es sich dabei um Finitheits- und/oder Tempus-<br />
und Kongruenzmerkmale handelt, die in der COMP-Position generiert werden. 1 Unabhängige<br />
Evidenz für diese Annahme wird in der Tatsache gesehen, dass in (süd)deutschen<br />
und niederländischen Dialekten subordinierende Konjunktionen morphologische Merkmale<br />
tragen können, die offenbar zur Markierung der Kongruenz mit dem Verb dienen. Diese so<br />
genannte 'Komplementiererkongruenz' ist beispielsweise im Bairischen (den Besten<br />
1983:120, Bayer 1983/84:233, Hoekstra / Marácz 1989:77f.) oder Westflämischen zu beobachten<br />
(Haegeman 1992:49):<br />
(7) bai. (a) I woaß, dasst (du) a Spitzbua bist.<br />
(b) I woaß, dassts (ihr) Spitzbuam seits.<br />
(8) wfl. (a) Kpeinzen da Valère morgen goat.<br />
ich-denke dass Valère morgen geht<br />
(b) Kpeinzen dan Valère en Pol morgen goan.<br />
ich-denke dass Valère und Pol morgen gehen<br />
Dieses Auftreten von Kongruenzaffixen in der COMP-Position deutet auf deren besonderen<br />
Status als Träger von Kongruenzmerkmalen hin. Wenn auch in diesen Dialekten nicht in<br />
allen Personen die Konjunktion Kongruenzaffixe tragen kann, so kann dennoch angenommen<br />
werden, dass die Finitheits- und Kongruenzmerkmale in dieser Position basisgeneriert<br />
sind und die V- bzw. INFL-nach-COMP-Bewegung bewirken:<br />
1 Die Anzahl der verschiedenen Ansätze ist derart groß, dass sie hier nicht im einzelnen aufgeführt<br />
und diskutiert werden können. Sie unterscheiden sich meist nur durch technische und theoretische<br />
Details, die für die vorliegende Studie nicht relevant sind. Mittlerweile liegen auch zahlreiche Arbeiten<br />
vor, in denen verschiedenen Ansätze dargestellt und miteinander verglichen werden. Einen<br />
detaillierten Überblick liefert v.a. Vikner (1995:51-64), der insgesamt sieben Analysen der Vnach-COMP-Bewegung<br />
gegenüberstellt (cf. auch Koopman 1984:Kap.7, Platzack 1985, Haider<br />
1993:Kap.4). Für Analysen im Rahmen des minimalistischen Programms, in denen angenommen<br />
wird, dass die Verb-Bewegung in die CP-Ebene dadurch ausgelöst wird, dass 'starke' V-Merkmale<br />
dort überprüft werden müssen, cf. Zwart (1997), Laenzlinger (1998:301f.) oder Haider (2001:289).<br />
17
18<br />
[...] it cannot be the case that INFL-to-COMP takes place if and only if overt complementizer<br />
agreement is present, because this would lead to the conclusion that in certain dialects INFL-to-<br />
COMP takes place in certain persons of the inflectional paradigm only. [...] the link between complementizer<br />
agreement and parametric choice must be indirect. If a language has complementizer<br />
agreement in some specific person, then it has independent INFL-to-COMP. (Zwart 1993a:261)<br />
Diese Beobachtung führt zu der Annahme, dass diese Bewegung auch in den Standardvarietäten<br />
dieser Dialekte sowie in allen anderen Verb-Zweit-Sprachen, in denen diese Komplementiererkongruenz<br />
niemals morphologisch sichtbar ist, stattfindet. Hierfür spricht, dass<br />
sich diese Sprachen in syntaktischer Hinsicht identisch verhalten wie die Dialekte, in denen<br />
es offene Komplementiererkongruenz gibt. Die offene Komplementiererkongruenz ist demnach<br />
"just a morphological reflex of abstract functional head movement, which happens to<br />
be suppressed in the standard varieties of Dutch and German [...]" (Zwart 1997:153). Mit<br />
anderen Worten, diese Verbbewegungsregel hat allgemeine Gültigkeit für alle diejenigen<br />
Sprachen, die syntaktisch durch die in (1) und (2) illustrierte Hauptsatz-Nebensatz-Asymmetrie<br />
charakterisiert sind:<br />
We can only conclude that if AgrS-to-C movement takes place in the complementizer agreement<br />
dialects of Germanic, it also takes place in those languages and dialects of Germanic that show exactly<br />
the same behavior but for the overt complementizer agreement morphology. Thus, there is no<br />
reason to suppose that AgrS-to-C movement is present in the Dutch South Hollandic dialect, but<br />
not in Standard Dutch. This conclusion is important, because the AgrS-to-C hypothesis provides<br />
an explanation for the verb movement asymmetry illustrated in [(1)-(2)]. (Zwart 1993a:263f.)<br />
Ein weiterer Beleg dafür, dass die COMP-Position Flexions- und Kongruenzmerkmale enthält,<br />
wird im bereits angesprochenen Stellungs- und Bindungsverhalten klitischer Pronomina<br />
einiger Verb-Zweit-Sprachen gesehen. Den Besten (1983:56) macht die Beobachtung,<br />
dass klitische Subjektspronomina in niederländischen Nebensätzen stets enklitisch zur Konjunktion<br />
stehen müssen, während für nicht klitische Subjekte diese Restriktion nicht gilt:<br />
(9) nl. (a) ... dat ze gisteren ziek was.<br />
dass sie gestern krank war<br />
(b) *.... dat gisteren ze ziek was.<br />
dass gestern sie krank war<br />
(c) ... dat zij / mijn oom gisteren ziek was.<br />
dass sie mein Onkel gestern krank war<br />
(d) ... dat gisteren zij / mijn oom ziek was.<br />
dass gestern sie mein Onkel krank war<br />
In Matrixsätzen ist zu beobachten, dass sich die klitischen Pronomina enklitisch an das finite<br />
Verb binden. Nichtklitische Subjekte hingegen können vom Verb getrennt erscheinen<br />
(den Besten 1983:56f.):<br />
(10) nl. (a) Was ze gisteren ziek?<br />
war sie gestern krank<br />
(b) *Was gisteren ze ziek?<br />
war gestern sie krank<br />
(c) Was zij / je oom gisteren ziek?<br />
war sie dein Onkel gestern krank<br />
(d) Was gisteren zij / je oom ziek?<br />
war gestern sie dein Onkel krank<br />
Diese Daten veranschaulichen nicht nur, wie bereits in (5)-(6) gesehen, das gemeinsame<br />
Stellungsverhalten von Konjunktion und finitem Verb, sondern illustrieren darüber hinaus
eine weitere Gemeinsamkeit dieser beiden Elemente. Sie zeigen nämlich, dass beide offenbar<br />
als Partner ("host") für klitische Pronomina dienen können (den Besten 1983:56). Diese<br />
Fähigkeit, Klitika an sich zu binden, wird als weiteres Indiz für die Existenz von Kongruenz-<br />
und Flexionsmerkmalen in der COMP-Position angesehen. In Anlehnung an Rizzi<br />
(1982) nimmt Tomaselli (1990:216-228) an, dass dies mit der Eigenschaft zusammenhängt,<br />
leere Subjekte zu lizensieren. Diese Eigenschaft kommt nach Ansicht von Tomaselli<br />
(1990:217f.) etwa im Deutschen in unpersönlichen Passivkonstruktionen zur Geltung, in<br />
denen das expletive Subjekt offenbar genau dann nicht lexikalisch realisiert wird, wenn es<br />
rechts adjazent zum finiten Verb in einem Matrixsatz oder zu einer nebensatzeinleitenden<br />
Konjunktion steht: 2<br />
(11) dt. (a) Es wurde mir geholfen<br />
(b) Mir wurde pro geholfen.<br />
(c) ... dass pro mir geholfen wurde.<br />
(12) dt. (a) Es wurde getanzt.<br />
(b) Hier wurde pro getanzt.<br />
(c) ... dass pro getanzt wurde.<br />
Tomaselli (1990) sieht hierin eine Parallele zu 'echten' Null-Subjekt-Sprachen wie dem Italienischen,<br />
in denen nicht nur expletive, sondern auch thematische Null-Subjekte lizensiert<br />
sind. Rizzi (1982:131) zufolge ist ein Lizensierer von Null-Subjekten dadurch charakterisiert,<br />
dass er "(pro-)nominal properties, specified with respect to such grammatical features<br />
as person and number" besitzt. Für Tomaselli (1990:222) liefern somit die Daten in (9) -<br />
(10) und (11) - (12) Evidenz für die "natura pronominale di COMP 0 in tedesco". Der Unterschied<br />
der germanischen Verb-Zweit-Sprachen zu den Null-Subjekt-Sprachen besteht für<br />
sie darin, dass nicht die Kategorie INFL, sondern die Kategorie COMP mit diesen Merkmalen<br />
ausgestattet ist. Einer Zusatzannahme von Tomaselli (1990:224) zufolge kann<br />
COMP allerdings nur dann Nullsubjekte in der Subjektsposition lizensieren, wenn dieser<br />
Position keine thematische Rolle (θ-Rolle) zugewiesen wird. Damit erklärt sich ihrer Ansicht<br />
nach, dass im Deutschen das Subjekt in Satz (13) stets realisiert werden muss (Tomaselli<br />
1990:225):<br />
(13) ... [COMP dass [IP Johann [VP angerufen ti [INFL hati]]]]<br />
+θ<br />
+ΝΟΜ<br />
2 Tomaselli (1990:217) spricht zwar von einer "possibilità di lasciare inespresso il soggetto" (meine<br />
Hervorhebung, GAK), zeigt aber mit ihren Daten, dass es sich hier um eine obligatorische Auslassung<br />
handelt:<br />
(i) dt. (a) *Mir wurde es geholfen.<br />
(b) *... dass es mir geholfen wurde.<br />
(ii) dt. (a) *Hier wurde es getanzt.<br />
(b) *... dass es hier getanzt wurde.<br />
Eine Erklärung dafür, warum in diesen Kontexten die lexikalische Realisierung des Expletivums<br />
ausgeschlossen ist, liefert sie allerdings nicht.<br />
19
20<br />
Obwohl durch diese Zusatzannahme Tomasellis Ansatz geschwächt wird und er außerdem<br />
offenbar auch empirische Inadäquatheiten aufweist 3 , können die von Tomaselli herausgestellten<br />
besonderen Eigenschaften von COMP als zusätzliche empirische Evidenz für die<br />
Annahme angesehen werden, dass in den Verb-Zweit-Sprachen Finitheits- und Kongruenzmerkmale<br />
in der COMP-Position basisgeneriert werden: 4<br />
[...] there is a well-known correlation between the possibility of a given head to host clitics and its<br />
ability to license pro (cf. Rizzi 1986[...]). Both properties can arguably be viewed as the reflex of<br />
the presence of Agr. If so, then the data in [(9)-(10)] further indicate that C contains Agr in German,<br />
Dutch and other V2 languages [...]. (Roberts 1993:55)<br />
Die Annahme lautet also, dass Verb-Zweit-Sprachen dadurch gekennzeichnet sind, dass das<br />
finite Verb nach COMP bewegt werden muss, um die notwendigen Flexions- und Kongruenzmerkmale<br />
zu erhalten. Die Anhebung erfolgt stets dann, wenn die COMP-Position nicht<br />
lexikalisch gefüllt ist. 5 Demzufolge kann beispielsweise einem deutschen Matrixsatz mit einem<br />
präverbalen Objekt die folgende Struktur zugewiesen werden:<br />
3 Vikner (1995:60) kritisiert an Tomasellis Ansatz, dass er die Möglichkeit ausschließt, dass eine<br />
Verb-Zweit-Sprache leere thematische Subjekte erlaubt. Damit kann dieser Ansatz nicht dem Altnordischen<br />
und Altdänischen gerecht werden, da diese Sprachen neben der Verb-Zweit-Eigenschaft<br />
auch die Null-Subjekt-Eigenschaft besaßen. Auch im Altfranzösischen, das allgemein als<br />
Verb-Zweit-Sprache angesehen wird, waren thematische Null-Subjekte möglich. Eine weitere<br />
Schwäche der Analyse von Tomaselli sieht Vikner (1995:61) darin, dass angenommen werden<br />
muss, dass für Sätze mit thematischem Subjekt der Nominativ-Kasus von INFL (cf. (13)), in Sätzen<br />
mit nicht referentiellem pro hingegen von COMP zugewiesen wird.<br />
4 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die minimalistische Analyse von Solà (1996), in der die<br />
pronominale Enklise an den Komplementierer als ein Morphem angesehen wird, das ein starkes<br />
Merkmal bildet und durch das finite Verb überprüft werden muss.<br />
5 Eine Ausnahme bilden eingebettete Fragesätze und Relativsätze. Hier bleibt das Verb in seiner basisgenerierten<br />
Position, obwohl die COMP-Position nicht lexikalisch besetzt ist und somit – wie<br />
im Matrixsatz – als Landeposition zur Verfügung stünde:<br />
(i) dt. (a) [CP Wer [C' hat [IP das gemacht]]]?<br />
(b) Ich weiß nicht [CP wer [C' ø [IP das gemacht hat]]]<br />
(ii) dt. (a) [CP Mit wem [C' hast [IP du geredet]]]?<br />
(b) Ich weiß nicht [CP mit wem [C' ø [IP du geredet hast]]]<br />
Ein Vorschlag für dieses – in Anlehnung an Reis (1985) – als 'Reis'sches Dilemma' bezeichnete<br />
Problem lautet, dass in den eingebetteten Fragesätzen bzw. Relativsätzen ein leerer Komplementierer<br />
die Verbbewegung blockiert. Evidenz für das Vorhandensein eines solchen Komplementierers<br />
liefern süddeutsche Dialekte, wie z.B. das Bairische, in denen die COMP-Position fakultativ<br />
durch einen lexikalischen Komplementierer besetzt sein kann (Grewendorf 1988:250):<br />
(iii) bai. (a) I woaß net [CP wer [C' dass [IP des gmacht hot]]]<br />
(b) I woaß net [CP mit wem [C' dass [IP i gredt hab]]]<br />
Einem Vorschlag von Lalande (1997:Kap.3) zufolge ist die V-nach-COMP-Bewegung in Nebensätzen<br />
deshalb ausgeschlossen, weil diese zu einer Substitution der CP führt, wodurch sich deren<br />
kategorialer Status verändert, da "deren Kopf nicht mehr C 0 , sondern C 0 + I 0 ist" (Lalande<br />
1997:103). Dies hat zur Folge, dass auf Grund des Projektionsprinzips, wonach die Selektionseigenschaften<br />
eines Kopfes auf allen Repräsentationsebenen vorhanden bleiben müssen (Chomsky /<br />
Lasnik 1993:54f.), das finite Verb nur dann nach COMP bewegt werden kann, wenn die CP nicht<br />
durch ein Matrixverb selegiert ist.
(14) CP<br />
SpezCP C'<br />
COMP IP<br />
SpezIP I'<br />
SpezVP V'<br />
VP INFL<br />
NP V 0<br />
Ein Buchj hati die Frauk tk tj gelesen ti<br />
Diese Analyse führt zu der Frage, wie in eingebetteten Sätzen, in denen die Verb-nach-<br />
COMP-Anhebung durch die Präsenz einer Konjunktion blockiert ist, das Verb die notwendigen<br />
Kongruenz- und Finitheitsmerkmale erhalten kann. Die wenigen Lösungsansätze<br />
hierzu bestehen vielfach darin, dass lexikalische Komplementierer als Expletiva angesehen<br />
werden. Da Expletiva als semantisch leere Elemente auf der Ebene der Logischen Form<br />
(LF) getilgt werden müssen, kann das finite Verb durch LF-Anhebung nach COMP bewegt<br />
werden (cf. Law 1991, Platzack 1992:84,Fn.3, Zwart 1993a:266,Fn.8). Law (1991:259) gelangt<br />
daher für einen eingebetteten Satz des Westflämischen zu folgender Ableitung:<br />
(15) wfl. S-Struktur: K weten [CP da [IP Jan [VP Marie gezien ti] heeti + INFL]]<br />
ich weiß dass-3.Sg. Jan Marie gesehen hat-3.Sg.<br />
Logische Form: K weten [CP [heet + INFL]j [IP Jan [VP Marie gezien] tj]]<br />
Anderen Analysen zufolge sind subordinierende Konjunktionen in der Lage, die Kongruenz-<br />
und Finitheitsmerkmale zu realisieren ("spell out") (Müller / Penner 1996:140) oder<br />
"to remove the V-features on C 0 " (Laenzlinger 1998:302). In diesen Analysen bleibt allerdings<br />
offen, wie auf diese Weise die morphophonologische Realisierung der Kongruenz-<br />
und Finitheitsmerkmale am Verb gewährleistet werden kann, da das finite Verb entweder<br />
überhaupt nicht oder erst auf einer Ebene, die für die phonologische Realisierung irrelevant<br />
ist, mit den Merkmalen zusammengeführt wird. 6<br />
6 Im Rahmen des Minimalistischen Programms wird dies nicht als Problem gesehen. Hier wird<br />
angenommen, dass das finite Verb bereits im Lexikon in seiner flektierten Form eingesetzt wird.<br />
Es muss daher nicht nach COMP bewegt werden, um die Finitheits- und Kongruenzmerkmale zu<br />
erhalten, sondern um die abstrakten Merkmale, mit denen es ausgestattet ist, zu überprüfen:<br />
"Thus, inflectional morphemes are not generated in functional heads. Rather, functional heads are<br />
bundles of abstract features corresponding to the features of the inflected elements. Movement<br />
takes place to check these features off. Therefore, what moves from AgrS to C is not a morpheme,<br />
but an abstract feature associated with AgrS." (Zwart 1993a:267,Fn.21)<br />
Bewegungen und deren Realiserung auf der Phonetischen Form hängen davon ab, ob die zu überprüfenden<br />
Merkmale 'stark' oder 'schwach' sind. Die Bestimmung der 'Stärke' und 'Schwäche' von<br />
Merkmalen ist dabei vollkommen unabhängig von deren morphologischer Ausprägung und erfolgt<br />
21
22<br />
Ein anderes Problem der generativen Verb-Zweit-Analysen besteht darin, dass die Vnach-COMP-Anhebung<br />
in finiten Matrixsätzen mit einer weiteren Bewegung verbunden<br />
ist, nämlich der einer satzinitialen Konstituente nach SpezCP. Häufig wird auf diese XP-<br />
Bewegung nicht gesondert eingegangen (z.B. Vikner 1995). Bisweilen wird lediglich ein<br />
"independent constraint" formuliert, wonach in Verb-Zweit-Sprachen die Topikposition,<br />
d.h. SpezCP, immer besetzt sein muss (Koopman 1983:197) oder wonach ein Kopf, der das<br />
Merkmal [+Agr] oder ein "strong specifier feature" enthält, einen gefüllten Spezifizierer<br />
haben muss (Roberts 1993:56, Haegeman 1996:143f.). Diese Beschränkungen sind allerdings<br />
völlig ad hoc, da keinerlei unabhängige Evidenz vorgelegt wird. Es handelt sich hierbei,<br />
wie Zwart (1993a:250) zu Recht betont, um eine bloße Beschreibung der Fakten,<br />
"namely that when the verb moves to C [...] something has to precede the verb (for instance,<br />
the subject [...], or the topic [...])".<br />
Der Versuch, diese XP-Bewegung in einer adäquateren Weise zu erfassen, hat zu dem<br />
viel diskutierten Ansatz geführt, wonach satzinitiale Konstituenten nur in solchen Fällen<br />
nach SpezCP angehoben werden, wenn es sich dabei um 'Operatoren' handelt, d.h. um Konstituenten,<br />
die entweder das Merkmal [+wh] tragen oder in irgendeiner Weise topikalisiert<br />
sind. Nichttopikalisierte Subjekte hingegen sind keine Operatoren. In der u.a. von Travis<br />
(1984, 1991) und Zwart (1993b, 1997) vorgeschlagenen 'asymmetrischen V2-Analyse'<br />
(Schwartz / Vikner 1996) wird daher angenommen, dass satzinitiale nicht topikalisierte<br />
Subjekte in Verb-Zweit-Sätzen nicht nach SpezCP angehoben werden, sondern in SpezIP<br />
verbleiben. Somit haben Sätze mit satzinitialen Subjekten eine andere Struktur als Sätze,<br />
die nicht durch ein Subjekt eingeleitet sind (cf. Travis 1991:359):<br />
(16) dt. (a) [IP Die Kinder [I' habeni [VP das Brot heute gegessen ti]]]<br />
(b) [CP Heutej [C' habeni [IP die Kinder [I' ti [VP das Brot tj gegessen ti]]]]]<br />
(c) [CP Wasj [C' habeni [IP die Kinder [I' ti [VP tj heute gegessen ti]]]]]<br />
Nach der 'minimalistischen' Analyse von Zwart (1993b) sind für die Anhebung der satzinitialen<br />
Konstituenten in (16)(b) und (16)(c) [+Topik]- bzw. [+wh]-Merkmale verantwortlich.<br />
Zwart (1993b:276f.) zufolge handelt es sich hierbei um "starke N-Merkmale", die<br />
nicht mit einem lexikalischen Kopf verbunden, d.h. "nonL-related", sind. Dies hat zur<br />
Folge, dass die Überprüfung dieser Merkmale außerhalb des IP-Systems, also im CP-System,<br />
stattfinden muss (Chomsky 1993:196). Da in Sätzen mit einem satzinitialen Subjekt<br />
hingegen solche Merkmale nicht vorhanden sind, ist dessen Anhebung nach CP ausgeschlossen.<br />
7<br />
Diese Analyse liefert damit einen möglicherweise adäquateren Erklärungsansatz für die<br />
XP-nach-CP-Anhebung als die bisherigen Ansätze, da eine gewisse unabhängige Evidenz<br />
für diese Bewegung vorgelegt wird. Dennoch halten viele Kritiker diese Analyse für nicht<br />
nur auf Grund theorieinterner Argumente (Gärtner / Steinbach 1994, Chomsky 1995:230ff., Wilder<br />
1995).<br />
7 Nach Zwart (1993b:242) ist die CP "gesplittet", d.h. in eine WhP und eine TopP unterteilt. Demzufolge<br />
haben wh-Operatoren und Topik-Phrasen unterschiedliche Landepositionen (cf. auch Müller<br />
/ Sternefeld 1993).
ausreichend motiviert. 8 Außerdem beinhaltet sie eine Reihe negativer Konsequenzen. Die<br />
gravierendste ist zweifelsohne, dass die Generalisierung, wonach in Verb-Zweit-Sätzen das<br />
finite Verb obligatorisch nach COMP bewegt werden muss, um die Finitheits- und Kongruenzmerkmale<br />
zu erhalten, aufgegeben werden muss. Das heißt, die Konsequenz der Analyse<br />
von Travis und Zwart ist die, dass genau auf die Generalisierung verzichtet werden<br />
muss, für die die stärkste empirische Evidenz vorliegt. Mit anderen Worten, trotz der von<br />
Travis und Zwart vorgebrachten Einwände gegen eine symmetrische Verb-Zweit-Analyse<br />
muss diese immer noch als die angemessenste angesehen werden: 9<br />
[...] there is no reason to mistrust a general "Constituent Preposing Rule" (den Besten [...] 1983)<br />
for the V2-languages. Indeed, the difference between subject- vs. operator-initial V2-clauses has<br />
been found to be insufficiently motivated. Complementizer-agreement and fronted reduced or<br />
unstressed pronouns cannot be considered to support the asymmetry-analysis. [...]<br />
8 Ein zentrales Argument für die unterschiedliche strukturelle Behandlung von Subjekten und Nicht-<br />
Subjekten bzw. topikalisierten Phrasen basiert auf der Annahme, dass im Deutschen unbetonte<br />
Pronomina nur dann satzinitial auftreten können, wenn sie als Subjekte fungieren (Travis 1984:121<br />
u. 168, 1991:359):<br />
(i) dt. (a) Das Kind hat das Brot gegessen.<br />
(b) Es hat das Brot gegessen.<br />
(c) Das Brot hat der Hund gefressen.<br />
(d) *Es hat der Hund gefressen.<br />
Travis schließt aus dieser Beobachtung, dass Subjekte generell in einer Nicht-Topik-Position<br />
(SpezIP) erscheinen, während satzinitiale Objekte nur einer Topik-Position auftreten können und<br />
daher stets betont sein müssen.<br />
Diese Generalisierung lässt sich jedoch in dieser Form empirisch nicht aufrechterhalten. Wie die<br />
folgenden Beispiele belegen, sind im Deutschen durchaus sowohl unbetonte als auch nicht topikalisierte<br />
Objekte in satzinitialer Position möglich (Lenerz 1994:162, Gärtner / Steinbach 1994:37,<br />
Fn.61):<br />
(ii) dt. (a) Ihr Geld ist ja nicht weg, meine Damen und Herren. Es haben jetzt nur andere.<br />
(b) Einem wird hier alles geklaut.<br />
Ein anderer empirischer Einwand stammt von Schwartz / Vikner (1996:19ff.). Die beiden Autoren<br />
zeigen, dass die Analyse von Travis und Zwart dem Auftreten lexikalischer Expletiva in Unakkusativkonstruktionen<br />
des Deutschen nicht in adäquater Weise gerecht wird:<br />
(iii) dt. (a) Es ist ein Junge gekommen.<br />
(b) *pro ist ein Junge gekommen.<br />
(c) *Gestern ist es ein Junge gekommen.<br />
(d) Gestern ist pro ein Junge gekommen.<br />
In den zahlreichen Ansätzen, die diesen Fakten gerecht zu werden versuchen, wird deutlich, dass<br />
sich das Expletivum in (iii)(a) in SpezCP befinden muss. Die Analysen unterscheiden sich lediglich<br />
hinsichtlich der Frage, ob es dort basisgeneriert ist (Tomaselli 1990:141, Eguzkitza / Kaiser<br />
1999) oder dorthin bewegt werden muss (Cardinaletti 1990).<br />
9 Eine weitere Konsequenz einer asymmetrischen Verb-Zweit-Analyse besteht darin, dass angenommen<br />
werden muss, dass in Verb-Zweit-Sprachen wie dem Deutschen oder Holländischen –<br />
anders als generell angenommen (Bach 1962, Thiersch 1978:Kap.1, Koster 1975) – INFL bzw. das<br />
Komplement links von der VP bzw. dem Verb steht, um die Wortstellung in einem einfachen<br />
SVO-Satz erklären zu können (Zwart 1993b:Kap.4, 1997:Kap.3). Cf. Schwartz / Tomaselli (1990),<br />
Gärtner / Steinbach (1994:50ff.) oder Schwartz / Vikner (1996) für eine Kritik dieser Annahme.<br />
23
24<br />
If this is correct, the central argument for an asymmetry-analysis of V2 which implies the IPstatus<br />
of subject-initial V2-clauses can no longer be maintained. (Gärtner / Steinbach 1994:39)<br />
Ein anderes Problem, das sich sowohl für eine asymmetrische als auch für eine symmetrische<br />
Verb-Zweit-Analyse stellt, betrifft die in den Verb-Zweit-Sprachen auftretenden Verb-<br />
Erst-Sätze. Nach Roberts (1993:56f.) lassen sich im Wesentlichen vier Typen von Verb-<br />
Erst-Sätzen unterscheiden: Entscheidungsfragesätze (cf. (17)(a)), Konditionalsätze (cf.<br />
(17)(b)) sowie Sätze des umgangssprachlichen gesprochenen Deutschen oder Holländischen,<br />
in denen ein satzinitiales Pronomen ausgelassen ist (cf. (17)(c))(cf. Haider 1986:67)<br />
oder deren Verb-Erst-Stellung auf bestimmte Diskursstrategien, etwa zur Eröffnung einer<br />
Erzählung ("narrative inversion"), zurückgeführt werden kann (cf. (17)(d))(den Besten<br />
1983:62):<br />
(17) dt. (a) [CP Q [C' Kommt][IP dein Bruder heute]]?<br />
(b) [CP [CP Op[modal] [C' Käme][IP dein Bruder heute]][C' würde][IP ich mich freuen]]<br />
(c) [CP Op[diskurs] [C' Hab´][IP ich schon erledigt]]<br />
nl. (d) [CP Op[diskurs] [C' Ging [IP ik laatst naar De Swart]] ...]<br />
ging ich kürzlich zu De Swart ...<br />
In verschiedenen Studien wird versucht, diese Satztypen einheitlich durch die Annahme zu<br />
erfassen, dass die SpezCP-Position durch einen leeren Operator besetzt ist. Im Falle der<br />
Interrogativ- und Konditionalsätze wird vermutet, dass es sich um einen wh-Operator ('Q')<br />
bzw. Modal-Operator ('Op') handelt. Für die beiden letzten Sätze nimmt Roberts (1993:57)<br />
"tentatively" die Existenz eines "discourse or illocutionary operator of some kind" in der<br />
SpezCP-Position an (cf. auch Huang 1984, Cardinaletti 1990:78, Zwart 1993b:201-205,<br />
1997:217-221). 10<br />
Auf der Grundlage dieser Analyse lassen sich somit alle Matrixsätze des Deutschen und<br />
Niederländischen als Konstruktionen mit einer festen Position für das finite Verb erfassen,<br />
die von Weerman (1989:26) als "Vf2-position" bezeichnet wird:<br />
[...] there is at least one constant verbal position: the Vf2-position. It is very remarkable how the<br />
V2-effects that arise by means of this position look alike: the verb is in first or second position, independent<br />
of the first constituent, finite, in complementary distribution with a complementizer and<br />
in a root clause.<br />
Wie bereits gesehen, wird angenommen, dass es sich bei dieser 'Verb-Zweit-Position' um<br />
die COMP-Position handelt. Es gibt unabhängige, morphophonologische Evidenz für die<br />
Annahme, dass in Verb-Zweit-Sprachen COMP als Position für die Basisgenerierung der<br />
verbalen Finitheits- und Kongruenzmerkmale fungiert, d.h. mit Merkmalen ausgestattet ist,<br />
die die Anhebung des finiten Verbs in diese Position bewirken. Diese Anhebung erfolgt im<br />
10 In ähnlicher Weise kann auch die Verb-Erst-Stellung in Imperativsätzen, die bei Roberts unerwähnt<br />
bleiben, erklärt werden (Zwart 1993b:77f.). Verschiedentlich ist allerdings auch der Vorschlag<br />
gemacht worden, die Imperative der germanischen Sprachen als V-nach-INFL-Bewegung<br />
zu analysieren (Fries 1992, Platzack 1992:106f.).<br />
Zusätzliche Evidenz für die Korrektheit der Struktur von Satz (17)(c) liefert die Beobachtung, dass<br />
die Objektsauslassung nur mit invertierter Subjekt-Verb-Stellung zulässig ist, also nur dann, wenn<br />
das Verb vor das Subjekt bewegt worden ist und das ausgelassene Element eine Topik-Position<br />
einnimmt (Huang 1984:546f.):<br />
(i) dt. *Ich hab' schon erledigt.
Zusammenhang mit der Anhebung einer XP-Konstituente in die SpezCP-Position, deren<br />
Kategorie und (syntaktische) Funktion beliebig ist und die unter bestimmten Umständen<br />
auch lexikalisch leer sein kann:<br />
[...] the preferable analysis of V2 in main clauses is that V2 involves both movement of the finite<br />
verb into C 0 and movement of some maximal projection into CP-spec, although this maximal projection<br />
is not necessarily an overt element, in that no overt element precedes the finite verb in, e.g.,<br />
yes/no-questions. (Vikner 1995:131)<br />
Die Annahme lautet nun, dass die Basisgenerierung der Finitheits- und Kongruenzmerkmale<br />
in COMP parametrisch festgelegt ist. Damit wird versucht, die typologische Gemeinsamkeit<br />
der Verb-Zweit-Sprachen und deren grundlegenden Unterschied zu Nicht-Verb-<br />
Zweit-Sprachen als eine parametrisch festgelegte Eigenschaft zu erfassen. Die Frage, die im<br />
Folgenden diskutiert werden soll, ist die, ob alle Sprachen, die durch die typologische Gemeinsamkeit<br />
der Verb-Zweit-Stellung gekennzeichnet sind, sich hinsichtlich der Fixierung<br />
dieses Parameters einheitlich verhalten.<br />
2.1.2 Die Verbstellung in Verb-Zweit-Sprachen mit eingeschränkter Asymmetrie<br />
Die Annahme der V-nach-COMP-Bewegung in den bisher betrachteten Verb-Zweit-Sprachen<br />
basiert vor allem auf der Asymmetrie, die hinsichtlich der Wortstellung in Hauptsatz<br />
und konjunktional eingeleitetem Nebensatz existiert. Ein Blick auf das Deutsche zeigt, dass<br />
in eingebetteten Sätzen, die keine Konjunktion enthalten, hingegen die gleiche Wortstellung<br />
wie in einem Matrixsatz herrscht: 11<br />
(18) dt. (a) Ich behaupte, der Mann hat das Buch gelesen.<br />
(b) *Ich behaupte, der Mann das Buch gelesen hat.<br />
Die Möglichkeit zur Auslassung der nebensatzeinleitenden Konjunktion – und damit zur<br />
Verb-Zweit-Stellung im Nebensatz – ist im Deutschen allerdings nur in bestimmten Konstruktionstypen<br />
gegeben (Reis 1997, Frank 2000). Hierzu gehören vor allem Konstruktionen<br />
wie in (18), in denen ein so genanntes 'Brückenverb' den Nebensatz einleitet. 12 Ist<br />
11 Eine Ausnahme bilden im Deutschen durch weil und obwohl (obschon) eingeleitete Nebensätze, in<br />
denen in der gesprochenen Umgangssprache auch die Verb-Zweit-Stellung möglich ist (Abraham<br />
1992:20f., Günthner 1993, Uhmann 1998). Zahlreiche Argumente sprechen dafür, dass weil in diesen<br />
Fällen "in der Umgangssprache genau die Position füllt, die in der Standardsprache denn innehat"<br />
(Uhmann 1998:130).<br />
12 Verben wie z.B. behaupten sind im Gegensatz zu Verben wie z.B. bedauern dadurch gekennzeichnet,<br />
dass aus ihren finiten Satzkomplementen extrahiert werden kann (cf. Bußmann<br />
1990:142f., Vikner 1995:70ff.):<br />
(i) dt. (a) Welchen Filmi hast du behauptet [haben die Kinder ti gesehen]?<br />
(a') Welchen Filmi hast du behauptet [dass die Kinder ti gesehen haben]?<br />
(b) *Welchen Filmi hast du bedauert [haben die Kinder ti nicht gesehen]?<br />
(b') *Welchen Filmi hast du bedauert [dass die Kinder ti nicht gesehen haben]?<br />
Haider (1993:73) weist allerdings darauf hin, dass die Charakterisierung der Verben, die konjunktionslose<br />
Nebensätze erlauben, als Brückenverben zwar "eine gute Faustregel" ist, aber nicht in<br />
25
26<br />
das Brückenverb jedoch negiert (cf. (19)(a)-(b)) oder enthält der Matrixsatz ein Nicht-<br />
Brückenverb, wie z.B. bedauern (cf. (19)(c)-(d)), ist die Auslassung der Konjunktion im<br />
Nebensatz nicht möglich: 13<br />
(19) dt. (a) *Ich behaupte nicht, der Mann hat das Buch gelesen.<br />
(b) Ich behaupte nicht, dass der Mann das Buch gelesen hat.<br />
(c) *Ich bedaure, der Mann hat das Buch gelesen.<br />
(d) Ich bedaure, dass der Mann das Buch gelesen hat.<br />
Ein Vergleich mit den festlandskandinavischen Sprachen und dem Friesischen zeigt nun,<br />
dass diese Verb-Zweit-Sprachen in einem von einem affirmativen Brückenmatrixverb abhängigen<br />
Nebensatz auch dann die Verb-Zweit-Stellung aufweisen können, wenn dieser<br />
durch eine Konjunktion eingeleitet ist (cf. Pintzuk 1993:8f. für das Dänische, deHaan /<br />
Weerman 1986:84 und Iatridou / Kroch 1992:4 für das Friesische):<br />
(20) dä. (a) Hun sagde at Peter drikker ikke kaffe.<br />
sie sagte dass Peter trinkt nicht Kaffee<br />
(b) Hun sagde at kaffe drikker Peter ikke.<br />
sie sagte dass Kaffee trinkt Peter nicht<br />
(21) fs. (a) Pyt sei dat hy my sjoen hie.<br />
Pyt sagte dass er mich gesehen hat<br />
(b) Pyt sei dat hy hie my sjoen.<br />
Pyt sagte dass er hat mich gesehen<br />
(c) Pyt sei dat my hie er sjoen.<br />
Pyt sagte dass mich hat er gesehen<br />
Diese Beobachtung, die laut Zwart (1997:234) auch im umgangssprachlichen Niederländisch<br />
gemacht werden kann, scheint nun gegen eine Analyse der Verb-Zweit-Stellung als<br />
eine generelle V-nach-COMP-Bewegung zu sprechen, da hier offensichtlich keine Asymmetrie<br />
zwischen Hauptsatz und eingeleitetem Nebensatz hinsichtlich des Verb-Zweit-<br />
Effektes existiert. In vielen Studien dieser Sprachen wird dennoch versucht, die Annahme<br />
der V-nach-COMP-Bewegung für Verb-Zweit-Effekte aufrechtzuerhalten. Ein Versuch<br />
besteht darin anzunehmen, dass in diesen Sprachen die Möglichkeit einer CP-Rekursion<br />
besteht, d.h. dass zusätzlich zu der nebensatzeinleitenden CP eine weitere CP generiert<br />
werden kann. Somit kann in einem Satz wie (21)(c) das eingebettete finite Verb nach<br />
COMP und die vorangehende XP nach SpezCP bewegt werden (Iatridou / Kroch 1992:7,<br />
Vikner 1995:129):<br />
(22) fs. Pyt sei [CP dat [CP myj [C' hiei [IP er tj sjoen ti]]].<br />
Eine wichtige Beobachtung hinsichtlich der Annahme einer solchen CP-Rekursion ist die,<br />
dass die Möglichkeit der eingebetteten Verb-Zweit-Stellung im Friesischen einer Reihe von<br />
allen Fällen Gültigkeit hat. So gibt es beispielsweise, wie Haider mit den Sätzen in (ii) belegt,<br />
Brückenverben, die keine Verb-Zweit-Komplemente aufweisen:<br />
(ii) dt. (a) Weni will sie, [dass ich ti anrufe]?<br />
(b) *Sie will, ich rufe ihn an.<br />
13 Im Standardniederländischen ist die Verb-Zweit-Stellung in Nebensätzen generell ungrammatisch,<br />
unabhängig davon, ob der Nebensatz durch ein Brückenverb eingeleitet ist oder nicht (cf. Vikner<br />
1995:66, Fn.3).
Beschränkungen unterliegt. So ist die eingebettete Verb-Zweit-Stellung dann ausgeschlossen,<br />
wenn das Verb des Matrixsatzes ein Nicht-Brückenverb, wie z.B. bedauern oder bezweifeln,<br />
ist. Das Gleiche gilt auch für den Fall, dass der Matrixsatz, der den Nebensatz einleitet,<br />
ein negiertes Brückenverb enthält (Iatridou / Kroch 1992:4):<br />
(23) fs. (a) Pyt betreuret dat er my sjoen hie.<br />
Pyt bedauert dass er mich gesehen hat<br />
(b) *Pyt betreuret dat hy hie my sjoen.<br />
Pyt bedauert dass er hat mich gesehen<br />
(24) fs. (a) Ik leau net dat hy him wol rede kin.<br />
ich glaube nicht dass er ihn wohl retten kann<br />
(b) *Ik leau net dat hy kin him wol rede.<br />
ich glaube nicht dass er kann ihn wohl retten<br />
Diese Beschränkungen bezüglich des Auftretens von Verb-Zweit-Effekten in eingebetteten<br />
Nebensätzen gelten in ähnlicher Weise auch für das Dänische und alle anderen festlandskandinavischen<br />
Sprachen (Pintzuk 1993:9, Vikner 1995:72). 14 Vikner (1995:72) betont allerdings,<br />
dass es in diesen Sprachen schwieriger ist, eine klare Grenze zwischen den Verben<br />
zu ziehen, die eine Verb-Zweit-Stellung in abhängigen Nebensätzen erlauben und solchen,<br />
die dies nicht tun (cf. auch Haider 1993:73). Generell lassen sich die Daten jedoch dahingehend<br />
interpretieren, dass in diesen Sprachen nur solche Nebensätze eine Verb-Zweit-Stellung<br />
aufweisen, in denen die Auslassung des Komplementierers erlaubt ist. Iatridou / Kroch<br />
(1992) versuchen im Rahmen einer generativen Analyse diese Beobachtung durch die Annahme<br />
zu erfassen, dass Nebensätze, in denen eine Verb-Zweit-Stellung möglich ist, durch<br />
ein lexikalisches Verb, genauer gesagt durch ein "local L-marking verb", regiert sein müssen.<br />
Sie berufen sich hierbei auf Stowell (1981), wonach Komplementierer nur dann getilgt<br />
werden können, wenn sie auf diese Weise regiert sind. Ihre Analyse sehen Iatridou / Kroch<br />
(1992:5) darin bestätigt, dass im Friesischen die Verb-Zweit-Stellung in eingebetteten Adjunkt-<br />
oder Subjektsätzen, d.h. in solchen Nebensätzen, die nicht durch ein lexikalisches<br />
Verb regiert sind, ausgeschlossen ist:<br />
(25) fs. (a) Ik sil fuortgean, at jo dizze film net sjen wolle.<br />
ich werde fortgehen wenn du diesen Film nicht sehen willst<br />
(b) *Ik sil fuortgean, at jo wolle dizze film net sjen.<br />
ich werde fortgehen wenn du willst diesen Film nicht sehen<br />
(26) fs. (a) Dat jo dizze film net sjen wolle, fernuvert my.<br />
dass du diesen Film nicht sehen willst verwundert mich<br />
(b) *Dat jo wolle dizze film net sjen, fernuvert my.<br />
dass du willst diesen Film nicht sehen verwundert mich<br />
Iatridou / Kroch (1992:17) postulieren daher, dass eine CP-Rekursion nur in den Fällen erlaubt<br />
ist, in denen der Nebensatz durch ein lexikalisches Verb regiert wird (cf. auch Authier<br />
1992). Diese Restriktion erklärt allerdings nicht, warum in Nebensätzen, die von einem<br />
Nicht-Brückenverb oder einem negierten Verb abhängig und somit regiert sind, die Verb-<br />
Zweit-Stellung ausgeschlossen ist (cf. (23)-(24)). Nach Ansicht von Iatridou / Kroch<br />
14 Vikner (1995:84f.) weist darauf hin, dass auch im Englischen, der einzigen germanischen Nicht-<br />
Verb-Zweit-Sprache, ähnliche Effekte zu beobachten sind (cf. auch Authier 1992: 331):<br />
(i) en. (a) She has often said that under no circumstancesi wouldj she ti tj vote for Quayle.<br />
(b) *John doubts that under no circumstancesi willj Mary ti tj get up early.<br />
27
28<br />
(1992:20f.) könnte die Besonderheit dieser Sätze darin liegen, dass in diesen Fällen der<br />
Komplementierer einen semantischen Gehalt hat. Ein solcher Komplementierer müsste, so<br />
die Annahme, den Selektionsbeschränkungen des Matrixverbs genügen, die auf der Ebene<br />
der Logischen Form überprüft werden. Folglich könnte der Komplementierer nicht auf<br />
dieser Ebene getilgt werden, wodurch wiederum die Lizensierung einer niedrigeren CP<br />
verhindert würde. Weitgehend ungeklärt bleibt bei dieser Analyse allerdings die Frage,<br />
warum negierte Verben und Nicht-Brückenverben einerseits eine gemeinsame Klasse bilden<br />
und warum anderseits die Komplementierer von affirmativen Matrixverben keinen<br />
bzw. einen anderen semantischen Gehalt haben sollten. 15<br />
Auch wenn die genauen Restriktionsbeschränkungen für die CP-Rekursion daher sicherlich<br />
noch exakt(er) formuliert werden müssen, besteht der entscheidende Vorteil der Analyse<br />
von Iatridou / Kroch (1992) darin, dass eine Beschränkung für eine generelle CP-Rekursion<br />
formuliert wird. Sie ist vor allem deshalb notwendig, um der strengen Verb-Zweit-<br />
Eigenschaft aller bisher betrachteten Verb-Zweit-Sprachen gerecht zu werden und damit<br />
der Tatsache, dass in den Matrixsätzen dieser Sprachen die Verb-Dritt-Stellung grundsätzlich<br />
nicht möglich ist. Die Ungrammatikalität der deutschen Sätze in (27) kann somit durch<br />
die Annahme erfasst werden, dass eine CP-Rekursion ausgeschlossen ist (Schwartz /<br />
Vikner 1996:13):<br />
(27) dt. (a) *[CP Letzte Woche [CP ein Buch hat [IP Peter [VP tatsächlich gelesen]]]]<br />
(b) *[CP Letzte Woche [CP Peter hat [IP [VP tatsächlich ein Buch gelesen]]]]<br />
Wie die Sätze in (28) zeigen, unterliegt hingegen die Adjunktion an eine IP nicht dieser Beschränkung<br />
(Schwartz / Vikner 1996:12): 16<br />
(28) dt. (a) Ich weiß, [CP dass [IP letzte Woche [IP Peter [VP tatsächlich ein Buch gelesen hat]]]]<br />
(b) [CP Hat [IP letzte Woche [IP Peter [VP tatsächlich ein Buch gelesen]]]]?<br />
(c) [CP Dieses Buch [C' hat [IP letzte Woche [IP Peter [VP tatsächlich gelesen]]]]]<br />
Im Deutschen beispielsweise ist eine CP-Rekursion nur in ganz wenigen, sehr markierten<br />
und deutlich abgegrenzten Kontexten erlaubt. Sie muss für Sätze wie (29) angenommen<br />
werden, in denen dem eigentlichen Satz eine satzeinleitende Phrase voransteht, die mit<br />
einer unmittelbar vor dem finiten Verb stehenden Konstituente koindiziert ist. Bei einer<br />
15 Empirische Evidenz für eine Unterscheidung zwischen 'affirmativen' und 'negativen' Komplementierern<br />
liefern nach Ansicht von Iatridou / Kroch (1992:18) Sprachen, in denen dieser Unterschied<br />
lexikalisch zum Ausdruck kommt. Dies ist beispielsweise im Baskischen der Fall (cf. Laka<br />
1994:129ff.):<br />
(i) bk. (a) Jonek uste du Mirenek Peru ikusi duela.<br />
Jon glauben AUX Miren Peru gesehen hat<br />
'Jon glaubt, dass Miren Peru gesehen hat'<br />
(b) Jonek ez du uste Mirenek Peru ikusi duenik.<br />
Jon nicht AUX glauben Miren Peru gesehen hat<br />
'Jon glaubt nicht, dass Miren Peru gesehen hat'<br />
Diese Analyse von Iatridou / Kroch (1992) impliziert, dass Nicht-Brückenverben als negative<br />
Verben interpretiert werden müssen.<br />
16 Dies gilt zumindest für Sätze mit nominalem Subjekt. Vikner (1995:103f.) weist darauf hin, dass<br />
eine Adjunktion an IP dann ausgeschlossen ist, wenn das Subjekt pronominal ist:<br />
(i) dt. *[CP Dieses Buchj [C' hati [IP gestern [IP er tj gelesen ti]]]]
solchen satzeinleitenden Phrase kann es sich um eine dislozierte NP oder um einen ganzen<br />
Satz, wie in wenn-dann-Sätzen, handeln (Iatridou / Kroch 1992:14, Kroch / Taylor<br />
1997:304, Laenzlinger 1998:304):<br />
(29) dt. (a) [CP [Diesen Mann]i, [CP deni kennej [IP ich ti nicht tj]]]<br />
(b) [CP [Wenn du kommst]i, [CP danni amüsierenj [IP wir uns ti tj]]<br />
Des Weiteren steht im Deutschen das finite Verb in solchen Matrixsätzen in der Drittposition,<br />
die durch die koordinierende Konjunktion denn oder aber eingeleitet sind: 17<br />
(30) dt. (a) [CP Denn [CP ichj kennei [IP tj diesen Mann nicht ti]]]<br />
(b) [CP Aber [CP ichj kennei [IP tj diesen Mann nicht ti]]]]<br />
Ähnlich wie im Deutschen ist auch in allen anderen Verb-Zweit-Sprachen die Dritt-Stellung<br />
des finiten Verbs in Matrixsätzen auf wenige, streng reglementierte Kontexte beschränkt<br />
(cf. Schwartz / Vikner 1996). Eine unbeschränkte, generell gültige Möglichkeit<br />
der CP-Adjunktion könnte diesen Sachverhalt nicht erfassen (cf. auch Chomsky 1986a:6):<br />
There is independent evidence that adjunction to IP is allowed and that adjunction to CP is not.<br />
The fact that adjunction to a subject-initial V2 clause is impossible is therefore a natural consequence<br />
of the V2-outside-IP approach but left unexplained within the asymmetry approach.<br />
(Schwartz / Vikner 1996:13)<br />
Mit anderen Worten, trotz der Beobachtung, dass es Sprachen gibt, in denen die im Deutschen<br />
und Niederländischen hinsichtlich der Verb-Zweit-Stellung zu beobachtende Haupt-<br />
Nebensatz-Asymmetrie nicht in vollem Umfang Gültigkeit hat, muss die bisher angenommene<br />
Verb-Zweit-Stellungsanalyse nicht aufgegeben werden. Es ist plausibel, auch für diese<br />
Sprachen anzunehmen, dass das Verb in finiten Matrixsätzen stets nach COMP bewegt<br />
werden muss, um die notwendigen Finitheits- und Kongruenzmerkmale zu erhalten. In Nebensätzen<br />
findet eine solche Anhebung nur dann statt, wenn die COMP-Position nicht belegt<br />
ist oder wenn auf Grund einzelsprachlich streng festgelegter Bedingungen die Rekursion<br />
des CP-Knotens möglich ist, die zur Bildung einer weiteren COMP-Position führt.<br />
17<br />
In ähnlicher Weise verhalten sich auch die Adverbien allein bzw. nur und nun, wenn sie satzeinleitend<br />
auftreten:<br />
(i) dt. (a) Allein, es fehlt mir der Glaube.<br />
(b) Nun, ich kann singen.<br />
Auf letzteres Beispiel wird von Fodor (1998:2,Fn.2) hingewiesen. Bemerkenswerterweise wird<br />
dabei allerdings nun mit 'now' – anstatt mit 'well' – übersetzt. In dieser Bedeutung ist die Verb-<br />
Dritt-Stellung jedoch vollkommen ausgeschlossen:<br />
(ii) dt. *Nun (=jetzt) ich kann singen.<br />
Dürscheid (1989) diskutiert eine Vielzahl von Verb-Dritt-Stellungsmustern, wie beispielsweise in<br />
(iii), die auf den ersten Blick gegen eine Beschränkung der CP-Rekursion in Verb-Zweit-Sprachen<br />
sprechen:<br />
(iii) dt. (a) Mit Vergnügen gelesen hat die Frau das Buch.<br />
(b) Gestern am Strand hat die Frau das Buch gelesen.<br />
Dürscheid (1989:136) kann aber überzeugend nachweisen, dass solche "Konstituenten, die zusammen<br />
im V[or]F[eld] stehen, [...] ein- und derselben maximalen Projektion" angehören und somit<br />
nicht als Ausnahmen bzgl. der Verb-Zweit-Stellungsregel behandelt werden müssen.<br />
29
30<br />
Im Anschluss an diese Feststellung muss nun gefragt werden, wie Verb-Zweit-Sprachen<br />
erfasst werden können, die durch ein "general embedded V2" (Vikner 1995:72) charakterisiert<br />
sind.<br />
2.1.3 Die Verbstellung in symmetrischen Verb-Zweit-Sprachen<br />
Mit dem Isländischen und dem Jiddischen existieren zwei Sprachen, die dadurch gekennzeichnet<br />
sind, dass sie eine generelle Verb-Zweit-Stellung in Nebensätzen aufweisen. Das<br />
heißt, anders als im Friesischen oder in den festlandskandinavischen Sprachen ist in diesen<br />
beiden Sprachen die Zweitstellung des finiten Verbs nicht nur in solchen Nebensätzen zu<br />
beobachten, deren Matrixsatz ein Brückenverb enthält ((31)(a) und (32)(a)), sondern auch<br />
in anderen Nebensätzen, wie z.B. in solchen, die von einem Nicht-Brückenverb ((31)(b)<br />
und (32)(b)), einem negierten Brückenverb ((31)(c) und (32)(c)) oder einem Subjektsatz<br />
((31)(d) und (32)(d)) abhängig sind (Vikner 1995:72f., Iatridou / Kroch 1992:8f.):<br />
(31) is. (a) Ég veit, að þessa bók skuli ég hafa lesið.<br />
ich weiß dass dieses Buch habe ich gelesen<br />
(b) Ég harma, að þessa bók skuli ég hafa lesið.<br />
ich bedaure dass dieses Buch habe ich gelesen<br />
(c) Ég sagði ekki, að á morgun mundi María fara snemma á fætur.<br />
ich sagte nicht dass am morgen würde Maria gehen früh auf Fuss<br />
(d) Að Maríu hafi hann aldrei seð, er kannski líklegt.<br />
dass Maria hat er nie gesehen ist vielleicht wahrscheinlich<br />
(32) jd. (a) Ikh veys, az dos bukh hob ikh geleyent.<br />
ich weiß dass dieses Buch habe ich gelesen<br />
(b) Ikh bedoyer, az dos bukh hob ikh geleyent.<br />
ich bedaure dass dieses Buch habe ich gelesen<br />
(c) Ikh meyn nit, az morgn zol er kumen tsu der khasene.<br />
ich denke nicht dass morgen soll er kommen zu der Hochzeit<br />
(d) Dos vos nekhtn iz gekumen aza groyser oylem, hot undz<br />
dass wo gestern ist gekommen so-eine große Zuhörerschaft hat uns<br />
alemen gekhidesht.<br />
alle verwirrt<br />
Diese Daten belegen deutlich, dass in diesen beiden Sprachen das Auftreten eingebetteter<br />
Verb-Zweit-Effekte nicht auf eine bestimmte Gruppe von Nebensätzen beschränkt ist, sondern<br />
dass es in diesen Sprachen generell keine komplementäre Distribution zwischen Verb-<br />
Zweit-Stellung und Komplementierer gibt.<br />
Die Diskussion dieser Fakten hat zu einer Vielzahl von Vorschlägen geführt, die hier im<br />
einzelnen nicht erörtert werden können. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Analysen<br />
sind oft sehr subtil und für die hier vorgelegte Untersuchung von Verb-Zweit-Effekten<br />
in den romanischen Sprachen nicht relevant. Die Frage, die im Mittelpunkt der Diskussion<br />
steht, ist die, ob und inwiefern diese Fakten mit einer einheitlichen Analyse der Verb-<br />
Zweit-Sprachen vereinbar sind, wonach Verb-Zweit-Effekte als V-nach-COMP-Bewegung<br />
beschrieben werden. In einer Reihe von Untersuchungen wird diese Frage negativ beantwortet<br />
und vorgeschlagen, die Verb-Zweit-Effekte im Isländischen und Jiddischen auf<br />
grundsätzlich andere Weise zu erfassen. Ein Analysevorschlag, der v.a. auf Arbeiten von<br />
Santorini (1992) und Rögnvaldsson / Thráinsson (1990) sowie von Diesing (1988, 1990)<br />
zurückgeht, lautet, dass das finite Verb in diesen Sprachen nicht nach COMP, sondern regelmäßig<br />
nur nach INFL bewegt wird. Dies hat die Annahme zur Konsequenz, dass die
SpezIP-Position nicht nur als A(rgument)-Position, sondern auch als A'-Position fungieren<br />
kann und damit als Landeposition für Nicht-Argumente, wie z.B. für Adverbiale oder sonstige<br />
topikalisierte Phrasen, zur Verfügung steht. Mit anderen Worten, das Isländische und<br />
Jiddische werden auf grundsätzlich andere Weise als die anderen Verb-Zweit-Sprachen<br />
analysiert.<br />
Eine solche Analyse wird zwar der Symmetrie zwischen Haupt- und Nebensatz in diesen<br />
beiden Sprachen gerecht, gleichzeitig bleibt jedoch nun die Gemeinsamkeit mit anderen<br />
germanischen Verb-Zweit-Sprachen unberücksichtigt, nämlich die für diese Sprachen charakteristische<br />
Eigenschaft der obligatorischen Verb-Zweit-Stellung in Matrixsätzen:<br />
If [...] main clause V2 is topicalisation to IP-spec in Icelandic/Yiddish but to CP-spec in the other<br />
V2 languages, the question is whether such a difference is motivated, given that there would seem<br />
to be no relevant structural differences between the two groups at all with respect to main clauses<br />
(as opposed to embedded clauses in the two groups [...]). In other words, although it is true that the<br />
topicalisation to IP-spec analysis avoids postulating a difference that is not motivated by the evidence<br />
(i.e., between main and embedded clauses in Icelandic and Yiddish), as claimed for example,<br />
by Rögnvaldsson / Thráinsson (1990:4), the topicalisation to IP-spec analysis on the other<br />
hand necessitates postulating another difference which is not motivated by the evidence, either –<br />
namely, one between main clauses in Icelandic and Yiddish and main clauses in the other V2 languages.<br />
(Vikner 1995:83)<br />
Als eine Möglichkeit, dieses Dilemma zu vermeiden, könnte der Ansatz von Reinholtz<br />
(1989) angesehen werden, wonach es in allen festlandskandinavischen Sprachen in deklarativen<br />
Matrixsätzen zu keiner V-nach-COMP-Bewegung kommt, sondern der Landeplatz für<br />
das finite Verb die INFL-Position ist. Ein ähnlicher Vorschlag wird auch für das Deutsche<br />
und Niederländische gemacht (Kathol 1990, Haider 1993, Kayne 1994, Zwart 1997). Dies<br />
bedeutet, dass alle Verb-Zweit-Sprachen in der gleichen Weise wie das Isländische und<br />
Jiddische analysiert werden. Eine solche einheitliche Analyse der Verb-Zweit-Sprachen<br />
wirft allerdings die Frage auf, wodurch sich die Verb-Zweit-Sprachen dann von Nicht-<br />
Verb-Zweit-Sprachen unterscheiden. Das gravierendste Problem besteht hierbei vor allem<br />
darin, dass die Ungrammatikalität von Verb-Dritt-Sätzen nicht mehr auf eine universal<br />
gültige CP-Rekursionsbeschränkung zurückgeführt werden kann. Kayne (1994:28) beispielsweise<br />
muss daher postulieren, dass sich Verb-Zweit-Sprachen von Nicht-Verb-Zweit-<br />
Sprachen dadurch unterscheiden, dass die Adjunktion einer funktionalen Projektion überhalb<br />
von IP/AgrSP in Verb-Zweit-Sprachen ausgeschlossen ist. Ansichts der eben betrachteten<br />
Daten in (28), die deutlich gegen eine solche Beschränkung für eine IP-Rekursion<br />
sprechen, erscheint diese Annahme jedoch empirisch nicht haltbar (cf. Donati / Tomaselli<br />
1997).<br />
Auf Grund dieser Beobachtung schlagen Kroch / Taylor (1997:305) vor, eine IP-Analyse<br />
nur für solche Sprachen anzunehmen, die zwar auch Verb-Zweit-Effekte aufweisen, allerdings<br />
nicht über eine strenge Verb-Zweit-Stellungsregel verfügen. In vielen diachronischen<br />
Untersuchungen des Englischen wird angenommen, dass es sich beim Altenglischen um<br />
eine solche Sprache handelt (cf. auch Haeberli 1999, Tappe 2000):<br />
If O[ld] E[nglish] main clauses were IPs unless CP was required by the presences of wh or some<br />
other focus element, then O[ld] E[nglish] may never have been a strict V2 language in the Dutch /<br />
German / Scandinavian sense (Stockwell 1984; Swan 1994; Weerman 1989:234); Pintzuk [1993];<br />
Kroch / Taylor [1997]). At any rate, it permits both V1 and V3 declarative main clauses, and V2<br />
clauses arise in at least two distinct configurations: (1) a focussed element in Spec, CP, with the<br />
31
32<br />
verb in C position after it, (2) a subject (or, in sentences without an external argument, some other<br />
constituent) in Spec,IP, with the verb in I position after it, a possibility clearly evinced in subordinate<br />
clauses (van Kemenade [1997]). Adjoining an adverbial or PP to these two structures in turn<br />
yields two distinct types of V3 order. (Kiparsky 1997:469f.)<br />
Daraus folgt, dass für Sprachen mit einer strengen Verb-Zweit-Stellung, die dadurch gekennzeichnet<br />
sind, dass Sätze mit einer Verb-Dritt-Stellung generell ausgeschlossen sind,<br />
die Annahme einer IP-Rekursion ungeeignet ist. 18 Wesentlich adäquater ist daher der Vorschlag<br />
von Vikner (1995), die eingebetteten Verb-Zweit-Effekte im Isländischen und Jiddischen<br />
durch eine CP-Rekursion zu erfassen. Unabhängige Evidenz sieht Vikner<br />
(1995:119f.) hierfür u.a. darin, dass in vielen Sprachen bzw. Dialekten, wie z.B. im Bairischen<br />
oder Westflämischen, die Möglichkeit existiert, in eingebetteten Fragesätzen zusätzlich<br />
zur nebensatzeinleitenden wh-Phrase einen Komplementierer zu verwenden:<br />
(33) bai. I woaß net, wann dass da Xaver kummt.<br />
(Bayer 1983/84:212)<br />
(34) wfl. Kweten nie, wannièr da Valère goa werekommen.<br />
ich-weiß nicht wann dass Valère geht wiederkommen<br />
(Haegeman 1992:57)<br />
In den meisten Analysen dieser Sätze wird davon ausgegangen, dass in diesen Sprachen die<br />
Möglichkeit zu einer doppelten CP-Besetzung – und damit zu einer Verletzung des sog.<br />
'Doubly Filled COMP-Filters' – besteht (Grewendorf 1988:250). Es wird angenommen,<br />
dass der Komplementierer in diesen Sprachen das Merkmal [+wh] besitzt und daher in der<br />
[+wh]-markierten COMP-Position auftreten kann. Vikner (1995:120) wendet dagegen allerdings<br />
ein, dass diese Analyse nicht erklären kann, warum in anderen Kontexten, in denen<br />
die COMP-Position ebenfalls mit dem Merkmal [+wh] markiert ist, das Auftreten des<br />
Komplementierers ausgeschlossen ist:<br />
(35) dt. (a) *Ich frage mich, dass Peter das Buch gelesen hat.<br />
(b) Ich frage mich, ob Peter das Buch gelesen hat.<br />
(36) dä. (a) *Jeg gad vide, at Peter har læst bogen.<br />
(b) Jeg gad vide, om Peter har læst bogen.<br />
Aus diesem Grund schlägt Vikner (1995:120) für einen Satz wie (33) eine Struktur mit<br />
einer CP-Rekursion vor:<br />
(37) I woaß net [CP wanni [C' [COMP[+wh]] [CP ti [C' dass [IP da Xaver kumt]]]]]<br />
Vikner (1995:121f.) sieht diese Analyse zusätzlich unter anderem dadurch bestätigt, dass in<br />
einigen Sprachen oder Dialekten gleichzeitig zwei nebensatzeinleitende Elemente, die sich<br />
in COMP befinden, auftreten können:<br />
(38) wfl. Kweten nie of da Valère dienen boek a gelezen eet.<br />
ich-weiß nicht ob dass Valère dieses Buch schon gelesen hat<br />
(Haegeman 1992:50)<br />
18 Verwunderlich ist, dass A. Kroch in seinem Aufsatz mit S. Iatridou (Iatridou / Kroch 1992) genau<br />
diese IP-Analyse für eine Sprache mit strenger Verb-Zweit-Stellung, nämlich für das Jiddische,<br />
vorschlägt.
(39) is. Ég veit ekki hvort að þetta er í lagi.<br />
ich weiß nicht ob dass das ist alles richtig<br />
(Vikner 1995:122)<br />
Nach Ansicht von Vikner liefern diese Daten unabhängige Evidenz für die Annahme einer<br />
CP-Rekursion in eingebetteten Sätzen. Er schlägt daher vor, dass auch die eingebetteten<br />
Verb-Zweit-Sätze im Isländischen und Jiddischen auf ähnliche Weise erfasst werden können.<br />
Demzufolge würde man beispielsweise für den jiddischen Satz in (32)(b) folgende<br />
Struktur erhalten:<br />
(40) Ikh bedoyer [CP [C' az [CP dos bukh [C' hob [IP ikh geleyent]]]]]<br />
Dieser Analyse zufolge besteht die Besonderheit des Jiddischen und Isländischen im Unterschied<br />
zu den anderen germanischen Verb-Zweit-Sprachen darin, dass das finite Verb nicht<br />
nur im Matrixsatz, sondern auch im Nebensatz stets nach COMP angehoben wird. Die<br />
Verb-Zweit-Stellung im Nebensatz wird demzufolge in der gleichen Weise erfasst wie die<br />
Verb-Zweit-Stellung im Hauptsatz. Damit erfahren alle Verb-Zweit-Sprachen eine einheitliche<br />
Behandlung hinsichtlich der für diese Sprachen charakteristischen Verb-Zweit-Stellungseigenschaft.<br />
Eine solche Analyse erweist sich als wesentlich attraktiver als eine Analyse,<br />
die diese Gemeinsamkeiten unberücksichtigt lässt:<br />
Given the goals of generative grammar, [...] it is very attractive to adopt a research strategy in<br />
which one defends as long as possible that all these Vf2 phenomena are caused by essentially the<br />
same rules of grammar, the differences resulting from subtle and reasonable differences in the<br />
grammar. (Weerman 1989:26)<br />
Auf der Grundlage dieser Annahme kann somit als Ergebnis der Diskussion der Verb-<br />
Zweit-Stellungseigenschaft in den germanischen Sprachen und im Rätoromanischen festgehalten<br />
werden, dass alle Verb-Zweit-Sprachen dadurch gekennzeichnet sind, dass die<br />
Kongruenz- und Finitheitsmerkmale in COMP basisgeneriert sind. Diese Basisgenerierung<br />
ist parametrisch festgelegt. Das heißt, in allen Matrixsätzen dieser Sprachen ist stets die<br />
CP-Ebene aktiviert, da das finite Verb stets nach COMP bewegt werden muss. Die Bildung<br />
von Verb-Dritt-Matrixsätzen ist dadurch ausgeschlossen, dass die Möglichkeit einer CP-<br />
Rekursion generell ausgeschlossen bzw. nur auf wenige, durch einzelsprachliche Bedingungen<br />
streng festgelegte Kontexte beschränkt ist. Für das Jiddische und Isländische kann<br />
in Anlehnung an Authier (1992) angenommen werden, dass eine dieser Bedingungen für<br />
eine CP-Rekursion die ist, dass die CP regiert sein muss. Damit besteht in diesen Sprachen<br />
die Möglichkeit der CP-Rekursion in Nebensätzen.<br />
Ausgehend von dieser Analyse von Verb-Zweit-Sprachen sollen nun die romanischen<br />
Sprachen dahingehend geprüft werden, ob die dort zu beobachtenden Verb-Zweit-Stellungseffekte<br />
in ähnlicher Weise beschrieben werden können.<br />
2.2 Verb-Zweit-Stellungseffekte in den modernen romanischen Sprachen<br />
Verb-Zweit-Stellungseffekte sind, wie bereits in Kapitel 1 gezeigt, keineswegs ausschließlich<br />
in Verb-Zweit-Sprachen, sondern auch in solchen Sprachen anzutreffen, die über keine<br />
33
34<br />
strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft verfügen. Einer der entscheidenden Unterschiede<br />
zu den Verb-Zweit-Sprachen besteht darin, dass die Verb-Zweit-Stellung hier auf bestimmte<br />
Kontexte beschränkt ist. Im Englischen beispielsweise sind dies vorwiegend Interrogativsätze<br />
oder Konstruktionen, in denen bestimmte topikalisierte oder negierte Elemente satzinitial<br />
stehen (Rochemont / Cullicover 1990:Kap.3, Levin / Rappaport Hovav 1995:Kap.6).<br />
In einigen dieser Fälle ist, wie die Beispiele von Rizzi (1990b:63) und Vikner (1995:48)<br />
illustrieren, die Subjekt-Verb-Inversion sogar obligatorisch:<br />
(41) en. (a) *What Mary has said?<br />
(b) What has Mary said?<br />
(42) en. (a) *Never the children have seen such a bad film.<br />
(b) Never have the children seen such a bad film.<br />
(43) en. (a) *Only in Switzerland such a thing could happen.<br />
(b) Only in Switzerland could such a thing happen.<br />
Parallel dazu existieren im Englischen jedoch viele Kontexte, in denen die Verb-Zweit-<br />
Stellung kategorisch ausgeschlossen ist. Ein Vergleich mit den in Kapitel 1 betrachteten<br />
deutschen und niederländischen Sätzen (1)-(2) zeigt, dass die englischen Entsprechungen –<br />
ebenso wie die der romanischen Sprachen – stets dann ungrammatisch sind, wenn das<br />
Subjekt postverbal erscheint:<br />
(44) en. (a) The woman has read the book with pleasure.<br />
(b) *The book has the woman read with pleasure.<br />
(c) *With pleasure has the woman read the book.<br />
(d) *Read has the woman the book with pleasure.<br />
(e) *If the woman had had time, would she read the book.<br />
Somit bestehen auch im Englischen deutliche Unterschiede zu den übrigen germanischen<br />
Sprachen hinsichtlich der Verb-Zweit-Stellung. Ähnlich wie in den romanischen Sprachen<br />
wird die in Sätzen (41) - (43) zu beobachtende Stellung des finiten Verbs als Indiz dafür angesehen,<br />
dass das Englische ursprünglich durch eine generelle Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
charakterisiert war, die es im Laufe seiner historischen Entwicklung weitgehend<br />
aufgegeben und nur noch in bestimmten Kontexten erhalten hat. Das Englische wird daher<br />
ebenso wie die meisten romanischen Sprachen als eine 'residuale' Verb-Zweit-Sprache<br />
angesehen (Rizzi 1990b, 1990c). In den folgenden beiden Abschnitten soll nun überprüft<br />
werden, inwiefern eine solche Charakterisierung der romanischen Sprachen gerechtfertigt<br />
ist. Dabei werden das Französische und Spanische im Mittelpunkt der Diskussion stehen.<br />
Was das Rätoromanische betrifft, so haben wir bereits gesehen, dass im Bündnerromanischen<br />
– ebenso wie in einigen dolomitenladinischen Dialekten – die Verb-Zweit-Stellung<br />
nicht kontextuell beschränkt, sondern generell in allen deklarativen Matrixsätzen gültig ist.<br />
Da das Rätoromanische eine zugrunde liegende SVO-Stellung hat, weist es – anders als das<br />
Deutsche und Niederländische – keine Haupt-Nebensatz-Asymmetrie auf und liefert somit<br />
– ähnlich wie die festlandskandinavischen Sprachen – keine deutliche empirische Evidenz<br />
für eine Verb-nach-COMP-Bewegung. Auf Grund der Gemeinsamkeiten zum Deutschen<br />
und Niederländischen hinsichtlich der Verb-Zweit-Stellungseffekte gibt es jedoch keinen<br />
Grund dafür, die Verb-Zweit-Stellung des Bündnerromanischen in anderer Weise zu analysieren<br />
als in den germanischen Verb-Zweit-Sprachen. Im Folgenden wird daher nicht eigens<br />
auf das Rätoromanische eingegangen.
2.2.1 Verb-Zweit-Stellungseffekte in Interrogativsätzen<br />
Nach Ansicht vieler Autoren ist diese vermeintliche 'residuale' Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
in den romanischen Sprachen am deutlichsten in den Interrogativsätzen erkennbar.<br />
So wird in vielen Untersuchungen der Wortstellung in diesen Sprachen darauf hingewiesen,<br />
dass in einem dem englischen Interrogativsatz in (41) entsprechenden Fragesatz die Verb-<br />
Zweit-Stellung in verschiedenen romanischen Sprachen nicht nur möglich, sondern sogar<br />
obligatorisch ist (cf. Kayne 1972:71, Rizzi 1990b:63 u. 78f., Torrego 1984:103 u. 105):<br />
(45) fr. (a) *Que Marie a dit?<br />
(b) *Qu'a Marie dit?<br />
(c) Qu'a dit Marie?<br />
(46) it. (a) *(Che) cosa Maria ha detto?<br />
(b) *(Che) cosa ha Maria detto?<br />
(c) (Che) cosa ha detto Maria?<br />
(47) sp. (a) *¿Qué María ha dicho?<br />
(b) *¿Qué ha María dicho?<br />
(c) ¿Qué ha dicho María?<br />
Wie die Beispiele zeigen, unterscheiden sich das Französische, Italienische und Spanische<br />
vom Englischen lediglich darin, dass das Subjektsnomen nicht zwischen finitem Verb und<br />
Partizip auftreten kann. Im Französischen besteht allerdings die Besonderheit, dass das<br />
Subjekt diese Position genau dann einnimmt, wenn es pronominal ist (Kayne 1972:71): 19<br />
(48) fr. (a) Qu'a-t-elle dit?<br />
(b) *Qu'a dit elle?<br />
Das iberische Portugiesisch, in dem im entsprechenden Interrogativsatz ebenfalls die postverbale<br />
Stellung des Subjekts obligatorisch ist, erlaubt beide Stellungsmöglichkeiten des<br />
postverbalen Subjekts (Ambar 1992:58 u. 62):<br />
(49) ipg. (a) *(O) Que a Maria tem dito?<br />
(b) (O) Que tem a Maria dito?<br />
(c) (O) Que tem dito a Maria?<br />
Ebenso wie für die Verb-Zweit-Stellung in den Matrixsätzen von Verb-Zweit-Sprachen<br />
muss nun hier die Frage gestellt werden, wodurch die Zweit-Stellung des finiten Verbs in<br />
diesen Konstruktionen ausgelöst wird. Eine von Rizzi (1990b, 1990c) vorgeschlagene<br />
Analyse macht hierfür das so genannte 'wh-Kriterium' verantwortlich. Diesem Kriterium<br />
zufolge, das Rizzi in Anlehnung an May (1985) formuliert, muss der Kopf einer Phrase, in<br />
deren Spezifiziererposition sich ein wh-Operator befindet, das Merkmal [+wh] enthalten,<br />
und umgekehrt muss in jeder Spezifiziererposition einer Phrase, deren Kopf [+wh]-markiert<br />
ist, ein wh-Operator auftreten:<br />
19 In Anlehnung an Kayne (1972:71) wird diese Art der Inversion i.d.R. als 'Subjektsklitikon-Inversion'<br />
bezeichnet, während die Inversion mit einem nominalen Subjekt 'Stilistische Inversion' genannt<br />
wird.<br />
35
36<br />
(50) wh-Kriterium (Rizzi 1990b:64):<br />
(a) Ein wh-Operator muss in einer Spezifizierer-Kopf-Beziehung zu einem X 0 [+wh]<br />
stehen.<br />
(b) Ein X 0 [+wh] muss in einer Spezifizierer-Kopf-Beziehung zu einem wh-Operator<br />
stehen.<br />
Nach Ansicht von Rizzi handelt es sich bei diesem Kriterium um ein universales Prinzip,<br />
das je nach Einzelsprache entweder auf der S-Struktur oder auf der Ebene der Logischen<br />
Form (LF) erfüllt werden muss. Für das Englische und Französische nimmt Rizzi an, dass<br />
die durch das wh-Kriterium geforderte Spezifizierer-Kopf-Beziehung bereits auf der S-<br />
Struktur hergestellt sein muss. Damit will er der Tatsache Rechnung tragen, dass in diesen<br />
Sprachen die wh-Phrase in eingebetteten Interrogativsätzen nicht in situ bleiben kann, d.h.<br />
noch vor der LF-Ebene aus ihrer Basisposition herausbewegt werden muss (Rizzi<br />
1990b:65ff. u.75, 1990c:378):<br />
(51) en. (a) *I wonder [CP [C' [COMP[+wh]] [IP Mary has seen who]]].<br />
(b) I wonder [CP whoi [C' [COMP[+wh]] [IP Mary has seen t ]]].<br />
i<br />
(52) fr. (a) *Je ne sais pas [CP [C' [COMP[+wh]] [ elle a rencontré qui]]].<br />
ich NEG weiß nicht sie hat getroffen wen<br />
(b) Je ne sais pas [CP quii [C' [COMP[+wh]] [ elle a rencontré ti]]].<br />
ich NEG weiß nicht wen sie hat getroffen<br />
Rizzi führt die Grammatikalitätsunterschiede in (51) und (52) darauf zurück, dass die<br />
COMP-Position auf Grund der Selektionseigenschaften des Matrixverbs mit dem Merkmal<br />
[+wh] spezifiziert ist. Durch die Annahme, dass das wh-Kriterium bereits auf der S-Struktur<br />
erfüllt werden muss, wird die overte Anhebung der wh-Phrase in die SpezCP-Position verlangt.<br />
Dort fungiert sie als wh-Operator und kongruiert mit dem [+wh]-markierten Kopf. 20<br />
Diese Analyse wirft die Frage auf, wie in Matrix-Interrogativsätzen, in denen COMP<br />
nicht durch Selektion eines regierenden Matrixverbs [+wh]-markiert ist, das wh-Kriterium<br />
erfüllt wird. Rizzis Analyse zufolge ist in diesen Sätzen INFL der Träger des Merkmals<br />
[+wh], d.h. Träger eines "substantive feature whose interpr[e]tation is 'the carrier of this<br />
feature designates a question'" (Rizzi 1990c:378). Unabhängige Evidenz für diese Annahme<br />
sieht er darin, dass in verschiedenen Sprachen Interrogation durch eine besondere Verbmorphologie<br />
ausgedrückt werden kann. 21 Die [+wh]-Markierung von INFL bewirkt, dass<br />
20 Rizzi (1990b:73) geht dabei von der Annahme aus, dass eine wh-Phrase erst dann zum Operator<br />
wird, wenn sie in einer Skopusposition, d.h. in einer linksperipheren Nicht-Argument-Position<br />
(z.B. SpezCP) erscheint. Damit gilt das wh-Kriterium für wh-Phrasen erst dann, wenn sie sich<br />
nicht mehr in ihrer Basisposition innerhalb der VP oder in einer rechtsperipheren Position befinden.<br />
In Sprachen wie z.B. Chinesisch oder Japanisch, in denen das wh-Kriterium erst auf der LF-Ebene<br />
erfüllt sein muss, können die wh-Phrasen auf der S-Struktur in situ bleiben. Daher sind Sätze, die<br />
den ungrammatischen Beispielen in (51) und (52) entsprechen, in diesen Sprachen grammatisch<br />
(Friedemann 1997:189).<br />
21 Rizzi (1990b:66) nennt als Beispiele für solche Sprachen Hausa und das westaustronesische<br />
Palauan (cf. Haïk 1990 und Georgopoulos 1991). Bemerkenswerterweise ist auch für das Französische<br />
vorgeschlagen worden, dass es eine derartige Verbmorphologie aufweist. Noonan (1989) beispielsweise<br />
interpretiert das in umgangssprachlichen Interrogativsätzen des Québec-Französischen<br />
häufig verwendete enklitische tu als offenes [+wh]-Merkmal, das in INFL basisgeneriert ist.
das finite Verb nach COMP angehoben werden muss, um dort in eine Spezifizierer-Kopf-<br />
Beziehung mit der nach SpezCP angehobenen wh-Phrase treten zu können. Ausgehend von<br />
der Annahme, dass in einer Sprache wie dem Englischen diese Beziehung bereits auf der S-<br />
Struktur bestehen muss, gelangt Rizzi (1990b:66f.) somit zu folgender Ableitung für den<br />
englischen Interrogativsatz in (41)(b): 22<br />
(53) D-Struktur: [CP [IP Mary has[+wh] said what]]?<br />
S-Struktur: [CP Whati [C' has[+wh]j] [IP Mary tj said ti]]?<br />
Der Versuch, diese Analyse der englischen Interrogativsätze auf die romanischen Sprachen<br />
zu übertragen, erweist sich jedoch in verschiedener Hinsicht als problematisch. Eines der<br />
Probleme besteht darin, dass die in den Sätzen (45)-(49) beobachtete Obligatheit der Subjekt-Verb-Inversion<br />
keineswegs kategorisch für alle Interrogativsätze dieser Sprachen gilt.<br />
Wie die Beispiele in (54) belegen, ist bei dieser Art von Interrogativsätzen im (umgangssprachlichen)<br />
Französischen neben der Nachstellung auch die Voranstellung eines nominalen<br />
oder pronominalen Subjekts zu beobachten (cf. Rizzi 1990b:75, Friedemann<br />
1997:165f.):<br />
(54) fr. (a) À quelle heure est parti Paul?<br />
um wieviel Uhr ist gegangen Paul<br />
(b) À quelle heure est-il parti?<br />
um wieviel Uhr ist er gegangen<br />
(c) À quelle heure Paul est parti?<br />
um wieviel Uhr Paul ist gegangen<br />
(d) À quelle heure il est parti?<br />
um wieviel Uhr er ist gegangen<br />
Damit stellt sich nun die Frage, wie diese Variation der Stellung des finiten Verbs im Rahmen<br />
des von Rizzi entworfenen Modells des wh-Kriteriums erfasst werden kann. Nach<br />
Ansicht von Rizzi ist dies nur durch die Einführung eines zusätzlichen Mechanismus, der so<br />
genannten 'Dynamischen Kongruenz' ("Dynamic Agreement"), möglich. Dieser Mechanismus<br />
bewirkt, dass ein wh-Operator seinem Kopf das Merkmal [+wh] übertragen kann:<br />
(55) Dynamische Kongruenz (Rizzi 1990b:76):<br />
[CP wh-Operator X 0 ] => [CP wh-Operator X 0 [+wh]]<br />
Dadurch ist die Möglichkeit gegeben, dass das wh-Kriterium in Matrixsätzen auch dann erfüllt<br />
werden kann, wenn kein ([+wh]-markiertes) Verb nach COMP angehoben wird. Die<br />
Verbbewegung schließt Rizzi durch die Zusatzannahme aus, dass in Sätzen wie (54)(c) oder<br />
(54)(d) INFL nicht mit dem Merkmal [+wh] spezifiziert ist. Andernfalls müsste das finite<br />
Verb zur Erfüllung des wh-Kriteriums nach COMP angehoben werden.<br />
Nach Ansicht von Rizzi kann mit Hilfe des Mechanismus der Dynamischen Kongruenz<br />
eine weitere Besonderheit französischer Interrogativsätze erklärt werden. Es handelt sich<br />
darum, dass im umgangssprachlichen Französisch die Anhebung der wh-Phrase fakultativ<br />
22 Rizzis Analyse beschränkt sich auf eine Erklärung für die Verb-Zweit-Stellung in Interrogativsätzen.<br />
Andere "residuale" Verb-Zweit-Effekte des Englischen, wie sie etwa in (42) - (43) illustriert<br />
sind, bleiben unberücksichtigt.<br />
37
38<br />
ist. Die entscheidende Beobachtung hierbei ist die, dass die wh-Phrase auch dann in situ<br />
verbleiben kann, wenn es sich nicht um eine Echo-Frage handelt: 23<br />
(56) fr. Paul est parti à quelle heure?<br />
Paul ist gegangen um wieviel Uhr<br />
Rizzi postuliert auch für diesen Satz, dass INFL keine [+wh]-Merkmale trägt. Dies hat zur<br />
Folge, dass es auf der S-Struktur zu keiner Verletzung des wh-Kriteriums kommt, da das in<br />
situ stehende wh-Element nicht als wh-Operator fungiert (cf. Fußnote 20). Zur Erfüllung<br />
des wh-Kriteriums muss es daher erst auf der LF-Ebene kommen, wenn die wh-Phrase nach<br />
SpezCP angehoben wird. Dies geschieht dadurch, dass der wh-Operator mittels Dynamischer<br />
Kongruenz das [+wh]-Merkmal an den Kopf der CP zuweist.<br />
Es dürfte klar sein, dass Rizzis Analyse durch diese zusätzlichen Annahmen sehr stark<br />
an Erklärungsadäquatheit verliert (cf. auch Hulk 1993, Kaiser 1996, 1998). Zum einen ist<br />
die Annahme, dass in Sätzen, in denen das wh-Kriterium durch Dynamische Kongruenz<br />
erfüllt wird, INFL nicht mit dem Merkmal [+wh] markiert ist, vollkommen ad hoc. Zum<br />
anderen bleibt auf Grund der Einführung des zusätzlichen Mechanismus der Dynamischen<br />
Kongruenz nun wieder völlig offen, wie in Sätzen mit einer Subjekt-Verb-Inversion, wie in<br />
(45)(c) und (48)(a), die Verb-Anhebung erklärt werden kann. Prinzipiell besteht nämlich<br />
nun keine Notwendigkeit mehr dazu, da die Möglichkeit gegeben ist, das wh-Kriterium<br />
auch ohne Verb-nach-COMP-Bewegung zu erfüllen:<br />
In other words, by assuming the existence of Dynamic Agreement a redundancy has been introduced<br />
into the theory, for in sentences such as [(48)(a)] the wh-criterion may now be satisfied<br />
either by finite verb movement to C (V2) or by Dynamic Agreement. (Hulk 1993:129)<br />
Eine Möglichkeit, diese Redundanz aufzulösen, könnte darin bestehen, dass eine klare<br />
Unterscheidung zwischen dem Standardfranzösischen (français soutenu) einerseits und<br />
dem umgangssprachlichen Französischen gezogen wird (Kaiser 1996, 1998). Obwohl eine<br />
solche Einteilung stark vereinfachend ist, bestätigen zahlreiche soziolinguistische Untersuchungen,<br />
dass insbesondere hinsichtlich der Inversion in den französischen Interrogativsätzen<br />
ein deutlicher Unterschied zwischen dem Standardfranzösischen und den umgangssprachlichen<br />
Varietäten besteht. Abgesehen von einigen festen Redewendungen, wie z.B.<br />
vois-tu oder penses-tu, liefern diese Studien nur wenige Belege für invertierte Interrogativsätze<br />
in der Umgangssprache (cf. z.B. Behnstedt 1973, Ashby 1977, Coveney 1990). Im<br />
Standardfranzösischen hingegen ist die Subjekt-Verb-Inversion in allen wh-Interrogativkontexten<br />
obligatorisch – ausgenommen in den periphrastischen Fragesätzen, die die Fragepartikel<br />
est-ce que enthalten (Blinkenberg 1928:145, Renchon 1969). Mit anderen Worten,<br />
die Beispielsätze in (54)(a)-(b) gehören einer anderen Varietät an als die Beispielsätze<br />
in (54)(c)-(d).<br />
23 Im Standardspanischen und Standarditalienischen ist das Verbleiben der wh-Phrase in situ i.d.R.<br />
nur in Echo-Fragen möglich (cf. Hernanz / Brucart 1987:100 für das Spanische, Poletto 1993:247,<br />
Fn.3 für das Italienische). In regionalen Varietäten gilt diese Beschränkung allerdings nicht (cf.<br />
Poletto 1993:236ff. für das Venezianische). Im Portugiesischen, insbesondere im brasilianischen<br />
Portugiesischen, sind wh-in-situ-Fragen regelmäßig als Nicht-Echo-Fragen möglich (cf. Mateus /<br />
Brito / Duarte / Faria 1989:244 bzw. Kato 1987 und Rossi 1993).
Eine solche Analyse ermöglicht es, den Auslöser für die V-nach-COMP-Anhebung in<br />
Sätzen wie (45)(c) oder (48)(a) zu benennen: Im Standardfranzösischen existiert nicht die<br />
Möglichkeit, das wh-Kriterium durch Dynamische Kongruenz zu erfüllen. Auf Grund der<br />
Bedingung, dass es stets bereits auf der S-Struktur erfüllt sein muss, muss folglich das finite<br />
Verb stets dann noch vor der Ebene der Logischen Form nach COMP bewegt werden, wenn<br />
in der SpezCP-Position ein wh-Operator vorhanden ist. Der Unterschied zum umgangssprachlichen<br />
Französisch besteht darin, dass dort das wh-Kriterium durch Dynamische<br />
Kongruenz erfüllt werden kann. Dadurch entfällt in dieser Varietät die Notwendigkeit der<br />
V-nach-COMP-Anhebung zur Erfüllung des wh-Kriteriums. 24<br />
In anderen neueren Untersuchungen französischer Interrogativsätze werden die Beobachtungen<br />
hinsichtlich der möglichen Wortstellungsmuster dahingehend interpretiert, dass<br />
in diesen Sätzen generell keine V-nach-COMP-Anhebung stattfindet (cf. Noonan 1989,<br />
Drijkoningen 1990, Hulk 1993, Wind 1994, 1995, Friedemann 1997, Dekkers 1997). Ein<br />
empirisches Argument für diese Annahme liefert die Beobachtung, dass in Entscheidungsfragen<br />
die Stilistische Inversion ausgeschlossen ist, d.h. dass ein Subjektsnomen nicht postverbal<br />
stehen kann, wenn das finite Verb satzinitial erscheint:<br />
(57) fr. *Est Jean à Paris?<br />
ist Jean in Paris<br />
Ausgehend von der Annahme, dass derartige Entscheidungsfragesätze die Präsenz eines<br />
leeren Operators in der SpezCP-Position und die des finiten Verbs in der COMP-Position<br />
erfordern, weist Kayne (1994:44) – in Anlehnung an Sportiche (1993) – darauf hin, dass die<br />
Ungrammatikalität von (57) erklärt werden kann, wenn angenommen wird, dass im Französischen<br />
eine (overte) V-nach-COMP-Bewegung generell ausgeschlossen ist. 25 In einer Analyse<br />
hingegen, die davon ausgeht, dass eine solche Art der Bewegung im Französischen<br />
existiert, müßte eine zusätzliche Restriktion formuliert werden, die die Bildung von Sätzen<br />
wie (57) ausschließt.<br />
Zusätzliche Evidenz gegen die Annahme einer V-nach-COMP-Bewegung in französischen<br />
Interrogativsätzen liefert die so genannte 'Komplexe Inversion'. Diese Konstruktion<br />
24 Eine solche Analyse kommt allerdings nicht umhin, für das umgangssprachliche Französisch<br />
anzunehmen, dass INFL nicht durch ein [+wh]-Merkmal markiert ist. Dies scheint allerdings den<br />
empirischen Fakten zu widersprechen. Denn, wie bereits in Fußnote 21 erwähnt, können im umgangssprachlichen<br />
Französischen Interrogativsätze durch die Fragepartikel ti (bzw. tu) markiert<br />
werden. Dies wird in einigen Analysen als Evidenz für eine [+wh]-Markierung von INFL interpretiert<br />
(Noonan 1989):<br />
(i) fr. (a) T' as-ti bu?<br />
du hast getrunken<br />
(Paris 1877:442)<br />
(b) Il habite-ti Paris ou Lyon?<br />
er (be)wohnt Paris oder Lyon<br />
(Foulet 1921:278)<br />
25 Ein Problem dieser Generalisierung besteht allerdings darin, dass erklärt werden muss, warum die<br />
Verb-Erst-Stellung dann möglich ist, wenn das Subjekt ein Klitikon ist:<br />
(i) fr. Est-il à Paris?<br />
ist er in Paris<br />
Hier muss Kayne (1994:139,Fn.15) die – wenig plausible – Annahme machen, dass das Verb<br />
"möglicherweise" links an das Klitikon adjungiert wird.<br />
39
40<br />
ist dadurch gekennzeichnet, dass zusätzlich zu einem postverbalen Subjektsklitikon ein<br />
präverbales Subjektsnomen auftritt: 26<br />
(58) fr. À quelle heure Paul est-t-il parti?<br />
um wieviel Uhr Paul ist er gegangen<br />
In der Analyse von Rizzi / Roberts (1989) wird diese Konstruktion als ein Sonderfall der<br />
einfachen Subjektsklitik-Inversion behandelt. Beiden Autoren zufolge wird in diesen Konstruktionen<br />
das finite Verb nach COMP angehoben und das – in SpezIP basisgenerierte –<br />
Subjektsklitikon enklitisch in das Verb inkorporiert. Auf diese Weise wird das Subjektsklitikon<br />
mit den Merkmalen des kasuszuweisenden Verbs assoziiert. Dadurch können im Falle<br />
der Komplexen Inversion der – in SpezVP basisgenerierten und in eine an C' adjungierte<br />
Spezifiziererposition angehobenen – Subjekt-NP die notwendigen Kasusmerkmale vom<br />
Verb zugewiesen werden (Rizzi / Roberts 1989:12):<br />
(59) [CP À quelle heurel [C' Paulk [C' [COMP estj-t-ili] [IP ti tj [VP tk parti tl]]]]]?<br />
Eine solche Möglichkeit der C'-Adjunktion ist in theoretischer Hinsicht allerdings sehr problematisch,<br />
da die Adjunktion einer maximalen Projektion generell nur an eine andere maximale<br />
Projektion möglich ist (Chomsky 1986a:6). Rizzi / Roberts (1989:15) versuchen<br />
ihre Analyse zu 'retten', indem sie eine Zusatzbedingung formulieren, die eine derartige<br />
Adjunktionsmöglichkeit ausschließlich auf die Subjekt-NP beschränkt und damit eine<br />
"overgeneration" dieser Adjunktion verhindert.<br />
Ein empirisches Problem der Analyse von Rizzi / Roberts (1989) besteht darin, dass die<br />
Autoren davon ausgehen müssen, dass es sich bei dem postverbalen Subjektsklitikon in<br />
(59) um ein Expletivum handelt. Die Notwendigkeit dieser Annahme ergibt sich für Rizzi /<br />
Roberts (1989:11) dadurch, dass andernfalls zwei Argumenten, der Subjekt-NP und dem<br />
Subjektsklitikon, nur eine θ-Rolle zur Verfügung stünde. Dies hätte eine Verletzung des<br />
θ-Kriteriums zur Folge. Um dies zu vermeiden, postulieren sie, dass das Klitikon einen<br />
Nicht-Argument-Status hat (cf. auch Kayne 1983). Eine solche Annahme scheint jedoch<br />
unvereinbar mit der Tatsache zu sein, dass das postverbale Klitikon eigene Merkmale für<br />
Person, Numerus und Genus trägt (Muller 1984, Kaiser 1992:95, Friedemann 1997:163). 27<br />
26 Für eine umfangreiche empirische Untersuchung dieses Fragetyps cf. Buchmüller (1975).<br />
27 Kayne (1983:128) sieht ein zusätzliches Argument für die Analyse von il in (59) als "a non-argument<br />
agreeing with its predecessor" darin, dass seiner Ansicht nach die Komplexe Inversion mit<br />
Pronomina der 1. und 2. Person ausgeschlossen ist. Er nimmt an, dass diese Pronomina stets Argumentstatus<br />
haben müssen, so dass deren Auftreten in einer Komplexen Inversionskonstruktion<br />
zu einer Verletzung des θ-Kriteriums führen würde. Die Möglichkeit des Auftretens eines Pronomens<br />
der 3. Person in diesen Konstruktionen ist für Kayne folglich nur dadurch erklärbar, dass es<br />
auch einen Nicht-Argument-Status haben kann.<br />
Friedemann (1997:164) weist darauf hin, dass diese Argumentation Kaynes empirisch nicht haltbar<br />
ist, da die Komplexe Inversion mit Pronomina der 1. und 2. Person – wie Kayne<br />
(1983:129,Fn.25) im Übrigen selbst einräumt – durchaus grammatisch ist:<br />
(i) fr. (a) Pourquoi ta femme et toi ne viendriez- vous pas à la fête?<br />
warum deine Frau und du NEG kommen-würdet ihr nicht auf das Fest<br />
(b) Où moi et mes enfants sommes-nous invités?<br />
wo ich und meine Kinder sind wir eingeladen
Ein weiteres empirisches Problem für die von Rizzi / Roberts (1989) vorgeschlagene<br />
Analyse der Komplexen Inversion stellt die Tatsache dar, dass Inversionsstrukturen wie in<br />
(60) grammatisch sind (Cardinaletti 1994:73, Laenzlinger / Musolino 1995:85, Friedemann<br />
1997:175, Laenzlinger 1998:115ff.):<br />
(60) fr. (a) Où Jean, finalement, est-il allé?<br />
wohin Jean schließlich ist er gegangen<br />
(b) Où, finalement, Jean est-il allé?<br />
wohin schließlich Jean ist er gegangen<br />
(Laenzlinger / Musolino 1995:85)<br />
In einer V-nach-COMP-Analyse müßte zur Erklärung der Grammatikalität dieser Sätze<br />
eine zusätzliche C'-Adjunktion angenommen werden. Wie bereits erwähnt, wird diese Option<br />
von Rizzi / Roberts (1989:15) selbst allein aus prinzipiellen Überlegungen heraus explizit<br />
ausgeschlossen. Da eine CP-Rekursion, wie bereits diskutiert, ebenfalls nicht in Betracht<br />
kommen kann, scheint folglich eine Analyse, wonach das Verb in (60) nur nach<br />
INFL bewegt wird, besser geeignet zu sein, die sprachlichen Fakten zu erfassen. Dementsprechend<br />
nimmt auch die Subjekt-NP in der Komplexen Inversion eine IP-interne Position<br />
ein. Durch die Möglichkeit der IP-Rekursion ist das Auftreten mehrerer präverbaler Konstituenten<br />
gewährleistet (cf. Friedemann 1997:175): 28<br />
(61) (a) [CP Oùi [IP Jean [IP finalement [I' est-il allé ti]]]]?<br />
(b) [CP Oùi [IP finalement [IP Jean [I' est-il allé ti]]]]?<br />
Friedemann (1997:192-200) nimmt an, dass die Anhebung des finiten Verbs nach COMP<br />
erst auf der LF-Ebene erforderlich ist, d.h. dass das wh-Kriterium im Französischen erst auf<br />
dieser Ebene erfüllt werden muss. Seiner Analyse zufolge sind die [+wh]-Merkmale, die im<br />
Matrixsatz in INFL generiert sind, 'schwach', so dass es keine Notwendigkeit für eine<br />
overte Anhebung des finiten Verbs gibt. Die [+wh]-Merkmale der wh-Phrase hingegen<br />
werden von Friedemann als 'stark' angesehen, so dass die wh-Phrase noch auf der S-Struktur,<br />
d.h. overt, nach SpezCP angehoben werden muss. Friedemann (1997:193) macht allerdings<br />
dabei die Einschränkung, dass die [+wh]-Merkmale der wh-Phrase im umgangssprachlichen<br />
Französisch optional 'schwach' sein können, um der Möglichkeit Rechnung zu<br />
tragen, dass die wh-Phrase auch in ihrer Basisposition verbleiben kann (cf.(56)). Für alle<br />
sonstigen Interrogativsätze ergibt sich nach Friedemann jedoch eine identische Ableitung.<br />
Der Unterschied zwischen Standard- und umgangssprachlichem Französisch besteht lediglich<br />
darin, dass im ersteren die [+wh]-Merkmale in Form des Subjektklitikons als ein "morphème<br />
phonétiquement réalisé" generiert sind, das in der Lage ist, ein leeres Subjektspronomen<br />
zu lizensieren (Friedemann 1997:194f.): 29<br />
28 Auf der Grundlage einer 'Split-COMP'-Hypothese (cf. Shlonsky 1994, Rizzi 1997) bestünde auch<br />
die Möglichkeit, einem Satz wie (60)(a) folgende Struktur zuzuweisen, wie von Laenzlinger / Musolino<br />
(1995:87) und Laenzlinger (1998:117) vorgeschlagen wird:<br />
(i) [FocP Où [AgrTopP Jean [TopP finalement [Top' esti][CP OP[+wh] ti [IP il allé]]]]]?<br />
Da ich mich – wie in Kapitel 1 dargelegt – in der vorliegenden Untersuchung vorwiegend auf das<br />
'traditionelle' Modell der Prinzipien- und Parametertheorie nach Chomsky (1981, 1982, 1986a)<br />
stütze, möchte ich diese Möglichkeit hier nicht weiterverfolgen.<br />
29 Friedemann äußert sich nicht explizit zur Struktur von Sätzen mit einer Stilistischen Inversion (cf.<br />
(54)(a)). Es ist aber anzunehmen, dass er auch für diese Sätze eine IP-Struktur annimmt. Friede-<br />
41
42<br />
(62) (a) S-Struktur: [CP À quelle heurei [IP Paul est-il[+wh] parti ti]]?<br />
(b) S-Struktur: [CP À quelle heurei [IP pro est-il[+wh] parti ti]]?<br />
(c) S-Struktur: [CP À quelle heurei [IP Paul est parti ti]]?<br />
(d) S-Struktur: [CP À quelle heurei [IP il est parti ti]]?<br />
(63) (a) Logische Form: [CP À quelle heurei est-ilj [IP Paul tj parti ti]]?<br />
(b) Logische Form: [CP À quelle heurei est-ilj [IP pro tj parti ti]]?<br />
(c) Logische Form: [CP À quelle heurei estj [IP Paul tj parti ti]]?<br />
(d) Logische Form: [CP À quelle heurei estj [IP il tj parti ti]]?<br />
Ein Vergleich mit den anderen bisher betrachteten romanischen Sprachen zeigt, dass es<br />
auch hier Evidenz dafür gibt, die Interrogativsätze dieser Sprachen in ganz ähnlicher Weise,<br />
d.h. ebenfalls ohne overte V-nach-COMP-Bewegung, zu analysieren. Die Evidenz besteht<br />
unter anderem darin, dass auch in diesen Sprachen die Subjekt-Verb-Inversion in den Interrogativsätzen<br />
fakultativ sein kann. Wie die Untersuchungen von Torrego (1984:106) für das<br />
Spanische und Ambar (1992:60) für das iberische Portugiesische zeigen, ist dies dann der<br />
Fall, wenn es sich bei der wh-Phrase nicht um ein Argument des Verbs handelt:<br />
(64) sp. (a) ¿En qué medida ha la constitución contribuido a eso?<br />
in welcher Weise hat die Verfassung beigetragen dazu<br />
(b) ¿En qué medida la constitución ha contribuido a eso?<br />
in welcher Weise die Verfassung hat beigetragen dazu<br />
(65) ipg. (a) Por que razão saiu a Rita?<br />
aus welchem Grund weggegangen-ist die Rita<br />
(b) Por que razão a Rita saiu?<br />
aus welchem Grund die Rita weggegangen-ist<br />
Die präverbale Stellung des Subjekts in diesen Sätzen kann als klare Evidenz gegen eine Vnach-COMP-Bewegung<br />
angesehen werden. Umstritten ist allerdings, ob daraus gefolgert<br />
werden muss, dass diese Bewegung in diesen Sprachen generell, d.h. auch in den Interrogativsätzen,<br />
in denen das Subjekt obligatorisch postverbal erscheint, keine Anwendung<br />
findet. Als ein Argument gegen diese Annahme führt Zubizarreta (1999:246) für das Spanische<br />
an, dass in Interrogativsätzen mit obligatorischer Subjekt-Verb-Inversion – im Gegensatz<br />
zu Deklarativsätzen – offenbar nicht die Möglichkeit besteht, Nicht-Subjekte in präverbaler<br />
Position zu adjungieren:<br />
(66) sp. (a) *¿Qué a María le envió Juan?<br />
was an Maria ihr geschickt-hat Juan<br />
(b) ¿Qué le envió Juan a María?<br />
was ihr geschickt-hat Juan an Maria<br />
(67) sp. (a) *¿Qué ayer compró Juan?<br />
was gestern gekauft-hat Juan<br />
(b) ¿Qué compró Juan ayer?<br />
was gekauft-hat Juan gestern<br />
mann (1997:198, Fn.35) betont lediglich, dass auch in dieser Konstruktion das finite Verb [+wh]-<br />
Merkmale tragen muss, die dessen (nicht overte) Anhebung nach COMP bewirken. Dies folgt, wie<br />
er zu Recht betont, aus den Forderungen des wh-Kriteriums (cf. auch Kaiser 1996, 1998).<br />
Eine Erklärung für die Ungrammatikalität der Stilistischen Inversion in Entscheidungs- und Ergänzungsfragen<br />
mit bestimmten wh-Phrasen (z.B. pourquoi) liefert seine Analyse allerdings nicht.
Zubizarreta (1999:245) folgert aus diesen Beobachtungen, dass in diesen Sätzen das finite<br />
Verb stets adjazent zum wh-Operator stehen muss, der dessen Anhebung nach COMP bewirkt<br />
(cf. auch Torrego 1984:106f., Mallén 1993:463). Sie führt die Notwendigkeit dieser<br />
Anhebung in Anlehnung an Rizzis wh-Kriterium darauf zurück, dass das finite Verb [+wh]-<br />
Merkmale trägt und daher in eine Spezifizierer-Kopf-Beziehung mit dem wh-Operator treten<br />
muss).<br />
Eine andere Begründung für die V-nach-COMP-Anhebung liefert Ambar (1992) in ihrer<br />
Analyse der portugiesischen Interrogativsätze. Sie nimmt an, dass die nach SpezCP angehobene<br />
wh-Phrase zusätzlich eine leere Kategorie enthalten kann. Dies ist ihrer Analyse zufolge<br />
dann der Fall, wenn die wh-Phrase nicht thematisches Argument des Verbs ist. Damit<br />
versucht sie den Unterschied zwischen Sätzen, in denen die Subjekt-Verb-Inversion obligatorisch<br />
(cf.(49)), und solchen, in denen sie fakultativ ist (cf. (65)), zu erklären. Die Obligatheit<br />
der Inversion in Sätzen wie (49)(b) oder (49)(c) führt Ambar (1992:188) darauf<br />
zurück, dass die in SpezCP vorhandene leere Kategorie auf Grund des Prinzips der Leeren<br />
Kategorie (ECP) streng, d.h. lexikalisch, regiert sein muss. Dies wird dadurch gewährleistet,<br />
dass das finite Verb nach COMP bewegt wird. Demzufolge hat ein Satz wie (49)(b)<br />
folgende S-Struktur (cf. Ambar 1992:188):<br />
(68) [CP [Que [e]]i [C' temj [IP a Maria [I' tj] [VP dito ti]]]]?<br />
Ambar (1992:188) sieht in ihrer Analyse eine Erklärung für die Obligatheit der Subjekt-<br />
Verb-Inversion in diesen Sätzen:<br />
Com esta análise encontra-se uma resposta ao porquê do carácter obrigatório deste tipo de inversão:<br />
o verbo sobe, ou em outros termos, há ISV obrigatória, porque existe em Espec de COMP<br />
uma categoria vazia que precisa de ser regida.<br />
In Sätzen wie (65) hingegen ist Ambars Analyse zufolge keine V-nach-COMP-Anhebung<br />
erforderlich, weil in der SpezCP-Position statt der leeren Kategorie ein lexikalisches Nomen<br />
auftritt.<br />
Eine andere Schlussfolgerung aus der Existenz von Interrogativsätzen ohne Subjekt-<br />
Verb-Inversion, wie in (64)-(65), zieht hingegen Suñer (1994). Ihrer Ansicht nach deutet<br />
die Möglichkeit der präverbalen Stellung des Subjekts in Interrogativsätzen darauf hin, dass<br />
die V-nach-COMP-Anhebung im Spanischen generell ausgeschlossen ist:<br />
It is obvious that V is not in C 0 in examples [(64)] above because the subject is in SpecIP, between<br />
the head of CP and the V in I 0 . Since movement of V to C 0 does not take place in interrogatives<br />
with nonargument Wh-phrases, the null hypothesis is for V to occupy I 0 but not C 0 with argument<br />
Wh-phrases as well. (Suñer 1994:349)<br />
In einer sehr detaillierten Diskussion führt Suñer (1994:360-367) die Obligatheit der Subjekt-Verb-Inversion<br />
in spanischen Interrogativsätzen mit einer Argument-wh-Phrase auf<br />
eine strenge Lokalitätsbeschränkung zurück, die zwischen dem Verb und dem nach SpezCP<br />
angehobenen Argument bestehen muss. Dies hat zur Folge, dass kein anderes Argument,<br />
wie etwa das Subjekt, zwischen beiden erscheinen kann, obwohl die SpezIP-Position als<br />
möglicher Landeplatz für das Subjekt zur Verfügung stünde (Suñer 1994:361). Suñers<br />
Analyse zufolge dürfte also der spanische Satz in (47)(c) folgende Struktur haben:<br />
(69) [CP Quéi [C' [IP [I' ha [VP dicho ti María]]]]]?<br />
43
44<br />
In vielen neueren Untersuchungen werden die spanischen Interrogativsätze in ähnlicher<br />
Weise analysiert. Wichtig für die Diskussion der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft ist, dass<br />
diesen Analysen die Annahme gemeinsam ist, dass das Verb nicht nach COMP bewegt<br />
wird (Goodall 1993, Mallén 1993, Ordoñez 1997, Ordoñez / Trevino 1999). 30 Die Analysen<br />
unterscheiden sich lediglich darin, welche (Lande-)Positionen der wh-Phrase und dem postverbalen<br />
Subjekt zugeordnet werden und auf welche Weise dem postverbalen Subjekt Kasus<br />
zugewiesen wird.<br />
Ein zusätzliches Argument gegen eine Verb-nach-COMP-Bewegung in spanischen Interrogativsätzen<br />
wird von Goodall (1993:201) und Suñer (1994:344f.) angeführt. Es basiert<br />
auf der Beobachtung, dass bestimmte Adverbien im Interrogativsatz ebenso wie im deklarativen<br />
Matrixsatz i.d.R. die gleiche präverbale Position einnehmen (cf. auch Ordoñez /<br />
Treviño 1999:45 und 49):<br />
(70) sp. (a) Las mujeres regularmente sonríen más que los hombres.<br />
die Frauen regelmäßig lächeln mehr als die Männer<br />
(b) ¿Por qué regularmente sonríen más las mujeres?<br />
warum regelmäßig lächeln mehr die Frauen<br />
(Goodall 1993:201)<br />
(71) sp. (a) Bri todavía estudia historia del arte.<br />
Bri immer noch studiert Kunstgeschichte<br />
(b) ¿Qué idioma todavía estudia Pepita en su tiempo libre?<br />
welche Sprache immer noch studiert Pepita in ihrer Freizeit<br />
(Suñer 1994:344 u. 345)<br />
Beide Autoren betonen zu Recht, dass bei einer V-nach-COMP-Bewegung zu erwarten<br />
wäre, dass das Verb im Interrogativsatz vor dem Adverb erscheint. Goodall (1993:202)<br />
weist darauf hin, dass dies im Englischen der Fall ist und dass dieser Stellungsunterschied<br />
des Adverbials im Vergleich zum Deklarativsatz als Evidenz für eine solche Bewegung<br />
interpretiert wird:<br />
(72) en. (a) Women usually are smiling.<br />
(b) *Why usually are women smiling?<br />
(c) Why are women usually smiling?<br />
Auf Grund dieser Beobachtung und ausgehend von der Annahme, dass das Adverbial an IP<br />
adjungiert ist, ist somit anzunehmen, dass sich das Verb in den Interrogativsätzen in (70)(b)<br />
und (71)(b) in INFL befinden muss.<br />
Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt auch Guasti (1996) in ihrer Analyse italienischer<br />
Interrogativsätze. Eines ihrer Argumente basiert auf der Beobachtung, dass in italienischen<br />
Interrogativsätzen parenthetische Ausdrücke zwischen der wh-Phrase und dem Auxiliar,<br />
nicht aber dahinter auftreten können:<br />
30 Bemerkenswert ist, dass auch Zubizarreta (1998:150) diese Annahme vertritt. Sie gibt damit ihre<br />
ursprüngliche, aber erst später erschienene Analyse spanischer Interrogativsätze auf (Zubizarreta<br />
1999:245f.). Baauw (1998) nimmt an, dass für einen Satz wie (47)(c) beide Ableitungen – sowohl<br />
diejenige mit als auch diejenige ohne V-nach-COMP-Bewegung – möglich sind.
(73) it. (a) Quando, secondo te, ha telefonato Gianni?<br />
wann gemäß dir hat telefoniert Gianni<br />
(b) ??*Quando ha, secondo te, telefonato Gianni?<br />
(Guasti 1996:172)<br />
Sie weist darauf hin, dass die englischen Entsprechungen dieser Sätze eine entgegengesetzte<br />
Grammatikalitätsbeurteilung erfahren würden. Ihre – in Anlehnung an Cardinaletti<br />
(1994) formulierte – Erklärung dieses Unterschieds basiert auf der Annahme, dass sich<br />
parenthetische Ausdrücke stets unterhalb der CP befinden. Im Englischen kann demnach<br />
das finite Verb über diese Ausdrücke hinweg in den Kopf der CP bewegt werden, während<br />
im Italienischen diese Bewegung ausgeschlossen ist. In Übereinstimmung mit Friedemanns<br />
Analyse französischer Interrogativsätze kommt Guasti (1996:173) daher zu dem Schluss,<br />
"that overt movement of the verb to C does not take place in Italian questions".<br />
Was das iberische Portugiesisch betrifft, so scheint diese Art der Adjunktion von Adverbialen<br />
oder parenthetischen Ausdrücken, wie sie im Spanischen und Italienischen zu beobachten<br />
ist, kaum oder nur sehr beschränkt möglich zu sein. Allerdings existiert im Portugiesischen<br />
eine deutliche regionale Variation hinsichtlich der Verbstellung in Interrogativsätzen.<br />
Im Gegensatz zum europäischen Portugiesisch ist im Portugiesischen Brasiliens die<br />
präverbale Stellung des Subjekts in diesen Sätzen grundsätzlich die Regel, während die<br />
postverbale Stellung i.d.R. ausgeschlossen ist. Somit erhält man in Brasilien eine vollkommen<br />
entgegengesetzte Grammatikalitätsbeurteilung der Sätze in (49) (Silva 1996:121):<br />
(74) bpg. (a) Que a Maria tem dito?<br />
was die Maria hat gesagt<br />
(b) *Que tem a Maria dito?<br />
(c) *Que tem dito a Maria?<br />
Dieser Unterschied zwischen dem brasilianischen und europäischen Portugiesisch wird in<br />
allen Untersuchungen zur Interrogation in Brasilien bestätigt (Duarte 1992, Kato 1987,<br />
Rossi 1993). Rossi (1993:332) nimmt an, dass es einen parametrischen Unterschied zwischen<br />
beiden Varietäten gibt, der darin besteht, dass im brasilianischen Portugiesischen das<br />
wh-Kriterium erst auf der Ebene der Logischen Form erfüllt werden muss.<br />
Interessanterweise lassen sich auch in anderen romanischen Sprachen regional bedingte<br />
Unterschiede hinsichtlich der Verbstellung in Interrogativsätzen beobachten. Suñer<br />
(1994:352 u. 366f.) weist auf das puertorikanische Spanisch hin, in dem die Möglichkeit<br />
zur Subjekt-Verb-Stellung auch dann besteht, wenn die satzeinleitende wh-Phrase ein Argument<br />
des Verbs ist. 31 Den Angaben von Suñer (1994:352) zufolge ist diese Stellung so-<br />
31 Auf eine andere Möglichkeit der Nicht-Inversion nach argumentalen wh-Phrasen wird von<br />
Ordoñez (1997:160) hingewiesen. Seinen Beobachtungen zufolge erlauben Sprecher des iberischen<br />
Spanisch die präverbale Subjektstellung nach argumentalen wh-Phrasen dann, wenn diese<br />
komplex sind:<br />
(i) sp. (a) *¿A quién tu hermana visitó?<br />
wen deine Schwester besucht-hat<br />
(b) ¿A cuál de las chicas que vinieron tu hermana (la) había visitado?<br />
welches von den Mädchen die kamen deine Schwester es hatte besucht<br />
Eine ähnliche Beobachtung macht Calabrese (1982:3 u. 53) für das Italienische:<br />
45
46<br />
gar die Regel, wenn das Subjekt pronominal ist (cf. auch Davis 1971, Quirk 1972, Núñez<br />
Cedeño 1983):<br />
(75) psp. (a) ¿Quién tú eres?<br />
wer du bist<br />
(b) ¿Qué Iván dijo de eso?<br />
was Iván sagte dazu<br />
Auch in einigen nord- bzw. mittelitalienischen Dialekten scheint die präverbale Subjektsstellung<br />
in Interrogativsätzen die Regel zu sein (Poletto 1993:230, Giorgi / Pianesi<br />
1996:156, Fn.29). Laut Poletto (1993:230) ist dies beispielsweise in der Mundart von Triest<br />
der Fall:<br />
(76) tri. Cosa la mamma dise?<br />
was die Mama sagt<br />
Poletto (1993:231) nimmt an, dass sich diese Varietäten vom Standarditalienischen und<br />
denjenigen Varietäten, die eine obligatorische Subjekt-Verb-Inversion in Interrogativsätzen<br />
aufweisen, dadurch unterscheiden, dass das finite Verb nicht das Merkmal [+wh] besitzt.<br />
Sie vermutet, dass im Triestinischen ein Parameterwechsel eingetreten ist, der sich dadurch<br />
auszeichnet, dass nun nicht mehr das finite Verb, sondern der Kopf der CP mit dem [+wh]-<br />
Merkmal markiert ist. Dies hat zur Folge, dass das finite Verb in diesen Konstruktionen<br />
nicht mehr nach COMP angehoben werden muss bzw. kann. Damit hat nach Ansicht von<br />
Poletto (1993:231) diese Varietät des Italienischen die letzten Reste einer Verb-Zweit-<br />
Stellungseigenschaft endgültig verloren:<br />
If we consider the movement of the verb to C in direct questions as a residual verb second phenomenon,<br />
as Rizzi (1990[b]) does, then we have to state that Northern Italian Dialects are eliminating<br />
the last verb second context [...].<br />
Mit anderen Worten, diese Beobachtungen zeigen, dass einige regionale Varietäten der romanischen<br />
Sprachen existieren, in denen es keinerlei empirische Evidenz (mehr) für eine<br />
Verb-Zweit-Stellungseigenschaft in Interrogativsätzen gibt. Gleichzeitig hat die Diskussion<br />
der Standardvarietäten dieser Sprachen gezeigt, dass auch hier Zweifel an der Annahme<br />
angebracht sind, wonach die Wortstellung in den Interrogativsätzen dieser Sprachen einer<br />
Verb-Zweit-Stellungsregel unterliegt. Vielmehr sprechen die Daten der hier betrachteten<br />
romanischen Sprachen für die Annahme, dass Interrogativsätze generell, d.h. unabhängig<br />
davon, ob das Verb die Zweitstellung einnimmt oder nicht, durch eine V-nach-INFL- statt<br />
durch eine V-nach-COMP-Bewegung gebildet werden. Die hier zu beobachtenden Verb-<br />
Zweit-Stellungseffekte sind folglich grundsätzlich anderer Natur als die entsprechenden<br />
Stellungsmuster in den germanischen Sprachen und somit lediglich scheinbare Verb-Zweit-<br />
Phänomene. Diese Beobachtung führt zu der Feststellung, dass die Annahme als inadäquat<br />
zurückgewiesen werden muss, derzufolge das Auftreten des finiten Verbs in der zweiten<br />
(ii) it. (a) *Chi Mario ha visto?<br />
wen Mario hat gesehen<br />
(b) Quale delle ragazze che abbiamo incontrato, Mario ha conosciuto<br />
welches der Mädchen die (wir)-haben getroffen Mario hat kennengelernt<br />
in Sicilia?<br />
in Sizilien
Position in den Interrogativsätzen der romanischen Sprachen als 'residuales' Verb-Zweit-<br />
Stellungsphänomen anzusehen und damit dahingehend zu interpretieren ist, dass diese<br />
Sprachen in einer früheren Epoche durch eine strenge Verb-Zweit-Stellungsregel gekennzeichnet<br />
waren.<br />
Es muss betont werden, dass diese Schlussfolgerung allerdings auch unabhängig von<br />
den gemachten empirischen Beobachtungen hinsichtlich der romanischen Interrogativsätze<br />
gezogen werden muss. Sie ergibt sich auch aus theoretischen Gründen, zumindest dann,<br />
wenn davon ausgegangen wird, dass die Stellung von wh-Phrase und finitem Verb in Interrogativsätzen<br />
durch das wh-Kriterium festgelegt ist. Dieser Analyse zufolge ist die Verbbewegung<br />
in Interrogativsätzen grundsätzlich anderer Natur als die entsprechenden Bewegungsoperationen<br />
in deklarativen Matrixsätzen einer Sprache mit obligatorischer Verb-<br />
Zweit-Stellung. Der Unterschied liegt darin, dass die Bewegung durch andere Faktoren ausgelöst<br />
wird. Somit gibt es keinen Grund dafür anzunehmen, dass eine Sprache, die in Interrogativsätzen<br />
eine (obligatorische) Verb-Zweit-Stellung aufweist, ursprünglich auch in Deklarativsätzen<br />
über die gleiche Wortstellung verfügt hat. Wie Rizzi (1990b, 1990c) selbst<br />
betont, handelt es sich bei dem von ihm formulierten wh-Kriterium um ein universales<br />
Prinzip, das – anders als im Fall der V-nach-COMP-Bewegung in den Deklarativsätzen der<br />
Verb-Zweit-Sprachen – in allen Sprachen die V-nach-COMP-Bewegung bewirkt. Der Unterschied<br />
zwischen den einzelnen Sprachen besteht lediglich darin, auf welcher Ebene diese<br />
Anhebung ausgeführt wird bzw. ausgeführt werden muss. Mit anderen Worten, der angenommene<br />
Zusammenhang zwischen Verb-Zweit-Stellung in Interrogativsätzen und der<br />
Verb-Zweit-Stellung in Deklarativsätzen in Verb-Zweit-Sprachen ist nicht nur unbegründet,<br />
sondern auch unvereinbar mit der von Rizzi postulierten universalen Gültigkeit des wh-<br />
Kriteriums.<br />
Angesichts dieser Feststellung ist es kaum verwunderlich, dass auch in Sprachen, die typologisch<br />
sehr weit von den romanischen Sprachen entfernt sind, ähnliche Verb-Stellungseffekte<br />
in Interrogativsätzen zu beobachten sind. So gilt beispielsweise für das Baskische,<br />
das eine zugrunde liegende Verb-Endstellung besitzt, dass in Interrogativsätzen das finite<br />
Auxiliar – i.d.R. zusammen mit dem Verb 32 – obligatorisch in die Zweitpositon bewegt<br />
werden muss (Eguzkitza 1986, Ortiz de Urbina 1992, 1995):<br />
(77) bk. (a) Emakumeak gizonari liburua bidali dio.<br />
Frau-die Mann-dem Buch-das geschickt hat<br />
'Die Frau hat dem Mann das Buch geschickt'<br />
(b) Nori bidali dio emakumeak liburua?<br />
wem geschickt hat Frau-die Buch-das<br />
(b') *Nori emakumeak liburua bidali dio?<br />
wem Frau-die Buch-das geschickt hat<br />
'Wem hat die Frau das Buch geschickt?'<br />
Interessanterweise spricht Ortiz de Urbina (1992, 1995) hier von einem residualen Verb-<br />
Zweit-Phänomen im Baskischen. Er liefert allerdings keine Belege für die Existenz einer<br />
32 Ortiz de Urbina (1995:105f.) weist darauf hin, dass in Dialekten des Nordbaskischen nur das<br />
Auxiliar angehoben wird:<br />
(i) bk. (a) Nork du Jon ikusi?<br />
wer hat Jon gesehen<br />
(b) Nor du Jonek ikusi?<br />
wen hat Jon gesehen<br />
47
48<br />
allgemein gültigen Verb-Zweit-Stellungsregel im früheren Baskischen. Ganz offensichtlich<br />
gibt es hierfür keinerlei Evidenz. Ähnliches dürfte auch für die meisten der 79 Sprachen<br />
gelten, die von Ultan (1978) in einem typologischen Vergleich hinsichtlich ihrer Interrogationsmechanismen<br />
untersucht worden sind. Er beobachtet dabei, dass in sehr vielen Sprachen<br />
"of all basic order types" die Inversion als Mittel zur Markierung von Ergänzungsfragen<br />
verwendet wird (Ultan 1978:231). 33 Es ist wohl wenig wahrscheinlich, dass es sich<br />
hierbei um 'residuale' Verb-Zweit-Phänomene handelt und dass alle diese Sprachen ursprünglich<br />
über eine generelle Verb-Zweit-Stellungseigenschaft verfügt haben.<br />
Mit anderen Worten, die in sehr vielen Sprachen zu beobachtende Inversion in Interrogativsätzen<br />
steht ganz offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der generellen Verb-<br />
Zweit-Stellungseigenschaft, wie sie in den germanischen Sprachen mit Ausnahme des Englischen<br />
und im Bündnerromanischen zu beobachten ist. Selbst wenn es gelingen sollte,<br />
überzeugend nachzuweisen, dass die Inversion in den Interrogativsätzen der hier betrachteten<br />
romanischen Sprachen als Resultat einer Verb-nach-COMP-Bewegung zu analysieren<br />
ist, kann dies nicht als Evidenz für eine 'residuale' Verb-Zweit-Stellungseigenschaft angesehen<br />
werden. Die in Interrogativsätzen zu beobachtenden Verb-Zweit-Stellungsmuster<br />
sind auf eine universal gültige Regel zurückzuführen, die eine Verb-nach-COMP-Bewegung<br />
aus anderen Gründen hervorruft als die parametrisch festgelegte Verb-Zweit-Stellungsregel<br />
der Verb-Zweit-Sprachen. Daraus folgt, dass 'residuale' Verb-Zweit-Effekte, d.h.<br />
Verb-Zweit-Stellungsmuster, die aus einer ursprünglich generell gültigen Verb-Zweit-<br />
Stellungseigenschaft resultieren, sich allenfalls in Deklarativsätzen manifestieren.<br />
2.2.2 Verb-Zweit-Stellungseffekte in Deklarativsätzen<br />
Im Kapitel 1 wurde bereits kurz gezeigt, dass – abgesehen vom Bündnerromanischen – in<br />
den modernen romanischen Sprachen die Möglichkeit zur Verb-Zweit-Stellung in Deklarativsätzen<br />
zwar existiert, sie allerdings von zahlreichen und einzelsprachlich sehr unterschiedlichen<br />
Faktoren abhängig ist.<br />
Im Französischen ist einer dieser Faktoren das Auftreten bestimmter Adverbiale, wie<br />
z.B. peut-être, aussi, à peine, ainsi oder bestimmter – meist präpositionaler – Komplemente<br />
in satzinitialer Position. Dabei ist zu beobachten, dass die Inversion im ersten Fall vorwiegend<br />
nur mit Subjektspronomen ('Subjektsklitik-Inversion'), im zweiten Fall ausschließlich<br />
mit einem – meist indefiniten – nominalen Subjekt ('Stilistische Inversion') möglich ist:<br />
(78) fr. (a) Peut-être craignait-elle pour sa voix.<br />
vielleicht fürchtete sie um ihre Stimme<br />
(Guimier 1997:44)<br />
(b) Aussi ne crut- il pas une seconde que Blanche avait éventé<br />
daher NEG glaubte er nicht eine Sekunde dass Blanche hatte gelüftet<br />
son secret.<br />
ihr Geheimnis<br />
(Guimier 1997:45)<br />
33 Die Inversion in Entscheidungsfragen hingegen ist der Studie von Ultan (1978:222) zufolge ein<br />
"rather uncommon interrogative device".
(79) fr. (a) Au bout de la table était assis un vieil homme.<br />
am Ende des Tisches war gesessen ein alter Mann<br />
(b) Dans la salle à manger brillent deux lampes à essence.<br />
in dem Esszimmer leuchten zwei Benzinlampen<br />
(Fournier 1997:118)<br />
In den meisten generativen Analysen zur Inversion im Französischen wird auf solche<br />
Strukturen nur sehr selten Bezug genommen und es finden sich nur wenige Angaben über<br />
die mögliche Struktur dieser Sätze. 34 Rizzi / Roberts (1989:9) nehmen an, dass die Wortstellung<br />
in diesen Sätzen – zumindest in Sätzen wie (78) – aus einer V-nach-COMP-Anhebung<br />
resultiert, die dadurch ausgelöst wird, dass die CP-Ebene durch "the presence of some<br />
appropriate element" aktiviert ist. Sie machen allerdings keinerlei Angaben über die spezifischen<br />
Eigenschaften eines solchen Elementes. In der Tat dürfte es sehr schwierig sein, die<br />
genauen Eigenschaften dieses Elementes zu bestimmen. Selbst wenn dies gelingen sollte,<br />
gibt es eine Reihe von Beobachtungen, die grundsätzlich dagegen sprechen, die Inversionsstrukturen<br />
in französischen Deklarativsätzen auf diese Weise, d.h. als das Resultat einer Vnach-COMP-Bewegung,<br />
zu erfassen.<br />
Ein Problem für eine solche Analyse besteht vor allem darin, dass die Inversion in diesen<br />
Konstruktionen nicht obligatorisch ist: 35<br />
(80) fr. (a) Peut-être vous serez content de savoir cela.<br />
vielleicht Sie sind zufrieden zu wissen das<br />
(Guimier 1997:57)<br />
(b) aussi je ne veux pas me battre au couteau avec toi.<br />
daher ich NEG will nicht mich schlagen mit-dem Messer mit dir<br />
(Guimier 1997:76)<br />
(81) fr. (a) Au bout de la table un vieil homme était assis.<br />
am Ende des Tisches ein alter Mann war gesessen<br />
(b) Dans la salle à manger deux lampes à essence brillent.<br />
im Esszimmer zwei Benzinlampen leuchten<br />
(Fournier 1997:118)<br />
Alle deskriptiven Untersuchungen von Sätzen wie (78)-(79) und (80)-(81) stimmen darin<br />
überein, dass die Subjekt-Verb-Inversion in den seltensten Fällen ausschließlich auf die<br />
34 Erst in jüngerer Zeit wird vereinzelt in generativen Arbeiten auch die Inversion in französischen<br />
Deklarativsätzen untersucht (Laenzlinger 1998, Dekkers 1997). Demgegenüber gibt es hierzu eine<br />
Vielzahl nicht generativer Studien. Bei den meisten dieser Untersuchungen handelt es sich um –<br />
teilweise sehr umfangreiche – deskriptive Arbeiten (Le Bidois 1952, Atkinson 1973, Buchmüller<br />
1975, Jonare 1976) oder um eher semantisch oder pragmatisch orientierte Analysen (Fournier<br />
1997, Guimier 1997, Hobæk Haff 2000).<br />
35 In den adverbial eingeleiteten Deklarativsätzen ist im Übrigen – ebenso wie bei den Interrogativsätzen<br />
– die Möglichkeit zur Komplexen Inversion gegeben, bei der ein präverbales Subjektsnomen<br />
zusammen mit einem postverbalen Subjektsklitikon erscheint:<br />
(i) fr. (a) Peut-être la vie existe-t- elle ailleurs?<br />
vielleicht das Leben existiert es anderswo<br />
(Guimier 1997:55)<br />
(b) Aussi, les camions allemands peuvent-ils charger sans souci leurs<br />
daher die Lastwagen deutsche können- sie laden unbesorgt ihre<br />
tonnes de brochets.<br />
Tonnen von Hechten<br />
(Guimier 1997:75)<br />
49
50<br />
Voranstellung des Adverbs oder Komplements zurückgeführt werden kann. Als stellvertretend<br />
für die meisten Analysen dieser Sätze können die Anmerkungen von Guimier<br />
(1997:44) zur Rolle des Adverbs für das Auslösen der Inversion von Subjektsklitikon und<br />
Verb gesehen werden:<br />
L'adverbe est dit conditionner la postposition du sujet clitique lorsque celle-ci est obligatoire si<br />
l'adverbe est en position initiale dans la phrase. Ce cas est peu représenté. La plupart des adverbes<br />
autorisent seulement la postposition du sujet clitique lorsqu'ils sont en position initiale, ce qui ne<br />
signifie pas que les deux constructions (avec postposition ou avec antéposition du sujet) sont utilisées<br />
dans les mêmes conditions.<br />
Die Subjekt-Verb-Stellung in Sätzen wie (78)-(79) und (80)-(81) unterliegt demnach einer<br />
Vielzahl von sehr unterschiedlichen und komplexen Bedingungen. Hierzu gehören neben<br />
morphologischen Faktoren, wie die Art des Subjekts oder dessen Länge, und semantischen<br />
Faktoren, wie die Bedeutung des Verbs oder dessen semantische Beziehung zum Subjekt,<br />
auch pragmatische Faktoren und Faktoren der Thema-Rhema-Struktur. Es besteht somit<br />
kein Zweifel, dass hier "une pluralité de facteurs" und "leur interaction" eine Rolle spielen<br />
und dass die Rolle der syntaktischen Faktoren eher untergeordneter Natur zu sein scheint<br />
(Fournier 1997:98). Mit anderen Worten, eine Analyse, die versucht, die Inversion in französischen<br />
Deklarativsätzen wie z.B. (78) und (79) auf das Vorhandensein eines "geeigneten<br />
Elements" in CP zurückzuführen, muss als inadäquat zurückgewiesen werden.<br />
Ein Blick auf andere romanische Sprachen macht deutlich, dass diese Feststellung offenbar<br />
auch für diese Sprachen Gültigkeit hat. Wie die Beispiele in (82)-(85) zeigen, ist beispielsweise<br />
auch im Spanischen und Portugiesischen die Subjekt-Verb-Inversion in Sätzen<br />
möglich, die durch ein Adverb oder ein (präpositionales) Komplement eingeleitet sind.<br />
Auch hier ist jedoch zu konstatieren, dass die Inversion nicht obligatorisch ist:<br />
(82) sp. (a) Temprano salía Julia de casa.<br />
früh ging Julia aus-dem Haus<br />
(b) Temprano, Julia salía de casa.<br />
früh Julia ging aus-dem Haus<br />
(Piera 1987:151)<br />
(83) sp. (a) Con poco dinero salía Julia de casa.<br />
Mit wenig Geld ging Julia aus-dem Haus<br />
(b) Con poco dinero, Julia salía de casa.<br />
Mit wenig Geld Julia ging aus-dem Haus<br />
(Piera 1987:151)<br />
(84) ipg. (a) Talvez tenha ele posto em prática o plano de ataque à<br />
vielleicht habe er ausgeführt den Plan des Angriffs auf-die<br />
fábrica de chocolates.<br />
Schokoladenfabrik<br />
(b) Talvez tenha posto ele em prática o plano de ataque à fábrica de chocolates.<br />
(c) Talvez ele tenha posto em prática o plano de ataque à fábrica de chocolates.<br />
(Ambar 1992:102)<br />
(85) ipg. (a) Nesse restaurante comem os meus amigos.<br />
in-diesem Restaurant essen die meine Freunde<br />
(b) Nesse restaurante, os meus amigos comeram.<br />
in-diesem Restaurant die meinen Freunde gegessen-haben<br />
(c) Nesse restaurante, os meus amigos comem muitas vezes.<br />
in-diesem Restaurant die meinen Freunde essen viele Male<br />
(Ambar 1992:78ff.)
Bemerkenswerterweise ist vielfach für diese beiden Sprachen vorgeschlagen worden, dass<br />
in diesen Konstruktionen die Sätze, in denen das Subjekt in invertierter Position erscheint,<br />
den unmarkierten Fall darstellen (z.B. Terker 1984). Piera (1987:151) und Ambar<br />
(1992:73-86) betonen, dass die präverbale Stellung des Subjekts in diesen Fällen häufig nur<br />
möglich ist, wenn zusätzliche Faktoren gegeben sind (cf. auch Duarte 1987, Costa<br />
1998:Kap.3, Zubizarreta 1999:239). Hierbei kann es sich, wie durch die Kommata angedeutet,<br />
entweder um eine Intonationspause, die Änderung des Tempus (cf. (85)(b)) oder um<br />
die Anfügung einer zusätzlichen Konstituente (cf. (85)(c)) handeln. Mit anderen Worten, es<br />
gibt in spanischen und portugiesischen Deklarativsätzen keine kategorische Anwendung der<br />
Subjekt-Verb-Inversion.<br />
Die gleiche Beobachtung lässt sich auch für das Italienische machen. Auch hier ist die<br />
postverbale Stellung des Subjekts nach einer satzinitial stehenden Präpositionalphrase zwar<br />
möglich, doch keineswegs obligatorisch:<br />
(86) it. (a) In questa stanza dorme Piero.<br />
in diesem Zimmer schläft Piero<br />
(b) In questa stanza Piero dorme.<br />
in diesem Zimmer Piero schläft<br />
(c) In questa stanza Piero dorme molto male.<br />
in diesem Zimmer Piero schläft sehr schlecht<br />
Es kann somit für alle hier betrachteten romanischen Sprachen konstatiert werden, dass in<br />
den Deklarativsätzen Verb-Zweit-Stellungseffekte vor allem dann auftreten, wenn ein Adverbial<br />
oder eine Präpositionalphrase satzinital stehen. Allerdings ist in keinem dieser<br />
Kontexte die Zweitstellung des finiten Verbs obligatorisch, sondern hängt entscheidend von<br />
prosodischen, semantischen oder pragmatischen Faktoren ab. Damit weisen diese Verb-<br />
Zweit-Sätze einen entscheidenden Unterschied zu den Inversionsstrukturen in einer Verb-<br />
Zweit-Sprache auf.<br />
Ein weiterer Unterschied, der schon bei den Interrogativsätzen zu beobachten war, besteht<br />
darin, dass im Falle einer Subjekt-Verb-Inversion dem finiten Verb auch mehr als eine<br />
Konstituente voranstehen kann. Dies belegen die beiden folgenden Beispiele aus dem Französischen<br />
und Spanischen:<br />
(87) fr. Le 22 décembre dernier, dans un hôpital de Nice, mourait<br />
am 22. Dezember vergangenen in einem Krankenhaus von Nizza starb<br />
plus discrètement qu' il n' a vécu André B., dit «Java», qui fut l' un<br />
unauffälliger als er NEG hat gelebt André B. genannt Java der war der eine<br />
des héros du Journal du voleur.<br />
von-den Helden des Journal du voleur<br />
(Fournier 1997:126)<br />
(88) sp. Todas las noches, con Juana sale Pedro de juerga.<br />
alle die Nächte mit Juana geht-aus Pedro zum Vergnügen<br />
(Zubizarreta 1999:245)<br />
Somit kann als Fazit dieser Betrachtungen festgehalten werden, dass massive empirische<br />
Evidenz dagegen spricht, die Inversionskonstruktionen in den Deklarativsätzen der romanischen<br />
Sprachen auf ähnliche Weise zu analysieren wie die in den germanischen Sprachen<br />
zu beobachtenden Verb-Zweit-Stellungseffekte. Trotz einiger oberflächlicher Ähnlichkeiten<br />
ist unverkennbar, dass es sich bei diesen Sätzen mit Subjekt-Verb-Inversion nur um scheinbare<br />
Verb-Zweit-Stellungseffekte handeln kann. Die Subjekt-Verb-Inversion ist weder<br />
obligatorisch noch auf solche Kontexte beschränkt, in denen lediglich eine Konstituente<br />
51
52<br />
dem Verb voransteht. Sie kann somit nicht als das Ergebnis einer Verb-nach-COMP-Bewegung<br />
analysiert werden, wie für Sprachen mit einer strengen Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
angenommen werden kann. Mit anderen Worten, in den Deklarativsätzen der romanischen<br />
Sprachen gibt es keine Evidenz für die Existenz 'residualer' Verb-Zweit-Konstruktionen,<br />
die auf eine ursprüngliche strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft zurückgeführt<br />
werden können.<br />
Diese Feststellung schließt natürlich nicht die Möglichkeit aus, dass die romanischen<br />
Sprachen ursprünglich Verb-Zweit-Sprachen gewesen sind. In den verbleibenden Kapiteln<br />
dieses Buches soll diese Möglichkeit ausführlich erörtert werden.
3. Verbstellungswandel in den romanischen Sprachen.<br />
Ein Forschungsüberblick<br />
3.1 Einleitung<br />
Eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für eine adäquate Beschäftigung mit einem<br />
wissenschaftlichen Gegenstand ist zweifelsohne eine fundierte Kenntnis der bisherigen<br />
diesbezüglichen Forschung. Erst auf dieser Grundlage ist es überhaupt möglich, in dem<br />
jeweiligen Forschungsgebiet neue Vorschläge und Denkanstöße zur Lösung bislang ungelöster<br />
Probleme zu unterbreiten. Vor einer Diskussion der in den vorangegangenen Kapiteln<br />
aufgeworfenen Fragen und einer Analyse der hier auszuwertenden empirischen Daten ist es<br />
daher unerlässlich, sich zunächst einen Überblick über die bisherige Forschungstätigkeit<br />
und den aktuellen Stand der Forschung über Wortstellungsphänomene der romanischen<br />
Sprachen, insbesondere über die Stellung des finiten Verbs und deren diachronischer Entwicklung,<br />
zu verschaffen.<br />
Die große Schwierigkeit besteht darin, dass es sich hierbei um ein sehr umfangreiches<br />
und für einen Einzelnen kaum zu bewältigendes Unterfangen handelt. Bereits 1957 konstatiert<br />
Ernst Gamillscheg zum Abschluss der Einleitung zu seiner umfangreichen Historischen<br />
Französischen Syntax, dass es – trotz einer "fünfzigjährigen liebevollen Beschäftigung<br />
mit der französischen Philologie" – "heute kaum mehr möglich [ist], daß ein einzelner<br />
alles das kennenlernt und verwertet, was im Laufe des letzten halben Jahrhunderts auf dem<br />
Gebiet der französischen Syntax geschrieben wurde" (Gamillscheg 1957:VIII). Diese Feststellung<br />
gilt fast fünfzig Jahre später freilich um so mehr. Bekanntlich erscheinen im gleichen<br />
Jahr der Veröffentlichung von Gamillschegs Syntax-Monographie Noam Chomskys<br />
Syntactic Structures (Chomsky 1957), die den Grundstein für die generative Syntaxtheorie<br />
legen und zu einem enormen Aufschwung in der Syntaxforschung führen. Ein weiterer<br />
neuer Impuls hierfür geht wenige Jahre später von Joseph H. Greenbergs Aufsatz über<br />
grammatische Universalien (Greenberg 1963) aus, der richtungsweisend für die sprachtypologische<br />
Forschung wird. Innerhalb beider Syntaxmodelle gilt schon früh den romanischen<br />
Sprachen ein besonderes Forschungsinteresse (Kayne 1975, Harris (ed.) 1976, 1978).<br />
Außerdem entwickelt sich auch bald ein verstärktes Interesse für historische Fragestellungen,<br />
das sich zunächst vor allem in den Arbeiten von Lightfoot (1979) sowie von Lehmann<br />
(1973) und Vennemann (1974) niederschlägt. Einen weiteren Anstoß erfährt die Sprachwandelforschung<br />
der romanischen Sprachen, wenn auch weniger im Bereich der Syntax, im<br />
Rahmen des Sprachwandelmodells von Eugenio Coseriu, dessen grundlegende Überlegungen<br />
ebenfalls im Jahr 1957 erstmals veröffentlicht werden (Coseriu 1958).<br />
Das Jahr 1957 markiert damit nicht nur einen Wendepunkt in der Forschung auf dem<br />
Gebiet der allgemeinen und theoretischen Syntax, sondern es leitet auch einen Neubeginn<br />
in der Untersuchung der modernen und historischen Syntax des Französischen und anderer<br />
romanischer Sprachen ein. Seither sind in diesem Bereich nicht nur innerhalb der eben genannten<br />
linguistischen Modelle, sondern auch im Rahmen anderer Ansätze und Fragestel-
54<br />
lungen zahlreiche theoretische und empirische Untersuchungen angefertigt worden. 1 Es<br />
kann nun nicht Ziel eines Forschungsüberblicks sein, diese Literatur möglichst exhaustiv zu<br />
erfassen und darzustellen. Eine solche Zusammenstellung wäre schon deshalb wenig sinnvoll,<br />
weil die Untersuchungen in verschiedene Syntax- und/oder Sprachwandel-Modelle<br />
mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen eingebettet und daher nur in sehr beschränktem<br />
Maße miteinander vergleichbar sind.<br />
Ein Forschungsüberblick muss demzufolge eine Auswahl treffen, und zwar dahingehend,<br />
dass einerseits alle grundlegenden Untersuchungen berücksichtigt und andererseits<br />
möglichst umfassend diejenige Literatur in Betracht gezogen wird, die in dem Grammatikmodell<br />
angefertigt ist, in dem die eigene Studie eingeordnet ist. Entsprechend dem theoretischen<br />
Rahmen dieser Arbeit liegt folglich ein Schwerpunkt des Forschungsüberblicks auf<br />
Arbeiten, die im generativen Grammatikmodell angesiedelt sind, d.h. in denen die Entwicklung<br />
der Verb-Stellung in den romanischen Sprachen als ein primär grammatisches<br />
Phänomen betrachtet wird. Andere moderne nicht generative Studien werden hier nur am<br />
Rande berücksichtigt. Es wird nur auf sie eingegangen, sofern in deren Mittelpunkt die<br />
Untersuchung der Position des finiten Verbs steht und dadurch ein essentieller Beitrag zur<br />
Frage der Verbstellungsentwicklung in den romanischen Sprachen geleistet wird. Wie wir<br />
sehen werden, spielt diese Frage in den meisten – aber keineswegs in allen – nicht generativen<br />
Arbeiten eine eher untergeordnete Rolle.<br />
Ein zweiter Schwerpunkt dieses Forschungsüberblicks liegt auf den romanistischen<br />
Wortstellungsuntersuchungen, die vor dem Beginn der modernen Syntaxforschung, also vor<br />
1957, entstanden sind. In der Auswertung und Aufarbeitung dieser Untersuchungen besteht<br />
ein großes Desiderat, da deren Ergebnisse sowohl in der neueren 'traditionellen' Romanistik<br />
als auch in der generativen historischen Syntaxforschung bislang weitgehend unberücksichtigt<br />
geblieben sind. Wie das folgende Zitat von Lightfoot (1988:305) aus einem Überblicksartikel<br />
über den Stand der historischen Syntaxforschung illustriert, herrscht vor allem<br />
unter den Generativisten die Auffassung vor, dass erst ab dem letzten Drittel des 20. Jhdts.<br />
begonnen wurde, sich mit historischer Syntax intensiver zu befassen:<br />
Certainly there was no tradition of work on syntactic change, and, despite isolated discussions, it<br />
was not until the 1970s that syntactic change became an area of communal work among linguistics.<br />
Zweifelsohne ist es in den 70er Jahren zu einer Neuentwicklung in der Erforschung des<br />
syntaktischen Wandels gekommen, die vor allem mit der Studie von Lightfoot (1979) verbunden<br />
ist. Diese Arbeit kann vor allem deshalb als eine Pionierarbeit auf dem Gebiet der<br />
historischen Syntax gelten, weil darin zum ersten Mal versucht wird, eine "fully-fledged<br />
theory of syntatic change" (Aitchison 1980:137) zu entwerfen, die in einer eigenständigen<br />
und gut entwickelten Syntaxtheorie eingebettet ist. Die Auffassung allerdings, dass die vorangehende<br />
Erforschung der historischen Syntax nur auf vereinzelte, isolierte Arbeiten beschränkt<br />
ist (cf. auch McMahon 1994:107, de Bakker 1997:11), ist vollkommen unzutreffend<br />
und zeugt von einer erstaunlichen Ignoranz hinsichtlich der Geschichte der eigenen<br />
1 Besonders zu erwähnen sind hier die zahlreichen soziolinguistisch bzw. sprachtypologisch orientierten<br />
Arbeiten. Cf. unter anderem die – nicht auf die Syntax beschränkten – umfangreichen diachronischen<br />
Untersuchungen von Marchello-Nizia (1995) und Posner (1997) für das Französische<br />
sowie Wright (1993) für das Spanische.
Disziplin. Vielmehr gibt es hier – nicht nur in der Romanistik – eine lange Tradition, die bis<br />
in das frühe Mittelalter zurückverfolgt werden kann (cf. Scaglione 1981:7-96, Martinez<br />
Moreno 1993:37-49, Harris / Campbell 1995:15-24). Einen entscheidenden Durchbruch<br />
erhält die historische Syntaxforschung im 19. Jhdt. mit der Entstehung der historischen<br />
<strong>Sprachwissenschaft</strong>, die auch nach der Hinwendung zur synchronen <strong>Sprachwissenschaft</strong> zu<br />
Beginn des 20. Jhdts. eine Fortsetzung findet. Trotz der – im Zusammenhang mit der Klitikforschung<br />
erfolgten – Wiederentdeckung der Arbeit von Wackernagel (1892) für die moderne<br />
Syntax (cf. Anderson 1993) und der damit verbundenen Erkenntnis, dass die Beschäftigung<br />
mit historischer Syntax ihren Anfang nicht erst in der zweiten Hälfte des 20.<br />
Jhdts. genommen hat, sind die meisten dieser Arbeiten in der modernen Syntaxforschung<br />
bislang weitgehend unberücksichtigt geblieben.<br />
Auf Grund dieses Tatbestandes wird im Folgenden zunächst ein Überblick über die romanistischen<br />
Wortstellungsuntersuchungen, die in der Zeit vor der modernen Syntaxforschung<br />
entstanden sind, gegeben. Dies geschieht nicht deshalb, um ein möglichst vollständiges<br />
Bild über diese Literatur zu liefern, sondern aus der Überzeugung heraus, dass eine<br />
Beschäftigung mit "at least some of that work", die Hock (1991:312) allen "students of<br />
diachronic syntax" unbedingt empfiehlt, fruchtbringend für die eigene Forschung ist und<br />
vermeiden helfen kann, "to spend much of their time on reinventing the wheel".<br />
Im Mittelpunkt des Forschungsüberblicks stehen die Untersuchungen zur Wortstellungsentwicklung<br />
im Französischen. Sie übertreffen in zahlenmäßiger Hinsicht bei Weitem die<br />
Anzahl der Studien zu anderen romanischen Sprachen. Dies liegt vermutlich daran, dass<br />
das Französische im Vergleich zu den anderen romanischen Sprachen die größten Veränderungen<br />
in diesem Bereich erfahren hat. Im Folgenden wird vorwiegend auf diejenigen Ergebnisse<br />
eingegangen, die die uns hier interessierende Stellung des finiten Verbs betreffen.<br />
Im Gegensatz zu generativen Untersuchungen wird in den meisten traditionellen Arbeiten<br />
i.d.R. hierauf nicht gesondert eingegangen. Außerdem wird nur die Verbstellung in Deklarativsätzen<br />
betrachtet, da – wie bereits dargelegt – das Charakteristische der strengen Verb-<br />
Zweit-Stellungseigenschaft deren Auftreten in dieser Art von Sätzen ist.<br />
3.2 Verbstellungswandel in den romanischen Sprachen:<br />
Gesamtromanische Studien<br />
Die ersten (umfangreichen) Beobachtungen zur Wortstellung in den romanischen Sprachen<br />
und deren Wandel macht Friedrich Diez in seiner zwischen 1836 und 1843 erstmals erschienenen<br />
'Grammatik der romanischen Sprachen'. Darin beschreibt er verschiedene Wortstellungsmuster<br />
in den sechs von ihm als 'romanisch' klassifizierten Sprachen 2 und die diesbezüglichen<br />
sprachgeschichtlichen Veränderungen (Diez 1882:1092-1114). Dabei stellt er<br />
2 Cf. Diez (1882:1): "Sechs romanische Sprachen ziehen von Seiten grammatischer Eigenthümlichkeit<br />
oder litterärischer Bedeutung unsre Aufmerksamkeit auf sich: zwei östliche, die italienische<br />
und walachische; zwei südwestliche, die spanische und portugiesische; zwei nordwestliche, die<br />
provenzalische und französische."<br />
55
56<br />
zunächst fest, dass die romanischen Sprachen im Vergleich zum Lateinischen eine geringere<br />
Wortstellungsfreiheit aufweisen, was er auf den Verlust der Kasusflexion zurückführt.<br />
Diez (1882:1092) betont jedoch gleichzeitig, dass "sie der Inversion immer noch in ziemlich<br />
hohem Grade mächtig [sind], in höherm gewiss als die neuern germanischen Sprachen".<br />
Er konstatiert eine "mehr oder minder streng vorgeschriebene Umstellung des<br />
Subjects, vermöge welcher es, sofern andre Satztheile vorangehen, seinen Platz nach dem<br />
Verbum einnimmt" (Diez 1882:1104). Seinen Beobachtungen zufolge tritt diese Umstellung<br />
in "Zwischensätzen" auf und in Matrixsätzen, die durch "andre Glieder" als das Subjekt<br />
eingeleitet werden. Im letzteren Fall "gebietet" seiner Ansicht nach zwar "keine Regel<br />
wie im Deutschen, aber eine Neigung zu der bemerkten Wortstellung lässt sich in einigen<br />
Sprachen nicht verkennen, zumal wenn der Satz mit einem Adv. anhebt" (Diez<br />
1882:1104f.). Den Grund für die Umstellung sieht Diez (1882:1105) in der Tendenz zur<br />
'logischen' Anordnung der Satzglieder:<br />
Es ist hier die vorherrschende Wortstellung, die eigentlich auf einer Umdrehung des Satzes beruht:<br />
denn wird ein vom Verbum abhängiger Satztheil vorangeschickt, so steht das Subj., um den logischen<br />
Zusammenhang jenes Satztheiles mit dem Verbum nicht zu stören, schicklicher Weise dem<br />
letzteren nach: aus [pr.] ieu sai ara wird ara sai ieu.<br />
Diez weist darauf hin, dass das Französische diesbezüglich einen Wandel erfahren hat, da<br />
die Umstellung des Subjekts im Neufranzösischen nur noch dann eintritt, wenn der Satz<br />
durch bestimmte Adverbien oder Adverbialkonstruktionen eingeleitet wird. Demgegenüber<br />
zeigt er an Hand von zahlreichen Belegen, dass im modernen Provenzalischen, Spanischen<br />
und im Italienischen diese Einschränkung nicht im gleichen Maße gilt. Gleichzeitig findet<br />
er aber auch derart viele Belege für die Nicht-Umstellung in diesem Kontext, dass er<br />
schließlich zu dem Schluss gelangt, "dass ein Gefühl für dieselbe, durch welches die pr.<br />
Sprache sich mit der deutschen näher befreundet, nicht angenommen werden dürfte" (Diez<br />
1882:1106).<br />
Abgesehen von dieser Pionierarbeit von Diez gibt es nur sehr wenige Untersuchungen<br />
der gesamtromanischen Syntax bzw. Wortstellung. Besonders zu erwähnen sind aus der<br />
Zeit der vorstrukturalistischen Romanistik die Arbeiten von Meyer-Lübke (1899) und<br />
Richter (1903). Als markantesten Unterschied aller romanischer Sprachen zum Lateinischen<br />
lässt sich nach Meyer-Lübke (1899:804) die "Neigung beobachten, das Verbum vom<br />
Satzende weg und in das Innere des Satzes zu ziehen, ihm die zweite Stelle zu geben". Am<br />
meisten ausgeprägt ist diese Neigung im Altfranzösischen und im Provenzalischen sowie<br />
im Rätoromanischen, bei dem "sich starker deutscher Einfluss namentlich darin geltend<br />
macht, dass das Subjekt unter all den Bedingungen dem Verbum folgen kann, in denen dies<br />
im Deutschen der Fall ist" (Meyer-Lübke 1899:805). In den anderen romanischen Sprachen<br />
findet Meyer-Lübke (1899:803) allerdings nicht "[s]o wohlthuend regelmässige Verhältnisse".<br />
So existiert im Alt- und auch Neuspanischen seiner Ansicht nach eine große Wortstellungsfreiheit,<br />
die "es fast unmöglich macht, allgemeinere Regeln aufzustellen" (Meyer-<br />
Lübke 1899:805). Als einzige Wortstellungsregel, die gemeinromanisch Gültigkeit hat,<br />
konstatiert Meyer-Lübke (1899:804) "die Inversion bei eingeschobenem Verbum des Sagens".<br />
Ebenso wie Diez beobachtet Meyer-Lübke den deutlichsten innerromanischen Wandel<br />
im Französischen. Dort geht die Regelhaftigkeit der Verb-Zweit-Stellung verloren, weil
sie nach Meyer-Lübke (1899:797) durch eine zweite Regel "gekreuzt [wird], wonach in der<br />
Aussage unter allen Umständen das Subjekt dem Verbum voranzugehen hat".<br />
In Richters Untersuchung geht es weniger um die Entwicklung innerhalb der romanischen<br />
Sprachen als primär – wie der Titel sagt – um die Entwicklung der Wortstellung der<br />
romanischen Sprachen aus dem Lateinischen. Richter (1903:1) weist zunächst darauf hin,<br />
dass bei einem Vergleich der romanischen Wortstellung mit der des klassischen Lateins<br />
"als Hauptunterschied ihre grössere Einfachheit, ihre übersichtlichere Anordnung der<br />
logisch zusammengehörigen Teile" auffällt. Ihre zentrale Beobachtung und These, die sie<br />
an Hand umfangreichen Beispielmaterials belegt, ist allerdings die, dass bereits innerhalb<br />
des frühesten Lateins die 'einfachere' romanische Wortstellung existierte:<br />
Gehen wir aber den Belegen für R[omanische] W[ortstellung] in ihrer ganzen Ausdehnung nach,<br />
so zeigt es sich, dass sie sich nicht erst in Texten findet, die in romanischer Zeit geschrieben, bereits<br />
den Wiederschein des Romanischen geben, auch nicht erst in solchen, die das Lateinische im<br />
Stadium der Auflösung zeigen, sondern in Texten, die ein lautlich und formell tadelloses Latein<br />
aufweisen, und die daher geeignet sind, den Beweis zu geben, dass die R[omanische] W[ortstellung]<br />
sich tief aus der L[ateinischen] heraus entwickelt hat. (Richter 1903:3)<br />
Richter (1903:12) unterscheidet vier lateinische Wortstellungstypen, die sich "bis in die Gegenwart<br />
oder wenigstens bis an den Beginn der neusprachlichen Periode" erhalten haben:<br />
Adverb – Verb, Objekt – Verb, Prädikat – Verb und Verbum infinitum – Verbum finitum.<br />
Die in den romanischen Sprachen zu beobachtende Inversion von Subjekt und Verb, auf die<br />
Richter (1903:134-157) in einem gesonderten Kapitel eingeht, kann nach Richter<br />
(1903:150) nicht auf das Lateinische zurückgeführt werden, da dort "das Verb immer am<br />
Ende steht, die anderen Glieder mögen beliebig geordnet sein, je nach der Betonung, die sie<br />
haben sollen". Erst die allmähliche Verschiebung der Position des Verbs von der Endstellung<br />
zur Satzmitte hin, die nach Ansicht von Richter (1903:45) auf einem "inneren –<br />
psychologischen – Gesetz" beruht, und die damit verbundene "Auffassung Subjekt-<br />
Verb-Übriges, ermöglicht eine Inversion im romanischen Sinne, und sie erklärt sich wohl<br />
am einfachsten aus der Umkehrung des ganzen Satzes [...]" (Richter 1903:150):<br />
[...] wenn eines der Satzglieder von seinem gewöhnlichen Platze genommen wird, so ist die Reihenfolge<br />
der übrigen auch gestört; die erste Verschiebung zieht noch andere nach sich: Wird das<br />
Subjekt aus irgend einem rhetorischen oder psychologischen Grunde von der ersten Satzstelle gerückt,<br />
so kann es nicht mehr vor dem Verb stehen, wenn das nun den Satz eröffnende Wort – Adverb,<br />
Objekt oder Prädikat – mit dem Verb begrifflich zu eng verbunden ist, als dass es vom Verb<br />
getrennt werden könnte. Folglich rückt das Subjekt in so einem Falle an die Stelle nach dem<br />
Verb. (Richter 1903:140)<br />
Die meisten anderen traditionellen romanistischen Wortstellungsuntersuchungen widmen<br />
sich ausschließlich einer Einzelsprache, und zwar vorwiegend dem Französischen. Allenfalls<br />
werden Vergleiche zwischen zwei romanischen Sprachen angestellt (Crabb 1955).<br />
Auch in der modernen, generativen Sprachwandelforschung wird die Wortstellung romanischer<br />
Sprachen vorwiegend unter einzelsprachlichen Aspekten untersucht, wobei auch hier<br />
die Untersuchung des Französischen deutlich im Vordergrund steht. Eine Ausnahme bilden<br />
vor allem die Arbeiten aus der Schule um Lorenzo Renzi, in denen das Italienische und<br />
auch das Gesamtromanische im Mittelpunkt stehen (cf. Vanelli / Renzi / Benincà 1985,<br />
Benincà 1994 oder Salvi 1993, 2001).<br />
57
58<br />
3.3 Verbstellungswandel im Französischen<br />
3.3.1 Deskriptive Ergebnisse<br />
Wie bereits erwähnt, liegt zur Wortstellung des Französischen eine sehr große Anzahl von<br />
Spezialuntersuchungen vor. Bei den meisten Arbeiten, die vor 1957 entstanden sind, handelt<br />
es sich um Dissertationen, in denen vorwiegend synchronisch ein oder mehrere Werke<br />
eines oder mehrerer Autoren oder einer bestimmten Epoche untersucht werden. Dabei lassen<br />
sich, wie die nebenstehende Tabelle (1) veranschaulicht, drei große Zeiträume unterscheiden,<br />
in denen diese Wortstellungsuntersuchungen entstanden sind. 3 Die Tabelle macht<br />
deutlich, dass das letzte Viertel des 19. Jhdts. und der Anfang des 20. Jhdts. in quantitativer<br />
Hinsicht die produktivste Zeit für die Erforschung der Wortstellung im Französischen gewesen<br />
ist. Allerdings sind die meisten Studien aus dieser Zeit für eine heutige Untersuchung<br />
der französischen Wortstellung nur von begrenztem Wert. Bereits Schulze<br />
(1888:158) konstatiert völlig zu Recht, dass es "nun freilich irrig [wäre], zu meinen, dass<br />
das Gebiet der französischen Wortstellung ebenso erfolgreich als häufig untersucht worden<br />
sei":<br />
Die Nachfolger Morfs [(1878)] begnügen sich zum allergrössten Teil damit, die vor ihnen gewonnenen<br />
Resultate mit grösserer oder geringerer Genauigkeit zusammenzustellen und denselben nach<br />
dem Morfschen Schema einige weitere aus einem neuen Denkmal hinzuzufügen. Die Spur einer<br />
kritischen Betrachtung des von den Vorgängern Ermittelten findet sich kaum jemals [...].<br />
Viele dieser Arbeiten enthalten lediglich umfangreiche, oftmals nur sehr knapp kommentierte<br />
Auflistungen von Beispielen für bestimmte Wortstellungsmuster, die mit Beispielsätzen<br />
ergänzt werden, in denen von diesen Mustern abgewichen wird. Die Kriterien zur Klassifizierung<br />
der Beispiele sind nicht einheitlich und sehr häufig nicht explizit formuliert.<br />
Statistische Angaben sind, sofern sie vorhanden sind, kaum brauchbar, da meist unklar ist,<br />
auf welcher Grundlage die gemachten Angaben beruhen. In den meist sehr kurz gehaltenen<br />
Einleitungen wird i.d.R. das untersuchte Textmaterial lediglich knapp vorgestellt und die<br />
verwendete Literatur aufgeführt. Zusammenfassungen der Ergebnisse oder Schlussbemerkungen<br />
fehlen meist völlig oder sind nur sehr knapp. Oft gibt es nicht einmal ein Inhaltsverzeichnis,<br />
so dass es schwer ist, sich einen Überblick über die Analysen und Ergebnisse<br />
3 Diese Tabelle erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie soll lediglich als Überblick dienen<br />
und die lange romanistische Tradition der Wortstellungsdebatte dokumentieren. Sie enthält alle<br />
mir bekannten synchronen Untersuchungen zur Wortstellung einzelner oder mehrerer französischer<br />
Werke aus dem angegebenen Zeitraum, d.h. Abhandlungen, in denen die Entwicklung der<br />
französischen Wortstellung über mehrere Epochen hinweg untersucht wird, sind nicht enthalten.<br />
Auf diese Arbeiten wird im Folgenden gesondert eingegangen. Die zahlreichen 'syntaktischen Studien'<br />
oder Abhandlungen zur 'Syntax des Verbums', die insbesondere im 19. Jhdt. angefertigt worden<br />
sind, sind nur dann aufgeführt, wenn sie – was eher selten ist – einen gesonderten Abschnitt<br />
oder Anhang zur Stellung von Satzgliedern enthalten (z.B. Zimmermann 1915:72-76). In aller Regel<br />
behandeln diese Studien nur Phänomene wie Partizipialkongruenz oder Tempora- und Modigebrauch,<br />
d.h. sie beziehen sich auf syntaktische Phänomene "mit Ausschluss der Wortstellung"<br />
(Eder 1889:5).
Entstehungs-/<br />
Lebenszeit<br />
Untersuchte(r) Text(e)<br />
Untersuchungen<br />
(Autor, Titel) 1875-1920 1935-1950 1950-1957<br />
Frühes Altfranzösisch (842-1100)<br />
842 Les Serments de Strasbourg Völcker 1882<br />
um 881 Cantilène de Sainte Eulalie Völcker 1882<br />
um 920 Fragment de Valenciennes Völcker 1882 Herman 1954<br />
975-1000 La Passion du Christ Völcker 1882<br />
975-1000 Vie de Saint Léger Völcker 1882<br />
um 1050 La vie de Saint Alexis Völcker 1882<br />
um 1070 Chanson de Roland Morf 1878, Völcker 1882<br />
um 1080 Chanson de Guillelme Schad 1911<br />
1100-1130 Le Livre des Psaumes Herman 1954<br />
Spätes Altfranzösisch (1100-1300)<br />
um 1120 Chanson de Rainoart Schad 1911<br />
um 1140 S. de Nantuil, Salomon. Sprüche Hilgers 1910<br />
1150-1200 Chrétien de Troyes Le Coultre 1875<br />
1170 Li Quatre livre des Reis Bartels 1886 Haarhoff 1936 Herman 1954,<br />
Crabb 1955<br />
1200-1220 Aucassin et Nicolete Schlickum 1882, Thurneysen<br />
1892<br />
13. Jhdt. G. de Villehardouin (u. andere<br />
Autoren)<br />
Krüger 1876, Haase 1884 Siepmann<br />
1937<br />
Mittelfranzösisch (1300-1500)<br />
1304-1309 J. Joinville, L'histoire de S t Louis Marx 1881, Haase 1884 Crabb 1955<br />
1337-1400 Jean Froissart Ebering 1881<br />
1375-1400 J. d'Outremeuse, Ly Myreur... Nissen 1943<br />
1375-1400 Berinus Lewinsky 1949<br />
1460-1462 Cent Nouvelles Nouvelles Dill 1935 Crabb 1955<br />
1385-1430 Alain Chartier Höpfner 1883<br />
1363-1429 Jean Charlier de Gerson Höpfner 1883<br />
Frühes Neufranzösisch (16. Jhdt.)<br />
1490-1553 François Rablais Orlopp 1888, Huguet<br />
1894<br />
1509-1564 Jean Calvin Grosse 1888<br />
1510-1589 Bernard Palissy Zimmermann 1915<br />
1524-1585 Pierre de Ronsard Schönfelder 1906<br />
1533-1592 Michel de Montaigne Blasberg 1937<br />
Klassisches und modernes Neufranzösisch (17.-20. Jhdt.)<br />
1621-1695 Jean de Lafontaine Wespy 1884<br />
1850-1893 Guy de Maupassant Pietrkowski 1913<br />
19. Jhdt. verschiedene Werke Rabe 1910<br />
1900-1950 Marcel Proust u. andere Autoren Le Bidois 1952<br />
1928 A. Maurois, Voyage au pays des<br />
Articoles<br />
Kellenberger<br />
1932<br />
Tabelle (1): Zusammenstellung synchroner Einzeluntersuchungen zur französischen Wortstellung<br />
aus der Zeit von 1875-1957<br />
59
60<br />
dieser Arbeiten zu verschaffen. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die wissenschaftliche<br />
Wirkung dieser Arbeiten als sehr gering einzustufen ist:<br />
Wir glauben, daß die Wirkungslosigkeit der älteren Arbeiten auf die Entwicklung der Wissenschaft<br />
daran liegt, daß sie durch die gleichwertende Zusammenstellung wichtiger und unwichtiger<br />
Fälle das Typische nicht erkennen konnten; damit vermochten sie auch keine bestimmten Stellungsregeln<br />
der alten Sprache [...] und erst recht kein einheitliches Stilgesetz zu ermitteln. (Siepmann<br />
1937:2)<br />
Von etwas größerem Wert sind diejenigen Arbeiten, in denen versucht wird, die Wortstellung<br />
einer oder mehrerer Epochen oder die Ergebnisse bisheriger Untersuchungen zusammen-<br />
und gegenüberzustellen (Krüger 1876, Völcker 1882, Wespy 1884, Philippsthal 1886,<br />
Koopmann 1910, Rabe 1910, Foulet 1928:Kap.IV, Koch 1934, Le Bidois 1952). Obwohl<br />
einige dieser Arbeiten das explizite Ziel verfolgen, einen "Überblick über die Wandlungen<br />
zu geben, denen die Wortstellung im Laufe der Entwicklung der französischen Sprache<br />
unterworfen war" (Koch 1934:1), erweist es sich allerdings als sehr schwierig, deren Ergebnisse<br />
zusammenzufassen. Denn auch diese Arbeiten enthalten größtenteils lediglich<br />
umfangreiche Beleglisten und sehr viele Detailangaben. Hinzu kommt, dass die Präsentation<br />
der Belege nach unterschiedlichen Kriterien erfolgt. Während Krüger (1876) sich bei<br />
der Anordnung der Belege an Diez (1882:1092ff.) orientiert, übernehmen Völcker (1882),<br />
Wespy (1884) und Koopmann (1910) weitgehend die Gliederung von Morf (1878).<br />
Philippsthal (1886), Rabe (1910), Koch (1934) und Le Bidois (1952) wiederum klassifizieren<br />
ihre Beispiele nach teilweise vollkommen anderen Einteilungskriterien. Nur wenige<br />
Arbeiten unterscheiden bei der Gliederung der Beispiele streng danach, ob das Subjekt<br />
nominal oder pronominal ist (Rabe 1910, Koch 1934), meist wird nur in Einzelfällen auf<br />
diesen Unterschied hingewiesen. Ebenfalls uneinheitlich ist die Handhabung bei der Berücksichtigung<br />
der unterschiedlichen Textsorten. Koopmann (1910) beispielsweise macht<br />
keinerlei Unterscheidung zwischen poetischen und prosaischen Texten. Wespy (1884)<br />
trennt nur bei seiner Auswertung der Texte von Lafontaine streng zwischen Prosa und Poesie,<br />
macht aber bei den Texten, die er zum Vergleich heranzieht, diese Trennung nicht.<br />
(Völcker 1882) muss auf diese Trennung ganz verzichten, da es sich bei den von ihm untersuchten<br />
Texten des frühen Altfranzösischen fast ausschließlich um poetische Texte handelt.<br />
Gleichwohl macht er die – nicht immer unproblematische – Unterscheidung zwischen metrisch<br />
freien und metrisch unfreien Beispielen, wobei er die letzteren "häufig unberücksichtigt"<br />
lässt (Völcker 1882:2; auch Wespy 1884:154). Er begründet dies damit, dass "eine<br />
durch metrischen Zwang veranlasste Wortstellung eben häufig eine dem Geiste und der natürlichen<br />
Tendenz der Sprache nicht entsprechende ist" (Völcker 1882:2). In Anlehnung an<br />
Tobler (1879:144) vermutet Völcker (1882:3) allerdings, dass eine solche durch die Metrik<br />
hervorgerufene Abweichung von der üblichen Wortstellung "durch die nothwendige Rücksicht<br />
auf die Verständlichkeit beschränkt war" und daher die Ausnahme bildete. Er folgert<br />
daher, dass eine mehrfach an metrisch unfreien Stellen gefundene "auffällige Wortstellung"<br />
in der Auswertung zu berücksichtigen ist (Völcker 1882:3).<br />
Es dürfte klar sein, dass diese unterschiedlichen Behandlungsweisen der Daten den Versuch,<br />
die Ergebnisse dieser Arbeiten zu einem einheitlichen Bild zusammenzufassen, sehr<br />
erschweren. Eine weitere Schwierigkeit entsteht dadurch, dass der Vergleich der vielen<br />
Detailangaben immer wieder Widersprüche offenbart, die oft erst nach langwieriger Recherche<br />
geklärt werden können. So schreibt beispielsweise Koopmann (1910:33), dass<br />
"aussi [...] bei Lafontaine meist die gerade Folge nach sich [hat]". Diese Feststellung gilt
aber nur für Fälle mit nominalem Subjekt in poetischen Texten, was von Koopmann nicht<br />
explizit erwähnt wird. Dies kann nur indirekt aus den angeführten Beispielsätzen oder aus<br />
der Tatsache geschlossen werden, dass Koopmann (1910:35) später Beispiele aus der Prosa<br />
Lafontaines aufführt, in der nach aussi das pronominale Subjekt invertiert erscheint. Bei<br />
Wespy (1884:170f.) hingegen wird der Unterschied klar, da dort bei den Daten Lafontaines<br />
explizit zwischen Prosa und Lyrik sowie hinsichtlich der Inversion mit nominalem und<br />
pronominalem Subjekt unterschieden wird.<br />
Andererseits sind aber auch Wespys Ausführungen über die Wortstellung bei Lafontaine<br />
nicht ohne weiteres zu verstehen. So ist es zunächst sehr verwirrend, dass Wespy<br />
(1884:160) bei der Diskussion von Sätzen mit 'echten' oder 'unechten unpersönlichen' Verben,<br />
in denen das 'neutrale' il ausgelassen wird, solche Sätze – trotz der Auslassung des<br />
Subjekts – als Beleg für eine Subjekt-Verb-Inversion anführt:<br />
(1) nfr. (a) Faut que tels cas aux gens surviennent<br />
(es) ist-nötig dass solche Fälle den Leuten geschehen<br />
(Wespy 1884:160)<br />
(b) Avint qu' un jour,<br />
(es) geschah dass eines Tages<br />
en un bourg arrêté,<br />
in einem Marktflecken festgehalten<br />
Il vit passer une dame jolie,<br />
er sah vorübergehen eine Dame schöne<br />
(Wespy 1884:160)<br />
Diese Klassifizierung der Beispiele in (1) wird nur dann verständlich, wenn man weiß, dass<br />
Wespy den eingebetteten Nebensatz als das 'logische Subjekt' des Satzes ansieht. Diese<br />
Behandlung von unpersönlichen Konstruktionen ist aber keineswegs unüblich. Dies zeigt<br />
die Tatsache, dass auch in anderen Arbeiten, wie etwa bei Koopmann (1910:15), solche<br />
Sätze als Beleg für eine Subjekt-Verb-Inversion angeführt werden: 4<br />
(2) afr. Acordé fu que le roy descenderoit à terre<br />
vereinbart wurde dass der König hinabsteigen-würde auf-(die) Erde<br />
(joi S.47,21-22) (Koopmann 1910:15)<br />
Bemerkenswert – und verwirrend – ist an diesem Beispiel Koopmanns außerdem, dass es<br />
als Beleg für eine Inversion in einem uneingeleiteten Matrixsatz dient. Das heißt, das dem<br />
finiten Verb voranstehende Partizip wird nicht als satzeinleitende Konstituente gewertet.<br />
Auch diese Verfahrensweise scheint durchaus üblich zu sein (cf. auch Rabe 1910:53). Sie<br />
wird allerdings – ebensowenig wie die Klassifizierung der Beispiele in (1) – an keiner<br />
Stelle explizit dargestellt.<br />
Diese Beispiele illustrieren deutlich, dass die in diesen Arbeiten gemachten Angaben mit<br />
großer Sorgfalt und Vorsicht betrachtet werden müssen. Sie verdeutlichen außerdem einmal<br />
mehr, dass die unter dem Begriff '(Subjekt-Verb)-Inversion' klassifizierten Daten sehr unterschiedlicher<br />
Art sind und nicht ohne genauere Überpüfung mit der hier untersuchten<br />
4 Auch in modernen syntaktischen Untersuchungen ist diese Klassifikation des Nebensatzes unpersönlicher<br />
Konstruktionen als Subjekt anzutreffen. Cf. z.B. Stein (1997:39):<br />
"Bei unpersönlichen Konstruktionen wie il arrive que... usw. gilt das unpersönliche Pronomen<br />
ebenso als Subjekt wie der que-Satz; entsprechendes gilt für die Sprachen, in denen das Subjektpronomen<br />
unausgedrückt bleibt. Der que-Satz wird als Subjekt(neben)satz interpretiert."<br />
61
62<br />
Zweit-Stellung des finiten Verbs gleichgesetzt werden können. Wichtig ist auch, dass<br />
'Nicht-Inversion' nicht notwendigerweise bedeutet, dass Verb-Zweit-Stellung vorliegt. Dies<br />
wird an folgendem Beispiel deutlich, das von Koopmann (1910:9) als Beleg für einen Satz<br />
mit 'gerader' Stellung angeführt wird (cf. auch Völcker 1882:9):<br />
(3) afr. Il cio li dist et adunat<br />
er das ihm sagte und mitteilte<br />
(leo 16a) (Koopmann 1910:9)<br />
Mit 'gerader' Wortstellung ist daher nur gemeint, dass das Subjekt vor dem finiten Verb<br />
steht, unabhängig davon, ob weitere Konstituenten dazwischen stehen.<br />
Angesichts einer derart unpräzisen und "idiosyncratic classification of many of the examples"<br />
(Clifford 1973:9) ist es äußerst schwierig, die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungen<br />
miteinander zu vergleichen und diejenigen Ergebnisse herauszuarbeiten, die für<br />
eine generative Studie der Verb-Zweit-Stellung im Französischen relevant sind. Dennoch<br />
scheint mir ein solches Unterfangen durchaus lohnend, weil bislang nur wenige umfangreichere<br />
empirische Untersuchungen zur französischen Verbstellungsentwicklung im Rahmen<br />
des generativen Grammatikmodells vorliegen. In den meisten generativen Studien hierzu<br />
wird ohne weitere Diskussion davon ausgegangen, dass das Altfranzösische eine Verb-<br />
Zweit-Sprache gewesen ist. Häufig beruft man sich hierbei, wie beispielsweise Roberts<br />
(1993:94), auf einige wenige Arbeiten der traditionellen Romanistik:<br />
It is a well-known fact that O[ld]F[rench] was a V2 language (Thurneysen 1892, Foulet [1928],<br />
von Wartburg 1934, Price 1971, Vanelli et al. [1985], Benincà [1983/84], [...] Adams 1987a,b).<br />
Eine eingehendere Auseinandersetzung mit den zitierten traditionellen Studien findet in<br />
keiner der generativen Arbeiten statt. 5 In aller Regel beschränkt sich die Begründung für<br />
die Annahme, wonach das Altfranzösische durch eine strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
gekennzeichnet war, auf die Beobachtung, dass Sätze mit einer Verb-Zweit-Stellung<br />
im Altfranzösischen "certainly ubiquitous" waren (Roberts 1993:94). Zur Untermauerung<br />
dieser Beobachtung werden meist einige altfranzösische Verb-Zweit-Sätze angeführt, in<br />
denen die Erstposition durch eine beliebige Konstituente mit unterschiedlicher grammatischer<br />
Funktion besetzt ist. Roberts (1993:95) beispielsweise illustriert dies an Hand eines<br />
Textstücks aus Le Charroi de Nimes, einer Chanson de geste aus der ersten Hälfte des 12.<br />
Jhdts.:<br />
(4) afr. Muetes de chiens font avec els mener.<br />
Hundemeuten (sie)-ließen mit ihnen führen<br />
Par Petit Pont sont en Paris entré.<br />
über Petit Pont (sie)-sind in Paris eingetreten.<br />
Li cuens Guillelmes fu molt gentix et ber:<br />
der Graf Guillelme war sehr tapfer und gut<br />
5 Symptomatisch hierfür ist beispielsweise die Tatsache, dass es sich bei dem obigen Zitat von<br />
Roberts (1993) um die einzige Stelle in dessen Buch handelt, in der der für die Verb-Zweit-Diskussion<br />
des Altfranzösischen zentrale Aufsatz von Thurneysen (1892) Erwähnung findet. Die für<br />
diese Diskussion ebenfalls bahnbrechende Arbeit von Herman (1954) wird bei Roberts überhaupt<br />
nicht zitiert.
Sa venoison fist a l' ostel porter<br />
sein Wildbret (er)-ließ zu dem Hotel tragen<br />
en mi sa voie a Bertran encontré.<br />
inmitten seines Weges (er)-hat Bertran getroffen<br />
(cha 27-31) (Roberts 1993:95)<br />
Bemerkenswert ist an diesem Textbeispiel, dass alle diejenigen Sätze, in denen ein Nicht-<br />
Subjekt satzinitial steht, kein Subjekt enthalten. Die Beispiele belegen damit zwar den bereits<br />
von Foulet (1928:313) beobachteten "point fondamental de la syntaxe du vieux<br />
français", wonach Null-Subjekte "extremely common in matrix V2 clauses" sind (Roberts<br />
1993:95), sie liefern aber keinen empirischen Beleg für die Existenz der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
im Altfranzösischen. Das finite Verb erscheint in diesen Sätzen zwar<br />
oberflächlich in der zweiten Position, die Annahme, dass es sich hierbei um die Position<br />
vor dem leeren Subjekt, und zwar um die durch die Verb-Zweit-Stellungsregel geforderte<br />
COMP-Position, handelt, basiert allein auf der theoretischen Annahme, wonach sich das<br />
leere Subjekt in einer postverbalen Position, also in der SpezIP- oder SpezAgrP-Position,<br />
befindet. Allerdings sind die Argumente, die für eine solche Annahme sprechen könnten,<br />
nicht sehr überzeugend, wie bereits Clifford (1973:8) in ihrer Betrachtung früherer Arbeiten<br />
beobachtet:<br />
Not infrequently non-expression of the subject in Old French is equated with inversion, and the arguments<br />
put forward to support the contention that if the subject were present it would be inverted,<br />
are generally unconvincing.<br />
Dieses Beispiel zeigt, dass die Analysen, die als Erklärung für die Verbstellungsentwicklung<br />
im Französischen geliefert werden, häufig nicht ausreichend durch die empirischen<br />
Daten gestützt sind. Aus diesem Grund ist eine gründliche Betrachtung dieser Daten und<br />
eine Auseinandersetzung mit denjenigen Arbeiten, die vorwiegend empirisch ausgerichtet<br />
sind, eine notwendige Voraussetzung für eine adäquate Analyse dieser Entwicklung.<br />
3.3.1.1 Die Verbstellung in Matrixsätzen<br />
Eines der übereinstimmenden Ergebnisse, das allen hier ausgewerteten Studien entnommen<br />
werden kann, betrifft die Tatsache, dass in deklarativen Matrixsätzen, die ein Verbum<br />
dicendi enthalten und entweder zwischen einer direkten Rede eingefügt sind oder ihr nachstehen,<br />
gesondert betrachtet werden müssen. Für diesen Fall der so genannten "Zwischensätze"<br />
(Diez 1882:1104) (fr. incises) liefern die Studien für alle Epochen fast ausnahmslos<br />
Belege für das Auftreten der Subjekt-Verb-Inversion, und zwar unabhängig davon, ob das<br />
Subjekt nominal oder pronominal ist: 6<br />
6 Die einzige Ausnahme aus dem Altfranzösischen wird von Völcker (1882:8) angeführt. Er vermutet,<br />
dass die präverbale Stellung des Subjekts hier auf das Metrum zurückzuführen ist:<br />
63
64<br />
(5) afr. (a) Tu eps l' as deit, respon ihs<br />
du selbst es hast gesagt antwortet Jesus<br />
(pas 46a) (Völcker 1882:8)<br />
(b) “C(h)ambre”, dist ele, “ja mais n' estras parede, [...]”<br />
Zimmer sagte sie niemals NEG sein-wirst geschmückt<br />
(ale 29a) (Völcker 1882:8)<br />
(6) nfr. (a) «Vous chassez beaucoup, Monsieur? dit Mme Verdurin avec mépris [...]»<br />
Sie jagen viel Monsieur sagte Mme Verdurin mit Verachtung<br />
(Le Bidois 1952:192)<br />
(b) « Je te jure, lui disait-il [...]»<br />
ich dir schwöre ihm sagte er<br />
(Le Bidois 1952:192)<br />
Unterschiedliche Wortstellung wird in den Fällen beobachtet, in denen dem Matrixsatz, der<br />
ein Verbum dicendi enthält, die direkte Rede unmittelbar folgt. Laut Völcker (1882:8) befindet<br />
sich hier im Altfranzösischen "das Subject beim Verbum des Sagens gewöhnlich in<br />
Inversion", wobei er ausschließlich Belege mit nominalem Subjekt anführt (cf. auch Koopmann<br />
1910:8f.):<br />
(7) afr. (a) Respont la medre: “ Lasse! qe(ed) est devenut?”<br />
antwortet die Mutter ach was ist geworden<br />
(ale 22b) (Koopmann 1910:8)<br />
(b) e dist Gormonz, cist d' Orïente<br />
und sagte Gormont dieser vom Orient<br />
(gor 78) (Völcker 1882:15)<br />
Völcker (1882:9) und Koopmann (1910:8ff.) liefern aber auch zahlreiche altfranzösische<br />
Beispiele für die 'gerade' Stellung in diesen Fällen. Koopmann (1910:9) beobachtet bereits<br />
im Rolandslied ein "Schwanken", d.h. "dem Dichter des Rol. ist die ger[ade] Folge schon<br />
nicht mehr sprachwidrig erschienen" (cf. auch Tobler 1879:145):<br />
(8) afr. (a) Charles respunt: “Uncor(e) purrat guarir.”<br />
Charles antwortet noch (er)-können -wird genesen<br />
(rol 156) (Koopmann 1910:9)<br />
(i) afr. « Sainte Marie, genitrix<br />
heilige Maria Erzeugerin<br />
mere Deu, dame, » Isembarz dist<br />
Mutter Gottes Frau Isembart sagte<br />
(gor 635) (Völcker 1882:8)<br />
Le Bidois (1952:200-203) findet in den von ihm untersuchten neufranzösischen Texten ebenfalls<br />
einige Gegenbelege (ausnahmlos mit Subjektspronomen), betont aber gleichzeitig, dass die Inversion<br />
in diesen Fällen in der neufranzösischen Schriftsprache "absolument obligatoire" sei (Le<br />
Bidois 1952:192):<br />
(ii) nfr. (a) Allez, mon petit, elle dit<br />
gehen-Sie mein Kleiner sie sagt<br />
(Le Bidois 1952:202)<br />
(b) Vous êtes amoureux? il me demanda en réponse<br />
Sie sind verliebt er mich fragte als Antwort<br />
(Le Bidois 1952:203)
(b) Il dist al rei: “ Ja mar crerez Marsilie! [...].”<br />
er sagte zum König zu Unrecht (ihr)-glauben-würdet Marsilie<br />
(rol 196) (Koopmann 1910:9)<br />
Ab dem 15. Jhdt. ist die Inversion in diesen Fällen nur noch selten (Koopmann 1910:11f.)<br />
und ab dem 17. Jhdt. überhaupt nicht mehr zu beobachten (Wespy 1884).<br />
Anders hingegen verhält es sich mit Sätzen, die ein anderes Verb als ein Verbum dicendi<br />
enthalten. Hier liefern alle Studien Belege aus allen Epochen für die Inversion in den Fällen,<br />
in denen das Verb satzinitial steht:<br />
(9) afr. (a) Revint li costre a l' imagine el mustier<br />
zurück-kam der Messner zu dem Bild in-dem Kloster<br />
(ale 36a) (Völcker 1882:9)<br />
(b) Et assemblerent li baron et li dux de Venise en un<br />
und sich-versammelten der Baron und der Herzog von Venedig in einem<br />
palais où li dux ere à ostel<br />
Palast wo der Herzog war zu Gast<br />
(con 91) (Krüger 1876:36)<br />
(10) nfr. (a) Vint une servante qui prononça quelques mots<br />
kam ein Dienstmädchen das sagte einige Worte<br />
(Le Bidois 1952:22)<br />
(b) Et suivait le récit d' un accident<br />
und folgte der Bericht von einem Unfall<br />
(Rabe 1910:23)<br />
In Anlehnung an Morf (1878) wird diese Art der Inversion oft 'unbedingte Inversion' genannt,<br />
womit nach Morf (1878:205) gemeint ist, dass sie "durch keinen einleitenden<br />
Satztheil veranlasst [...]" ist. Eine andere von Le Bidois (1941) und anderen verwendete Bezeichnung<br />
ist die der 'inversion absolue'. Wie bereits das Beispiel (2) gezeigt hat, herrscht<br />
allerdings große Uneinigkeit darüber, welche Bestandteile als einleitende bzw. inversionsauslösende<br />
Konstituenten anzusehen sind und welche nicht. Spitzer (1941:1150) verwendet<br />
inversion absolue für die Art von Inversion „qui n’est pas conditionnée par un adverbe en<br />
tête de phrase“. Damit fallen aber, wie Le Bidois (1952:19,Fn1) zu Recht kritisiert, "tous<br />
les autres types d’inversion", also auch solche, die durch eine – nicht adverbiale – Konstituente<br />
eingeleitet sind, unter den Begriff der inversion absolue. Eine sehr unterschiedliche,<br />
meist nicht explizit gemachte Behandlung erfahren auch die satzeinleitenden koordinierenden<br />
Konjunktionen wie et, si, car oder mais, wodurch sich in den einzelnen Untersuchungen<br />
eine sehr stark voneinander abweichende Klassifizierung der Belege ergibt. 7<br />
7 Völcker (1882:15f.) und Rabe (1910:23f.) behandeln Inversionen in Sätzen mit einleitenden koordinierenden<br />
Konjunktionen gesondert, da sie den Konjunktionen einen Einfluss auf die Inversion<br />
zugestehen. Für Krüger (1876:36) hingegen stehen bei der "Umstellung des Subjects [...] coordinirende<br />
Conjunctionen sowie tonlose Partikeln [...] ausser Betracht". Koopmann (1910:15) rechnet<br />
zumindest die mit et eingeleiteten Matrixsätze zu den uneingeleiteten Hauptsätzen. Bestätigung<br />
findet er bei Tobler (1879:145), der in seiner Rezension von Morf (1878) an einigen Beispielen<br />
nachweist, dass die Inversion in durch et eingeleiteten Matrixsätzen nicht auf die Konjunktion,<br />
sondern auf die Inversion im vorangehenden Teilsatz zurückzuführen ist (cf. auch Foulet<br />
1928:310). Anders verhält es sich mit si, das Toblers Beobachtungen zufolge stets Inversion nach<br />
sich zieht. Mais (ebenso die Entsprechungen ainz und ainçois) und car treten i.d.R. ohne Inversion<br />
auf (Morf 1878:209, Foulet 1928:309).<br />
65
66<br />
Bemerkenswert an den Beispielen in (10) ist, dass sie ausnahmslos ein intransitives Verb<br />
der Bewegung wie venir, arriver, suivre oder das Verb rester enthalten (Rabe 1910:15). 8<br />
Das Subjekt ist in allen Fällen nominal (Koopmann 1910:13). Es wird betont, dass diese<br />
Art der Inversion verhältnismäßig selten und im Altfranzösischen "in nicht höherem Grade"<br />
nachweisbar ist als im Neufranzösischen (Wespy 1884:159).<br />
Von diesen Fällen der 'unbedingten Inversion' werden in den traditionellen Arbeiten 'eingeleitete<br />
isolierte Hauptsätze' unterschieden, d.h. Sätze, die von "adverbialen, präpositionalen<br />
und Objektsbestimmungen" eingeleitet werden (Rabe 1910:14). Hier<br />
besteht Übereinstimmung darin, dass die "[..] Inversion des [nominalen und pronominalen]<br />
Subjekts in der alten Sprache das Gewöhnliche" ist (Rabe1910:14):<br />
(11) afr. (a) Dunc perdreit Carles le destre braz del cors 9<br />
also verlieren-würde Charles den rechten Arm des Körpers<br />
(rol 597) (Koopmann 1910:20)<br />
(b) Entre les povres se sist danz Alexis<br />
zwischen die Armen sich setzte Herr Alexis<br />
(ale 20b) (Koopmann 1910:18)<br />
(c) Plus dolorose novele ne lor peüst- on conter<br />
schmerzhaftere Nachricht nicht ihnen könnte man erzählen<br />
(con 371) (Krüger 1876:37)<br />
(12) mfr. (a) Après recommença ledict Morvillier<br />
danach wieder-begann besagter Morvillier<br />
(com 6,5) (Koopmann 1910:27)<br />
(b) et pour ce ai- je appelé ses freres<br />
und für das habe ich gerufen seine Brüder<br />
(joi 7,13) (Koopmann 1910:26)<br />
8 Blinkenberg (1928:81-94) bezeichnet diese Art von Verben als "verbes introducteurs". Le Bidois<br />
(1952:30) beobachtet, dass diesen Verben häufig ein "adverbe de liaison" folgt, das "die Folge<br />
oder den Anschluß an Voraufgehendes" bezeichnet (Koopmann 1910:17):<br />
(i) nfr. (a) Viennent ensuite les députés de la Grèce<br />
kommen nun die Abgeordneten aus Griechenland<br />
(Koopmann 1910:17)<br />
(b) Car se posait alors [...] ce dilemme<br />
denn sich stellte dann dieses Dilemma<br />
(Le Bidois 1952:33)<br />
9 Dieser Satz wird hier von Koopmann unvollständig zitiert. Allerdings führt er ihn unter der Rubrik<br />
'eingeleitete Nachsätze' nochmals auf, wobei deutlich wird, dass er durch einen Nebensatz eingeleitet<br />
ist und folglich nicht zu den 'eingeleiteten isolierten Hauptsätzen' gezählt werden kann:<br />
(i) afr. Chi purreit feire que Rollant i fust mort,<br />
wer könnte machen dass Roland dort wäre tot<br />
Dunc perdreit Carles le destre braz del cors<br />
dann verlieren-würde Charles den rechten Arm des Körpers<br />
(rol 596-597) (Koopmann 1910:86)<br />
Die unvollständige Angabe von Beispielen ist nicht untypisch für viele traditionelle Arbeiten.<br />
Kaiser (1980:18f.) konstatiert in traditionellen Untersuchungen französischer Interrogativsätze<br />
ebenfalls eine solche "sparsame" Zitierweise und zeigt dabei, zu welchen eklatanten Fehlinterpretationen<br />
dies führen kann. Die gleiche Beobachtung kann auch für Untersuchungen im generativen<br />
Rahmen gemacht werden (cf. auch Fußnote 4 in Kapitel 4).
(c) Et ces parolles m' a compté le roy<br />
und diese Worte mir hat erzählt der König<br />
(com 22,1) (Koopmann 1910:40)<br />
Die meisten Untersuchungen machen deutlich, dass im Laufe der historischen Entwicklung<br />
des Französischen die Inversion in diesen Fällen immer seltener zur Anwendung kommt. Es<br />
wird aber vielfach darauf hingewiesen, dass auch im Altfranzösischen die Inversion hier<br />
keineswegs obligatorisch war, denn die "Gesetze sind in der alten Sprache keineswegs so<br />
genau durchgeführt, dass sie nicht zahlreiche Ausnahmen erlitten hätten" (Krüger 1876:39).<br />
Im frühen Altfranzösischen sind Belege für solche Ausnahmen noch relativ selten und<br />
werden meist auf das Metrum zurückgeführt (Völcker 1882:10, Koopmann 1910:19):<br />
(13) afr. (a) Puis ad escole li bons pedre le mist<br />
dann in-die Schule der gute Vater ihn gab<br />
(ale 7c) (Völcker 1882:10)<br />
(b) lengues nuoves il parlaran<br />
Sprachen neue sie sprechen-werden<br />
(pas 115c) (Völcker 1882:11)<br />
Aber bereits im Rolandslied zeigt sich, dass die Inversion ein "so durchgehendes Gesetz<br />
[...] nicht mehr" ist (Völcker 1882:11). Koopmann (1910:19) stellt fest, dass die 'gerade<br />
Folge' auch ohne metrische Zwänge auftreten kann, insbesondere "bei zusammengesetzten<br />
(präpositionalen) adv. Bestimmungen, die sich leichter als ein selbständiges Ganzes absonderten,<br />
so daß auch der nachfolgende Satz unabhängiger in seiner Wortfolge wurde [...]". In<br />
diesen Fällen wird die Inversion weniger streng durchgeführt als nach anderen einleitenden<br />
Adverbien (Morf 1878:211), sie ist zwar "das Gewöhnliche, aber nicht Regel" (Koopmann<br />
1910:21):<br />
(14) afr. (a) A icest colp cil de France s' escrient<br />
bei diesem Schlag die von Frankreich sich ausrufen<br />
(rol 3365) (Koopmann 1910:22)<br />
(b) A icest mot paien venent avant<br />
bei diesem Wort Heiden kommen hervor<br />
(rol 3379) (Koopmann 1910:22)<br />
Foulet (1928:311f.) weist an Hand zahlreicher Beispiele aus der Queste del Saint Graal<br />
(1220) darauf hin, dass im Zusammenhang mit den Adverbien bzw. adverbialen Verbindungen<br />
neporquant 'trotzdem', neporec 'doch', onques 'nie', certes 'sicherlich' und sanz<br />
faille 'ganz sicher' fast ausschließlich die Nicht-Inversion zu beobachten ist (cf. auch<br />
Moignet 1976:361f, Vance 1997:62, de Bakker 1997:46f.):<br />
(15) afr. (a) Certes vos paroles me plaisent tant<br />
sicherlich eure Worte mir gefallen so sehr<br />
(que 104,12) (Vance 1997:62)<br />
(b) Et neporec il le diroit volentiers<br />
und doch er es sagen-würde gern<br />
(que 66,1) (Foulet 1928:311)<br />
Nach Koopmann (1910:26) bleibt die Inversion in eingeleiteten Matrixsätzen bis ins 15.<br />
Jhdt. hinein "noch immer vorherrschend". Erst ab dem 16. Jhdt. konstatiert er nur noch eine<br />
"ziemlich beschränkte" Anwendung (Koopmann 1910:36). Die historische Entwicklung der<br />
adverbial sowie der durch ein Objekt oder Attribut eingeleiteten Sätze verdeutlicht daher<br />
67
68<br />
für Koopmann (1910:36) "einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen der alten und<br />
neuen Zeit: dort war die Inversion entschieden das Regelmäßige, hier die gerade Wortfolge".<br />
Demgegenüber betonen Rabe (1910) und Le Bidois (1952), dass die Inversion in diesen<br />
Fällen im Neufranzösischen keineswegs ungewöhnlich geworden ist:<br />
(16) nfr. (a) Hier, a été célébré à Saint-Cloud le mariage de ...<br />
gestern hat gewesen gefeiert in Saint-Cloud die Hochzeit von ...<br />
(Rabe 1910:28)<br />
(b) Avec le silence s' est perdue la concentration de l' esprit<br />
mit dem Schweigen sich ist verloren die Konzentration von dem Geist<br />
(Le Bidois 1952:156)<br />
(c) Une chose ai- je à dire:<br />
eine Sache habe ich zu sagen<br />
(Wespy 1884:174)<br />
Rabe (1910:24ff.) kommt in einer Auszählung von Werken von acht Schriftstellern des 19.<br />
Jhdts. sogar zu dem Ergebnis, dass in über 45% der Sätze mit einleitendem Adverb das<br />
Subjekt invertiert auftritt. Er folgert daher, dass sich eine "Entwicklung in dem Sinne, daß<br />
in neuerer Zeit weniger häufig Inversion einträte, [...] aus dieser Zusammenstellung nicht<br />
ersehen" lasse. Allerdings basiert seine Auswertung nur auf Sätzen mit Verben "ohne Objekt<br />
oder umfangreichere nähere Bestimmung, durch welche die Inversion unmöglich<br />
würde" (Rabe 1910:24), d.h. eine Reihe anderer – im Altfranzösischen möglicher – Inversionskontexte<br />
bleibt dabei unberücksichtigt. Hierzu gehört vor allem die Inversion nach<br />
vorangestelltem Objekt, die laut Koopmann (1910:42) im 16. Jhdt. "rasch zurückgegangen<br />
und später geschwunden" ist. Sie ist im Neufranzösischen i.d.R. nur noch in Sprichwörtern<br />
(Rabe 1910:38) oder in poetischen Texten, wie das Beispiel (16)(c) von Lafontaine zeigt,<br />
zu finden. In der Prosa Lafontaines findet Wespy (1884:174) keinen einzigen Beleg für die<br />
Inversion nach vorangestelltem Objekt.<br />
Von den bisher betrachteten Konstruktionen werden in den traditionellen Arbeiten i.d.R.<br />
so genannte 'uneingeleitete Nachsätze' unterschieden. Damit sind solche Sätze gemeint, die<br />
durch einen Nebensatz eingeleitet sind. Hier zeigen die Untersuchungen übereinstimmend,<br />
dass bereits im frühen Altfranzösischen die Inversion "nicht das Gewöhnliche, sondern<br />
ziemlich selten" und im 14. und 15. Jhdt. "nur noch archaistisch" ist (Koopmann 1910:84f.).<br />
Die wenigen Inversionsbelege sind meist auf das Metrum zurückzuführen (cf. (17)(b)). Rabe<br />
(1910:53) liefert zwar einige Belege aus dem 19. Jhdt. für die Inversion in diesem Kontext,<br />
betont aber, dass sie "recht selten auf[tritt], da die Verbindung zwischen dem Nebensatz<br />
und dem Verb des folgenden Hauptsatzes keine so enge ist wie zwischen Adverb und<br />
Verb". Auffallend ist, dass in den wenigen Fällen, in denen das Subjekt postverbal steht,<br />
der jeweilige Matrixsatz i.d.R. entweder ein Verbum dicendi, ein "[i]ntransitives Zeitwort"<br />
(Rabe1910:53) oder ein Verb der Bewegung enthält:<br />
(17) afr. (a) Quant li quens Garins de Biaucare vit qu' il ne poroit Aucassin<br />
als der Graf Garin de Biaucare sah dass er nicht konnte Aucassin<br />
son fil retraire des amors Nicolete, il traist au<br />
seinen Sohn zurückziehen von-der Liebe Nicoletes er begab-sich zum<br />
visconte de le vile<br />
Vicomte von der Stadt<br />
(auc 4,1-3) (Koopmann 1910:82)
(b) Cum jo serai a Eis, em ma chapele,<br />
wenn ich werde-sein in Aix in meiner Kapelle<br />
Vendrunt li hume, demanderunt noveles:<br />
kommen-werden die Menschen fragen-werden Neuigkeiten<br />
(rol 2917-18) (Koopmann 1910:81)<br />
(18) nfr. Pendant que Didier se plonge de plus en plus dans ses pensées,<br />
während dass Didier sich taucht von mehr zu mehr in seine Gedanken<br />
entrent par la brèche du fond Marion et le geôlier<br />
eintreten durch die Lücke des Bodens Marion und der Kerkermeister<br />
(Rabe 1910:53)<br />
Von den wenigen modernen Untersuchungen, in denen auf diesen Konstruktionstyp näher<br />
eingegangen wird, ist vor allem die generative Arbeit von Vance (1997) zu nennen (cf.<br />
auch Kok 1985:100-102, de Bakker 1997:47f.). In ihrer Untersuchung der Queste del Saint<br />
Graal (um 1220) beobachtet Vance (1997:64), dass in Sätzen mit "certain fronted clauses"<br />
die Subjekt-Verb-Inversion mit der SV(O)-Stellung variiert. Ihren Beobachtungen zufolge<br />
ist dies dann der Fall, wenn der Nebensatz mit der Konjunktion si tost com 'sobald' beginnt:<br />
(19) afr. (a) Mes si tost come tu eus receu le seel Jhesuchrist, ce est le<br />
aber sobald wie du hast erhalten das Siegel (von) Jhesuchrist das ist das<br />
sainte cresme et la sainte uncion, eus tu renoié l' anemi et<br />
heilige Öl und die heilige Salbung hast du abgeschwört dem Teufel und<br />
fus fors de sa baillie<br />
wärst außerhalb von seiner Macht<br />
(que 104,4-6) (Vance 1997:64)<br />
(b) mes si tost com nos cuiderons qu' il en soit lex et<br />
aber sobald wie wir glauben-werden dass es dafür ist passend und<br />
mestiers, nos l' i envoierons<br />
notwendig wir ihn dorthin schicken-werden<br />
(que 3,18-19) (Vance 1997:64)<br />
In Sätzen, in denen ein durch se 'wenn', quant 'wenn' und puis que 'weil' eingeleiteter Nebensatz<br />
satzinitial steht, beobachtet Vance (1997:65) hingegen fast ausschließlich Subjekt-<br />
Verb-Stellung (cf. (20)(a)). Inversion tritt ihren Auswertungen zufolge nur dann auf, wenn<br />
ein nachfolgendes "resumptive adverbial" den Nebensatz wieder aufnimmt (cf. (20)(b)):<br />
(20) afr. (a) Et quant il fu bien ajorné, li rois se leva de son lit<br />
und als es war gut Tag-angebrochen der König sich erhob von seinem Bett<br />
(que 21,15-16) (Vance 1997:65)<br />
(b) Et quant il les voldrent departir, si monta ire et mautalenz entr' ax<br />
und als sie sie wollten teilen da stieg-auf Wut und Unwillen unter ihnen<br />
(que 75,14-15) (Vance 1997:65)<br />
Die Verwendung eines Resumptivadverbs wie in (20)(b) ist, wie bereits Diez (1882:1015f.)<br />
konstatiert, in solchen Nachsätzen sehr häufig zu beobachten:<br />
Indessen pflegte die ältere Zeit um des Nachdrucks willen bei temporellen, causalen oder conditionalen<br />
Vordersätzen dem Nachsatze gewisse Partikeln voranzustellen.<br />
Es ist klar, dass solche Sätze wie (20)(b) nicht zu den 'uneingeleiteten Nachsätzen' gerechnet<br />
werden können, da die Inversion hier offensichtlich nicht durch den Nebensatz, sondern<br />
das folgende Adverb ausgelöst wird. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für zahlreiche andere<br />
Beispielsätze, die häufig als Beleg für die Inversion nach einleitendem Nebensatz<br />
angeführt werden. So weist Koopmann (1910:81) zurecht darauf hin, dass der von Völcker<br />
69
70<br />
(1882:17) als 'uneingeleiteter Nachsatz' aufgeführte Beispielsatz (21) zur Gruppe der eingeleiteten<br />
Nachsätze gerechnet werden muss, "weil die Inv. von der an der Spitze stehenden<br />
adv. Bestimmung, nicht vom Temporalsatz, abhängig ist":<br />
(21) afr. An tant dementres cum il iloec unt sis,<br />
währenddessen als sie dort haben (sich)-gesetzt<br />
Deseivret l' aneme del cors sainz Alexis<br />
(sich)-trennt die Seele vom Körper (des) Heiligen Alexius<br />
(ale 67a-b) (Koopmann 1910:81)<br />
Auch das von Rabe (1910:53) für eine Inversion nach einem einleitenden Nebensatz aufgeführte<br />
Beispiele (22) gehört nicht zu diesem Konstruktionstyp, da hier ein Prädikatsadjektiv<br />
der Kopula vorausgeht und somit den Nachsatz einleitet:<br />
(22) nfr. Et quand je me levai, tout rouge était l' herbe<br />
und als ich mich erhob ganz rot war der Rasen<br />
(Rabe 1910:53)<br />
Somit kann als Ergebnis der empirischen Untersuchungen zur Entwicklung der Verbstellung<br />
in französischen Matrixsätzen festgehalten werden, dass es lediglich zwei Arten von<br />
Konstruktionen gibt, in denen es zu keinem Wandel der Stellung von Subjekt und Verb<br />
gekommen ist. Hierbei handelt es sich zum einen um die so genannten Zwischensätze, die<br />
immer Subjekt-Verb-Inversion aufweisen. Zum anderen sind es die durch einen Nebensatz<br />
eingeleiteten Sätze, in denen zu allen Epochen das Subjekt fast ausschließlich in präverbaler<br />
Stellung erscheint, insbesondere dann, wenn der Matrixsatz kein resumptives Adverb<br />
enthält, das auf den Nebensatz Bezug nimmt. Für alle übrigen Konstruktionen ist ein zunehmender<br />
Rückgang der Inversion von Subjekt und Verb zu beobachten.<br />
3.3.1.2 Die Verbstellung in Nebensätzen<br />
Eine Zusammenfassung der Ergebnisse der hier betrachteten Untersuchungen bezüglich der<br />
Inversion in (eingeleiteten) Nebensätzen erweist sich als besonders schwierig, weil die einzelnen<br />
Untersuchungen bei der Einteilung der Belege sowie bei den Angaben über die Häufigkeit<br />
der Inversion stark voneinander abweichen. Die in den traditionellen Arbeiten gemachten<br />
Angaben für die Ermittlung der Stellung des finiten Verbs im Satzgefüge sind<br />
meist nur wenig hilfreich, weil die Nebensätze i.d.R. nicht danach unterschieden werden,<br />
ob dem nebensatzeinleitenden Element eine Konstituente folgt oder nicht. Subjekt-Verb-Inversion<br />
kann bedeuten, dass das Verb in der Erstposition steht, d.h. adjazent zu Konjunktion<br />
oder Relativ- bzw. Interrogativpronomen, oder eine Position hinter einer oder mehreren<br />
Konstituenten einnimmt. Die Vergleichbarkeit der Ergebnisse traditioneller Arbeiten mit<br />
denen generativer Analysen wird dadurch erschwert, dass in generativen Arbeiten i.d.R.<br />
kein Unterschied zwischen konjunktional eingeleiteten Nebensätzen und solchen Nebensätzen<br />
gemacht wird, die durch ein Relativ- oder Interrogativpronomen eingeleitet sind.<br />
Für die Relativsätze kann eine "merkwürdige Verschiedenheit zwischen der neuen und<br />
alten Sprache" konstatiert werden (Völcker 1882:20). Die Untersuchungen stimmen darin<br />
überein, dass hier "eine bedeutende Zunahme der Inversion von der afr. zur nfr. Periode" zu<br />
beobachten ist (Koopmann 1910:103). In den neufranzösischen Relativsätzen ist nach
Zählungen von Rabe (1910:80) die Inversion häufiger als die "gerade Wortfolge", vor allem<br />
bei "umfangreichem Subjekt und einfachem Verb" (Koopmann 1910:105):<br />
(23) nfr. (a) Suivez les pas de celle de qui dépend votre destinée<br />
folgen-Sie den Schritten von derjenigen von der abhängt ihr Schicksal<br />
(Rabe 1910:81)<br />
(b) Je suis les conseils que me donna mon père, qui m' a toujours<br />
ich folge den Ratschlägen die mir gab mein Vater der mich hat immer<br />
guidé dans ma jeunesse<br />
geführt in meiner Jugend<br />
(Koopmann 1910:107)<br />
Ähnlich wie in den Relativsätzen ist auch in den eingebetteten Interrogativsätzen des Altfranzösischen<br />
die Inversion sehr selten zu beobachten. Erst in Texten ab dem 15. Jhdt. kann<br />
eine zunehmende Verwendung der Inversion des nominalen Subjekts konstatiert werden.<br />
Sie ist dann "obligatorisch, wenn die fragenden Fürwörter quel, qui, que als prädikative<br />
Bestimmungen im Satze stehen," und "gestattet, wo ein fragendes Fürwort oder Adverb als<br />
adverbiale Bestimmung steht" (Koopmann 1910:109):<br />
(24) mfr. (a) et cherchoit l'on dont pouvoit venir ce feu<br />
und suchte man wovon konnte kommen dieses Feuer<br />
(com 42,15/16) (Koopmann 1910:108)<br />
(b) Jadis ung Roy demanda à ung Philosophe [...], quelle chose estoit Dieu<br />
einst ein König fragte PRÄP einen Philosophen welche Sache war Gott<br />
(Gerson III, 1593 A) (zitiert nach Höpfner 1883:13)<br />
Was die konjunktional eingeleiteten Nebensätze betrifft, so kann als generelles Ergebnis<br />
aller Untersuchungen festgehalten werden, dass die Subjekt-Verb-Inversion in diesen Sätzen<br />
zu allen Epochen wesentlich seltener ist als im Matrixsatz (Völcker 1882:17, Wespy<br />
1884:196, Hirschbühler 1989:171f., Lemieux / Dupuis 1995:99). Vance (1995:176) findet<br />
in der Queste del Saint Graal nur zehn Belege für eine Subjekt-Verb-Inversion im Nebensatz.<br />
Anders als die traditionellen Untersuchungen, die dieses Wortstellungsmuster ebenfalls<br />
belegen, bezieht sie sich hierbei offensichtlich ausschließlich auf Sätze, in denen zwischen<br />
Konjunktion und Verb eine zusätzliche Konstituente auftritt:<br />
(25) afr. (a) Et il me dist tot maintenant<br />
und er mir sagt gleich jetzt<br />
Plus de çant fois an un tenant<br />
mehr als hundert Mal in einem Zug<br />
que beneoite fust la voie<br />
dass gesegnet sei der Weg<br />
(löw 205-207) (Koopmann 1910:92)<br />
(b) ... si dist que molt ert liez quant en si haute bonté et<br />
so (er)-sagte dass sehr sein-wird glücklich wenn in so hoher Güte und<br />
en si haute chevalerie seroit fichiee la bosne de son lignage<br />
in so hoher Ritterlichkeit wäre gefestigt das Ende von seinem Geschlecht<br />
(que 221,15f.) (Vance 1995:181)<br />
Auch für das Mittel- und Neufranzösische sind nur wenige Sätze mit dieser Art der Wortstellung<br />
in eingebetteten Sätzen belegt:<br />
(26) mfr. (a) Or disons donc que grant grace nous fist Dieu le toutpuissant<br />
jetzt sagen-wir nun dass große Gnade uns machte Gott der Allmächtige<br />
(joi 51,26-27) (Koopmann 1910:93)<br />
71
72<br />
(b) et il dirent que non feroient- il<br />
und sie sagten dass nicht würden-machen sie<br />
(joi 11,14) (Koopmann 1910:93)<br />
(27) nfr. (a) Je venais de comprendre enfin que là cessait le monologue<br />
ich kam zu verstehen endlich dass da endete der Monolog<br />
(Le Bidois 1952:237)<br />
(b) Elle avait tant à leur dire qu' à peine leur laissait-elle le<br />
sie hatte so viel zu ihnen sagen dass kaum ihnen ließ sie die<br />
temps de répondre<br />
Zeit zu antworten<br />
(Le Bidois 1952:237)<br />
Abschließend kann als einziges deutliches Ergebnis der sehr uneinheitlich klassifizierenden<br />
Untersuchungen konstatiert werden, dass es in eingebetteten Relativ- und Interrogativsätzen<br />
im Laufe der Entwicklung des Französischen zu einer Zunahme der Inversion gekommen<br />
ist. In konjunktional eingeleiteten Nebensätzen hingegen ist das Auftreten der Inversion<br />
weitgehend konstant niedrig geblieben. Allerdings erlauben es die in den Untersuchungen<br />
gemachten Angaben nicht, Rückschlüsse über mögliche Verb-Zweit-Stellungseffekte in<br />
diesen Sätzen zu ziehen, da genauere Angaben darüber fehlen, ob und inwiefern das Auftreten<br />
der Inversion abhängig vom Vorhandensein einer nebensatzinitialen Konstituente ist.<br />
3.3.2 Quantitative und statistische Ergebnisse<br />
Als ein den meisten Arbeiten des 19. und frühen 20. Jhdts. gemeinsames Ergebnis kann<br />
festgehalten werden, dass es im Französischen "im Laufe der Jahrhunderte immer mehr<br />
üblich wurde, das Subjekt des Hauptsatzes vor das Prädikat zu setzen" (Wespy 1884:153),<br />
d.h. dass "fast überall [...] die im Afr. so verbreitete Inversion zurückgedrängt" wurde<br />
(Koopmann 1910:7). In Rabes Studie des 19. Jhdts. wird dieses Ergebnis jedoch etwas<br />
relativiert. Rabe (1910:96) kommt zu dem Ergebnis, dass in neueren Werken des Französischen,<br />
d.h. des 19. Jhdts., "die Inversion manchmal häufiger" auftritt. Diese Beobachtung<br />
beruht allerdings auf Auszählungen, die – wie bereits erwähnt – nur mit adverbial eingeleiteten<br />
Sätzen und mit Sätzen einer bestimmten Klasse von Verben durchgeführt wurden.<br />
Rabe (1910:107) räumt daher resümierend ein, dass im "Satztyp der erklärenden Aussage"<br />
die Häufigkeit der Inversion zurückgegangen sei. Gleichzeitig betont er aber gleichzeitig,<br />
dass "das Französische des XIX. Jahrhunderts die Stellung Prädikat – Subjekt, wenn auch<br />
in gewissen Schranken oder manchmal verhüllt, auch außerhalb der Frage immer noch – ja<br />
in mehreren Fällen mehr als die alte Sprache – da anwenden kann, wo Rücksichten auf den<br />
Charakter des Darzustellenden, auf Deutlichkeit, auf Rhythmus und harmonischen Bau des<br />
Satzes dies rätlich erscheinen lassen" (Rabe 1910:107).<br />
Eine Bestätigung finden die Ergebnisse Rabes in mehreren Wortstellungsstudien, die ab<br />
den 30er Jahren angefertigt werden (cf. Tabelle (1)). Einer der Anlässe für die meisten<br />
dieser Studien ist die Unzufriedenheit mit der Forschungsweise der bisherigen Untersuchungen,<br />
"die mit komplizierten, aber unlogischen Einteilungen sowie mit zahlreichen, aber<br />
untypischen Beispielen arbeitet und in ihren Schwächen auf dem ersten Blick nicht zu erkennen<br />
ist" (Siepmann 1937:2). Diesem deskriptiv unbefriedigenden Verfahren wird eine<br />
Vorgehensweise entgegengesetzt, die sämliche Belegstellen des zu untersuchenden Textmaterials<br />
erfassen und einer statistischen Auswertung unterziehen will. Die Verfasser die-
ser Untersuchungen wollen sich nicht mehr nur damit begnügen, "von einer Erscheinung zu<br />
behaupten, daß sie 'selten' oder 'verhältnismäßig häufig' vorkomme, und sie dann mit einigen<br />
Beispielen belegen", weil man dadurch "sich erstens kein genaues Bild über den Stand<br />
der Dinge machen und zweitens die gezogenen Schlüsse und gemachten Behauptungen<br />
nicht auf ihr tatsächliches Zutreffen überprüfen" kann (Dill 1935:5,Fn.1).<br />
Eine Reihe dieser Autoren stellt auf Grund dieser präziseren Auswertungsweise fest,<br />
dass die Ergebnisse bisheriger Untersuchungen revidiert werden müssen. So konstatiert beispielsweise<br />
Siepmann (1937:86) als Gesamtergebnis ihrer Auswertung der Wortstellung in<br />
der 'Conquête de Constantinople' von Villehardouin (= con), dass "der Unterschied<br />
zwischen der alten und der modernen Sprache hinsichtlich der Wortstellung<br />
[...] bei weitem nicht so beträchtlich [ist] wie die früheren Arbeiten<br />
ihn darstellen". Zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangt auch Lewinsky (1949:182),<br />
derzufolge "les grandes tendances qui charactérisent la langue actuelle se trouvent déjà dans<br />
le français du XIV e siècle".<br />
In ähnlicher Weise lassen sich die Ergebnisse von Le Bidois (1952) interpretieren, die<br />
sogar auf eine Zunahme beim Gebrauch von Inversionen im modernen Französischen hindeuten.<br />
Leider lassen sich für eine linguistische Analyse aus der Studie von Le Bidois nur<br />
wenige brauchbare Schlüsse ziehen. Denn obwohl es sich hierbei um eine der umfangreichsten<br />
Untersuchungen zur Subjekt-Verb-Inversion im Französischen handelt, stellt sie sowohl<br />
in der methodischen Vorgehensweise als auch in der Darstellung der Ergebnisse einen<br />
großen Rückschritt im Vergleich zu den Arbeiten der 30er- und 40er-Jahre dar. Sie enthält<br />
letztendlich nur eine riesige Sammlung von Belegen für Konstruktionen mit (oder ohne)<br />
Subjekt-Verb-Inversion, die der Autor in den Werken Marcel Prousts oder anderer französischer<br />
Schriftsteller oder Journalisten der ersten Hälfte des 20. Jhdts. gefunden hat. Eine<br />
statistische Auswertung der Ergebnisse wird nicht geliefert. Die Kommentare von Le<br />
Bidois zu den Daten können eher als die "eines gebildeten Zeitgenossen" (Rogger<br />
1956:239) als die eines Linguisten angesehen werden. Seine Arbeit ist daher "eher stilistischer<br />
als linguistischer Art [...], obschon sie für den Linguisten, und besonders den Linguisten<br />
der Zukunft, von unschätzbarem Werte ist" (Rogger 1956:239). Primäres und offensichtlich<br />
einziges Ziel dieser Studie scheint darin zu bestehen, die Häufigkeit der Verwendung<br />
der Inversion im modernen Französischen und damit dessen "étonnante vitalité" (Le<br />
Bidois 1952:415) zu dokumentieren:<br />
Nos relevés chez les écrivains de 1900 à 1950 ont fourni une moisson d'exemples si abondante et<br />
si variée que les affirmations des grammairiens paraissent de peu de poids en comparaison. Or ces<br />
exemples, que nous aurions pu multiplier sans peine, montrent à l'évidence qu'en français, l'inversion<br />
du sujet, loin d'être en recul, est de plus en plus fréquente dans la langue écrite et jouit même,<br />
auprès de certains auteurs, d'une faveur quelque peu inquiétante. Ainsi, nous avons constaté que<br />
Proust fait un usage incessant du tour inverti, tant en phrase principale qu'en subordonnée [...].<br />
(Le Bidois 1952:410)<br />
Le Bidois (1952:3) sieht sich als Kämpfer gegen "certains préjugés classiques dont quelques<br />
grands écrivains français n'ont pas su se garder", denen zufolge das moderne Französische<br />
einer starren SVO-Stellung unterliegt. Diese Vorurteile findet Le Bidois (1952:3) auch<br />
bei zeitgenössischen Grammatikern und Romanisten, wie etwa bei Wartburg (1934:221),<br />
demzufolge "[t]out le monde sait que la structure de la phrase française, en particulier<br />
73
74<br />
l'ordre des mots, est d'une rigidité absolue". Diese "vues vraiment excessives [...] sur l'ordre<br />
des mots en français" gilt es für Le Bidois (1941:111, Fn.1) zu widerlegen. 10<br />
Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis wie Le Bidois kommt eine andere ebenfalls quantitativ<br />
sehr umfangreiche Untersuchung der Inversion im (modernen) Französischen, nämlich<br />
die Studie von Clifford (1973). Ziel dieser Studie ist es – auf der Grundlage einer sehr detaillierten<br />
statistischen Auswertung von Daten des 16.-20. Jhdts. – ebenfalls zu zeigen,<br />
"how conservative have been the estimates of grammarians and theorists from the 16th<br />
century onwards regarding the use of inverted order in French" (Clifford 1973:436). 11 Ein<br />
für Clifford allerdings selbst überraschendes Ergebnis ihrer Analyse ist die Beobachtung,<br />
dass die Inversion nicht nur in der Literatursprache bzw. 'gehobenen' Schriftsprache sehr<br />
häufig sei, sondern auch in der gesprochenen Umgangssprache:<br />
Yet inversion is not only common in literary works or in novels written in a récit parlé style [...]. It<br />
is frequently to be heard in everyday speech of both a colloquial and a more elevated nature.<br />
(Clifford 1973: 437)<br />
Le Bidois (1952:411) registriert demgegenüber in der modernen gesprochenen Umgangssprache<br />
vielmehr das Bestreben "à se libérer de l'inversion, qui constitue pour l'usager ordinaire<br />
une construction artificielle ou prétentieuse". Sowohl Clifford als auch Le Bidois<br />
bleiben den Beweis für ihre Beobachtungen allerdings schuldig, da sich ihre Untersuchungen<br />
– ebenso wie alle bisher betrachteten Studien zur Wortstellung im Französischen –<br />
(fast) ausschließlich auf literarisches oder sonstiges schriftsprachliches Datenmaterial stützen.<br />
Somit bleibt auch die Frage unbeantwortet, ob und inwiefern in der gesprochenen<br />
französischen Umgangssprache eine Entwicklung dahingehend stattgefunden hat, dass es<br />
im Verlauf seiner Geschichte zu einem (allmählichen) Verlust der Inversion gekommen ist.<br />
Denkbar ist es durchaus auch, wie etwa Koopmann (1910:1) vermutet, dass "jene Umstellungen<br />
[...] wohl nie im Volke recht lebendig gewesen" sind.<br />
Dieser Vermutung Koopmanns steht eine weit verbreitete Ansicht gegenüber, die indirekt<br />
im obigen Zitat von Wartburg zum Ausdruck kommt. Hinter der Auffassung von einer<br />
'streng festgelegten' Wortstellung des Neufranzösischen steht nämlich die Annahme, dass<br />
das frühere Französische diese strenge Wortstellung noch nicht hatte und stattdessen durch<br />
eine "très grande liberté dans la construction des phrases" ausgezeichnet war (Wartburg<br />
1946:103). Nicht selten wird diese Freiheit mit einer (gewissen) Regellosigkeit gleichgesetzt:<br />
Vergleicht man das Altfranzösische mit dem Neufranzösischen, so ist man erstaunt, festzustellen,<br />
mit welcher Freiheit das Altfranzösische die Wörter anordnete. Da die altfranzösische Wortstellung<br />
nicht durch mehr oder weniger willkürliche Regeln "fixiert" war, konnte der Schriftsteller die<br />
10 Zur Verteidigung Wartburgs sei hier darauf hingewiesen, dass bereits in der zweiten Auflage seines<br />
Buches nur noch von einer "grande rigidité" der französischen Wortstellung die Rede ist<br />
(Wartburg 1937:253). Dies scheint Le Bidois jedoch nicht bemerkt zu haben. Denn obwohl Le<br />
Bidois (1952) in seiner Bibliographie Wartburgs Buch nach der dritten Auflage zitiert (Wartburg<br />
1946), stammt das Zitat, das er verwendet, aus der ersten Ausgabe (Wartburg 1934).<br />
11 Ebenso wie Le Bidois ist Clifford primär an der stilistischen Verwendung der Inversion interessiert.<br />
Der generative (transformationalistische) Ansatz wird explizit zurückgewiesen, was mit "its<br />
inevitable complexity as regards syntax, and its unproductiveness in the field of style" begründet<br />
wird (Clifford 1973:19).
Worte entsprechend seiner Vorstellungsfolge anordnen und den unmittelbaren Eindruck wiedergeben.<br />
Keine Regel hinderte ihn, die Satzglieder nach seinem Geschmack anzuordnen. Der Altfranzose<br />
hatte ein eigenes Stilideal, das er bald bewußt, bald unbewußt befolgte. (Blasberg 1937:1)<br />
Andere Autoren hingegen kommen zu einer grundsätzlich anderen Einschätzung der altfranzösischen<br />
Wortstellung. So kritisiert bereits Thurneysen (1892) die zahlreichen Studien<br />
zur Wortstellung im Altfranzösischen, die fast ausnahmslos dessen Wortstellungsfreiheit<br />
konstatieren. Demgegenüber kommt er an Hand einer Auswertung des Prosateils der<br />
Chantefable Aucassin et Nicolette zu dem Ergebnis, dass die altfranzösischen "Satztypen<br />
den neufranzösischen an Einförmigkeit eher voran- als nachstehen" (Thurneysen<br />
1892:289). Diese Diskrepanz seiner Ergebnisse zu denen der anderen Studien führt Thurneysen<br />
nicht auf Unterschiede der untersuchten Texte oder der Auszählungsmethoden zurück,<br />
sondern vielmehr darauf, dass der Schwerpunkt der meisten Untersuchungen darin<br />
besteht, die Stellung des finiten Verbs in Bezug auf andere Satzglieder zu betrachten, ohne<br />
dabei aber "auf den Platz, den es im Satze überhaupt einnimmt" zu achten (Thurneysen<br />
1892:289). 12 Betrachtet man nämlich die Stellung des finiten Verbs im Satz, so kann nach<br />
Ansicht von Thurneysen von einer Stellungsfreiheit oder gar Regellosigkeit keine Rede<br />
sein. Vielmehr konstatiert Thurneysen (1892:289) als Ergebnis seiner Studie, dass "im Prosatexte<br />
von ,Aucassin und Nicolete‘ [...] die Stellung des Verbum finitum sozusagen völlig<br />
fest ist und einheitlichen Prinzipien folgt".<br />
Damit gebührt Thurneysen zweifelsohne "[d]as Verdienst, die feste Stellung des Verbums<br />
und infolgedessen seine Wichtigkeit für den Gesamtbau des Satzes erkannt zu haben"<br />
(Meyer-Lübke 1899:798). Thurneysens Studie muss als die Pionierarbeit zur Stellung des<br />
finiten Verbs in den frühromanischen Sprachen angesehen werden. Für eine Untersuchung,<br />
wie die hier vorgelegte, die die Stellung des finiten Verbs innerhalb des Satzgefüges zum<br />
Thema hat, ist sie von immenser Wichtigkeit. Auch in anderer Hinsicht hebt sich Thurneysens<br />
Studie von den meisten anderen ab. Sie ist nämlich eine der wenigen traditionellen<br />
Wortstellungsuntersuchungen, die nicht lediglich umfangreiche Beispiellisten zur Illustration<br />
verschiedener Wortstellungsmuster enthält. Vielmehr werden an Hand eines kurzen<br />
Textausschnittes die Wortstellungsverhältnisse exemplarisch dargestellt und die Beispiele<br />
in – lediglich drei – klar definierte Klassen unterteilt. Die Beispiele dienen nicht zur Illustration<br />
der angeblichen Vielseitigkeit des Altfranzösischen, sondern dazu, eine eingangs<br />
explizit formulierte These zu belegen. Damit unterscheidet sich Thurneysens Argumentationsweise<br />
sehr stark von derjenigen der meisten anderen bisher besprochenen Arbeiten.<br />
Dieser radikale Unterschied in der Forschungs- und Argumentationsweise dürfte auch<br />
ein Grund dafür sein, dass sich die Hoffnung von Thurneysen (1892:289), dass seine –<br />
durch Wackernagels Aufsatz von 1892 angeregte – Studie "dem einen oder dem anderen<br />
bei weiteren Forschungen dienen möge", offenbar nur in sehr begrenztem Maße erfüllt hat.<br />
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie etwa Meyer-Lübke (1899), Richter (1903), bleibt<br />
seine Arbeit in den nachfolgenden Wortstellungsuntersuchungen weitgehend unberücksichtigt.<br />
13<br />
12 Weitere Gründe für die Unterschiede sieht Thurneysen (1892:289) darin, dass viele Studien auf<br />
poetischen Texten basieren oder Haupt- und Nebensätze getrennt behandeln und dadurch "so eng<br />
zusammengehörendes" auseinanderreißen.<br />
13 Zu den wenigen, die Thurneysens Arbeit würdigend erwähnen, gehört auch Wartburg (1946).<br />
Obwohl er, wie bereits gesehen, von einer großen Freiheit der altfranzösischen Wortstellung<br />
75
76<br />
Eine eingehende Auseinandersetzung erfährt Thurneysens Untersuchung erst in den 50er<br />
Jahren durch Herman (1954). Hermans Studie ist nach der von Thurneysen (1892) zweifellos<br />
die wichtigste und beste traditionelle Arbeit zur Stellung des finiten Verbs im Altfranzösischen<br />
(cf. Vanelli / Renzi / Benincà 1985:168). In einer detaillierten Analyse der<br />
frühesten Prosatexte des Französischen – u.a. auch der im Rahmen der vorliegenden Arbeit<br />
untersuchten Quatre livre des Reis (= qlr) – beobachtet Herman (1954:259) in ähnlicher<br />
Weise wie Thurneysen seit dem frühesten Altfranzösischen "une tendance à faire du verbe<br />
le deuxième membre de la proposition". Herman (1954:269) sieht im finiten Verb des Altfranzösischen<br />
eine Art Bindeglied zwischen einer beliebigen satzinitialen, betonten Konstituente<br />
und dem übrigen Teil des Satzes:<br />
Quoiqu'il en soit, le verbe se plaçait d'habitude, dès les débuts de l'ancien français, en seconde<br />
place dans la proposition, dans ce sens qu'il suivait le premier terme syntaxique, la première unité<br />
«fonctionnelle» (sujet, complément, attribut), même si cette unité était composée de plusieurs mots<br />
ou de plusieurs groupes rythmiques. Quelles que fussent les origines de cette tendance, il en est<br />
résulté qu'au verbe échut le rôle d'indiquer la relation entre un terme initial et un ou plusieurs<br />
autres termes, ce terme initial étant un terme placé sous un accent de phrase.<br />
Ce qu'on appelle l'inversion du sujet n'était qu'une conséquence secondaire de cet état de<br />
choses: dès que le premier terme était autre chose que le sujet, force était de placer le sujet après le<br />
verbe, puisque ce dernier devait se joindre au terme initial.<br />
Herman räumt allerdings ein, dass diese Regel der Verb-Zweit-Stellung nicht ausnahmslos<br />
eingehalten wird. Bei seiner Auswertung der von ihm untersuchten Abschnitte der Quatre<br />
Livre des Reis konstatiert Herman (1954:269) zwei Gruppen von Abweichungen. Die eine<br />
Gruppe bilden Sätze, in denen das finite Verb – meist unmittelbar hinter der Konjunktion é<br />
– in der Erstposition steht. Den Beobachtungen von Herman (1954:277) zufolge kommt es<br />
zu dieser Stellung, wenn das Verb entweder hervorgehoben wird – wie etwa in Imperativsätzen<br />
– oder einen "terme de rappel" bildet, was nach Herman vor allem für respundre<br />
zutrifft, oder – wie im Fall der "proposition complémentaire" – unmittelbar an den vorangehenden<br />
Satz anknüpft. Die zweite Gruppe der Ausnahmen bilden Verb-Dritt-Sätze, d.h.<br />
Sätze, in denen dem finiten Verb "deux termes accentués" (Herman 1954:269) vorausgehen.<br />
Herman (1956:271) führt "une bonne partie de ces cas" darauf zurück, dass sie in gereimten<br />
Textstellen auftreten. In diesen Fällen steht das finite Verb meist am Ende eines<br />
Satzes oder Satzteils und bildet einen Reim mit einer oder mehreren anderen Verbformen.<br />
Diejenigen Verb-Dritt-Sätze, die nicht in Reimversen auftreten, versucht Herman<br />
(1954:269f.) als Ausnahmen zur oben genannten Regel zu erfassen. Unter Berufung auf<br />
Haarhoff (1936) nimmt er an, dass in einem Teil dieser Sätze die satzinitialen Konstituenten<br />
"schwere Einleitungen" bilden, die durch eine Pause vom übrigen Satz getrennt sind:<br />
spricht, betont er gleichzeitg unter Berufung auf Thurneysen (1892), dass das Altfranzösische in<br />
der Prosa diese "liberté presque illimitée que lui offre sa déclinaison" nicht "missbraucht", sondern<br />
vielmehr einer strengen Gesetzmäßigkeit folgt (Wartburg 1946:103):<br />
"La prose, c'est-à-dire la langue de tous les jours, obéit à cette loi: on réserve au verbe la deuxième<br />
place dans la phrase. Ex. je ne quit mie (svr), les deniers prendrons nos (rvs), biaus estoit et gens<br />
(préd. v. préd), or dient (circonstanciel verbe) [...]. Il en résulte une position exceptionnelle du<br />
verbe. Les autres éléments sont comme ses vassaux. La notion verbale domine la phrase, elle en<br />
est le point fixe, le pivot, et les autres éléments tournent autour d'elle."
(28) afr. (a) Én cel tens Ahiel de Bethel edefiad é relevad Jericó<br />
in dieser Zeit Hiël aus Bet-El baute und wieder-errichtete Jericho<br />
(qlr 155: 1 Kön 16,34) (Herman 1954:269)<br />
(b) Pur çó li reis Asa prist tut l' or é l' argent<br />
für das der König Asa nahm all das Gold und das Silber<br />
(qlr 152: 1 Kön 15,18) (Herman 1954:269)<br />
Einen anderen Teil der Gruppe der Verb-Dritt-Sätze, die nicht durch Reimzwänge erklärt<br />
werden können, illustriert Herman (1954:270) mit folgendem Beispiel:<br />
(29) afr. É li prohetes Helyes par la force é la volented nostre Seignur curút<br />
und der Prophet Elija durch die Kraft und den Willen unseres Herrn lief<br />
devant lu réi jesque il vínt en Jezraél<br />
vor dem König bis er kam nach Jesreel<br />
(qlr 160: 1 Kön 18,46) (Herman 1954:270)<br />
Hier vermutet Herman (1954:270f.), dass die Wortstellung vom lateinischen Original beeinflusst<br />
sein könnte:<br />
Nous estimons qu'on peut voir dans ces exemples des vestiges du type SCV très courant en latin,<br />
vestiges soutenus par des facteurs d'emphase, par les intentions stylistiques de l'auteur (et ça et là,<br />
par une influence directe de l'original); dans l'exemple que nous venons de citer, la position du<br />
complément entre le sujet et le verbe donne à la proposition une allure solennelle, pathétique.<br />
Mit anderen Worten, nach Ansicht von Herman (1954) bilden die von ihm gefundenen<br />
Verb-Erst- und Verb-Dritt-Sätze lediglich Ausnahmen zu einer allgemein gültigen Regel<br />
des Altfranzösischen, wonach das finite Verb stets in der zweiten Position erscheint.<br />
Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Roberts (1993), der eine der wenigen generativen<br />
Arbeiten vorlegt, in der versucht wird, die These der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft des<br />
Altfranzösischen durch eine statistische Analyse zu untermauern. Hierfür wertet er in sechs<br />
altfranzösischen Werken die ersten 100 Matrixsätze aus, die ein lexikalisches Subjekt enthalten.<br />
Er gelangt dabei zu folgenden Prozentzahlen für die Stellung des finiten Verbs:<br />
Text V1 V2 V>2<br />
(= V3 oder mehr)<br />
Subj V Kompl V PE V Adv V<br />
La Chanson de Roland 5% 31% 15% 5% 40% 4%<br />
Le Charroi de Nîmes 13% 23% 12% 4% 48% 0%<br />
Tristan 3% 30% 7% 2% 55% 3%<br />
Perceval 2% 41% 11% 2% 28% 16%<br />
Aucassin et Nicolete 2% 50% 6% 4% 32% 6%<br />
Merlin 0% 28% 3% 0% 65% 4%<br />
Tabelle (2): Prozentualer Anteil der Verbstellungsmuster der ersten 100 Matrixsätze mit realisiertem<br />
Subjekt (nach Roberts 1993:95)<br />
Für Roberts (1993:95) bestätigen diese Auszählungsergebnisse die strenge Gültigkeit der<br />
Verb-Zweit-Stellungsregel im Altfranzösischen, die vor allem an den "generally low proportions<br />
of V1 and especially V > 2 sentences [...]" deutlich wird. Hier muss allerdings<br />
gefragt werden, inwiefern es gerechtfertigt ist, bei einem 13%igen Anteil an V1-Konstruktionen<br />
im Charroi de Nîmes und einem 16%igen Anteil von V>2-Konstruktionen im<br />
Perceval-Roman von "low proportions" zu sprechen. An einer späteren Stelle räumt<br />
77
78<br />
Roberts (1993:144) zwar ein, dass Perceval eine "larger proportion of V > 2 orders" als die<br />
anderen von ihm untersuchten Werke aufweist, dennoch ist er davon überzeugt, dass "the<br />
optimal assumption" für das Altfranzösische die ist, dass es eine Verb-Zweit-Grammatik<br />
besaß, "in the sense that C 0 bore the feature [Agr]". Abgesehen davon, dass diese Schlussfolgerung,<br />
wie weiter unten versucht wird zu zeigen, in theoretischer Hinsicht in Frage<br />
gestellt werden muss, erweist sie sich auch als empirisch nicht adäquat. Für Roberts scheinen<br />
nämlich die von ihm gefundenen Sätze mit einer V>2-Stellung keine Belege zu sein,<br />
die gegen eine Verb-Zweit-Analyse sprechen, sondern vielmehr Evidenz für eine solche<br />
Analyse zu liefern. Dies wird deutlich aus der folgenden Interpretation, die Roberts seinen<br />
Daten zukommen lässt:<br />
These data show that the subject had to be analysed as Case-marked under government in 69% of<br />
sentences in Roland, 77% of those in Le Charroi de Nîmes, 70% of those in Tristan, 59% of those<br />
in Perceval, 48% of those in Aucassin et Nicolette, and 72% of those in Merlin. (Roberts 1993:95).<br />
Entsprechend dieser Prozentangaben rechnet Roberts also nicht nur Verb-Erst- und XVS-<br />
Sätze, sondern auch alle V>2-Sätze zu denjenigen Sätzen, in denen das Subjekt in postverbaler<br />
Position auftritt und das Verb – entsprechend der von ihm angenommenen Theorie<br />
der Kasuszuweisung (cf. Roberts 1993:85f.) – nach COMP angehoben wird. Dass diese<br />
Analyse von V>2-Konstruktionen jedoch nicht adäquat sein kann, zeigt ein Blick in die von<br />
Roberts ausgewerteten Daten. Bemerkenswerterweise ist bereits der erste Satz des Rolandliedes<br />
ein klarer Gegenbeleg. Hierbei handelt es sich um einen Verb-Dritt-Satz, in dem das<br />
Subjekt dem finiten Verb vorausgeht. Auch in den anderen von Roberts untersuchten Textausschnitten,<br />
wie z.B. in Aucassin et Nicolete, finden sich zahlreiche ähnliche Belege für<br />
das präverbale Auftreten des Subjekts in Verb-Dritt-Sätzen:<br />
(30) afr. (a) Charles li reis, nostre empere magnes,<br />
Charles der König unser Kaiser großer<br />
Set anz tuz pleins ad ested en Espaigne<br />
sieben Jahre ganz volle hat gewesen in Spanien<br />
(rol 1)<br />
(b) Et se tu fenme vix avoir, je te donrai le file a un<br />
und wenn du Frau willst haben ich dir geben-werde die Tochter von einem<br />
roi<br />
König<br />
(auc 2,35-36)<br />
Das Beispiel aus Aucassin et Nicolete illustriert gleichzeitig die bereits erwähnte Besonderheit<br />
des Altfranzösischen, dass nach satzeinleitenden Nebensätzen i.d.R. keine Subjekt-<br />
Verb-Inversion auftritt. In Roberts Analyse bleibt dieser Tatbestand offenbar vollkommen<br />
unberücksichtigt, weil in seiner Auswertung die Daten diesbezüglich nicht ausreichend<br />
differenziert werden.<br />
Auf Grund dieser Unzulänglichkeiten bei der Auswertung der Daten ist es kaum verwunderlich,<br />
dass eine Überprüfung der von Roberts analysierten Daten zu ganz anderen Ergebnissen<br />
führt. So kommt eine von mir durchgeführte Analyse der ersten 100 Matrixsätzen<br />
mit realisiertem Subjekt im Rolandslied zu folgenden Prozentzahlen:
Text V1 V2 V>2<br />
SV(X) XVS<br />
rol 11% 54% 20% 15%<br />
Tabelle (3): Prozentualer Anteil der Verbstellungsmuster der ersten 100 Matrixsätze mit realisiertem<br />
Subjekt (nach Kaiser 2000:16f.)<br />
Diese von der Roberts'schen Auszählung teilweise sehr stark divergierenden Ergebnisse<br />
lassen sich meiner Ansicht nach nur dadurch erklären, dass Roberts entsprechend der von<br />
ihm gegebenen Interpretation der Daten offenbar nur solche Fälle als V>2 Sätze rechnet, in<br />
denen das Subjekt dem Verb (unmittelbar) folgt. Solche Sätze wie in (30), in denen das<br />
Subjekt – zusammen mit einer oder mehreren weiteren Konstituenten – dem Verb voransteht,<br />
werden offensichtlich nicht berücksichtigt.<br />
Ein weiteres empirisches Manko der Analyse von Roberts besteht darin, dass keine Unterscheidung<br />
zwischen Prosa- und Nicht-Prosa-Texten vorgenommen wird. Wie bereits<br />
erwähnt, entspricht dies der üblichen Praxis vieler – insbesondere generativer – Untersuchungen<br />
des syntaktischen Wandels. Auffallend ist, dass Roberts offensichtlich auch bei<br />
der Analyse von Aucassin et Nicolete nicht zwischen den prosaischen und lyrischen Kapiteln<br />
unterscheidet. Dies ist vor allem deshalb zu kritisieren, weil – wie bereits Thurneysen<br />
(1892:296) in seiner Untersuchung dieses Textes überzeugend nachweist – gerade der<br />
Vorteil in der Analyse dieser Chantefable darin besteht, dass sich dabei "die seltene Gelegenheit<br />
[bietet] zu konstatieren, wie sich die poetische Sprache eines mittelalterlichen<br />
Dichters zu den herrschenden Sprachgewohnheiten verhielt". Thurneysens Beobachtungen<br />
zufolge zeigt sich deutlich, dass in den poetischen Abschnitten des Textes "sämtliche<br />
Hauptregeln der Verbalstellung ohne Scheu bei Seite geworfen werden" (Thurneysen<br />
1892:296). Folglich ist eine Analyse, die diese Abschnitte nicht gesondert betrachtet, weder<br />
in der Lage, diesen Tatbestand überhaupt zu erkennen, noch geeignet, die "herrschenden<br />
Sprachgewohnheiten" herauszuarbeiten.<br />
Es sollte also klar geworden sein, dass eine empirische Datenanalyse, wie sie von Roberts<br />
(1993) vorgelegt und wie sie in vielen anderen generativen Untersuchungen in ähnlicher<br />
Weise vorgenommen wird, nicht geeignet sein kann, eine adäquate Antwort auf die<br />
Frage nach der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft des Altfranzösischen sowie anderer altromanischer<br />
Sprachen zu finden. Bevor eine solche Analyse vorgelegt wird, die diesen Anforderungen<br />
gerecht zu werden versucht, sollen im Folgenden zunächst die hier vorgestellten<br />
Untersuchungen dahingegehend betrachtet werden, wie der Wandel der Verbstellung im<br />
Französischen zu erklären versucht wird.<br />
3.3.3 Traditionelle Erklärungsansätze<br />
Die bisherige Darstellung der traditionellen Wortstellungsanalysen hat gezeigt, dass die Untersuchungen<br />
des 19. Jhdts. und des frühen 20. Jhdts. zur Wortstellung im Französischen<br />
primär deskriptiv ausgerichtet sind. Erst in den Arbeiten aus den 30er und 40er Jahren werden<br />
verstärkt mögliche Gründe der Entstehung und der Entwicklung der französischen<br />
Wortstellung und insbesondere der Subjekt-Verb-Inversion erörtert. Viele der dabei vorgeschlagenen<br />
Erklärungsansätze sind eingebettet in den theoretischen Rahmen des – an Wilhelm<br />
von Humboldt anknüpfenden – Idealismus von Karl Voßler oder der Völkerpsycholo-<br />
79
80<br />
gie von Wilhelm Wundt. Die früheren Analysen und Erklärungsversuche orientieren sich<br />
größtenteils an den Prinzipien und theoretischen Grundannahmen der vor allem die<br />
<strong>Sprachwissenschaft</strong> des 19. Jhdts. dominierenden positivistischen Schule der Jungrammatiker,<br />
deren wichtigster romanistischer Vertreter Wilhelm Meyer-Lübke war.<br />
Beide Schulen gehen von einer grundsätzlich verschiedenen Konzeption von <strong>Sprachwissenschaft</strong><br />
aus, die daher resultiert, dass der Untersuchungsgegenstand, die menschliche<br />
Sprache, vollkommen unterschiedlich aufgefasst wird. In klarer Abgrenzung zu den Junggrammatikern<br />
wird in den idealistischen und psychologischen Theorieansätzen Sprache<br />
nicht als ein "durch ausnahmelose Naturgesetze starr gebundenes System" angesehen, sondern<br />
als etwas, das "in das Gebiet freier, vom Willen sprachbildender Individuen abhängiger<br />
Schöpfung gehört" (Haarhoff 1936:5). Sprachliche Strukturen werden nach dieser Auffassung<br />
als Spiegelbild der 'Psyche' oder psychischen Verfassung des Menschen, d.h. des<br />
Sprechers, angesehen. Es wird behauptet, dass sie den 'Geist' und die 'Begabung' des Volkes<br />
des jeweiligen Sprechers erkennen lassen und ihre "mannigfachen Veränderungen [...]<br />
dem Wandel in Geistesart und Denkweise der Völker unterworfen" sind (Haarhoff<br />
1936:5). 14 Es ist heute – zu Recht – vollkommen undenkbar, diese Begriffe vorbehaltlos zu<br />
gebrauchen, geschweige denn sie in einer wissenschaftlichen Argumentation zu übernehmen.<br />
Da die Völkerpsychologie und der Idealismus aber vor allem in der ersten Hälfte des<br />
20. Jhdts. die Wortstellungsdebatte in der deutschen Romanistik sehr stark prägten, sollen<br />
die Erklärungsversuche im Rahmen dieser Theorien hier kurz vorgestellt werden. 15<br />
Die bei weitem umfassendste Darstellung dieser und anderer Erklärungsansätze der<br />
Wortstellung im Französischen gibt Lerch (1934) im dritten Band seiner umfangreichen<br />
'Historischen französischen Syntax'. Er referiert hierbei neben seinen eigenen Arbeiten<br />
(Lerch 1922) vor allem die Untersuchungen von Richter (1903, 1920), Blinkenberg (1928)<br />
und Kuttner (1929). 16 Die diesen Arbeiten gemeinsame Grundannahme ist die, dass die<br />
Wortstellung innerhalb eines Satzes (in einer gegebenen Sprache) durch verschiedene Faktoren<br />
bestimmt wird, die nebeneinander und teilweise auch gegeneinander wirken (Lerch<br />
1934:249). Der Sprecher hat demnach bei der Äußerung eines Satzes prinzipiell die Möglichkeit,<br />
sich zwischen diesen Faktoren zu entscheiden, was entsprechende Auswirkungen<br />
14 Diese enge Verknüpfung zwischen 'Sprache' und 'Volk' wird außerdem noch qualitativ bewertet,<br />
wie das Zitat aus Voßlers "umwälzender Kampfschrift" (Siepmann 1937:2) gegen die "Afterwissenschaft<br />
des radikalen Positivismus" (Voßler 1904:4) belegt:<br />
"Die Erfahrung lehrt [...]: je begabter und je zivilisierter ein Volk, desto vollkommener seine Sprache,<br />
desto klarer und sicherer seine Grammatik, desto schärfer und feiner nuanciert sein Lexikon.<br />
Zweifellos!" (Voßler 1904:90)<br />
15 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass diese Ansätze keineswegs nur von (späteren) Anhängern<br />
oder Mitläufern der nationalsozialistischen Ideologie vertreten wurden, sondern auch von<br />
solchen, die von den Nationalsozialisten verfolgt oder sogar umgebracht wurden (z.B. Victor<br />
Klemperer, Max Kuttner oder Elise Richter). Erschreckend ist freilich, dass es für manche erst der<br />
Katastrophe bedurfte, um zu merken, wie unsinnig (und gefährlich) die "Wisssenschaft" war, die<br />
sie vertraten:<br />
"Ich glaube nicht mehr an die Völkerpsychologie. Alles, was ich für undeutsch gehalten habe,<br />
Brutalität, Ungerechtigkeit, Heuchelei, Massensuggestion bis zur Besoffenheit, alles das floriert<br />
hier." (Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941. Hrsg.<br />
v. W. Nowojski, Berlin: Aufbau-Verlag 1995, S.18, Tagebucheintrag vom 3.4.1933).<br />
16 Einen sehr guten Überblick über diese Wortstellungsdiskussion liefert auch Kellenberger (1932).
auf die Wortstellung im Satz hat. Insofern ist die Wortstellung "frei" (Lerch 1934:249). Es<br />
wird allerdings angenommen, dass bestimmte Faktoren im Laufe der geschichtlichen Entwicklung<br />
einer Sprache eine dermaßen dominierende Bedeutung erfahren, dass diese Entscheidungsfreiheit<br />
des Sprechers immer stärker eingeschränkt wird. Für das Neufranzösische<br />
wird im Allgemeinen postuliert, dass die 'logisch-grammatischen' Faktoren diese dominierende<br />
Funktion übernommen haben, während im Altfranzösischen die 'psychologischen'<br />
und 'rhythmischen' Faktoren im Vordergrund gestanden haben. Abgesehen von diesen<br />
Faktoren ist noch eine Vielzahl anderer Faktoren, und damit unterschiedlicher Wortstellungstypen,<br />
vorgeschlagen worden. Die Unterscheidung zwischen diesen Faktoren ist jedoch<br />
sehr subtil und häufig letztendlich nur terminologischer Natur. Daher sollen hier lediglich<br />
die drei als zentral angesehenen Faktoren, d.h. die psychologischen, rhythmischen<br />
und logisch-grammatischen Faktoren, eingehender dargestellt werden. Darüber hinaus müssen<br />
die morphosyntaktischen Faktoren betrachtet werden.<br />
3.3.3.1 Psychologische Faktoren<br />
Hinsichtlich der psychologischen Faktoren wird danach unterschieden, ob die Anordnung<br />
der Satzglieder am "Sprechbedürfnis" des Sprechers orientiert ist oder nicht (Richter<br />
1920:11). Ist ersteres der Fall, wird von einer 'impulsiven' Wortstellung gesprochen. Sie ist<br />
dadurch gekennzeichnet, dass der Sprecher die eigentliche Mitteilung, also das Wichtigste<br />
und Neue 17 , an den Satzanfang stellt. Diese Art der Wortstellung wird als "rücksichtslose"<br />
oder "persönliche" angesehen (Richter 1920:17), weil der Sprecher, das, was "ihn am stärksten<br />
beherrscht und bedrängt [...], zuerst herausschleuder[t], gleichsam mit der Tür ins Haus<br />
[fällt]" (Lerch 1934:252). Ein weniger impulsiver Sprecher hingegen verhält sich dem Hörer<br />
gegenüber "rücksichtsvoll", sogar auch dann, wenn er im Affekt spricht. Er denkt in<br />
erster Linie an den Hörer, indem er an das im Gespräch Vorhergehende anknüpft und das<br />
dem Hörer bereits Bekannte zuerst nennt, bevor er ihm das Neue, das "sachlich Wichtigste"<br />
mitteilt (Richter 1920:18).<br />
Ausgehend von dieser Definition weisen nach Lerch (1934:253ff.) das Lateinische und<br />
das (frühe) Altfranzösische eine stärkere impulsive Wortstellung auf als das moderne Französisch.<br />
Im Altfranzösischen wird dies seiner Ansicht nach deutlich an der noch häufig<br />
anzutreffenden Genitiv- und Dativvoranstellung und vor allem an der Objekt-Verb-Stellung.<br />
Auch die in den ältesten altfranzösischen Dichtungen noch vorhandene Verb-Endstellung<br />
sei als die implusive und volkstümliche anzusehen. Evidenz hierfür sieht Lerch<br />
(1934:262) darin, dass in der Kindersprache die Verb-Endstellung "das Übliche (z.B. Papa<br />
Hund haut)" ist und daher "der Denk- und Sprechweise des schlichten Mannes" eher entspricht.<br />
18<br />
17 Dies entspricht weitgehend dem, was in der funktionalen Grammatik 'Rhema' genannt wird. In der<br />
traditionellen <strong>Sprachwissenschaft</strong> werden hierfür sehr verschiedene, mehr oder weniger umstrittene<br />
Termini gebraucht. Paul (1920:124f.) beispielsweise spricht – in Anlehnung an von der Gabelentz<br />
(1869) – von 'psychologischem Subjekt' und Lerch (1934:253) vom 'Start' bzw. 'Ausgangspunkt<br />
der Mitteilung' (cf. auch Kuttner 1929:5).<br />
18 Lerch übersieht hier allerdings völlig, dass die Verbendstellung ein typisches Kennzeichen der<br />
deutschen Kindersprache ist, nicht aber der französischen oder der anderer romanischer Sprachen.<br />
81
82<br />
Auch für einige Änderungen in der Wortstellung im Übergang vom Alt- zum Neufranzösischen<br />
macht Lerch psychologische Gründe verantwortlich. Eine diese Änderungen besteht<br />
nach Ansicht von Lerch (1934:263) darin, dass sich die "Zwischenstellung des Verbums<br />
(die romanische, auf den Hörer eingestellte Wortfolge)" im Altfranzösischen allmählich<br />
durchsetzte, d.h. "volkstümlich" wurde. Er führt dies auf die Zunahme christlicher<br />
Literatur zurück, in der, wie er behauptet, die impulsive Stellung seltener ist als in nicht<br />
christlichen Texten. 19 Lerch (1934:264) vermutet, dass "die Änderung der Wortstellung [...]<br />
mit der Lehre des Christentums zusammen[hängt], deren Imperativ lautete: 'Liebe deinen<br />
Nächsten wie die selbst', und die die Überwindung der egoistischen Triebe, der unbesonnenen<br />
Impulsivität verlangte". Die Folge ist zwar keine völlige Aufgabe, jedoch eine starke<br />
Einschränkung der impulsiven Voranstellung von Satzgliedern, insbesondere von Objekten,<br />
im Neufranzösischen.<br />
3.3.3.2 Rhythmische Faktoren<br />
Neben den psychologischen werden vor allem rhythmische Faktoren für die Wortstellungsveränderungen<br />
bei der Entwicklung des Französischen aus dem Lateinischen verantwortlich<br />
gemacht. Richter (1920:24) geht davon aus, dass im Neufranzösischen der "gewohnheitsmäßige<br />
Rhythmus" steigend ist, während er im Altlateinischen hingegen fallend war. Dies<br />
hat nach Richter (1920:24) zur Konsequenz, dass im Neufranzösischen "die gewohnheitsmäßige<br />
Stellung der Wörter innerhalb der Vorstellungsglieder so [ist], daß das Bestimmende<br />
nach dem Bestimmten" geäußert wird, während im Altlateinischen das "Bestimmende<br />
vor dem Bestimmten" steht:<br />
(31) (a) fr.: fille adorable (b) alt.: pulcra puella<br />
l'amour du père patris amor<br />
j'aime beaucoup valde amo<br />
Richter (1920:34) zufolge spiegelt der unterschiedliche Rhythmus den "Denkvorgang der<br />
Volksseele" wider. Bei Sprachen mit fallendem Rhythmus "erscheint nicht nur die Hauptvorstellung<br />
zuerst im Bewußtsein und wird also nicht nur in rücksichtloser Rede an den<br />
Anfang gesetzt, sondern es erweist sich als Denkgepflogenheit überhaupt, vom Besonderen<br />
zum Allgemeinen fortzuschreiten" (Richter 1920:34f.). Dies ist nach Ansicht Richters nicht<br />
nur ein Kennzeichen ältester und älterer Sprachzustände. Zu einem Wandel dieser Zustände<br />
kommt es dadurch, dass "der Einzelne überhaupt daran geht, rücksichtsvolle Reden zu<br />
bilden" (Richter 1920:36). Dabei passt der Sprecher nach Ansicht von Richter (1920:36)<br />
seine Rede zunächst der ursprünglichen Rhythmuslinie an, d.h. "er bildet also auch die<br />
rücksichtsvolle Rede mit der Hauptvorstellung voran". Dies führt jedoch zu einer einheitli-<br />
19 Lerch (1934:263) beruft sich hier auf die Angaben von Völcker (1882:30), wonach in der "spezifisch-geistlichen<br />
Dichtung" des Alexius-Liedes 34% – meiner Nachrechnung zufolge 33% – aller<br />
Beispiele mit nominalem Objekt die "impulsive" OV-Stellung aufweisen. Die anderen, nicht "spezifisch-geistlichen"<br />
Texte des Altfranzösischen, wie die frühesten altfranzösischen Denkmäler<br />
oder das zeitlich spätere Rolandslied, weisen hingegen eine höhere Frequenz der OV-Stellung auf<br />
(cf. auch Meyer-Lübke 1899:799).
chen Rhythmuslinie "sowohl für die gefühlsmäßige als für die berichtende Rede" (Richter<br />
1920:36). Die Folge ist die, dass dem ursprünglich fallenden Rhythmus nun die "psychologisch<br />
steigende Anordnung" entgegengestellt wird (Richter 1920:37). Damit ist offenbar<br />
gemeint, dass aus dem "Bedürfnis nach gefühlserregender Heraushebung" es zur<br />
"Anwendung neuer Stellungen" kommt, die wiederum "neue Rhythmuslinien" hervorbringen<br />
(Richter 1920:37). Unklar ist, inwiefern diese Schlussfolgerung die tatsächliche Ansicht<br />
Richters wiedergibt. Ihre Ausführungen sind derart unpräzise und teilweise auch widersprüchlich,<br />
dass es kaum möglich ist, die Grundaussagen klar herauszuarbeiten. Auch<br />
Lerch weist auf einige Widersprüche in Richters Aussagen hin. Für ihn stellt sich die Frage,<br />
wie es überhaupt zur Bildung eines steigenden Rhythmus kommen konnte, "da doch nach<br />
ihrer Meinung der fallende Rhythmus schon fest eingeprägt ist, bevor der Einzelne überhaupt<br />
beginnt, rücksichtsvolle Reden zu bilden" (Lerch 1934:282). Nach Ansicht von<br />
Lerch (1934:282) kann es hier eine 'rücksichtsvolle' Rede, die mit der Hauptvorstellung<br />
beginnt, gar nicht geben, denn dann wäre sie "eben keine rücksichtsvolle Rede mehr, sondern<br />
impulsive".<br />
Aber auch Lerchs Analyse ist nicht frei von Widersprüchen. In der Diskussion der Analyse<br />
Richters kritisiert er heftig deren Annahme, dass bereits das Altfranzösische einen "fast<br />
ganz steigenden Rhythmus" aufwies (Richter 1920:34). Dagegen führt Lerch (1934:283)<br />
eine Reihe von Belegen aus dem Altfranzösischen mit fallendem Rhythmus an und betont,<br />
dass "im Altfranzösischen [...] die fallenden Stellungen zahlreicher als im Neufranzösischen<br />
und im neuesten Französisch" sind. Gleichzeitig betont er jedoch, dass "im Französischen<br />
von Anfang an der steigende" Rhythmus vorherrschte (Lerch 1934:286). Evidenz<br />
für diese Annahme sieht er darin, dass die 'druckschwachen' Objektspronomina bereits im<br />
Altfranzösischen normalerweise unmittelbar vor dem finiten Verb standen (Le père<br />
m'aime), im Lateinischen hingegen meist dahinter am Satzende (Pater amat me). Lerch<br />
wendet sich in diesem Zusammenhang gegen die so genannte 'Enklisentheorie', die besagt,<br />
dass in den frühromanischen Sprachen die schwachtonigen Elemente regelmäßig die zweite<br />
Position im Satz einnehmen und enklitisch an das vorstehende Element gebunden sind<br />
(Meyer-Lübke 1897, Melander 1936). Damit wird versucht, der von Tobler (1912:400) und<br />
Mussafia (1896) konstatierten Tatsache gerecht zu werden, dass in allen frühromanischen<br />
Sprachen unbetonte Elemente nicht an der Spitze des Satzes stehen können ('Tobler-<br />
Mussafia-Gesetz'). Der Analyse von Meyer-Lübke (1897) zufolge kommt es im Altfranzösischen<br />
erst allmählich ab dem 13. Jhdt. zur Aufgabe dieser Beschränkung. Dies wurde<br />
seiner Ansicht nach zum einen "dadurch ermöglicht [...], daß auf verschiedene Weise schon<br />
andere Wörter, die Präpositionen, die Subjektspronomina, der Artikel u.a., proklitisch geworden<br />
waren" und zum anderen dadurch, dass "der Satzrhythmus bis auf einen gewissen<br />
Grad crescendo, nicht mehr decrescendo oder nicht mehr trochäisch-daktylisch, sondern<br />
jambisch-anapästisch war" (Meyer-Lübke 1897:334). Lerch hingegen kann im Rahmen<br />
seiner Analyse, in der er nicht von einem solchen Rhythmuswandel ausgeht, die Klitika-<br />
Stellung im Altfranzösischen nur durch eine ad hoc-Annahme erklären. Er nimmt an, dass<br />
man es im Altfranzösischen "[o]ffenbar liebte [...], den Satz mit einem druckstarken Wort<br />
zu eröffnen", obwohl "der Vers als Ganzes schon im Altfranzösischen steigenden Rhythmus"<br />
hat (Lerch 1934:299).<br />
Thurneysen (1892) knüpft ebenfalls an die Enklisentheorie an, um die seiner Ansicht<br />
nach feste Verbstellung des Altfranzösischen zu begründen. Seine These lautet, dass das<br />
von Wackernagel (1892:428) beobachtete enklitische Stellungsverhalten der schwachtoni-<br />
83
84<br />
gen lateinischen Kopula auch für die Kopula des Altfranzösischen Gültigkeit hatte (cf. auch<br />
Meyer-Lübke 1899:773) und allmählich auch auf Verben mit stärkerer Betonung übertragen<br />
worden ist:<br />
Im Altfranzösischen steht das Verbum finitum unmittelbar hinter dem ersten Satzgliede, wenn dieses<br />
vollbetont ist (oder in einer älteren Sprachperiode vollen Ton tragen konnte); sonst reiht es sich<br />
dem nächsten volltonigen Satzgliede an. (Thurneysen 1892:300)<br />
Evidenz für diese Annahme der ursprünglichen enklitischen Bindung der finiten Verben<br />
sieht Thurneysen (1892:303) in der heutigen engen Bindung zwischen finitem Verb und<br />
klitischen (Objekts-)Pronomina. Dadurch nämlich, dass Objektsklitikon und Verb diesselbe<br />
Stelle anstrebten, konnten seiner Ansicht nach "die zufällig neben einander gerathenen<br />
Pronomina und Verba so eng mit einander verwachsen [...], daß, so oft das Verbum diesen<br />
seinen Platz verläßt, es das Pronomen an andere Satzstellen mit sich fortreißt". Meyer-<br />
Lübke (1899:798) hält diesen Hinweis auf die unbetonten Objektspronomina jedoch nicht<br />
für überzeugend, "denn bei ihnen hält das Romanische nur fest, was schon lateinischer<br />
Brauch war, macht sich sogar allmählich davon frei, wogegen die Stellung des Verbums<br />
eine Neuerung ist". Thurneysen (1892:305) räumt ein, dass die von ihm formulierte Regel,<br />
"im Altfranzösischen stelle sich das Verbum hinter den ersten betonten Satzteil, nicht genau<br />
ist, auch in keiner Periode für alle Sätze gegolten hat, sondern nur auf den Grundstock von<br />
Satztypen passt, welcher dem Bau der andern als Muster diente". Rhythmische Faktoren<br />
waren seiner Ansicht nach lediglich der Auslöser für die Entstehung der festen Verbstellung<br />
im Altfranzösischen, wo "der Rhythmus aufgehört [hatte] die bestimmende Rolle zu spielen"<br />
(Thurneysen 1892:304). 20<br />
Auch Herman (1954) weist diese Analogieerklärung Thurneysens zurück. Sie ist seiner<br />
Ansicht nach "nullement confirmée par les textes" (Herman 1954:250,Fn.15). Außerdem<br />
hält Herman (1954:250,Fn.15) es für "peu vraisemblable que les règles de position valables<br />
pour le seul verbe copule aient pu s'étendre à des verbes accentués et à sémantisme plein".<br />
In diesem Zusammenhang weist Herman auf ein gravierendes Problem bei der Übernahme<br />
des Wackernagel'schen Gesetzes zur Erklärung der Verbstellung im Altfranzösischen hin.<br />
Denn anders als die schwachtonigen Klitika steht das finite Verb nicht unmittelbar hinter<br />
dem ersten betonten Wort, sondern hinter dem ersten Satzglied:<br />
Il faut dire aussi que le premier terme de la proposition (Thurneysen, en effet, parle de «Satzglied»<br />
et non pas de mots) peut être composé lui-même de plusieurs mots accentués; dans ces cas, le<br />
verbe suit le groupe tout entier et non pas le premier mot accentué du groupe: il est clair que la<br />
phonétique syntaxique n'explique pas en elle-même sa position. (Hermann 1954:250,Fn.15)<br />
Obwohl somit die Rolle der rhythmischen Faktoren in den verschiedenen traditionellen Arbeiten<br />
sehr unterschiedlich bewertet wird, besteht weitgehend Übereinstimmung in der Einschätzung,<br />
dass diese Faktoren für die altfranzösische Wortstellung von großer Relevanz<br />
waren. Einigkeit herrscht vor allem in der Auffassung, dass im Altfranzösischen die Wörter<br />
20 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Biener (1922, 1926) eine ähnliche Erklärung für<br />
die Entstehung der Verb-Zweit-Stellung im Deutschen liefert. Ebenso wie Thurneysen für das<br />
Französische annimmt, geht Biener (1926:256) davon aus, dass die deutsche Verb-Zweit-Stellung<br />
auf "verbenklise" beruht, wobei "später [...] analogische ausbreitung eine wichtige rolle" spielt.<br />
Die endgültige Durchsetzung dieser Stellungsregel ist allerdings, so vermutet Biener (1922:177),<br />
"erst durch die theoretische grammatik und die strenge schulzucht erreicht worden".
und Satzglieder sehr häufig "ohne Rücksicht auf ihre logische Zusammengehörigkeit, lediglich<br />
nach rhythmischen Prinzipien geordnet" sind (Lerch 1934:349). Das heißt, die Anordnung<br />
erfolgt im alternierenden Wechsel zwischen druckstarken und druckschwachen<br />
Silben, Wörtern oder Satzteilen. Im Neufranzösischen ist Lerch (1934:352) zufolge eine<br />
solche spezifisch-rhythmische Anordnung von Satzgliedern weitgehend auf die Poesie<br />
beschränkt und "im allgemeinen nur statthaft, wenn sie nicht in allzu auffälligem Widerspruch<br />
mit der logischen Anordnung steh[t]".<br />
3.3.3.3 Logisch-grammatische Faktoren<br />
Diese Schlussfolgerung Lerchs steht stellvertretend für die in sehr vielen traditionellen Arbeiten<br />
verbreitete Auffassung, wonach so genannten 'logisch-grammatischen' Faktoren die<br />
ausschlaggebende Rolle für den Wortstellungswandel im Französischen zugestanden wird.<br />
Dahinter steht die Ansicht, dass durch die Übernahme einer angeblich logisch-reflektierten<br />
Denkweise das Französische seine "Periode der Primitivität" überwinden konnte, in der<br />
sich "[d]er Geist [...] noch auf einer [...] tiefen Entwicklungsstufe" befand und der "Einfluß<br />
der impulsiven, aber auch der rhythmischen Wortstellung" im Vordergrund stand (Koch<br />
1934:82). Entscheidender Anteil daran, dass sich diese Denkweise durchsetzen konnte, wird<br />
den Grammatikern und Sprachpuristen des 16. und insbesondere 17. Jhdts., wie Malherbe<br />
oder Vaugelas, zugestanden. Geprägt war deren Arbeit durch das Bemühen, die französische<br />
Sprache zu standardisieren und zu normieren. 21 Hierzu gehörte auch der Versuch, die<br />
Wortstellung zu fixieren. Diesem Versuch liegt die Annahme zugrunde, dass "eine geregelte<br />
Wortstellung [...] eine große Erleichterung für den Hörer oder Leser" bedeutet, weil<br />
der Sprecher seinen "individuellen Ausdruckswillen" nicht mehr so stark entfalten kann und<br />
damit automatisch mehr Rücksicht auf den Hörer bzw. Leser nimmt (Lerch 1934:250f.).<br />
Wichtigstes Ziel war das Erreichen einer größtmöglichen "clarté de la langue" (Ling<br />
1866:II), die unter anderem auch durch die 'logische' Anordnung der Satzglieder erreicht<br />
werden sollte:<br />
Il est évident que [...] l'ordre logique est la construction qui favorise le plus la clarté, ou plutôt, que<br />
la langue dont la construction s'en rapproche le plus, est aussi la plus claire de toutes. (Ling<br />
1866:III)<br />
Die genaue Bestimmung dieser 'logischen' Anordnung erweist sich allerdings als sehr problematisch<br />
und widersprüchlich. Generell wird davon ausgegangen, dass sich die Zusammenknüpfung<br />
des 'Logisch-Zusammengehörigen' in der Subjekt-Verb-Objekt-Stellung<br />
manifestiert:<br />
21 Wartburg (1946:170f.) beispielsweise spricht davon, dass es Malherbe darum ging, die französische<br />
Sprache zu "dégasconner" und zu "débarasser [...] de ses scories". In seiner ihm eigenen pathetischen<br />
Sprache bezeichnet er Malherbe gar als den Mann "dont la France avait besoin à ce<br />
moment-là", um schließlich zu folgendem Schluss zu gelangen:<br />
"La nation désirait que quelqu'un lui donnât une norme pour sa langue; elle était toute préparée à<br />
recevoir une loi en fait de grammaire. Plus que la personne de Malherbe c'était le génie du peuple<br />
français qui se donnait à lui-même les nouvelles règles." (Wartburg 1946:171)<br />
85
86<br />
[...] comme la clarté relève à un haut degré de l'ordre des mots, on peut demander: comment doit<br />
être qualifié cet ordre pour ne point troubler la clarté? Pour être capable d'y faire une réponse satisfaisante,<br />
il faut chercher un modèle pour toutes les langues à cet égard. Il est donc nécessaire que<br />
celui-ci soit une construction et, de plus, une telle qui puisse être l'unité de toutes les constructions<br />
des diverses langues. Or, quelle est cette construction sinon l'ordre logique?<br />
Si l'on veut se rendre compte de ce que veut dire ce terme, on n'a qu'à se rappeler que chaque<br />
proposition renferme un jugement, où une idée est jointe à une autre par la copule intermédiaire.<br />
Ainsi, nous plaçons, selon l'ordre logique, d'abord le sujet, ensuite l'attribut, et le verbe, qui les<br />
joint, entre eux. En général, on peut dire que, d'après cette règle, le mot qui détermine, qualifie,<br />
complète un autre, est placé après lui. (Ling 1866:IIf.)<br />
Dieser Definition zufolge läuft jede von der SVO-Anordnung abweichende Wortstellung<br />
der logischen Denkweise zuwider. Das heißt, insbesondere die Inversion von Subjekt und<br />
Verb entspräche nicht der logischen Anordnung der Satzglieder. 22 Dieser Feststellung steht<br />
jedoch die ebenfalls auf 'logischen' Überlegungen beruhende Forderung gegenüber, wonach<br />
das Verb nicht von den von ihm abhängigen Satzgliedern, wie z.B. direktes und indirektes<br />
Objekt sowie adverbiale Bestimmung und Prädikatsnomen, getrennt werden darf (Lerch<br />
1934:377). 23 Rogger (1956:226) erläutert diesen Konflikt zwischen SV(O)-Stellung und<br />
Subjekt-Verb-Inversion sehr anschaulich an folgendem Beispiel:<br />
Stellen wir die beiden möglichen Formen eines Hauptsatzes – in gerader und invertierter Folge –<br />
einander gegenüber:<br />
Peu à peu // la campagne d'Egypte se dessinait.<br />
Peu à peu – se dessinait – la campagne d'Egypte.<br />
Der erste Satz weist, zwischen Adverbiale und Subjekt, einen Hiatus auf, der übrigens ohne ersichtliche<br />
Regel durch die Interpunktion markiert oder übergangen werden kann. Der zweite Satz<br />
reiht die Satzteile in fließender Weise so aneinander, daß ein organisches Kontinuum entsteht. Wer<br />
aus Gründen der Logik jegliche Inversion ablehnen möchte, bedenkt zu wenig, daß hier dem Verb<br />
ein Platz zugewiesen ist, der dem 'Verbindungs-Charakter' entspricht, welcher, nach Bally, naturgemäß<br />
seinen – primären – Agens-Charakter kumuliert.<br />
Die Verb-Subjekt-Abfolge in diesem Beispiel läuft folglich keineswegs dem 'logischen'<br />
Denken zuwider, sondern entspricht ihm sogar mehr als die Subjekt-Verb-Abfolge, da das<br />
ad-verbum (Nissen 1943:5) und das Verb innerhalb eines Satzes ein "natürliches Ganzes"<br />
bilden, d.h. "sie sind eine organische Einheit, die erst bei der sprachlichen Gestaltung der<br />
Gesamtvorstellung in mehrere Worte zerfallen" (Haarhoff 1936:8). Nach Haarhoff (1936)<br />
hat dieses Prinzip des "natürlichen Kontakts", das in gleicher Weise auch für die Einheit<br />
von Objekt und Verb gilt, im Altfranzösischen weitgehende Gültigkeit. Die Folge war, dass<br />
im Fall der satzinitialen Stellung von Adverb oder Objekt das Altfranzösische "die sinngemäße<br />
Zusammengehörigkeit von Adverb [oder Objekt] und Verb nicht durch Dazwischen-<br />
22 Ling (1866:III) drückt es umgekehrt aus:<br />
"[...] toute tournure qui n'est pas rigoureusement conforme à l'ordre logique est une inversion [...]."<br />
23 Auf eine Auflistung dessen, was nach Meinung der französischen Grammatiker als logisch zusammengehörig<br />
angesehen wird, muss hier verzichtet werden. Cf. Lerch (1934:366-379) für eine<br />
detaillierte Zusammenstellung und Diskussion.
stellen eines anderen Satzgliedes trennen [mochte] und [...] daher gehalten [war], das Subjekt<br />
dem Prädikat folgen zu lassen" (Haarhoff 1936:8). 24<br />
Trotz dieser Beobachtung macht Haarhoff (1936:8) "logische Prinzipien" für die "Zerstörung<br />
der Kontaktstellung" im Französischen verantwortlich. Sie begründet dies mit einem<br />
– durch die Grammatiker forcierten – Streben "nach einem Satzbau, der von rationalistischer<br />
Ordnung beherrscht war" (Haarhoff 1936:8). Auch nach Ansicht von Lerch<br />
(1934:268) ist der Rückgang der Inversion im Französischen das "Werk bewußter Überlegung"<br />
durch die Grammatiker. Seinen Beobachtungen zufolge setzt sich die Entwicklung<br />
zur Subjekt-Verb-Stellung vor allem in Sätzen mit transitiven Verben durch, da die Inversion<br />
in diesen Sätzen (wie z.B. Alors avait Richard vingt ans) die Trennung von Verb und<br />
Objekt bewirkt. 25 In Sätzen mit intransitiven Verben kommt es im Fall einer Inversion hingegen<br />
nicht zu einem Konflikt zwischen verschiedenen logischen Ordnungen. Dennoch<br />
setzt sich auch hier die Subjekt-Verb-Stellung vor allem dann durch, wenn das Subjekt<br />
pronominal ist:<br />
So erscheint nun auch der heutige Wechsel zwischen Inversion und Nicht-Inversion als ein Kompromiß<br />
zwischen dem Bestreben, die Inversion zu beseitigen, und der natürlichen, immer wieder<br />
durchbrechenden Neigung, zu invertieren. Bei pronominalem Subjekt hat das Bestreben, die<br />
Inversion zu beseitigen, im allgemeinen gesiegt; nicht dagegen bei substantivischem Subjekt. Der<br />
Grund dürfte darin liegen, daß in diesem Falle (z.B. Alors le général parut) eine stärkere Trennung<br />
des natürlichen Zusammenhangs zwischen Adverb und Verbum u. dgl. eintritt als bei pronominalem<br />
Subjekt (Alors il parut), wo nur ein kurzes Pronomen zwischengeschoben wird. Das substantivische<br />
Subjekt ist dagegen mitunter sehr lang (z.B. Alors parut le général qui ...). (Lerch<br />
1934:436f.)<br />
Einen Grund dafür, dass im Französischen die Inversion bis heute erhalten geblieben ist,<br />
sieht Lerch (1934:436) nicht nur in der "natürlichen Neigung zur Inversion", sondern auch<br />
darin, dass die Inversion von den Grammatikern bislang nur sehr halbherzig bekämpft<br />
wurde. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass selbst bei der pronominalen Inversion<br />
nicht konsequent verfahren wurde, da sie nach bestimmten Adverbien weiterhin erlaubt sei<br />
(Lerch 1934:448). Lerch (1934:436) weist darauf hin, dass die Grammatiker den Gebrauch<br />
der Inversion zwar in bestimmten Fällen beanstandet, jedoch nie ein "allgemeines Verbot"<br />
ausgesprochen hätten. Die Inkonsequenz der Grammatiker zeigt sich für Lerch (1934:437f.)<br />
außerdem darin, dass selbst in Texten von Malherbe und Vaugelas Inversionskonstruktionen<br />
zu finden sind, teilweise sogar solche, die sie bei anderen beanstandet haben.<br />
24 Ebenso entspricht es 'logischen' Prinzipien, wenn die Inversion dazu dient, an den umittelbar vorangehenden<br />
Satz anzuschließen, wie etwa Rogger (1956:226) betont:<br />
"Die Inversion gestattet auch häufig, denjenigen Satzteil, der an den Gegebenheiten des vorhergehenden<br />
Satzes anschließt, an die Spitze zu nehmen und 'organisch an ihn anzuschließen'. (Dieses<br />
'rattachement' [...] war im Altfrz. darum ungleich wichtiger, weil hier auch direkte und indirekte<br />
Nominal-Objekte den Satz einleiten konnten.)"<br />
25 Lerch (1934:432) weist darauf hin, dass diese Trennung durch eine mögliche satzfinale Stellung<br />
des Subjekts, wie in Alors avait vingt ans Richard, vermieden werden könnte. Dies entspräche<br />
dann zwar der logischen Wortstellung, hätte jedoch gleichzeitig die Hervorhebung des Subjekts<br />
zur Folge.<br />
87
88<br />
3.3.3.4 Morphosyntaktische Faktoren<br />
Wie bereits in Abschnitt 3.2 kurz erwähnt, macht Diez (1882:1092) für den Wandel der<br />
Wortstellung bei der Herausbildung der romanischen Sprachen aus dem Lateinischen vor<br />
allem den "Verlust der Casusflexion" verantwortlich, "welcher ihnen der in diesem Puncte<br />
fast schrankenlosen Freiheit der classischen Schreibart zu folgen verbot". Im Altfranzösischen<br />
ist die Nominalflexion allerdings noch in reduzierter Form als Zwei-Kasus-Flexion<br />
erhalten geblieben, was in vielen Analysen des Altfranzösischen als Grund für die vermeintliche<br />
Freiheit der Stellung der Nominalkonstituenten gesehen wird. Entsprechend<br />
wird die Fixierung der Wortstellung auf den Verlust der Nominalflexion zurückgeführt.<br />
Einer der ersten, der diesen Zusammenhang formuliert, ist Le Coultre (1875:7):<br />
En effet, le français moderne ne pouvant plus distinguer par la flexion le sujet de l'objet, sera forcé<br />
de les distinguer par la place des termes: de là, un ordre des mots presque invariable. Le vieux<br />
français avait deux cas, le nominatif et l'accusatif, dont le premier subsista jusqu'au XIV e siècle.<br />
Seither ist diese These vielfach wiederholt worden (Meyer-Lübke 1899:797f., Foulet<br />
1928:37f., Brunot / Bruneau 1949:485). Gleichzeitig ist aber in sehr vielen traditionellen<br />
Arbeiten aber auch heftig dagegen argumentiert worden (Lerch 1934:267, Wundt 1912:377,<br />
Kuttner 1929:19). Lerch (1934:267-270) stellt einige der wichtigsten Argumente gegen die<br />
"irrige Meinung" zusammen, dass der Wortstellungswandel im Französischen auf den<br />
Verlust des Zweikasussystems zurückzuführen sei. Das überzeugendste Argument ist zweifellos<br />
der Hinweis darauf, dass sich die strenger festgelegte Wortstellung erst im 16. Jhdt.<br />
allmählich durchzusetzen beginnt, also zwei Jahrhunderte nachdem das Zweikasussystem<br />
aufgegeben worden ist bzw. sich die letzten Spuren des Zweikasussystems nachweisen<br />
lassen. Lerch weist außerdem darauf hin, dass im Altfranzösischen nur bei maskulinen<br />
Nomina eine formale Unterscheidung zwischen Rektus und Obliquus existierte. Dennoch<br />
war im Altfranzösischen die Bildung von Sätzen wie La rose la reïne prent oder La reïne la<br />
rose prent möglich, obwohl weder aus der Kasusmarkierung noch der Wortstellung hervorgeht,<br />
welches der Nomina die Subjekt- bzw. Objektsfunktion trägt. Ein weiteres Argument<br />
von Lerch ist der Hinweis auf andere romanische Sprachen, wie das Spanische oder Italienische,<br />
die "von Anfang an keinen Unterschied zwischen Subjekts- und Objektskasus besitzen<br />
und dennoch die Wortstellung nicht so streng geregelt haben wie das Französische"<br />
(Lerch 1934:269). Schließlich wendet Lerch gegen Le Coultres These ein, dass im<br />
Neufranzösischen gerade in den Fällen, in denen noch eine morphologische Kasusunterscheidung<br />
existiert, nämlich bei den Pronomina, die Inversion relativ selten, während sie<br />
beim Substantiv verhältnismäßig häufig ist.<br />
Diese Einwände sprechen klar gegen den behaupteten Zusammenhang zwischen Wortstellung<br />
und der morphologischen Kasusmarkierung im Altfranzösischen und dessen Entwicklung<br />
zum Neufranzösischen. Anders verhält es sich möglicherweise mit der Annahme,<br />
dass die altfranzösische Wortstellung durch syntaktische Faktoren geregelt ist. Dies ist, wie<br />
bereits gezeigt, die Auffassung von Thurneysen (1892:304), dessen Analyse zufolge aus<br />
einer rein rhythmischen Anordnung der Satzglieder im Altfranzösischen per Analogiebildung<br />
bereits "in frühromanischer Zeit ein syntaktisches Prinzip" geworden war.<br />
Wie bereits erwähnt, findet Thurneysens Arbeit und damit dessen Annahme einer syntaktisch<br />
bedingten Wortstellung im Altfranzösischen in der traditionellen Romanistik nur<br />
wenig Beachtung. Für die generative historische Syntax des Französischen stellt sie aller-
dings eine der zentralen Annahmen dar und bildet den Ausgangspunkt für die meisten generativen<br />
Untersuchungen des Wortstellungswandels im Französischen.<br />
3.3.4 Generative Erklärungsansätze<br />
Im Gegensatz zu den traditionellen Studien der Entwicklung der Wortstellung im Französischen,<br />
die häufig eine synchronische Bestandsaufnahme bestimmter Sprachepochen vornehmen,<br />
widmen sich die meisten generativen Untersuchungen primär dem diachronischen<br />
Wandel, der im Verlauf der Entwicklung vom Alt- zum Neufranzösischen eingetreten ist.<br />
Wie bereits erwähnt besteht die zentrale These aller generativen Analysen darin, dass das<br />
Altfranzösische eine Verb-Zweit-Sprache gewesen ist und somit durch eine strenge Verb-<br />
Zweit-Stellung gekennzeichnet war. Die ersten Analysen, in denen versucht wird, dies im<br />
Rahmen der generativen Prinzipien- und Parametertheorie zu erfassen, stammen von<br />
Benincà (1983/84), Vanelli / Renzi / Benincà (1985) und Adams (1987a,b). Darin wird die<br />
von Thiersch (1978) für das Deutsche entworfene Analyse auf das Altfranzösische (und<br />
andere frühromanische Sprachen) übertragen. Das heißt, es wird angenommen, dass das<br />
finite Verb in Matrixsätzen in die Position bewegt wird, in der in Nebensätzen die subordinierende<br />
Konjunktion generiert ist (Adams 1987a:8):<br />
(32) CP<br />
SpezCP C'<br />
X max C 0 IP<br />
Vi NP I'<br />
(Subj.) I 0 VP<br />
ti V NP<br />
ti (Obj.)<br />
Zu einer ähnlichen Analyse gelangt auch Roberts (1993). Ausgehend von der 'Split INFL'-<br />
Hypothese nimmt er an, dass die Verbstellung in altfranzösischen Matrixsätzen das Ergebnis<br />
einer Bewegung des finiten Verbs über T 0 und Agr 0 nach COMP ist. Eine zusätzliche<br />
Bestätigung für eine Verb-nach-COMP-Bewegung sehen Benincà (1983/84) und Adams<br />
(1987a,b) darin, dass dadurch das ihrer Ansicht nach weitgehend auf Matrixsätze beschränkte<br />
Auftreten von Verb-Zweit-Effekten sowie von Nullsubjekten im Altfranzösischen<br />
(und anderen frühromanischen Sprachen) erfasst werden kann: 26<br />
La diferenza fra principali e dipendenti nelle nostre lingue si riduce alla possibilità di omettere il<br />
soggetto nelle principali, e non nelle dipendenti, e alla possibilità, molto più generalizzata nelle<br />
26 Beide Annahmen müssen später – wie weiter unten gezeigt werden wird – revidiert werden, da sie<br />
sich als empirisch nicht haltbar erweisen.<br />
89
90<br />
principali che nelle dipendenti, di avere un costituente diverso dal sogetto davanti al verbo. I due<br />
aspetti possono essere connessi, e riportati al fatto che nelle principali, e non nelle dipendenti, il<br />
verbo si sposta sotto un nodo superiore a F[rase] [= IP, GAK]. (Benincà 1983/84:187f.)<br />
Adams (1987a:12ff.) versucht, diese vermutete Hauptsatz-Nebensatz-Asymmetrie bezüglich<br />
des Auftretens leerer Subjekte durch die Annahme zu erfassen, dass im<br />
(Alt)Französischen ein leeres Subjekt pro nur dann lizensiert ist, wenn es kanonisch, d.h.<br />
von einem links stehenden lexikalischen Kopf, regiert wird. Dies ist im Altfranzösischen<br />
dadurch gewährleistet, dass das finite Verb nach COMP angehoben wird und dort ein potentielles<br />
leeres Subjekt in der SpezIP-Position regieren kann. Das Auftreten leerer Subjekte<br />
ist demzufolge von der Verb-Zweit-Stellung abhängig. Dieser Zusammenhang wird in<br />
ähnlicher Weise auch in anderen generativen Analysen hergestellt. Roberts (1993:124)<br />
nimmt an, dass referentielle Null-Subjekte im altfranzösischen Matrixsätzen dadurch – und<br />
nur dadurch – lizensiert sind, dass sie von Agr 0 regiert sind. Dies ist seiner Analyse zufolge<br />
dadurch gegeben, dass im Altfranzösischen das Merkmal [+Agr 0 ] in COMP generiert ist,<br />
wodurch nicht nur die Anhebung des finiten Verbs bewirkt, sondern auch ein mögliches<br />
leeres Pronomen in der Subjektsposition regiert wird. Die Aufgabe der Verb-nach-COMP-<br />
Bewegung bzw. der Generierung des Merkmals [+Agr 0 ] in COMP führt demnach zwangsläufig<br />
dazu, dass das Französische die Eigenschaft zur Lizensierung von Null-Subjekten<br />
verliert.<br />
Als ausschlaggebend für diese Aufgabe wird die Tatsache angesehen, dass das Alt- bzw.<br />
Mittelfranzösische eine zugrunde liegende SVO-Wortstellung aufwies. Die Folge davon ist,<br />
dass die durch ein Subjekt eingeleiteten Matrixsätze die gleiche oberflächliche SV(X)-Stellung<br />
aufweisen wie Nebensätze mit einem initialen Subjekt. Die zugrunde liegende Struktur<br />
dieser Sätze ist jedoch unterschiedlich:<br />
(33) (a) Hauptsatz: [CP Sj [C' Vi [IP tj ti O]]]<br />
(b) Nebensatz: [CP [C' Konj. [IP S V O]]]<br />
Für die Kinder, die solche Sätze in ihrem Input hören, sind Matrixsätze mit einer SV(X)-<br />
Stellung demzufolge hinsichtlich ihrer Struktur ambig, da sie sowohl mit einer abgeleiteten<br />
Struktur, in der das Verb nach COMP bewegt wird, als auch mit der Struktur von Nebensätzen<br />
vereinbar sind, in der diese Bewegung nicht existiert. Diese Ambiguität – verbunden<br />
mit der Tatsache, dass SV(X)-Sätze sowohl in Matrix- als auch in Nebensätzen den häufigsten<br />
Satztyp bilden – wird daher für den Verb-Zweit-Verlust im Französischen verantwortlich<br />
gemacht:<br />
En effet, toute proposition SV(X) en surface peut représenter l'ordre de base ou une structure V2<br />
avec antéposition du sujet. Or, cette séquence est la plus neutre et la plus fréquente en principale et<br />
encore davantage en subordonnée. Cette prépondérance de SV(X) favorise une réanalyse dans<br />
laquelle le sujet apparaît obligatoirement devant le verbe, d'où la chute de V2. (Côté 1995:183f.)<br />
Es wird angenommen, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt des Alt- bzw. Mittelfranzösischen<br />
Kinder dazu übergingen, den Matrixsätzen mit einer SV(X)-Stellung nicht – im Gegensatz<br />
zu ihren Eltern – eine abgeleitete Struktur zuzuordnen, sondern in Analogie zur<br />
Struktur der Nebensätze als Sätze mit einer Struktur ohne V-nach-COMP-Anhebung zu<br />
reanalysieren (Adams 1987a:25, Roberts 1993:158):
(34) Reanalyse altfranzösischer SV(O)-Matrixsätze:<br />
Elterngrammatik Kindergrammatik<br />
[CP Sj [C' Vi [IP tj ti O]]] → [IP SVO]<br />
Einen zusätzlichen Grund dafür, dass sich Kinder für eine solche Reanalyse entscheiden,<br />
sieht Roberts (1993:156) darin, dass der kindliche Erstspracherwerb durch die so genannte<br />
"Least Effort Strategy" geleitet ist. Es handelt sich bei dieser Strategie um eine Art 'loi du<br />
moindre effort', die Roberts – in Anlehnung an Chomsky (1991) – auf mentale Verarbeitungsprinzipien<br />
zurückführt. Sie besagt, dass Kinder während des Spracherwerbs versuchen,<br />
möglichst solche Strukturen zu verwenden und letztendlich zu erwerben, die mental<br />
leicht(er) zu verarbeiten sind. Roberts geht dabei davon aus, dass die in der (generativen)<br />
Grammatiktheorie angenommenen und postulierten Bewegungsoperationen mit der mentalen<br />
Verarbeitung von Sprache korrelieren. Er nimmt also an, dass Kinder möglichst diejenigen<br />
Strukturen verwenden und erlernen, die die geringste Zahl von Bewegungen (bzw.<br />
Kettenbildungen) erfordern. Allerdings liefert er keinerlei empirische Evidenz für diese<br />
Annahme. Sie ist außerdem insofern äußerst problematisch, als dadurch den auf der<br />
Grundlage der generativen Grammatiktheorie entwickelten Strukturen eine psychologische<br />
Realität zugestanden wird, die bisher weder nachgewiesen werden konnte noch durch die<br />
Theorie intendiert ist.<br />
Die unmittelbare Konsequenz dieser Reanalyse ist nach Ansicht von Adams der Verlust<br />
der Null-Subjekt-Eigenschaft im Französischen. Kinder, die diese Reanalyse durchgeführt<br />
haben, können Nullsubjekte nicht mehr lizensieren, da deren kanonische Rektion durch das<br />
Verb nicht mehr gegeben ist. Adams (1987a:26) betont, dass die Reanalyse in (34) nicht<br />
von allen Kindern einer Generation gleichzeitig durchgeführt wurde, sondern sich erst allmählich<br />
durchgesetzt hat. SV(X)-Sätze können daher über einen längeren Zeitraum hinweg<br />
entweder eine abgeleitete oder eine reanalysierte Struktur aufweisen, ohne dass dies zu<br />
Missverständnissen führt, da sie oberflächlich identisch sind. Nach Ansicht von Adams<br />
(1987a:26) setzt sich die neue Struktur letztendlich deshalb durch, weil auf Grund der Reanalyse<br />
die Zahl der Sätze mit einer eindeutigen Verb-Zweit-Struktur abnimmt und die<br />
Anzahl der SV(X)-Sätze zunimmt:<br />
So one individual's SVO main clause order may be derived and another's basic with no one the wiser<br />
because the only surface structure difference will be one of proportion: a greater variety of V2<br />
orders in the one case, more frequent SVO order in the other. Thus not all children of any one generation<br />
need reanalyze, nor would such a thing be likely, but children who do will be apt to get<br />
away with it. Change, then, may be quite slow and imperceptible. Nonetheless once reanalysis begins<br />
to take place its spread should be inevitable. This is so because reanalysis itself, by altering<br />
surface structure proportions, creates more positive evidence in favor of reanalysis.<br />
Auch Roberts (1993:144-160) nimmt an, dass der Wandel, der zur Aufgabe der Verb-<br />
Zweit-Stellungseigenschaft im Französischen führt, sehr langwierig ist und sich über mehrere<br />
Jahrhunderte hinweg vollzieht. Anders als Adams ist er allerdings der Ansicht, dass<br />
einzelne Sprecher, die bereits die nicht abgeleitete Struktur in (34) erworben haben, weiterhin<br />
gleichzeitig in der Lage sind, Sätze in der abgeleiteten Struktur zu verwenden. Demzufolge<br />
betrachtet Roberts (1993:197) das Mittelfranzösische als eine "optional V2 language",<br />
in der den einzelnen Sprechern generell beide Strukturoptionen zur Verfügung standen.<br />
Gleichwohl beobachtet auch er im Mittelfranzösischen einen allmählichen Rückgang von<br />
Sätzen mit einer Verb-Zweit-Struktur und gleichzeitig eine Zunahme von Sätzen mit einer<br />
91
92<br />
SVO- und Verb-Dritt-Stellung. Zur endgültigen Aufgabe der Verb-Zweit-Bewegung und<br />
damit zum endgültigen Verschwinden von XVS-Sätzen und auch von SV(X)-Sätzen mit<br />
einer abgeleiteten Struktur kommt es nach Roberts (1993:187) erst nach dem Ende der<br />
mittelfranzösischen Periode. Er macht dafür einen parametrischen Wandel hinsichtlich der<br />
Art und Weise, wie in einer Einzelsprache Nominativkasus zugewiesen wird, verantwortlich.<br />
Roberts (1993:18ff.) beruft sich hierbei auf das Modell von Koopman / Sportiche<br />
(1991), wonach zwischen zwei Arten der Zuweisung des Nominativkasus unterschieden<br />
werden kann:<br />
(35) (a) Nominativzuweisung durch Spezifizierer-Kopf-Kongruenz:<br />
[CP [AGRP Subj.j [AGRP' V-Agr 0 i] [TP tj ti [VP tj ti]]]]<br />
(b) Nominativzuweisung durch Rektion:<br />
[CP XP [C' V-Agr 0 i] [AGRP Subj.j [AGRP' ti] [TP tj ti [VP tj ti]]]]<br />
Entsprechend diesen beiden Mechanismen kann nach Ansicht von Roberts (1993:27) folgender<br />
Parameter der Nominativzuweisung formuliert werden:<br />
(36) (a) Agr 0 weist Nominativ unter Rektion zu? ja / nein<br />
(b) Agr 0 weist Nominativ unter Kongruenz zu? ja / nein<br />
Der entscheidende Unterschied zwischen Alt- und Neufranzösisch besteht nach Ansicht<br />
von Roberts (1993:81f.) in der Wahl des Parameterwertes in (36)(a). Im Alt- und auch im<br />
Mittelfranzösischen ist der Wert auf 'ja', im Neufranzösischen hingegen auf 'nein' festgelegt.<br />
Hinsichtlich der Option in (36)(b) tritt keine Änderung ein. Hier weisen sowohl das<br />
Alt- und Mittelfranzösische als auch das Neufranzösische den Wert 'ja' auf. Das Neufranzösische<br />
hat demzufolge die Möglichkeit der Nominativzuweisung unter Rektion verloren<br />
(Roberts 1993:187).<br />
Die Gründe dafür, dass es im frühen Neufranzösischen zu einem Wechsel hinsichtlich<br />
der Festlegung des Parameterwertes in (36)(a) gekommen ist, sind der Analyse von Roberts<br />
zufolge sehr vielschichtig und komplex. Ebenso wie Adams sieht er in der zugrunde liegenden<br />
SV(X)-Wortstellung und einer angeblich damit verbundenen Häufigkeit von Sätzen<br />
mit einer SV(X)-Stellung die notwendige Voraussetzung für das Einsetzen der Reanalyse.<br />
Damit wird versucht, dem Umstand gerecht zu werden, dass es in Verb-Zweit-Sprachen mit<br />
einer zugrunde liegenden Verb-End-Stellung, wie z.B. dem Deutschen, bisher nicht zu einer<br />
solchen Reanalyse gekommen ist. Allerdings wäre in den Verb-Zweit-Sprachen des skandinavischen<br />
Festlandes eine ähnliche Entwicklung wie im Französischen zu erwarten, da<br />
diese ebenfalls eine zugrunde liegende SV(X)-Stellung besitzen und damit sowohl in Matrix-<br />
als auch in Nebensätzen eine SV(X)-Stellung aufweisen.<br />
Da diese Entwicklung bislang nicht eingetreten ist, räumt Adams (1989:13) ein, dass die<br />
"simple frequency of SVO order" (in Haupt- und Nebensätzen) keine hinreichende Voraussetzung<br />
für den Verlust der Verb-Zweit-Stellung im Altfranzösischen gewesen sein kann.<br />
Es müssen zusätzliche Veränderungen im Laufe des französischen Sprachwandels eingetreten<br />
sein, die zu dieser Reanalyse geführt haben. Ihrer Ansicht nach handelt es sich hierbei<br />
um Veränderungen im prosodischen und rhythmischen Bereich, die in dieser Form in<br />
den skandinavischen Sprachen nicht eingetreten sind. Für Roberts (1993) hingegen sind<br />
morphologische Unterschiede im Bereich der Verbalflexion zwischen den skandinavischen<br />
Sprachen und dem Altfranzösischen ausschlaggebend für die unterschiedliche Entwicklung
dieser Sprachen. Einer anderen, von Vance (1989, 1995, 1997) vorgeschlagenen Analyse<br />
zufolge, die hier auch betrachtet werden soll, hat der Wandel der französischen Verbstellung<br />
seine Ursache in der Möglichkeit des Französischen, Subjekte 'frei' zu invertieren.<br />
3.3.4.1 Prosodische und rhythmische Faktoren<br />
Bei der Diskussion prosodischer Faktoren wird auch auf frühere traditionelle Analysen zurückgegriffen,<br />
in denen auf verschiedene Veränderungen der prosodischen Verhältnisse im<br />
Französischen hingewiesen wird. Diese Veränderungen betreffen – neben dem Verlust der<br />
enklitischen Bindungseigenschaften der klitischen Objektspronomina – vor allem die (allmähliche)<br />
Aufgabe des satzinitialen Akzents. Kroch (1989:213f.) sieht darin den Grund für<br />
den Verlust der Verb-Zweit-Stellung im Französischen. Er nimmt an, dass durch diesen<br />
Akzentverlust die satzinitiale Position nicht mehr für Topikalisierungen von Nicht-Subjekten<br />
zur Verfügung steht, da diese dort nicht mehr die notwendige Betonung erhalten können.<br />
Stattdessen müssen nun topikalisierte Nicht-Subjekte in eine Position außerhalb des<br />
eigentlichen Satzes bewegt werden und mit einem Pronomen innerhalb des Satzes koreferent<br />
sein. Kroch (1989:213) betont allerdings, dass solche Verb-Dritt-Sätze nicht die angenommene<br />
Verb-Zweit-Grammatik des Altfranzösischen verletzen:<br />
Suppose then that the change in the phrasal accent forces preposed constituents to move from the<br />
topicalization position to the position of left dislocation. The result will be that the preposed constituents<br />
no longer function as verb-second triggers and sentences will appear to be verb-third.<br />
However, they will not violate the verb-second grammar since left-dislocated elements do not<br />
count for the verb-second constraint. The topicalization position will be filled by the subject of<br />
each sentence, the only noun phrase that can be topicalized without being stressed in verb-second<br />
languages.<br />
Eine Folge dieses prosodischen Wandels besteht nach Ansicht von Kroch darin, dass die<br />
Häufigkeit von Sätzen mit einer Subjekt-Verb-Inversion abnimmt. Außerdem beobachtet<br />
Kroch (1989:213) in Sätzen mit satzinitialen nominalen Komplementen einen "additional<br />
effect", nämlich ein zunehmendes Auslassen des mit diesen Komplementen koreferenten<br />
Pronomens, so dass diese Sätze nicht mehr als Linksdislokation erkennbar sind. Kroch<br />
(1989:213) vermutet, dass diese durch prosodische Veränderungen ausgelösten Entwicklungen<br />
schließlich zur Aufgabe der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft im Französischen<br />
führen, da hierfür keine ausreichende positive Evidenz mehr im erwachsenensprachlichen<br />
Input vorhanden ist:<br />
Over time, the number of sentences which provide positive evidence for the verb-second constraint<br />
will decline relative to those [...], which are also consistent with a simple SVO grammar. Eventually,<br />
the absence of sufficient evidence will trigger a grammatical reanalysis and subject-inversion<br />
will no longer be possible.<br />
Eine weitere, mit der Aufgabe des satzinitialen Akzents verbundene prosodische Veränderung<br />
betrifft die Subjektspronomina, die ihre ursprüngliche Eigenschaft als selbstständige<br />
Wörter allmählich verlieren und sich zunehmend klitisch an das finite Verb binden. Uneinigkeit<br />
besteht hier vor allem bei der Bestimmung des Zeitpunkts dieses Wandels. Unumstritten<br />
ist demgegenüber die Annahme, dass der Klitisierungsprozess zunächst bei den<br />
postverbal auftretenden Subjektspronomina einsetzt, die bereits im frühen Altfranzösischen<br />
93
94<br />
stets an das finite Verb gebunden sein müssen (Foulet 1928:150, Skårup 1975:62). Die Kli-<br />
tisierung der präverbalen Subjektspronomina hingegen setzt erst im Laufe des Altfranzösischen<br />
ein (Skårup 1975:35). Allerdings können bereits im Altfranzösischen des 13.<br />
Jhdts., wie etwa Moignet (1976:128) zeigt, i.d.R. nur noch "quelques mots grammaticaux<br />
atones" zwischen einem präverbalen Subjektspronomen und dem Verb auftreten. Etwa zur<br />
gleichen Zeit bildet sich ein neues Paradigma der ungebundenen Subjektspronomina heraus<br />
(Foulet 1935/36, Skårup 1975).<br />
Für Adams (1989) und Platzack (1995) ist die Klitisierung der präverbalen Subjektspronomina<br />
im Zusammenspiel mit dem Verlust des satzinitialen Akzents der entscheidende<br />
Faktor dafür, dass es im Französischen zu einer Reanalyse der SV(X)-Matrixsätze gekommen<br />
ist. Nach Ansicht der beiden Autoren hat die zunehmende Klitisierung der Subjektspronomina<br />
zur Folge, dass diese in das finite Verb inkorporiert und zusammen mit dem<br />
Verb in die COMP-Position bewegt werden können. Damit erklärt sich für beide Autoren<br />
das im Mittelfranzösischen verstärkt zu beobachtende Auftreten von Sätzen wie (37), in<br />
denen das finite Verb in der oberflächlichen Drittposition erscheint (Platzack 1995:209):<br />
(37) mfr. En verité, il a esté et est bon valeton<br />
in Wahrheit er ist gewesen und ist guter (kleiner)-Diener<br />
(jds, 68,16) (Vance 1989:200)<br />
Ausschlaggebend für den Wortstellungswandel im Französischen ist gemäß der Analyse<br />
von Adams und Platzack die Tatsache, dass die Struktur eines solchen Satzes ambig ist und<br />
zwei mögliche Interpretationen zulässt (Platzack 1995:209): 27<br />
(38) (a) [CP En verité [C' [COMP ili+aj]k [IP ei[I' ek] [VP ei [V' ej] esté et ...]]]]<br />
(b) [IP En verité [IP ili [INFL aj] [VP ei [V' ej] esté et ...]]]<br />
Adams (1989) und Platzack (1995) vermuten, dass Kinder, die einen Satz wie (37) in ihrem<br />
Input hören, nicht erkennen, dass es sich bei dem Subjektspronomen um ein in das finite<br />
Verb inkorporiertes Klitikon handelt. Sie interpretieren es stattdessen als eine vollständige<br />
Konstituente und analysieren daher eine Satz wie (37) als einen Satz mit einer Verb-Dritt-<br />
Stellung:<br />
(39) Erwachsenengrammatik Kindergrammatik<br />
[CP (XP) [C' [COMP SKl+Vi]] [IP ti]] → [(XP) [IP SKl-V]]<br />
Nach Ansicht von Platzack (1995) wird in einem weiteren Schritt diese Reanalyse auf Sätze<br />
übertragen, die ein nominales Subjekt enthalten. Dies hält Platzack deshalb für möglich,<br />
weil seinen Beobachtungen zufolge der Anteil von Sätzen mit nicht pronominalen Subjekten<br />
in der gesprochenen Umgangssprache, insbesondere in der Sprache mit Kindern, sehr<br />
gering ist. Platzack (1995:209f.) vermutet, dass aus diesem Grund Kinder, die einem solchen<br />
Input ausgesetzt sind, diese Sätze ignorieren und den Parameterwert für die Verb-<br />
Zweit-Stellung schließlich umsetzen:<br />
[...] we know from studies of modern verb-second languages that the number of sentences with<br />
non-pronominal subjects is low, [...] and we can infer that the number of sentences with inverted<br />
non-pronominal subjects must have been even lower. In such a situation it is conceivable that<br />
27 Platzack (1995) illustriert dies an Hand eines Beispiels aus dem Mittelenglischen. Er nimmt an,<br />
dass der gleiche Prozess auch im Französischen zum Abbau der Verb-Zweit-Stellung geführt hat.
many children selected the minus value of the verb-second parameter, realizing the finiteness feature<br />
in I 0 instead of in C 0 .<br />
Diese Analyse weist allerdings eine Reihe empirischer Inadäquatheiten auf. Gemäß dieser<br />
Analyse wäre nämlich zu erwarten, dass es im Alt- bzw. Mittelfranzösischen eine – möglicherweise<br />
sehr kurze – Phase gegeben hat, in der lediglich prononimale, nicht jedoch nominale<br />
Subjekte in Zweitposition aufgetreten sind. Eine solche Phase kann Platzack jedoch<br />
nicht nachweisen. Er beruft sich lediglich auf Beobachtungen von Vance (1989:152-164),<br />
wonach in alt- und mittelfranzösischen Verb-Dritt-Stellungen wesentlich häufiger pronominale<br />
als nominale Subjekte zwischen der satzinitialen Konstituente und dem finiten Verb<br />
auftreten. Platzack (1995:213) sieht darin eine Bestätigung seiner Hypothese, "that there<br />
has existed a period of time in O[ld]F[rench]/M[iddle]F[rench] when the parents used pronominal<br />
subject clitics but not nominal subjects between the topic and the tensed verb".<br />
Andere empirische Untersuchungen widersprechen dieser Behauptung. In einer Untersuchung<br />
von sechs mittelfranzösischen Texten kommen Lemieux / Dupuis (1995) zu dem Ergebnis,<br />
dass Verb-Dritt-Stellungen keineswegs häufiger mit pronominalen als mit nominalen<br />
Subjekten zu beobachten sind. Die beiden Autorinnen zeigen außerdem, dass in einem<br />
dieser Texte sowohl Subjektspronomen als auch Nomen im gleichen Kontext zwischen<br />
satzinitialer Konstituente und finitem Verb erscheinen:<br />
(40) mfr. (a) Briefment il court par la maison<br />
schnell er läuft durch das Haus<br />
(qjm 6,123) (Lemieux / Dupuis 1995:103)<br />
(b) Briefment, le pouvre corps de lui n' avra jamés repoux [...]<br />
Kurz der arme Körper von ihm NEG haben-wird nie Ruhe<br />
(qjm 12,101-102) (Lemieux / Dupuis 1995:103)<br />
Lemieux / Dupuis (1995:103) deuten diese Beobachtungen dahingehend, dass es keine<br />
"clear cut difference between those [violations] that show up with pronouns [...] or with<br />
nouns [...]" gegeben hat. Es gibt ihrer Ansicht nach auch keine Evidenz dafür, dass Pronomina<br />
früher in solchen Verb-Dritt-Kontexten aufgetreten sind. Unter Hinweis auf eine unveröffentlichte<br />
Studie von M. Dufresne vermuten sie sogar, dass – entgegen der Hypothese<br />
Platzacks – vielmehr das Gegenteil der Fall ist, da in dieser Arbeit beobachtet wird, dass in<br />
den ersten altfranzösischen Verb-Dritt-Stellungen häufiger Subjektsnomina als Pronomina<br />
in der Zweitposition auftreten (Lemieux / Dupuis 1995:101).<br />
3.3.4.2 Morphophonologische Faktoren<br />
Ähnlich wie in vielen traditionellen Untersuchungen werden auch in generativen Analysen<br />
häufig morphologische Faktoren für den Wortstellungswandel im Französischen angeführt.<br />
Im Unterschied zu den traditionellen Ansätzen wird die Ursache für den Wandel allerdings<br />
weniger im Verlust der nominalen Flexionsmerkmale als vielmehr im allmählichen Abbau<br />
der verbalen Flexions- und Kongruenzmerkmale gesehen (Hulk / van Kemenade 1995).<br />
Morphophonologische Faktoren spielen insbesondere bei der Analyse von Roberts<br />
(1993) eine entscheidende Rolle. Sie sind nach Ansicht von Roberts für die Aufrechterhaltung<br />
der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft in den festlandskandinavischen Sprachen trotz<br />
deren zugrunde liegender SVX-Stellung ausschlaggebend. Roberts Argumentation basiert<br />
auf der Beobachtung, dass diese Sprachen keine morphologischen Kongruenzmerkmale am<br />
Verb besitzen. Unter Berufung auf Holmberg / Platzack (1990) nimmt Roberts (1993:35f.)<br />
95
96<br />
an, dass in diesen Sprachen daher keine Verb-nach-INFL-Bewegung erfolgt. In finiten<br />
Matrixsätzen wird daher das Verb direkt nach COMP angehoben, während in Nebensätzen<br />
das Verb in V verbleibt (Holmberg / Platzack 1990:101). Somit gibt es nach Ansicht von<br />
Roberts (1993:152) für Kinder keinen Anlass, in diesen Sprachen SV(X)-Matrixsätze als<br />
Sätze mit einer V-nach-INFL-Bewegung zu reanalysieren.<br />
Außerdem tragen der Analyse von Roberts zufolge morphophonologische Faktoren auch<br />
zum Verlust der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft des Französischen bei. Roberts<br />
(1993:185ff.) vermutet, dass hierbei morphophonologische Änderungen, die die Kasuszuweisungseigenschaften<br />
und die Lizensierungsbedingungen für Null-Subjekte betreffen, eine<br />
ausschlaggebende Rolle spielen. Allerdings werden diese Veränderungen nicht als Auslöser<br />
des Wandels angesehen, sondern es wird angenommen, dass sie in entscheidender Weise<br />
dazu beigetragen haben, dass die Verb-Zweit-Stellungseigenschaft im Französischen endgültig<br />
aufgegeben worden ist. Roberts Analyse basiert auf der Annahme, dass im Laufe des<br />
Mittelfranzösischen ein Wandel hinsichtlich der formalen Lizensierungseigenschaften für<br />
leere Subjekte eingetreten ist. Dieser Wandel besteht darin, dass im Mittelfranzösischen<br />
Null-Subjekte nicht nur in Kontexten auftreten konnten, in denen sie von Agr 0 regiert waren,<br />
sondern auch in Kontexten, in denen sie in einer Spezifizierer-Kopf-Kongruenz-Beziehung<br />
zu Agr 0 standen. Für das Altfranzösische hingegen postuliert Roberts (1993:125), dass<br />
Null-Subjekte nur unter Rektion lizensiert sein konnten. 28 Durch diese Annahme des Wandels<br />
der Lizensierungseigenschaften möchte Roberts der Tatsache gerecht werden, dass im<br />
Mittelfranzösischen als Folge der Reanalyse in (34) die Kontexte, in denen die Subjektsposition<br />
durch ein nach COMP angehobenes Verb regiert wird, zunehmend seltener werden.<br />
Da der Anteil der Null-Subjekte allerdings nicht in dem gleichen Maße zurückgeht, ist dies<br />
für Roberts (1993) ein Beleg dafür, dass Null-Subjekte nun auch durch Kongruenz mit Agr 0<br />
formal lizensiert sein können.<br />
Den späteren Verlust der Null-Subjekt-Eigenschaft des Französischen führt Roberts auf<br />
morphologische Veränderungen im Bereich der französischen Verbalflexion zurück. Seiner<br />
Analyse zufolge führen diese – im Übergang vom Alt- zum Mittelfranzösischen eingetretenen<br />
– Veränderungen zu einem Wandel hinsichtlich der Art der inhaltlichen Lizensierung<br />
von Nullsubjekten, d.h. der "identification of the content of pro" (Roberts 1993:127). Unter<br />
Bezugnahme auf Foulet (1935/36:275ff.) nimmt Roberts an, dass das Paradigma der altfranzösischen<br />
Verbalflexion "funktional reich" genug war, um leere Subjekte zu identifizieren.<br />
Dieser Reichtum bestand darin, wie Roberts (1993:125) am Beispiel der Präsensformen<br />
für afr. chanter 'singen' illustriert, dass – unter Einbeziehung der "zero-inflection" der 1. Ps.<br />
Sg. – alle sechs Personen unterschiedliche Flexionsendungen aufweisen: 29<br />
28 Es sei daran erinnert, dass Roberts für die Kasuszuweisungseigenschaften des Altfranzösischen<br />
annimmt, dass diese auch unter Kongruenz möglich sind (cf. NOM-Parameter in (36)). Roberts<br />
(1993:125) unterscheidet also hier zwischen den Kasuszuweisungseigenschaften und den Eigenschaften<br />
der formalen Lizensierung von Null-Subjekten:<br />
"Agr 0 could Case-mark SpecAgr' in a configuration of agreement but a null subject could not be<br />
licensed in this kind of configuration. Thus, null subjects are licensed in a subset of the contexts in<br />
which Nominative can be assigned."<br />
29 Die Beschränkung auf die Präsensformen rechtfertigt Roberts (1993:125) folgendermaßen:<br />
"[...] these are by far the most frequent verb forms in the trigger experience, and hence play a<br />
major role in determining the status of the agreement system."
(41) afr. chant-ø, chant-es, chant-e(t), chant-ons, chant-ez, chant-ent<br />
Foulet (1935/36:292) zufolge tritt allerdings noch im Laufe des Altfranzösischen in der gesprochenen<br />
Sprache eine Änderung ein, die sich im Mittelfranzösischen vollends durchsetzt.<br />
Sie ist zum einen durch das Verschwinden der Endkonsonanten gekennzeichnet und<br />
zum anderen dadurch, dass in Analogie zu den übrigen Flexionsformen der Form der 1.Ps.<br />
Sg. ein e-Suffix, d.h. "a recognizable ending" (Roberts 1993:127), hinzugefügt wird:<br />
(42) mfr. chant-[∂], chant-[∂], chant-[∂], chant-[õ], chant-[e], chant-[∂]<br />
Der Unterschied zum altfranzösischen Paradigma besteht darin, dass nun die einzelnen<br />
Personen nicht mehr auf Grund der Flexionsendung unterschieden werden können. Allerdings<br />
existiert nun für jede Person eine Endung. In Anlehnung an Jaeggli / Safir (1989) bezeichnet<br />
Roberts (1993:126) dieses Flexionsparadigma als 'morphologisch uniform', da es<br />
nur abgeleitete Flexionsformen aufweist. Es ist seiner Analyse zufolge 'formal reich' genug,<br />
um leere Subjekte zu identifizieren. 30<br />
Zur Erklärung des im Neufranzösischen eintretenden endgültigen Verlustes der Null-<br />
Subjekt-Eigenschaft benötigt Roberts nun eine weitere ad hoc-Annahme. Roberts<br />
(1993:207) postuliert, dass die Identifizierung eines leeren Subjekts unter Spezifizierer-<br />
Kopf-Kongruenz nur dann möglich ist, wenn die Kongruenzmerkmale funktional reich<br />
sind. Da im Mittelfranzösischen der funktionale Reichtum jedoch offenbar verloren gegangen<br />
ist, besteht nur noch die Möglichkeit der Identifizierung leerer Subjekte über Rektion.<br />
Diese Möglichkeit ist allerdings im Mittelfranzösischen nur noch in eingeschränktem Maße<br />
gegeben, da auf Grund der – sich immer mehr durchsetzenden – Reanalyse in (34) nur noch<br />
selten das Verb in die COMP-Position bewegt wird, in der es ein Null-Subjekt in SpezIP<br />
regieren könnte. Dies hat nach Ansicht von Roberts nicht nur zur Folge, dass leere Subjekte<br />
immer seltener auftreten, sondern auch, dass es im Input immer weniger Evidenz dafür gibt,<br />
dass Nominativ-Kasus auch unter Rektion zugewiesen werden kann. Stattdessen findet in<br />
zunehmendem Maße Nominativzuweisung unter Spezifizierer-Kopf-Kongruenz statt.<br />
Für Roberts steht damit fest, dass diese morphosyntaktischen Veränderungen in ihrer<br />
Gesamtheit zu einer Abnahme der "density of the evidence for Nominative-assignment<br />
under government" geführt haben und "a causal role in the parametric change" spielen<br />
(Roberts 1993:188). Mit dem Ende der mittelfranzösischen Epoche ist Roberts zufolge<br />
schließlich die Situation erreicht, in der die Evidenz nicht mehr ausreicht, den Parameter in<br />
(36)(a) auf den Wert 'ja' zu fixieren:<br />
[...] choosing the 'yes' option for both [(36)(a)] and [(36)(b)] should be dispreferred by acquirers in<br />
the sense that positive, unambiguous trigger evidence will be needed to fix the parameter in this<br />
way. Now we can begin to see what must have happened in the late 15th/early 16th century leading<br />
up to the change in [(36)(a)]: the crucial data giving a 'yes' answer for [(36)(a)] become<br />
30 Die Bezugnahme auf die Null-Subjekt-Analyse von Jaeggli / Safir (1989) ist allerdings äußerst<br />
irreführend, da Roberts hier ohne weitere Begründung eine tiefgreifende Modifikation dieser<br />
Analyse vornimmt. Anders als Jaeggli / Safir (1989) sieht Roberts die 'Morphologische Uniformität'<br />
als eine (von zwei) Möglichkeiten der Identifizierung von Nullsubjekten und nicht als notwendige<br />
Bedingung zu deren Lizensierung an. Damit erweist sich Roberts Null-Subjekt-Analyse als<br />
vollkommen unvereinbar mit der von Jaeggli / Safir (1989).<br />
97
98<br />
amenable to some other analysis, and so this option is no longer selected, with the result that the<br />
structures that depend on this setting are lost. (Roberts 1993:189)<br />
Entscheidend ist für Roberts Analyse, dass der Wechsel des Parameterwertes nicht nur unmittelbare<br />
Auswirkungen auf die Verb-Zweit-Stellungseigenschaft, sondern auch auf andere<br />
Bereiche der Grammatik des Französischen hat. Die Aufgabe der Verb-Zweit-Bewegung<br />
resultiert nach Ansicht von Roberts daher, dass durch den Parameterwechsel die<br />
Möglichkeit der Nominativ-Kasus-Zuweisung an ein – in SpezIP befindliches – Subjekt<br />
durch ein nach COMP bewegtes finites Verb nicht mehr gegeben ist. Folglich muss die<br />
Kasuszuweisung innerhalb der IP unter Spezifizierer-Kongruenz erfolgen. Dadurch ist<br />
allerdings prinzipiell nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, dass das Verb im Anschluss an<br />
diese Kasuszuweisung nach COMP angehoben wird. Da Roberts diese Möglichkeit jedoch<br />
ausschließen will, benötigt er eine weitere Zusatzannahme, die er allerdings nur am Rande<br />
erwähnt. Er postuliert, dass im Neufranzösischen die V-nach-COMP-Bewegung deshalb<br />
nicht möglich ist, weil dadurch die Kongruenzbeziehung, die im Laufe der Ableitung innerhalb<br />
der IP bzw. der AgrP zwischen Subjekt und Verb zustande kommt, aufgehoben wird:<br />
In a language where Agr 0 assigns Nominative Case only under agreement, then, Agr to C movement<br />
(i.e. inversion) destroys the context in which Agr 0 can assign Nominative to SpecAgr'. (Roberts<br />
1993:26)<br />
Demzufolge sind die beiden neufranzösischen Sätze in (43) ungrammatisch, weil durch die<br />
Anhebung des Verbs (bzw. Agr 0 ) nach COMP die Spezifizierer-Kopf-Kongruenz zwischen<br />
dem Subjekt und der Spur des Verbs in INFL zerstört worden ist:<br />
(43) nfr. (a) *[CP [C' Ai [IP Jean [I' ti] [VP pris le livre]]]]?<br />
hat Jean genommen das Buch<br />
(b) *[CP Quel filmj [C' ai [IP Jean [I' ti] [VP vu tj ]]]]?<br />
welchen Film hat Jean gesehen<br />
Auch der Verlust der Null-Subjekt-Eigenschaft im Französischen ist gemäß Roberts' Analyse<br />
eine unmittelbare Folge des Parameterwechsels, da nicht mehr die Möglichkeit besteht,<br />
leere Subjekte unter Rektion zu lizensieren. Zwei weitere unmittelbare Konsequenzen des<br />
Parameterwechsels sind nach Ansicht von Roberts zum einen die Entstehung eines vollständigen<br />
Paradigmas der klitischen Subjektspronomina und zum anderen die Herausbildung<br />
der Komplexen Inversion. Eine Besonderheit der klitischen Pronomina ist nach Roberts<br />
die, dass ihnen Nominativkasus nicht auf eine der beiden oben genannten Weisen<br />
zugewiesen wird, sondern dass sie nach Agr 0 inkorporieren, um dem Kasusfilter zu genügen.<br />
Das heißt, sie können weiterhin postverbal auftreten, wie etwa im Falle der Komplexen<br />
Inversion. Die Kasuszuweisung an das Subjekt ist in diesem Fall dadurch gesichert,<br />
dass das Subjekt innerhalb der CP in einer Spezifizierer-Kopf-Kongruenz-Beziehung zum<br />
finiten Verb steht.<br />
Entsprechend der Parameterkonzeption von Chomsky (1981) versucht Roberts (1993:82)<br />
zu zeigen, dass der Wechsel des Parameterwerts in (36)(a) Auswirkungen auf das gesamte<br />
grammatische System des Französischen hat und "a number of important developments in<br />
the history of French syntax" impliziert. Das heißt, die Umfixierung des Parameters korreliert<br />
mit dem Wandel mehrerer voneinander unabhängiger Eigenschaften. Außerdem hat sie<br />
radikale Konsequenzen, nämlich insofern, als nach Roberts' Beobachtungen die endgültige<br />
Aufgabe der Verb-Zweit- und Null-Subjekt-Eigenschaft plötzlich erfolgt. Roberts (1993:82)
ist daher überzeugt, dass es sich hier um einen "genuine case of parametric change" handelt.<br />
3.3.4.3 Konkurrenz zwischen Verb-Zweit-Stellung und Freier Inversion<br />
Ein anderer, auf Vance (1989, 1995, 1997) zurückgehender Ansatz zur Erklärung des Verbstellungswandels<br />
im Französischen und dessen Unterschied zu den germanischen Sprachen<br />
basiert auf der Annahme, dass das Altfranzösische im Gegensatz zu den germanischen<br />
Sprachen die so genannte 'Freie Inversion' erlaubt (cf. auch de Bakker 1997). Das heißt, es<br />
besitzt die für viele romanische Sprachen typische Möglichkeit der satzfinalen Stellung des<br />
nominalen Subjekts. Einen Beleg für diese Stellungsmöglichkeit im Altfranzösischen bilden<br />
Sätze wie in (44), in denen das postverbale Subjekt nicht adjazent zum finiten Verb,<br />
sondern satzfinal oder "at the right periphery of the VP" steht (Vance 1995:175): 31<br />
(44) afr. (a) Si plorerent assez a cest departement cel qui plus<br />
so weinten sehr bei diesem Abschied diejenigen die am meisten<br />
cuidoient avoir les cuers et durs et orgueillox<br />
glaubten zu-haben die Herzen sowohl harte als auch stolze<br />
(que 26,19ff.) (Vance 1995:175)<br />
(b) et par ceste parole entra en aus covoitise<br />
und bei diesem Wort trat in sie Verlangen<br />
(que 103,12f.) (Vance 1995:175)<br />
(c) car ja seront repeu li verai chevalier de la viande de ciel<br />
denn nun werden ernährt die wahren Ritter mit der Speise des Himmels<br />
(que 267,14f.) (Vance 1995:175)<br />
(d) car assez l' ot eschaufé li serpenz<br />
denn sehr ihn hatte erzürnt die Schlange<br />
(que 95,1) (Vance 1995:175)<br />
Vance (1995:175) weist darauf hin, dass diese Inversion unabhängig von der Art des Verbs<br />
ist, d.h. nicht nur mit intransitiven oder passivischen Verben (cf. (44)(a)-(c)), sondern auch<br />
mit transitiven Verben (cf. (44)(d)) möglich ist. 32 Außerdem betont sie, dass diese Art der<br />
Inversion ausschließlich nominalen Subjekten vorbehalten ist. In Anlehnung an zahlreiche<br />
Analysen der Freien Inversion im Spanischen und Italienischen (u.a. Contreras 1987, Burzio<br />
1986) nimmt Vance (1995:181, 1997:67-126) an, dass das Subjekt in diesen Sätzen<br />
nicht nach SpezIP angehoben wird, sondern in seiner basisgenerierten Position innerhalb<br />
der VP verbleiben kann. Sie weist daher den Sätzen in (44) eine 'hybride' Struktur zu, in der<br />
sich das finite Verb in COMP und das Subjekt entweder in SpezVP oder – im Fall der<br />
Unakkusativ- oder Passivkonstruktionen – in der Objektposition der VP befinden:<br />
(45) (a) [CP XP [C' Vi [IP pro [I' ti [VP ...] Subj.]]]]<br />
(b) [CP XP [C' Vi [IP pro [I' ti [VP ...[NP Subj.]]]]]]<br />
31 Diese Art der Inversion wird als 'frei' bezeichnet, weil zwischen einem Satz mit präverbalem Subjekt<br />
und einem ansonsten identischen Satz mit postverbalem Subjekt nur geringfügige semantische<br />
Unterschiede bestehen (Safir 1985:172).<br />
32 Die einzige Besonderheit, die Vance (1995:193,Fn.3) in Sätzen mit transitivem Verb beobachtet,<br />
ist die, dass ein nicht pronominales direktes Objekt nicht zwischen finitem Verb und postverbalem<br />
Subjekt auftreten kann.<br />
99
100<br />
Der Unterschied zu den germanischen Sprachen besteht somit darin, dass im Altfranzösischen<br />
das Subjekt nicht notwendigerweise mindestens nach SpezIP angehoben werden<br />
muss, sondern in der VP verbleiben kann (Vance 1997:98f.). 33 Vance (1995:181) vermutet<br />
allerdings, dass die Strukturen in (45) bereits im Altfranzösischen sehr unstabil waren. Sie<br />
führt das unter anderem darauf zurück, dass auch in altfranzösischen Nebensätzen die Freie<br />
Inversion möglich war:<br />
(46) afr. ... quant vint par la volenté Nostre Seignor Calogrenant, uns chevaliers<br />
als kam durch den Willen unseres Herrn Calogrenant ein Ritter<br />
de la meson le roi Artus ...<br />
aus dem Haus des Königs Artus<br />
(que 190,27ff.) (Vance 1995:176)<br />
Als ausschlaggebend für die Instabilität der Strukturen in (45) sieht Vance die Tatsache an,<br />
dass auch in einigen wenigen Nebensätzen des (späten) Altfranzösischen die satzinitiale<br />
Position durch ein Nicht-Subjekt besetzt sein konnte. Dies liefert ihrer Ansicht nach Evidenz<br />
dafür, dass im Altfranzösischen nicht nur die SpezCP-, sondern auch die SpecIP-Position<br />
als A'-Position fungierte:<br />
(47) afr. ... si dist que molt ert liez quant en si haute bonté et en<br />
so (er)-sagte dass sehr sein-wird glücklich wenn in so hoher Güte und in<br />
si haute chevalerie seroit fichiee la bosne de son lignage<br />
so hoher Ritterlichkeit wäre gefestigt das Ende von seinem Geschlecht<br />
(que 221,15f.) (Vance 1995:181)<br />
Vance (1995:181) schließt daher aus dieser Beobachtung, dass "at least some speakers of<br />
late O[ld] F[rench]" Sätze wie (44) mit einer IP- statt mit einer CP-Struktur interpretiert<br />
haben, d.h. diesen Sätzen eine der folgenden Strukturen zugewiesen haben:<br />
(48) (a) [IP XP [I' V [VP ...] Subj.]]<br />
(b) [IP XP [I' V [VP ...[NP Subj.]]]]<br />
Konstruktionen mit Freier Inversion und einer satzinitialen Konstituente sind demnach im<br />
Alt- und Mittelfranzösischen strukturell ambig. Damit bilden für Vance (1995:191) diese<br />
Konstruktionen den entscheidenden Satztyp, der für den Verlust der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
verantwortlich ist:<br />
The crucial clause-type is CV(X)Sn, a hybrid 'verb second free inversion' construction, which is<br />
consistent with both a grammar in which obligatory V-to-C applies and with one in which it does<br />
not.<br />
Vances Annahme besteht darin, dass Sätze mit dieser Wortstellung ab dem frühen Mittelfranzösischen<br />
in zunehmendem Maße als IP-Struktur, d.h. ohne V-nach-COMP-Bewegung,<br />
gebildet wurden. Evidenz hierfür sieht Vance (1995:186) in der von ihr in mehreren Texten<br />
33 Vance (1997:86) weist darauf hin, dass auch in einigen germanischen Sprachen das postverbale<br />
Subjekt getrennt vom Verb auftreten kann. Allerdings befindet sich das Subjekt in diesen Fällen in<br />
der SpezIP-Position, an die die zwischen Verb und Subjekt auftretende Konstituente adjungiert<br />
worden ist (cf. Vikner 1995:106):<br />
(i) dt. [CP Morgen [c' wirdi [IP nach drei Wochen Urlaub [IP sein Freund ti [VP zurückkommen]]]]]<br />
(ii) sw. [CP De här bökerna [c' villi [IP trots allt [IP Johan ti [VP läsa]]]]]<br />
diese hier Bücher will trotz allem Johan lesen
101<br />
des 13.-15. Jhdts. konstatierten Entwicklung der Subjekt-Verb-Inversion. Hierbei verzeichnet<br />
sie einerseits einen deutlichen Rückgang hinsichtlich der Häufigkeit der Inversion mit<br />
einem pronominalen Subjekt, den sie als Beleg für die allmähliche Aufgabe der V-nach-<br />
COMP-Bewegung interpretiert, da diese Art der Inversion nicht als Freie Inversion möglich<br />
ist, sondern ausschließlich im Zusammenhang mit einer V-nach-COMP-Bewegung auftreten<br />
kann. Andererseits konstatiert sie beim Auftreten der Inversion mit nominalem Subjekt<br />
nur einen schwachen Rückgang. Dies interpretiert Vance dahingehend, dass es parallel zur<br />
Aufgabe der V-nach-COMP-Bewegung zu einer Zunahme der Freien Inversion kommt, die<br />
auch ohne V-nach-COMP-Bewegung möglich ist. Mit anderen Worten, die während der<br />
ganzen mittelfranzösischen Periode zahlreichen Belege für Sätze vom Typ XPV(X)Sn sind<br />
nach Ansicht von Vance (1995:187) nur ein scheinbares Indiz für die Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
des Mittelfranzösischen, da auf Grund des zunehmenden Auftretens der<br />
Freien Inversion nur deren Verlust verschleiert wird. Einen zusätzlichen Beleg für diese<br />
Annahme findet Vance (1995:190) in folgenden mittelfranzösischen Sätzen:<br />
(49) mfr. (a) Le lendemain, à l' aube du jour, passèrent les ducs de Berry<br />
am nächsten Morgen bei Tagesanbruch kamen vorbei die Herzöge von Berry<br />
et de Bretagne<br />
und der Bretagne<br />
(Commynes, Mémoires sur Louis XI, 74,3) (zitiert nach Vance 1995:190)<br />
(b) Dès qu' il fut dressé, vint un officier d'armes du roy<br />
Sobald dass er war aufgerichtet kam ein Waffenoffizier des Königs<br />
(Commynes, Mémoires sur Louis XI, 88,13) (zitiert nach Vance 1995:190)<br />
Trotz des Vorhandenseins der Subjekt-Verb-Inversion konstatiert Vance (1995:190) zu<br />
Recht, dass es unplausibel ist anzunehmen, dass in diesen Sätzen eine V-nach-COMP-Bewegung<br />
stattgefunden hat:<br />
First, recall that our statistics show that unaccusative verbs such as passer and venir are typical of<br />
such clauses in Mid[dle] F[rench] and that the postverbal subjets may in fact be underlying direct<br />
objects that have not moved from their base positions. Second, pronominal inversion after a clause<br />
is to my knowledge not found in Mid[dle] F[rench]; this fact implies that an IP structure is at issue.<br />
Schließlich weist Vance (1995:190) noch darauf hin, dass auch im modernen Französischen<br />
– wie bereits in Kapitel 2 gesehen – ähnliche Inversionskonstruktionen zu beobachten sind,<br />
denen zweifelsohne eine IP-Struktur zuzuordnen ist:<br />
(50) nfr. (a) N' entraient, naturellement, en ligne de compte ni les paysans et<br />
nicht traten ein natürlich in Betrachtung weder die Bauern und<br />
leur patois, ni la plèbe des faubourgs<br />
ihr Dialekt noch die Plebs der Vorstädte<br />
(b) Depuis la deuxième guerre mondiale, s' est accentuée une tendance,<br />
seit dem zweiten Weltkrieg sich ist herausgebildet eine Tendenz<br />
qui s' esquissait déjà dans les années trente, à la confusion<br />
die sich abzeichnete schon in den Jahren dreißig zu der Vermischung<br />
des deux a au profit du /a/ d' avant<br />
der zwei 'a's zu Gunsten des /a/s von vorn<br />
Mit anderen Worten, das zentrale Argument von Vance besteht darin, dass das Vorhandensein<br />
von Inversionsstrukturen im Altfranzösischen nicht notwendigerweise ein Beleg für<br />
die Existenz der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft ist. Sie weist nach, dass viele dieser<br />
Sätze mit einer IP-Struktur vereinbar sind und adäquater erfasst werden können. Lediglich<br />
Sätze mit invertiertem pronominalen Subjekt und Sätze, in denen ein invertiertes nominales
102<br />
Subjekt adjazent zu einem transitiven Verb oder zu einem Auxiliar in komplexen Verbalphrasen<br />
steht, sind ihrer Analyse zufolge eindeutige Belege für eine V-nach-COMP-Bewegung.<br />
Die Beobachtung, dass Sätze dieses Typs ab dem 14. Jhdt. immer seltener auftreten,<br />
während sonstige Inversionssätze weiterhin sehr häufig sind, sieht sie daher als Beleg für<br />
den Verlust der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft im Französischen.<br />
3.3.4.4 Symmetrie oder Asymmetrie? Verb-Zweit-Stellung im Nebensatz<br />
Zum Abschluss der Diskussion generativer Untersuchungen der französischen Wortstellungsentwicklung<br />
ist es notwendig, kurz die Analysen des Nebensatzes zu betrachten. Darin<br />
geht es vor allem um die Frage, ob das Alt- bzw. Mittelfranzösische als eine symmetrische<br />
oder als eine asymmetrische Verb-Zweit-Sprache zu analysieren ist.<br />
Die ursprünglichen generativen Analysen von Benincà (1983/84) und Adams (1987a)<br />
gehen davon aus, dass das Altfranzösische dem zweiten Sprachtyp angehört hat. Wie bereits<br />
dargestellt, ist die Annahme, wonach im Altfranzösischen Verb-Zweit-Effekte vorwiegend<br />
auf Matrixsätze beschränkt sind, für beide Analysen ein wichtiger Bestandteil. Damit<br />
verbunden ist außerdem die Annahme, dass leere Subjekte in altfranzösischen Nebensätzen<br />
ausgeschlossen sind. Vor allem die letztere Annahme konnte jedoch sehr bald als empirisch<br />
nicht haltbar zurückgewiesen werden, wie beispielsweise folgende Sätze belegen (Dupuis<br />
1988, Hirschbühler / Junker 1988, Hirschbühler 1989):<br />
(51) afr. (a) Ainz que m' en aille en France<br />
bevor dass REFL weg (ich)-gehe nach Frankreich<br />
(Aymeri de Narbonne, 204) (zitiert nach Adams 1988:6)<br />
(b) ... Por ce que chevalier me face<br />
damit dass (zum) Ritter mich (er)-macht<br />
(cli 115) (Adams 1988:6)<br />
Problematisch sind diese Sätze für die Analyse von Adams (1987a,b), da auf Grund der<br />
Besetzung der COMP-Position durch eine lexikalische Konjunktion die von ihr angenommene<br />
kanonische Rektion des Nullsubjekts durch ein links adjazent stehendes Verb nicht<br />
mehr möglich ist. Adams (1988) versucht allerdings trotz dieser Belege an ihrer Analyse<br />
der kanonischen Rektion festzuhalten. Sie schlägt vor, dass das leere Subjekt in den Sätzen<br />
in (51) in seiner basisgenerierten Position, d.h. in SpezVP, verbleiben kann und dort durch<br />
das nach INFL bewegte finite Verb regiert wird. Die SpezIP-Position kann dabei entweder<br />
durch eine leere Kategorie ((52)(a)) oder durch eine NP besetzt sein ((52)(b)) (Adams<br />
1988:9):<br />
(52) (a) [CP Ainz que [IP e [I' m' en aille [VP pro en France]]]]<br />
(b) ... [CP por ce que [IP chevalieri [I' me face [VP pro ti]]]]<br />
Eine entscheidende Konsequenz dieser Analyse besteht darin, dass die SpezIP-Position<br />
auch für Elemente zugelassen ist, die nicht als Subjekt fungieren. Damit überträgt Adams<br />
die u.a. von Diesing (1988, 1990) für das Jiddische vorgeschlagene Analyse auf das Altfranzösische.<br />
Adams gibt demnach ihre ursprüngliche Analyse des Altfranzösischen als<br />
asymmetrische Verb-Zweit-Sprache auf und analysiert nun das Altfranzösische als eine<br />
symmetrische Verb-Zweit-Sprache, in der im Nebensatz "almost any XP [...] in Spec,IP"
103<br />
auftreten kann (Adams 1998:9). Nach Ansicht von Côté (1995:173) ist diese Analyse deshalb<br />
gerechtfertigt, weil es Belege für die XV(S)-Stellung in "tous les types de subordonnées<br />
(sous-catégorisées, circonstancielles, interrogatives indirectes)" gibt (cf. auch<br />
Dupuis 1988). Bezeichnenderweise handelt es sich bei vielen der von Côté vorgelegten<br />
Beispielsätze um Nebensätze, die von einem Brückenmatrixverb abhängig sind und daher,<br />
wie in der Diskussion eingebetteter Verb-Zweit-Effekte in Kapitel 2 gezeigt, nicht als Evidenz<br />
für eine symmetrische Verb-Zweit-Stellungseigenschaft dienen können:<br />
(53) afr. (a) Et il respondirent que de ceste nouvele sont il moult lié<br />
und sie antworteten dass über diese Nachricht sind sie sehr glücklich<br />
(roi 45,64) (Côté 1995:173)<br />
(b) si dist que voirement l' avoit Lancelot engendré<br />
und (er)-sagte dass wirklich es hatte Lancelot gezeugt<br />
(que 14,26-27) (Côté 1995:173)<br />
Die meisten anderen Beispielsätze Côtés sind als Belege für eine eingebettete Verb-Zweit-<br />
Stellung ungeeignet, da der Nebensatz kein realisiertes Subjekt enthält. In den wenigen<br />
übrigen Beispielsätzen mit realisiertem Subjekt wird allerdings das Matrixverb nicht aufgeführt,<br />
so dass keine Aussage darüber gemacht werden kann, inwiefern diese Beispiele die<br />
Analyse des Alt- bzw. Mittelfranzösischen als eine symmetrische Verb-Zweit-Sprache<br />
rechtfertigen. Die gleiche Beobachtung kann auch bei Roberts (1993:100) gemacht werden,<br />
der folgendes Beispiel in (54) als Beleg für einen "genuine case [...] of embedded V2 (in<br />
non-bridge complements)" vorlegt, ohne dabei allerdings das Matrixverb mit anzugeben.<br />
Eine Überprüfung des Beispiels zeigt, dass der Nebensatz ein satzeinleitender Konditionalsatz<br />
ist, der zwar nicht von einem Brückenverb abhängig ist, dessen Wortstellung jedoch<br />
zweifelsohne auf die Reimbildung zurückgeführt werden muss:<br />
(54) afr. Sire s' a la vostre bonté<br />
Herr wenn nach dem eurigen Willen<br />
Vousist mon pere prendre garde,<br />
wollte mein Vater nehmen Acht<br />
Par foi, n' eüsse point de garde<br />
durch Treu NEG (ich)-hätte nicht PRÄP Angst<br />
(pal 378-380) (Roberts 1993:100)<br />
Dies bestätigt die bereits in Abschnitt 3.3.1.2 dargelegte Tatsache, dass es insgesamt nur<br />
sehr wenige klare Belege für die Existenz eingebetteter Verb-Zweit-Effekte im Altfranzösischen<br />
gibt:<br />
In fact, there are very few truly unequivocal cases of embedded V2 in non-bridge complements in<br />
O[ld] F[rench] [...]. Most of the cases that have been cited can and should be handled in other<br />
ways. (Roberts 1993:97)<br />
Mit anderen Worten, es gibt nur geringe Evidenz für die Analyse des Altfranzösischen als<br />
eine symmetrische Verb-Zweit-Sprache. In Anlehnung an Cardinaletti / Roberts (1991) vermutet<br />
Roberts (1993:102) allerdings, dass im Altfranzösischen zumindest in einem eingeschränkten<br />
Maße die Möglichkeit zu einer IP- bzw. AgrP-Rekursion bestand. Anders sieht<br />
er keine Möglichkeit, um Sätze wie in (54) zu erklären:
104<br />
(55) CP<br />
XP C'<br />
C 0 Agr1P<br />
[+wh]<br />
PP Agr1P'<br />
Agr1 0 Agr2P<br />
SpezAgr2P Agr2P'<br />
Agr2 0 TP<br />
s' a la vostre bonté vousisti mon pere ti ti prendre garde<br />
Gegen eine solche Analyse spricht allerdings die Tatsache, dass in altfranzösischen Nebensätzen<br />
auch Verb-Dritt-Sätze zu beobachten ist. Unter Berufung auf Skårup (1975:510ff.)<br />
und Dees (1980) weist Côté (1995:176) darauf hin, dass ab dem 13. Jhdt. Nebensätze mit<br />
einer XSV-Stellung an Häufigkeit zunehmen:<br />
(56) afr. (a) Mais je croi que a la fin il seront destruit et honis<br />
aber ich glaube dass am Ende sie sein-werden ruiniert und verflucht<br />
(Le Roman de Troie en prose, 112.17) (zitiert nach Skårup 1975:511)<br />
(b) ... que tous tens nos et nos hoirs en serons riches et manant<br />
dass alle Zeit wir und unsere Erben davon sein-werden reich und begütert<br />
(Le Roman de Troie en prose, 26.20) (zitiert nach Skårup 1975:511)<br />
Es steht außer Zweifel, dass solche Sätze mit einer Verb-Zweit-Analyse unvereinbar sind.<br />
Zur Rechtfertigung einer solchen Analyse genügt es also nicht, wie Côté (1995:175) zu<br />
Recht betont, lediglich zu zeigen, dass es Verb-Zweit-Stellungseffekte gibt, sondern es<br />
muss gleichzeitig gezeigt werden, dass es keine Wortstellungsmuster gibt, die gegen eine<br />
solche Analyse sprechen:<br />
La possibilité de V2 dans l'ensemble des subordonnées ne suffit pourtant pas à justifier l'analyse<br />
symétrique de l'[ancien français du 13ième siècle]. En principe, la structure V2 n'est pas uniquement<br />
associée à la possibilité des séquences XV(S) mais également à l'exclusion des constructions<br />
V>2, principalement XSV et SXV. C'est donc la combinaison de la présence de XV(S) et de<br />
l'absence de V>2 qui indique sans ambigüité l'application de la contrainte V2.<br />
Für Côté (1995:175ff.) steht daher fest, dass zumindest das Altfranzösische des 13. Jhdts.<br />
nicht als symmetrische Verb-Zweit-Sprache analysiert werden kann. Demgegenüber vermutet<br />
sie, dass für die früheren Stadien des Altfranzösischen diese Analyse gerechtfertigt<br />
ist. Ihre Annahme beruht darauf, dass ihren Beobachtungen zufolge in den altfranzösischen<br />
Texten des 11. und 12. Jhdts. häufiger XV(S)-Nebensätze anzutreffen sind als in Texten des<br />
späteren Altfranzösischen. Von zentraler Relevanz ist für Côté (1995:181) vor allem die<br />
Beobachtung von Skårup (1975:509-511), wonach vor dem Beginn des 13. Jhdts. XSV-<br />
Nebensätze sehr selten sind. Folglich gelangt Côté (1995) zu dem Schluss, dass das vor<br />
dem 13. Jhdt. gesprochene Altfranzösische als symmetrische Verb-Zweit-Sprache zu analysieren<br />
ist, während das spätere Altfranzösische durch den Verlust der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
im Nebensatz und in der Folge auch im Matrixsatz gekennzeichnet ist.
105<br />
Der kurze Überblick hat gezeigt, dass die generativen Analysen der Wortstellung im Nebensatz<br />
stark voneinander abweichende Angaben über Häufigkeit und Art der eingebetteten<br />
Verb-Zweit-Effekte machen. Hirschbühler (1989:172) führt dies darauf zurück, dass es<br />
starke (diachrone und dialektale) Unterschiede zwischen den einzelnen Texten des Alt- und<br />
Mittelfranzösischen gibt. Mit anderen Worten, erst eine zeitlich und regional differenzierte<br />
Analyse des Altfranzösischen wird in der Lage sein, adäquate Aussagen über die Struktur<br />
des altfranzösischen Nebensatzes zu machen.<br />
3.4 Verbstellungswandel in anderen romanischen Sprachen<br />
Bereits eingangs dieses Kapitels habe ich darauf hingewiesen, dass sowohl in der generativen<br />
als auch in der nicht generativen romanistischen Wortstellungsforschung ein deutlicher<br />
Schwerpunkt auf dem Französischen liegt. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen,<br />
wie z.B. Pape (1883) zum Altprovenzalischen oder David (1887) zum Altitalienischen, sind<br />
bis zur Mitte des 20. Jhdts. nur wenige Studien angefertigt worden, die sich der Wortstellung<br />
oder der Wortstellungsentwicklung einer anderen romanischen Sprache als der des<br />
Französischen widmen. Die ersten detaillierteren Studien zur spanischen und portugiesischen<br />
Wortstellung entstehen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jhdts. (Crabb 1955 für das<br />
Spanische, Schellert 1958 und Pádua 1960 für das Portugiesische). Die meisten dieser und<br />
späterer Arbeiten befassen sich ausschließlich mit stilistischen oder pragmatischen Aspekten<br />
der Wortstellung. Syntaktische Aspekte sowie spezifische Aspekte der Stellung des<br />
finiten Verbs bleiben dabei weitgehend unberücksichtigt. 34 Dies gilt auch für alle neueren<br />
nicht generativen Untersuchungen zum Wortstellungswandel, wozu es insbesondere zum<br />
Spanischen eine Vielzahl von Arbeiten gibt (u.a. Bossong 1984, Meyer-Hermann 1988,<br />
1991, England 1980, 1983, 1984, 1993, Neumann-Holzschuh 1997). Aus diesem Grund<br />
wird hier auf eine Diskussion dieser Arbeiten verzichtet, zumal bereits in der Darstellung<br />
der Untersuchungen zur französischen Wortstellung eingehend auf die traditionellen, nicht<br />
syntaktisch orientierten Erklärungsansätze eingegangen worden ist.<br />
Auch die im generativen Rahmen angefertigten Studien sollen hier nur kurz betrachtet<br />
werden, da sie sich nur unwesentlich von denen des Französischen unterscheiden. Wie bereits<br />
bei der Besprechung von Benincà (1983/84) kurz erwähnt, wird angenommen, dass<br />
nicht nur das Altfranzösische, sondern alle frühromanischen Sprachen durch eine strenge<br />
Verb-Zweit-Stellungsregel gekennzeichnet waren (cf. auch Salvi 1993, 2000, Benincà<br />
1995, Fontana 1997). Den Grund für diese Annahme liefert die – bereits in Kapitel 1 illustrierte<br />
– Beobachtung, dass in den altromanischen Sprachen in verstärktem Maße Sätze mit<br />
einer XVS-Stellung anzutreffen sind. Diese Beobachtung wird auch in der Untersuchung<br />
34 Hierzu finden sich meist nur in den bereits besprochenen gemeinromanischen Untersuchungen,<br />
wie z.B. von Diez (1882) oder Meyer-Lübke (1899), einige Angaben. Thurneysen (1892:302) äußert<br />
die Vermutung, dass die "Neigung, das Verbum an die zweite Stelle im Satze zu rücken, [...]<br />
keine französische Eigentümlichkeit [ist], sondern [...] allen Romanen [eignet]", d.h. "als die gemeinromanisch<br />
normale anzusehen ist". Er liefert jedoch keine Belege für diese Annahme, die<br />
im Übrigen von Richter (1903:46) und Nissen (1943:5,Fn.2) als inadäquat zurückgewiesen wird.
106<br />
des Altportugiesischen von Ribeiro (1995) gemacht, die hier stellvertretend diskutiert werden<br />
soll:<br />
(57) apg. (a) E todo o contrairo faz a Escritura<br />
und ganz das Gegenteil macht die Schrift<br />
(Diálogos de São Gregório, 3.34.27) (zitiert nach Ribeiro 1995:114)<br />
(b) E desto se nembrou el<br />
und an-das sich erinnerte er<br />
(Diálogos de São Gregório, 2.16.7) (zitiert nach Ribeiro 1995:114)<br />
(c) Ca assi temian todalas bestas a agua<br />
denn dann fürchteten alle-die wilden-Tiere das Wasser<br />
(Diálogos de São Gregório, 1.2.38) (zitiert nach Ribeiro 1995:114)<br />
Ribeiro (1995:114) nimmt an, dass es sich bei diesen Sätzen um "manifestations of verbsecond<br />
structures" handelt. Gleichzeitig räumt sie aber ein, dass im Altportugiesischen auch<br />
Konstruktionen möglich waren, die nicht mit einer Verb-Zweit-Struktur erfasst werden<br />
können. Insbesondere beobachtet Ribeiro (1995:124) in ihrem Korpus das Auftreten von<br />
Verb-Dritt-Sätzen mit einer XSV-Stellung ((58)(a)-(b)) und in einem Fall mit einer SXV-<br />
Stellung ((58)(c)):<br />
(58) apg. (a) e assi o santo homen defendeu os seus discipulos<br />
und dann der heilige Mann verteidigte die seinen Schüler<br />
(Diálogos de São Gregório, 1.9.13) (zitiert nach Ribeiro 1995:124)<br />
(b) e enton hũũ homen siia en sa pousada<br />
und dann ein Mann (sich)-setzte in seine Herberge<br />
(Diálogos de São Gregório, 1.2.25) (zitiert nach Ribeiro 1995:124)<br />
(c) El con sa mão deu a oferta<br />
er mit seiner Hand gab das Angebot<br />
(Diálogos de São Gregório, 2.23.17) (zitiert nach Ribeiro 1995:125)<br />
Ribeiro (1995:126) räumt ein, dass der von ihr untersuchte altportugiesische Text somit<br />
kein "perfect verb-second text" zu sein scheint. 35 Dennoch ist ihrer Ansicht nach die Annahme<br />
gerechtfertigt, wonach das grammatische System des Altportugiesischen "in the<br />
technical sense" über die Verb-Zweit-Stellungseigenschaft verfügte, d.h. ein System war,<br />
"in which C 0 has the feature [+Agr]" (Ribeiro 1995:126). Evidenz für diese Annahme sieht<br />
Ribeiro im Verhalten der altportugiesischen Klitika, die – wie bereits von Meyer-Lübke<br />
(1897) beobachtet – i.d.R. in der zweiten Position des Satzes erscheinen. In eingebetteten<br />
Sätzen haben sie die Tendenz, stets adjazent zur Konjunktion aufzutreten. Dies hat zur Folge,<br />
dass das Pronomen auch vom finiten Verb durch eine oder mehrere Konstituenten getrennt<br />
stehen kann:<br />
(59) apg. (a) mandou que o non dissessen a nengũũ<br />
(er)-befahl dass es nicht (sie)-sagten zu niemandem<br />
(Diálogos de São Gregório, 1.7.22) (zitiert nach Ribeiro 1995:127)<br />
(b) ainda que o el primeiramente salvasse<br />
schon dass ihn er zuerst rettete<br />
(Diálogos de São Gregório, 1.7.20) (zitiert nach Ribeiro 1995:127)<br />
35 Die gleiche Beobachtung macht Fontana (1997:225) auch für das Altspanische:<br />
"[...] we lack crucial data from the period in which the hypothesized V2 phrase structure [...] of<br />
O[ld] Sp[anish] must have manifested themsel[f] in [its] 'pure' state [...]."
107<br />
Für Ribeiro (1995) belegen diese Daten, dass im Altportugiesischen COMP als Partner für<br />
Klitika zur Verfügung stand. In Anlehnung an die in Kapitel 2 diskutierte Verb-Zweit-Analyse<br />
von Tomaselli (1990) folgert sie aus dieser Beobachtung, dass diese Eigenschaft von<br />
COMP damit zusammenhängt, dass es das Merkmal [+Agr] trägt:<br />
Only a head C 0 associated with Agr can host a clitic. Thus, in view of the fact that the property of<br />
having Agr in C 0 (or a pronominal C 0 in Tomaselli's words) has been analysed as pertinent to the<br />
verb-second languages, it may be concluded that C 0 is characterized by the feature [+Agr] (or<br />
[+pronominal]) in O[ld] P[ortuguese] and that, therefore, O[ld] P[ortuguese] instantiates a verbsecond<br />
language type. (Ribeiro 1995:127)<br />
Zur Erklärung des Verlustes der Verb-Zweit-Stellung im Portugiesischen orientiert sich Ribeiro<br />
(1995) weitestgehend an der Analyse von Roberts (1993) für das Französische. Das<br />
heißt, sie nimmt an, dass der Abbau der Verb-Zweit-Stellung im Portugiesischen auf einen<br />
Wandel des Nominativ-Zuweisungsparameters zurückzuführen ist. Den von Roberts für das<br />
Französische konstatierten abrupten Wechsel dieses Parameters und die damit verbundene<br />
endgültige Aufgabe der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft, kann Ribeiro im Portugiesischen<br />
allerdings nicht beobachten. Vielmehr handelt es sich ihren Beobachtungen zufolge um<br />
einen allmählichen Wandel, der erst zu Beginn dieses Jahrhunderts zum endgültigen Abschluss<br />
gekommen ist.<br />
Aus der Annahme, dass alle romanischen Sprachen zu einem früheren Zeitpunkt über<br />
eine strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft verfügt haben, kann gefolgert werden, dass<br />
die einzige moderne romanische Sprache, die diese Eigenschaft besitzt, nämlich das Rätoromanische,<br />
sich von den anderen romanischen Sprachen dadurch unterscheidet, dass es im<br />
Laufe seiner Entwicklung bislang keinen parametrischen Wandel erfahren hat, der zu einer<br />
Aufgabe der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft geführt hat. Darauf wird von Benincà<br />
(1985/86) in ihrer Untersuchung derjenigen modernen dolomitenladinischen Varietäten, die<br />
eine strenge Verb-Zweit-Stellung aufweisen, hingewiesen. Sie wendet sich damit explizit<br />
gegen eine in traditionellen Untersuchungen des Rätoromanischen häufig vertretene Auffassung,<br />
wonach sich dessen Verb-Zweit-Eigenschaft in Folge des Kontakts mit dem Deutschen<br />
herausgebildet hat (Kuen 1978:46). Demgegenüber sieht Benincà (1985/86:100f.) in<br />
dem Kontakt mit dem Deutschen den Grund dafür, dass die Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
im Rätoromanischen erhalten geblieben ist:<br />
[...] non è necessario ricorrere a un prestito dal tedesco per spiegare il fenomeno sintattico dell'inversione<br />
del soggetto nei dialetti ladini: esso serà piuttosto la continuazione diretta e regolare della<br />
grammatica delle varietà romanze medievali da cui queste parlate sono derivate.<br />
Il fatto che la costruzione con anteposizione del verbo sia praticamente perduta in tutta l'area<br />
romanza fin dal XIV-XV secolo e rimanga solo qui, in un'area a stretto contatto con parlanti di lingua<br />
tedesca, non sarà necessariamente da considerare casuale [...]. Se le lingue romanze l'hanno<br />
tutte abbandonata, in maniera indipendente, significa che si tratta di una struttura che può prestarsi<br />
a veloce rianalisi ed evoluzione: sarà allora proprio il contatto col tedesco che ha contribuito a<br />
mantenerla in vita nelle aree ladine.<br />
Für die anderen romanischen Sprachen kann aus dieser Beobachtung Benincàs geschlossen<br />
werden, dass ein geringer oder nicht vorhandener Kontakt mit dem Deutschen oder einer<br />
anderen Verb-Zweit-Sprache möglicherweise den vermuteten Verlust der Verb-Zweit-Eigenschaft<br />
gefördert hat.
4. Verb-Zweit-Stellungswandel als Parameterwechsel<br />
Der Überblick über die Forschung zur diachronen Entwicklung der Verbstellung im Französischen<br />
und in anderen romanischen Sprachen hat gezeigt, dass eine der zentralen Annahmen<br />
der generativen Arbeiten darin besteht, dass sich das Französische aus einer ursprünglichen<br />
Verb-Zweit-Sprache zu einer Nicht-Verb-Zweit-Sprache entwickelt hat. Diese Annahme<br />
steht im Einklang mit zahlreichen Untersuchungen der traditionellen Romanistik, in<br />
denen – häufig unter Hinweis auf die Parallelen zum Deutschen – eine ähnliche Ansicht<br />
vertreten wird. In einigen – traditionellen wie generativen – Untersuchungen wird auch für<br />
andere romanische Sprachen angenommen, dass sie ursprünglich durch die Verb-Zweit-<br />
Stellungseigenschaft charakterisiert waren, die später – möglicherweise zu einem früheren<br />
Zeitpunkt als im Französischen – verloren gegangen ist. Der Forschungsüberblick hat auch<br />
deutlich gemacht, dass sehr unterschiedliche Auffassungen über die möglichen Gründe, die<br />
zu einem solchen Sprachwandel geführt haben, existieren. Während in den traditionellen<br />
Untersuchungen vorwiegend externe Gründe angeführt werden, wird in den generativen<br />
Arbeiten primär versucht, interne Veränderungen der Sprachen für den Wandel der Stellung<br />
des finiten Verbs verantwortlich zu machen. Allerdings kommen auch die generativen<br />
Studien nicht umhin, den Einfluss externer Faktoren für das Eintreten interner Veränderungen<br />
anzunehmen:<br />
Irrespective of the validity and usefulness of D[iachronic] R[eanalyse]s, I have not yet seen a persuasive<br />
argument for a change motivated entirely by internal factors, by economy or another element<br />
of UG. It seems to me to be axiomatic that there can be no change in grammars without<br />
change in trigger experiences. (Lightfoot 1997b:269)<br />
Die primäre Aufgabe der generativen diachronen <strong>Sprachwissenschaft</strong> muss dennoch darin<br />
gesehen werden, zunächst interne Faktoren und Zusammenhänge von Sprachwandel aufzudecken<br />
und erst in einem zweiten Schritt nach externen Faktoren zu suchen. Ihr genuiner<br />
Beitrag zur Erforschung der Verbstellungsentwicklung in den romanischen Sprachen besteht<br />
darin, auf der Grundlage eines expliziten Grammatikmodells zur synchronen Beschreibung<br />
der Verb-Zweit-Stellung in den germanischen Sprachen die Verbstellung in den<br />
altromanischen Sprachen zu erfassen und deren Unterschiede zu den modernen romanischen<br />
Sprachen herauszuarbeiten. Wie bereits ausführlich gezeigt, wird in diesem Grammatikmodell<br />
angenommen, dass es sich bei der strengen Verb-Zweit-Stellung, wie sie in<br />
den germanischen Sprachen und dem Rätoromanischen beobachtet werden kann, um eine<br />
parametrisierte Eigenschaft handelt. Der Unterschied zwischen Verb-Zweit-Sprachen und<br />
Nicht-Verb-Zweit-Sprachen wird also darin gesehen, dass der angenommene Verb-Zweit-<br />
Parameter jeweils auf einen unterschiedlichen Wert festgelegt ist. Die Annahme eines<br />
solchen Parameters wird empirisch unter anderem damit begründet, dass Kinder, deren<br />
Muttersprache die strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft besitzt, diese Eigenschaft innerhalb<br />
sehr kurzer Zeit und nahezu fehlerfei erwerben. Dies kann dadurch erklärt werden,<br />
dass die Kinder lediglich den entsprechenden Parameterwert fixieren müssen und damit die<br />
Verb-Zweit-Stellungsregeln erwerben, ohne sie im Einzelnen erlernen zu müssen. Der<br />
Erwerb der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft ist demnach als ein besonderer Erwerbsprozess,<br />
der sich grundlegend von anderen Lernprozessen unterscheidet. Auf der Grundlage
109<br />
der Annahme, dass Sprachwandel eine Folge von Reanalysevorgängen während des kindlichen<br />
Spracherwerbs ist, ergibt sich daher für eine generative Analyse des Verb-Stellungswandels<br />
in den romanischen Sprachen, dass dieser Wandel, wenn er als ein Wechsel der<br />
Verb-Zweit-Stellungseigenschaft angesehen wird, als eine besondere Art des Sprachwandels,<br />
nämlich als Parameterwechsel, beschrieben werden muss. Für eine generative Untersuchung,<br />
die den Verbstellungswandel in den romanischen Sprachen als einen Verlust der<br />
Verb-Zweit-Stellung analysiert, geht es also vor allem darum, die Besonderheiten dieses<br />
Sprachwandels und dessen Unterschiede zu nicht parametrischem Sprachwandel aufzuzeigen.<br />
In theoretischer Hinsicht besteht daher die Aufgabe einer solchen Untersuchung darin,<br />
dass grundsätzliche Überlegungen über die Möglichkeit eines Parameterwechsels angestellt<br />
werden. Es muss gezeigt werden, welche Voraussetzungen prinzipiell gegeben sein müssen,<br />
damit ein Parameterwechsel eintreten kann, und wie es zu einem solchen Wechsel kommen<br />
kann, falls diese Voraussetzungen erfüllt sind. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen können<br />
in die Weiterentwicklung der Theorie der Parameter und des Parameterwechsels einfließen.<br />
Die empirische Aufgabe besteht darin nachzuweisen, dass die romanischen Sprachen<br />
in einem früheren Stadium durch eine strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft gekennzeichnet<br />
waren. Dabei muss geprüft werden, welchem Typ von Verb-Zweit-Sprachen<br />
die jeweilige altromanische Sprache angehört hat, d.h. ob es sich um eine asymmetrische<br />
oder symmetrische Verb-Zweit-Sprache gehandelt hat. Des Weiteren muss empirische Evidenz<br />
für den Wandel der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft vorgelegt werden. Dabei gilt es<br />
vor allem, an Hand empirischen Datenmaterials die für einen Parameterwechsel aus den<br />
theoretischen Vorgaben der Parametertheorie abgeleiteten Vorhersagen zu belegen. Diesen<br />
Vorhersagen zufolge muss der Wandel der Verb-Zweit-Stellung abrupt und möglicherweise<br />
in Verbindung mit der Veränderung anderer Eigenschaften eingetreten sein. Außerdem<br />
müssen empirisch belegbare Angaben über den Zeitpunkt des Wandels gemacht werden.<br />
Im Folgenden soll zunächst untersucht werden, welche konkreten Implikationen sich für<br />
Untersuchungen ergeben, die den Wandel der Verbstellung im Französischen und in anderen<br />
romanischen Sprachen als den parametrischen Wandel der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
analysieren. Anschließend soll kritisch geprüft werden, inwiefern diese Untersuchungen<br />
diesen Implikationen gerecht werden und ob geeignete empirische Evidenzen<br />
vorgelegt werden, die die Annahme eines solchen parametrischen Wechsels rechtfertigen.<br />
4.1 Verb-Zweit-Stellung als parametrisierte Eigenschaft<br />
4.1.1 Implikationen für den Spracherwerb<br />
Wie bereits in Kapitel 1 dargestellt, basiert die generative Prinzipien- und Parametertheorie<br />
auf der Beobachtung, dass Kinder innerhalb relativ kurzer Zeit ein umfangreiches Wissen<br />
über ein sehr komplexes sprachliches System erwerben, dessen Regeln ihnen weder direkt<br />
zugänglich sind noch auf Grundlage der ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Erfahrungen<br />
vollständig abgeleitet werden können. Primäres Ziel dieser Grammatiktheorie ist
110<br />
es, diesem 'logischen Problem' des Spracherwerbs gerecht zu werden. Dies wird durch die<br />
Annahme versucht, dass bestimmte (universale) Prinzipien der menschlichen Sprachen<br />
angeboren sind und dass bestimmte (nicht universale) Eigenschaften durch das Fixieren von<br />
Parametern erworben werden. Der Erwerb solcher parametrisierter Eigenschaften unterscheidet<br />
sich in signifikanter Weise von anderen Erwerbsprozessen. Er geht schneller vonstatten,<br />
impliziert den simultanen Erwerb oberflächlich nicht miteinander verbundener<br />
grammatischer Eigenschaften und weist nur geringe intra- und interindividuelle Variation<br />
auf. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass parametrisierte Eigenschaften nicht<br />
im Einzelnen erworben werden müssen, sondern lediglich auf Grund bestimmter lexikalischer<br />
Information im erwachsenensprachlichen Input 'getriggert' werden, wobei diese Information<br />
weder salient sein noch im erwachsenensprachlichen Input besonders häufig<br />
auftreten muss (Carroll 1989, Meisel 1995).<br />
Aus der Postulierung der Verb-Zweit-Stellung als parametrisierter Eigenschaft ergeben<br />
sich daher zwei grundsätzliche Fragen hinsichtlich des Erwerbs dieser Eigenschaft. Die<br />
eine Frage betrifft die verschiedenen Eigenschaften, die mit der Fixierung des Parameters<br />
verbunden sind, die andere betrifft die 'Triggerevidenz', d.h. die Daten, auf Grund derer im<br />
Verlauf des kindlichen Erstspracherwerbs die Fixierung des Parameters auf den jeweiligen<br />
zielsprachlichen Wert erfolgen kann.<br />
Die erste Frage bezieht sich auf eine der zentralen Anforderungen an einen Parameter,<br />
wonach die Fixierung eines Parameterwertes nicht nur den Erwerb einer, sondern gleichzeitig<br />
mehrerer, oberflächlich voneinander unabhängiger Eigenschaften einschließt. Bislang<br />
wurde die Frage nach einem solchen "clustering of properties" (Chomsky 1981:240)<br />
vorwiegend in der Debatte um den intensiv erforschten Null-Subjekt-Parameter behandelt<br />
(Müller / Rohrbacher 1989, Haider 1994). In der Diskussion anderer Parameter ist diese<br />
Frage weitgehend ausgeklammert geblieben. Das heißt, das Postulieren eines Parameters<br />
beschränkt sich hier lediglich auf eine Eigenschaft, die in verschiedenen Sprachen variiert.<br />
Damit wird jedoch eine der zentralen Forderungen, die an die Formulierung eines Parameters<br />
gestellt wird, nicht erfüllt:<br />
The crucial point is that, according to parameter theory, a number of surface phenomena may depend<br />
on the setting of a single parameter, thus lending this concept considerable explanatory force.<br />
[...] Only if one had to conclude that, in general, parameters each determine individual properties<br />
of grammars, would the entire concept lose much of its theoretical attractiveness, and parameters<br />
would merely be descriptive devices. Recent developments, indeed, give reason for apprehension<br />
of this kind since one finds a certain inflation of new parameters which are proposed whenever a<br />
generalization about grammar does not hold universally. In view of this, it should be stated unequivocally<br />
that parameter theory as an explanatory framework for language acquisition depends<br />
to a large extent on the assumption that parameterized options are defined on an abstract level of<br />
grammar, typically triggering a number of apparently unrelated surface effects. (Meisel 1995:12f.)<br />
Auch für den Verb-Zweit-Parameter konnten bislang keine mit der Verb-Zweit-Eigenschaft<br />
korrelierenden Eigenschaften nachgewiesen werden. Damit weist auch dieser Parameter ein<br />
großes empirisches Manko auf. Für eine diachronische Untersuchung des Verb-Stellungswandels,<br />
die sich auf die Theorie des Verb-Zweit-Parameters stützt, bedeutet dies, dass sie<br />
dieses Defizit mit übernehmen muss. Gleichzeitig besteht hier für eine diachronische Studie<br />
aber die Möglichkeit, einen Beitrag für eine adäquatere Formulierung des Verb-Zweit-Parameters<br />
zu liefern. Dieser Beitrag könnte darin bestehen, dass gezeigt werden kann, dass<br />
sich der Wandel der Verb-Zweit-Stellung in einer Sprache gleichzeitig mit dem Wandel
111<br />
anderer Eigenschaften vollzieht. Dies könnte ein Indiz für die Existenz einer parametischen<br />
Korrelation dieser Eigenschaften sein.<br />
Hinsichtlich der zweiten Frage ist zu konstatieren, dass in der Diskussion des Verb-<br />
Zweit-Phänomens in zahlreichen Studien zum Spracherwerb und auch zum Sprachwandel<br />
die Frage nach der Triggerevidenz einen breiteren Raum einnimmt. In vielen Spracherwerbsuntersuchungen<br />
geht es vor allem um grundsätzliche Fragen zur Funktionsweise einer<br />
Parameterfixierung im Laufe des kindlichen Spracherwerbs. Eine der zentralen Fragen betrifft<br />
den "initial state", d.h. den Status des Parameters vor dessen Fixierung zu Beginn der<br />
Spracherwerbsphase. Hier können prinzipiell drei Möglichkeiten unterschieden werden<br />
(Fodor 1998:2f., Meisel 1995). Die erste besteht darin, dass der Parameter zunächst auf einen<br />
Default-Wert festgelegt ist, so dass das Kind lediglich die Zielsprache dahingehend<br />
überprüfen muss, ob der Parameter auf dem ursprünglichen Wert fixiert bleiben kann oder<br />
auf einen anderen Wert umgelegt werden muss. Die zweite Möglichkeit ist die, dass dem<br />
Kind von Beginn an solange beide (oder alle) Werte des gegebenen Parameters zur Verfügung<br />
stehen, bis es sich auf Grund des erwachsenensprachlichen Inputs für einen Wert<br />
entscheidet. Als dritte Möglichkeit kann angenommen werden, dass der Parameter zunächst<br />
auf keinen Wert fixiert ist und das Kind die entsprechende Fixierung später selbst vornehmen<br />
muss.<br />
Für den Verb-Zweit-Parameter sind vor allem die erste und dritte Möglichkeit diskutiert<br />
worden. Gibson / Wexler (1994) nehmen an, dass der Parameter zu Beginn des Spracherwerbs<br />
auf dem Wert '-V2' festgelegt ist. Abgesehen von theoretischen Überlegungen basiert<br />
ihre Annahme auf der Beobachtung, dass Kinder, die eine Nicht-Verb-Zweit-Sprache erwerben,<br />
niemals eine Phase durchschreiten, in der sie die zu erwerbende Sprache als Verb-<br />
Zweit-Sprache analysieren. 1 Fodor (1998) geht demgegenüber davon aus, dass der Parameter<br />
zunächst auf keinen Wert festgelegt ist, sondern erst auf Grund der entsprechenden,<br />
relevanten Triggerevidenz fixiert wird.<br />
Die entscheidende Frage ist nun, wie diese Triggerevidenz aussehen könnte, d.h. auf<br />
Grund welcher Daten die Kinder entscheiden können, auf welchen Wert der Verb-Zweit-<br />
Parameter der zu erwerbenden Sprache festgelegt werden muss. Vereinbar mit beiden Erwerbsmodellen<br />
wäre die Annahme, dass Kinder, die eine Verb-Zweit-Sprache erwerben,<br />
die entsprechende zielsprachliche Parameterfixierung auf Grund der für eine Verb-Zweit-<br />
Sprache typischen Sätze vornehmen, in denen ein satzeinleitendes Nicht-Subjekt unmittelbar<br />
vor dem finiten Verb steht:<br />
1 Gibson / Wexler (1994:434f.) müssen jedoch einräumen, dass allen bisherigen Spracherwerbsuntersuchungen<br />
zufolge Kinder, die eine Verb-Zweit-Sprache erwerben, die Stellungsregeln der finiten<br />
Verbformen vom Beginn ihrer Verwendung an stets korrekt anwenden, d.h. – entgegen ihrer<br />
Vorhersage – keine Phase mit einer Nicht-Verb-Zweit-Grammatik durchlaufen. Nach Gibson /<br />
Wexler (1994:435) liegt dies möglicherweise an der unzureichenden Datenlage, die es bislang<br />
nicht erlaubt, eine Phase nachzuweisen, in der Kinder vor dem korrekten Gebrauch der finiten<br />
Verbformen nur infinite Verbformen und folglich ihrer Ansicht nach eine Nicht-Verb-Zweit-<br />
Grammatik verwenden:<br />
"What is not known is whether there is an earlier stage in which there are no finite forms (and thus<br />
no V2). At the moment there does not seem to be much evidence for such a stage, but the data are<br />
too sparse at these very early ages for us to be certain."
112<br />
[T]hat is, hearing utterances which begin with phrasal categories with arbitrary grammatical functions<br />
and thematic roles followed by a finite verb, [...][the] child determines that there is an 'extra'<br />
projection beyond IP. (Lightfoot 1993b:202)<br />
Das Problem bei dieser Annahme ist jedoch, dass das Kind nicht entscheiden kann, ob es<br />
sich bei dieser "Extra"-Position um eine an die IP adjungierte Position oder um die<br />
SpezCP-Position handelt. Wie in den Kapiteln 1 und 2 in der Diskussion der romanischen<br />
Nicht-Verb-Zweit-Sprachen gezeigt worden ist, existieren in diesen Sprachen Konstruktionen<br />
mit der von Lightfoot beschriebenen Wortstellung, ohne dass damit notwendigerweise<br />
eine V-nach-COMP-Bewegung bzw. eine Besetzung der SpezCP-Position verbunden ist.<br />
Mit anderen Worten, Sätze mit einer OVS-Stellung oder einer AdvVS-Stellung können offenbar<br />
nicht als Triggerevidenz für das Fixieren der Verb-Zweit-Parameters dienen, da Sätze<br />
mit einer solchen Wortstellung auch in Nicht-Verb-Zweit-Sprachen vorkommen können.<br />
Dieses Beispiel zeigt, dass die Bestimmung der relevanten Triggerevidenz für das Fixieren<br />
des Verb-Zweit-Parameters wesentlich komplexer ist als von Lightfoot vermutet. Häufig<br />
wird angenommen, dass eine Voraussetzung für die endgültige Fixierung des Verb-<br />
Zweit-Parameters darin besteht, dass das Kind erkannt haben muss, welche zugrunde liegende<br />
Wortstellung die zu erwerbende Sprache besitzt (Gibson / Wexler 1994, Fodor<br />
1998). Erst auf der Grundlage dieses Wissens kann nach Ansicht von Fodor (1998:25) das<br />
Kind die Muttersprache hinsichtlich der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft überprüfen.<br />
Fodor nimmt an, dass das Kind lediglich auf solche Sätzen achten muss, die eindeutige<br />
Information darüber liefern, welchem Parameterwert die zu erwerbende Sprache zugeordnet<br />
werden muss. Handelt es sich um eine Nicht-Verb-Zweit-Sprache mit einer zugrunde<br />
liegenden SVO-Stellung, wie etwa Französisch oder Englisch, so genügen nach Ansicht<br />
von Fodor Sätze mit einer AdvSVO-Stellung, um dem Kind den Nicht-Verb-Zweit-Status<br />
der Sprache anzuzeigen. Die Verb-Zweit-Stellungseigenschaft kann beim gleichen Sprachentyp<br />
an Auxiliarsätzen mit einer AdvAuxSVO-Stellung erkannt werden. In einer Verb-<br />
Zweit-Sprache mit einer zugrunde liegenden SOV-Stellung, wie dem Deutschen, können<br />
Sätze mit einer AdvAuxSOV-Stellung als Trigger für die Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
dienen. Für das Fixieren als Nicht-Verb-Zweit-Sprache genügt für eine Sprache diesen<br />
Typs das Auftreten von Sätzen mit einer SOV-Stellung. Auf Grund dieser Überlegungen<br />
kommt Fodor (1998:25) zu folgender Zusammenstellung von – für jeden Sprachtyp unterschiedlichen<br />
– Wortstellungsmustern, die ihrer Ansicht nach das Fixieren des Verb-Zweit-<br />
Parameters auslösen können:<br />
Grammatik parametrisch eindeutiges Satzmuster<br />
Satzbeispiel<br />
SV,OV, -V2 S O V Die Frau das Buch liest<br />
SV,VO, -V2 Adv S V O Gerne die Frau das Buch liest<br />
VS,OV, -V2 Adv O V S Gerne das Buch liest die Frau<br />
VS,VO, -V2 V O S Liest das Buch die Frau<br />
SV,OV, +V2 Adv Aux S O V Gerne hat die Frau das Buch gelesen<br />
SV,VO, +V2 Adv Aux S V O Gerne hat die Frau gelesen das Buch<br />
VS,OV, +V2 Adv Aux O V S Gerne hat das Buch gelesen die Frau<br />
VS,VO, +V2 O1 Aux V O2 S Das Buch hat die Frau dem Mann gegeben<br />
Tabelle (4): Eindeutige Wortstellungsmuster für das Triggern des Verb-Zweit-Parameters (nach<br />
Fodor 1998:25)
113<br />
Diese Analyse Fodors ist der erste Versuch einer expliziten Ausformulierung der eindeutigen<br />
Trigger des Verb-Zweit-Parameters. Sie stellt damit einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung<br />
einer adäquaten Theorie über den Erwerb der mit dem Verb-Zweit-Parameter<br />
verbundenen Eigenschaften dar. Eine empirisch zu überprüfende Frage ist es, inwiefern<br />
diese von Fodor vorgeschlagenen Trigger tatsächlich als Auslöser der Parameterfixierung<br />
fungieren können. Die in den vorangegangenen Kapiteln diskutierten germanischen Verb-<br />
Zweit-Sprachen bestätigen Fodors Annahme, wonach Sätze mit einer AdvSVO- bzw. einer<br />
SOV-Stellung als eindeutige Triggerevidenz für die Festlegung auf den Wert '-V2' in SVO-<br />
bzw. SOV-Sprachen fungieren können. In den hier betrachteten germanischen Verb-Zweit-<br />
Sprachen sind Sätze mit dieser Wortstellung ausgeschlossen. Problematischer ist allerdings<br />
Fodors Annahme, wonach AdvAuxSVO- bzw. AdvAuxSOV-Sätze in SVO-Sprachen eindeutige<br />
Trigger für die Fixierung auf den Wert '+V2' darstellen. Wie die obige Diskussion<br />
gezeigt hat, sind in einigen modernen romanischen Sprachen durchaus Sätze mit einer solchen<br />
Wortstellung möglich, obwohl diese Sprachen nicht über eine Verb-Zweit-Grammatik<br />
verfügen. Dies ist, wie die folgenden Beispiele nochmals illustrieren, insbesondere im iberischen<br />
Portugiesischen der Fall, in dem die AdvAuxSVO-Stellung sowohl mit nominalem<br />
als auch pronominalem Subjekt möglich ist (cf. (19)(c) in Kapitel 1, (84)(a) in Kapitel 2).<br />
Im Französischen ist dieses Stellungsmuster zumindest in Verbindung mit einem klitischen<br />
Subjektspronomen möglich (cf. (17)(a) in Kapitel 1):<br />
(1) ipg. (a) Com prazer tem a mulher lido o livro.<br />
mit Vergnügen hat die Frauer gelesen das Buch<br />
(b) Talvez tenha ela lido o livro.<br />
vielleicht habe sie gelesen das Buch<br />
(2) nfr. Peut-être a-t-elle lu le livre.<br />
vielleicht hat sie gelesen das Buch<br />
Diese Belege deuten darauf hin, dass das von Fodor vorgeschlagene Satzmuster nicht als<br />
eindeutige Triggerevidenz für die Festlegung einer SVO-Sprache auf den Wert '-V2' angenommen<br />
werden kann. Es muss folglich ein anderes Satzmuster gefunden werden, das als<br />
eindeutige Triggerevidenz für Sprachen dieses Wortstellungstyps fungieren kann.<br />
Die Formulierung der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft als Parameter impliziert daher,<br />
dass nicht nur gezeigt werden muss, mit welchen Eigenschaften die Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
korreliert, sondern auch, auf Grund welcher Daten im Input der Erwachsenensprache<br />
ein Kind in der Lage sein kann, den Parameter auf den richtigen Wert zu fixieren.<br />
Es muss konstatiert werden, dass es in der bisherigen Diskussion um diesen Parameter<br />
bislang nur in Ansätzen gelungen ist, diese Anforderungen zu erfüllen.<br />
In einer Untersuchung der Frage, ob der Verlust der Verb-Zweit-Stellungseffekte in den<br />
romanischen Sprachen durch das Umfixieren des Verb-Zweit-Parameters erklärt werden<br />
kann, gilt es daher zum einen, den Parameter in seiner bisherigen Formulierung kritisch zu<br />
überprüfen, und zum anderen aber auch an Hand der diachronischen Daten zu versuchen,<br />
zusätzliche Evidenzen für eine möglicherweise adäquatere Formulierung des Parameters zu<br />
finden.
114<br />
4.1.2 Implikationen für den Sprachwandel<br />
Ausgehend von der in Kapitel 1 dargestellten Annahme, dass Sprachwandel durch Vorgänge<br />
während des Spracherwerbsprozesses bestimmt und ausgelöst wird, muss nun die<br />
Frage gestellt werden, wie im Rahmen einer Sprachwandeltheorie, die auf einer solchen<br />
Konzeption von Spracherwerb basiert, Sprachwandel überhaupt erfasst werden kann. Auf<br />
Grund der Tatsache, dass Kinder in aller Regel erfolgreich die Grammatik der Sprache(n)<br />
ihrer sprachlichen Umgebung erwerben, sollte zu erwarten sein, dass Sprachwandel gar<br />
nicht stattfindet:<br />
The theory of language acquisition [...] presents a problem when we try to explain linguistic<br />
change. If every generation acquires the grammar of their parents, how can languages change? It<br />
should be expected that grammars remain constant, since linguistic change implies that there is at<br />
least one generation whose grammar is different from that of the parental generation and who thus<br />
acquire a 'wrong' grammar. (Brandner / Ferraresi 1996:14)<br />
Dieses 'logische Problem des Sprachwandels' (Brandner / Ferraresi 1996:14, Niyogi / Berwick<br />
1998) ist umso gravierender, wenn es darum geht, den Wandel parametrisch festgelegter<br />
Eigenschaften zu erklären. Die allgemein angenommene Lösung der generativen<br />
Sprachwandeltheorie für dieses Problem besteht in der Annahme, dass Sprachwandel auf<br />
Grund von Veränderungen in der Sprache der Erwachsenen eintreten kann. Diese Veränderungen<br />
führen dazu, dass die für den Erwerb einer bestimmten Eigenschaft relevante 'Trigger-Erfahrung'<br />
verloren geht oder den Kindern nur noch in begrenztem Umfang zugänglich<br />
ist. Das heißt, unabdingbare Voraussetzung für jede Art von syntaktischem Wandel ist eine<br />
vorangehende Veränderung im erwachsenensprachlichen Input:<br />
If there were no change in trigger experiences, there would be no changes in grammars. If representations<br />
[...] disappeared, it was because they ceased to be triggered; the children who did not<br />
acquire them must have had different experiences from earlier generations – it was not because<br />
they were more sensitive to the demands of the L[east]E[ffort]S[trategy] or the Transparency Principle<br />
[(Lightfoot 1979)]. (Lightfoot 1997b:269)<br />
Die kontrovers diskutierte Frage diesbezüglich lautet, wodurch sich ein solcher Wandel in<br />
der Trigger-Erfahrung auszeichnet. Hierbei werden grundsätzlich zwei Möglichkeiten in<br />
Betracht gezogen: ein signifikanter Wandel in der Auftretenshäufigkeit einer bestimmten<br />
Konstruktion, d.h. eine quantitative Veränderung, oder das Auftreten einer neuen Konstruktion,<br />
d.h. eine strukturelle Veränderung des erwachsenensprachlichen Inputs (Roberts<br />
1993:158). Im Folgenden soll gezeigt werden, dass beide Möglichkeiten nicht in der Lage<br />
sind, grammatischen, d.h. parametrischen, Wandel in adäquater Weise zu erfassen.<br />
4.1.2.1 Quantitative Veränderungen in der Erwachsenensprache<br />
Jeder erwachsenensprachliche Input, dem ein Kind während des Erstspracherwerbs ausgesetzt<br />
ist, muss Daten enthalten, die es ihm ermöglichen, die verschiedenen Parameter auf<br />
den zielsprachlichen Wert festzulegen. Eine quantitative Veränderung dieses Inputs kann<br />
zur Folge haben, dass Daten, die für das Fixieren eines Parameters ausschlaggebend sind, in<br />
ihrer Häufigkeit zurückgehen, während gleichzeitig Konstruktionen immer häufiger werden,<br />
die hinsichtlich ihrer Struktur ambig sind und daher nicht als eindeutiger Trigger fun-
115<br />
gieren können. Im Fall des angenommenen Verlustes der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
in den romanischen Sprachen lautet die – von Weerman (1993:907) als "ambiguous facts<br />
solution" bezeichnete – Annahme, dass diese quantitative Veränderung in der Sprache der<br />
Erwachsenen in einer deutlichen Zunahme von SVX-Matrixsätzen und einer gleichzeitigen<br />
Abnahme der Häufigkeit von Sätzen mit einer XV(S)-Stellung besteht.<br />
Lightfoot (1997b:269) betont, dass diese "shifts in the available trigger experiences" lediglich<br />
ein Wandel im Gebrauch der Grammatik der Erwachsenen sein können. Das heißt,<br />
es handelt sich hierbei nicht um einen Wandel der Grammatik selbst, sondern nur um einen<br />
Wandel innerhalb der Möglichkeiten, die die jeweilige Grammatik zur Verfügung stellt.<br />
Diese Änderungen sind nach Ansicht von Lightfoot ausschließlich auf externe Faktoren,<br />
wie beispielsweise den Kontakt zu anderen Sprachen oder Dialekten oder stilistische Faktoren,<br />
zurückzuführen. Er fordert daher, dass die Aufgabe einer generativen Sprachwandeluntersuchung<br />
zunächst darin besteht, diese Änderungen in den "trigger experiences" empirisch<br />
zu erfassen, da erst auf Grundlage dieser Erkenntnis Aussagen über interne<br />
Sprachwandelprozesse gemacht werden können. Lightfoot (1988:319f., 1997b:268f.) vermutet<br />
allerdings, dass es für solche Änderungen keine systematischen Erklärungen geben<br />
kann. Dennoch sollten diese Erklärungen so präzise und plausibel wie möglich sein und<br />
zwar, wie Weerman (1993:919) fordert, "from both a technical-linguistic and a sociolinguistic<br />
point of view".<br />
Obwohl sich Lightfoot (1993b:203) der Schwierigkeiten einer empirischen Erfassung<br />
dieser Änderungen bewusst ist, versucht er am Beispiel des Verlustes der Verb-Zweit-<br />
Stellung im Englischen, empirische Evidenzen dafür vorzulegen, dass diesem Verlust Veränderungen<br />
des erwachsenensprachlichen Inputs vorausgegangen sind. Lightfoot<br />
(1993b:203) nimmt an, dass es sich bei diesen Veränderungen um "a steady increase of<br />
utterances beginning with subject + verb and a decline of non-subject + verb (while remaining<br />
V2)" handelt. Unter Berufung auf eine Studie von Bean (1983), die die Stellung<br />
der Konstituenten in der 'Angelsächsischen Chronik' (ca. 891-1154) zum Gegenstand hat,<br />
beobachtet er, dass in den ältesten Textstellen nur 28% aller Matrixsätze eine SV-Stellung<br />
aufweisen, während in den späteren Textabschnitten aus dem 11. bzw. 12. Jhdt. der Anteil<br />
der SV-Matrixsätze 41% beträgt. Lightfoot (1993b:203) sieht darin Evidenz für einen signifikanten<br />
Anstieg, der eine quantitative Veränderung der Trigger-Erfahrung im Englischen<br />
in diesem Zeitraum widerspiegelt. Des Weiteren referiert Lightfoot (1997a:179) die<br />
Ergebnisse einer (unveröffentlichten) statistischen Auswertung eines englischen Textes aus<br />
dem frühen 13. Jhdt. von A. van Kemenade, wonach 48% aller Sätze SV-Stellung aufweisen.<br />
Bemerkenswert ist für Lightfoot hier nicht nur die weitere Zunahme des Anteils an SV-<br />
Sätzen im Vergleich zu den Texten aus den früheren Jahrhunderten, sondern insbesondere<br />
auch die Beobachtung van Kemenades, dass der Anteil an XV-Sätzen, also an Sätzen mit<br />
einem Nicht-Subjekt in satzinitialer Position, nur 17% beträgt.<br />
Nach Ansicht von Lightfoot ist dieser Prozentsatz eindeutig zu niedrig, um noch als<br />
Trigger für das Fixieren des Parameters auf den Wert '+V2' fungieren zu können. Er beruft<br />
sich hier unter anderem auf eine Untersuchung der Umgangssprache des Deutschen, des<br />
Niederländischen und des Norwegischen von Gerritsen (1984), wonach ca. 30% aller Matrixsätze<br />
eine XV-Stellung aufweisen. Somit ist nach Ansicht von Lightfoot (1997a:179)<br />
folgende Schlussfolgerung gerechtfertigt:
116<br />
So the evidence suggests that 17% of initial non-subjects does not suffice to trigger a V2 grammar,<br />
but 30% is enough; somewhere between 17% and 30% is a phase-transition. Of course, we have<br />
no idea why there should be a transition at exactly this point [...].<br />
Diese Analyse von Lightfoot ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Ein gravierendes empirisches<br />
Problem wird von Lightfoot (1993b:203) selbst erkannt. Es besteht darin, dass das<br />
zur Verfügung stehende Datenmaterial oftmals kaum ausreicht oder nur wenig geeignet ist,<br />
um fundierte quantitative Aussagen über die gesprochene Sprache einer oder mehrerer<br />
Epochen zu machen. In den generativen Analysen zur historischen Syntax wird dieses Problem<br />
allerdings nur sehr selten thematisiert und bleibt i.d.R. vollkommen unberücksichtigt. 2<br />
Es ist zu beobachten, dass quantitative Auszählungen häufig nur auf einer kleinen Datenbasis<br />
beruhen und dass mit dem Datenmaterial oft sehr unkritisch umgegangen wird. Dieser<br />
unkritische Umgang zeigt sich unter anderem darin, dass bei der Auswahl des Materials<br />
Textsorte, Gattung oder regionale Herkunft der zur Analyse herangezogenen Texte meist<br />
vollkommen unberücksichtigt bleiben. In diesem Fall besteht jedoch die große Gefahr, dass<br />
eine beobachtete Variation keine diachronische Variation widerspiegelt, sondern vielmehr<br />
auf Unterschiede der Textsorte oder Gattung oder auf dialektale Unterschiede zurückzuführen<br />
ist. Lightfoot versucht dieser Gefahr entgegenzuwirken, indem er auf Ergebnisse der<br />
Analyse einer Chronik zurückgreift, also einer Sammlung von Texten, die derselben Textsorte<br />
angehören und auch eine relative Kontinuität, was Textproduktion und Sprachstil<br />
betrifft, aufweisen. Bezweifelt werden muss allerdings, ob es ein geeignetes Verfahren ist,<br />
diese Ergebnisse mit denen einer Studie über moderne gesprochene Umgangssprache zu<br />
vergleichen. Methodisch angebrachter wäre sicherlich ein Vergleich mit einem Text, der<br />
dem historischen Textmaterial in Hinsicht auf Textsorte und Sprachstil näher steht.<br />
Ein anderes empirisches Problem der quantitativen Auswertung historischen Datenmaterials<br />
hängt mit der Annahme zusammen, dass Vorgänge des kindlichen Spracherwerbs<br />
Sprachwandel auslösen können. Hier muss gefragt werden, inwiefern das vorliegende Datenmaterial<br />
überhaupt Aufschluss über den Sprachgebrauch von erwachsenensprachlichen<br />
Sprechern geben kann, der als Auslöser für eine Reanalyse gedient haben soll. Das ist allein<br />
deshalb zu bezweifeln, weil das vorhandene historische Sprachmaterial nur in sehr geringem<br />
Maße der Art von gesprochener Sprache nahe kommt, die im Kontakt mit Kindern<br />
verwendet wurde. Die einzige Feststellung, die aus einer Auswertung historischen Datenmaterials<br />
gezogen werden kann, ist die, dass "in a set of texts" (Roberts 1993:158) be-<br />
2 Es handelt sich natürlich hier um ein Problem, mit dem generell jede Art der historischen Linguistik<br />
konfrontiert ist. Für die generative Sprachwandelforschung wiegt es allerdings schwerer, weil<br />
ihr primäres Ziel darin besteht, Aussagen über die grammatische Kompetenz der Sprecher einer historischen<br />
Epoche zu treffen, die aber nicht durch Befragung überprüfbar ist und daher nur auf<br />
Grund positiver Evidenz ermittelt werden kann:<br />
"O fato de que, em pesquisa diacrônica, o investigador não pode usar a competência do falante,<br />
nem mesmo a própria, coloca o lingüista em pé de igualdade com a criança que aprende sua<br />
língua, isto é, ele só pode basear-se em dados positivos, e seu desenvolvimento lingüístico depende<br />
de um input 'robusto', nos termos de Lightfoot (1989, 1991). Lidar com dados positivos 'robustos'<br />
significa não apenas uma imersão nos dados em busca de insights e descobertas de ordem fenomenológica,<br />
mas uma análise que apresente argumentos quantitativos de correlação ou de concomitância<br />
de mudanças, para mostrar se houve efetivamente o que se considera uma mudança de<br />
parâmetro [...]." (Kato 1993:17)
117<br />
stimmte Konstruktionen häufiger und andere weniger häufig auftreten und dass es zu einem<br />
Wandel in der Häufigkeit dieser Konstruktionen gekommen ist. Die Schlussfolgerung jedoch,<br />
dass es sich hier um einen Wandel im Gebrauch der Grammatik dieser Sprache und<br />
nicht der Grammatik selbst handelt, basiert allein auf der Annahme, dass es erst ab einem<br />
bestimmten Prozentsatz der Auftretenshäufigkeit einer Konstruktion zu einem Wandel der<br />
Grammatik kommt. Eine empirische Bestätigung für diese Schlussfolgerung liefern die<br />
Daten jedoch nicht. Die angenommene Reanalyse könnte durchaus auch wesentlich früher<br />
eingetreten sein, als vermutet wird, und die beobachtete Veränderung hinsichtlich der Häufigkeit<br />
bestimmter Konstruktionen lediglich ein Reflex eines bereits längst eingetretenen<br />
grammatischen Wandels sein.<br />
Diese Feststellung führt zu einem weiteren für die generative historische Linguistik spezifischen<br />
Problem. Ausgehend von den Grundannahmen des Prinzipien- und Parametermodells<br />
stellt sich die Frage, ob es überhaupt berechtigt ist anzunehmen, dass das (vermehrte)<br />
Auftreten von Sätzen mit ambiger Struktur zu einem grammatischen Wandel führen kann.<br />
So ist beispielsweise bei den für das Französische vorgeschlagenen Analysen eines angenommenen<br />
Verb-Zweit-Stellungswandels vollkommen unklar, warum die Zunahme von<br />
(strukturell ambigen) SVX-Matrixsätzen dazu führen sollte, dass Kinder die Struktur dieser<br />
Sätze und schließlich die gesamte Satzstruktur des Französischen reanalysieren. Dagegen<br />
spricht die Tatsache, dass im erwachsenensprachlichen Input einer Verb-Zweit-Sprache<br />
auch in einer Phase, in der SVX-Konstruktionen die Mehrheit bilden, gleichzeitig stets auch<br />
Sätze existieren, die eindeutiger Bestandteil einer Verb-Zweit-Grammatik sind. Hierzu<br />
gehören, wie Platzack (1995:206) konstatiert, alle Sätze mit einem initialen Nicht-Subjekt,<br />
die in einer Verb-Zweit-Sprache – mit zugrunde liegender SVO-Stellung – als eindeutige<br />
Belege für eine V-nach-COMP-Bewegung dienen (cf. auch Weerman 1989:186):<br />
We thus have a situation where the language learner must have experienced a certain number of<br />
sentences [...] which unambiguously indicated the presence of verb second, and a bulk of sentences<br />
which were structurally ambiguous between a verb-second interpretation and a basic SVO<br />
interpretation. It is unclear why the language learners should ignore these unambiguous cases in<br />
favour of a particular interpretation of the ambiguous ones.<br />
Diese Beobachtung stimmt mit den Ergebnissen zahlreicher Untersuchungen zum kindlichen<br />
Erstspracherwerb überein (Carroll 1989, Weerman 1993, Gibson / Wexler 1994,<br />
Fodor 1998). Darin wird gezeigt, dass das Fixieren von Parametern nicht notwendigerweise<br />
abhängig von der Häufigkeit der im Input auftretenden Muster ist, sondern auf der Grundlage<br />
wenig salienter und wenig frequenter Inputdaten ausgelöst werden kann. Hier unterscheidet<br />
sich Spracherwerb, der sich durch Lernen vollzieht, von solchem, der auf dem<br />
Triggern von Eigenschaften basiert (Meisel 1995:14). Für letzteres ist lediglich die Tatsache<br />
entscheidend, dass es eindeutige Trigger gibt, die die Festlegung von Parametern auf<br />
einen bestimmten Wert bewirken. Mit anderen Worten, solange eindeutige Evidenz für die<br />
Fixierung auf einen bestimmten Parameterwert vorhanden ist, spielt die Tatsache, dass es<br />
im erwachsenensprachlichen Input gleichzeitig Daten gibt, die für die Parameterfixierung<br />
ambig sind, keine Rolle. Es kann dadurch auch nicht zu einer Umfixierung des Parameters<br />
kommen:<br />
The learning mechanism would change a parameter to a new value when and only when it encountered<br />
an unambiguous trigger for that value; parametrically ambiguous inputs would never induce<br />
a grammar change. (Fodor 1998:5)
118<br />
Für Weerman (1993:908) weist daher die "ambiguous fact solution" paradoxe Züge auf, da<br />
sie einerseits an der – für die Prinzipien- und Parametertheorie fundamentalen – deterministischen<br />
Auffassung von Spracherwerb festhalten will, andererseits zur Erklärung von<br />
Sprachwandelphänomenen diese Auffassung jedoch aufgibt:<br />
[...] there is something paradoxical in the ambiguous fact[s] solution. On the one hand, the parameter<br />
setting model is an attempt to explain that the children acquire rules of grammar rather uniformly<br />
in a relatively short period. On the other hand, the ambiguous facts now throw a spanner in<br />
these works. In some cases the trigger would not be so very clear. One might expect therefore that<br />
here language acquisition runs less smoothly and that here language learners come to different results,<br />
so that distinct settings of the parameter should coexist in one language environment.<br />
Es dürfte damit auch klar sein, dass die in verschiedenen generativen Analysen vertretene<br />
Annahme, wonach das Mittelfranzösische oder andere frühromanische Sprachen 'optionale'<br />
Verb-Zweit-Sprachen waren, den basalen Annahmen der Parametertheorie grundsätzlich<br />
widerspricht. 3 Wie bereits erwähnt, geht Roberts (1993) sogar von der Möglichkeit aus,<br />
dass einzelne Sprecher des Mittelfranzösischen in der Lage waren, zwischen den beiden<br />
Werten des Verb-Zweit-Parameters zu wechseln. Das heißt, es wird prinzipiell die Möglichkeit<br />
eingeräumt, dass Kinder im Laufe des Spracherwerbs bestimmte Parameter entweder<br />
nicht notwendigerweise festlegen müssen oder auf mehrere Werte gleichzeitig fixieren<br />
können. Dadurch werden jedoch das gesamte theoretische Konzept der Parameter und die<br />
damit verbundenen Generalisierungen und Vorhersagen für den Spracherwerb radikal in<br />
Frage gestellt und die Erklärungskraft der Prinzipien- und Parametertheorie für Prozesse<br />
des Spracherwerbs in entscheidendem Maße geschwächt. Roberts Analyse des Verbstellungswandels<br />
im Französischen, derzufolge zunächst eine Reanalyse einsetzt, die lediglich<br />
optionale Anwendung findet und erst später in einen Parameterwechsel mündet, der zum<br />
endgültigen Verlust der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft führt, erweist sich somit als ein<br />
nicht haltbarer Erklärungsansatz.<br />
Diese Feststellung gilt grundsätzlich für jede generative Analyse, die versucht, den<br />
Wandel von parametrisch festgelegten Eigenschaften – wie beispielsweise der Verb-Zweit-<br />
Stellungseigenschaft – auf die Existenz ambiger Inputdaten und deren quantitative Zunahme<br />
zurückzuführen. Quantitative Veränderungen im erwachsenensprachlichen Input<br />
haben nur dann einen Einfluss auf die Fixierung von Parametern, wenn dadurch eindeutige<br />
Trigger aus dem Input vollkommen verschwinden und gleichzeitig eindeutige Trigger für<br />
3 Dies gilt auch für viele Analysen des Altenglischen, für das häufig auf Grund der dort zu beobachtenden<br />
Verb-Dritt-Stellungen (cf. z.B. Pintzuk 1995, Haeberli 1999, Tappe 2000) angenommen<br />
wird, dass es durch eine optionale Verb-Zweit-Stellungseigenschaft gekennzeichnet war:<br />
"Recall, however, that Old English showed V2 obligatorily only when clauses were introduced by<br />
interrogative or negative phrases; otherwise V2 was just one option, albeit a prevalent one (see<br />
Stockwell 1984 for discussion), unlike in Dutch, German or Norwegian, where V2 is generally<br />
obligatory. This may reflect an important difference in the grammars and thus in what experience<br />
is required to set the relevant parameter." (Lightfoot 1993b:203f.)<br />
Merkwürdigerweise betont Lightfoot (1993b:202) an gleicher Stelle, dass das Englische und Französische<br />
Sprachen sind, "which have lost full V2 properties" (meine Hervorhebung, GAK). Dies<br />
illustriert deutlich die Tatsache, dass viele Versuche, das Altenglische oder das Alt- bzw. Mittelfranzösische<br />
als Sprachen mit einer strengen Verb-Zweit-Stellungseigenschaft zu analysieren, von<br />
Widersprüchen und Ungenauigkeiten geprägt sind.
119<br />
das Fixieren auf einen neuen Parameterwert auftreten. Dies führt zu der Annahme, dass<br />
strukturelle Veränderungen in der Grammatik der Erwachsenensprache eintreten müssen,<br />
damit eine Parameterumsetzung ausgelöst werden kann.<br />
4.1.2.2 Strukturelle Veränderungen in der Erwachsenensprache<br />
In der oben geführten Diskussion der generativen Untersuchungen zum Verbstellungswandel<br />
im Französischen (und in anderen romanischen Sprachen) wurde bereits gezeigt, dass in<br />
den meisten dieser Arbeiten angenommen wird, dass zusätzlich zu quantitativen Veränderungen<br />
auch strukturelle Veränderungen im erwachsenensprachlichen Input eingetreten<br />
sind. In den meisten Fällen wird die Notwendigkeit dieser Veränderungen mit dem Hinweis<br />
darauf begründet, dass die festlandskandinavischen Sprachen ebenso wie das Französische<br />
eine zugrunde liegende SVO-Stellung besitzen, ihre Verb-Zweit-Stellungseigenschaft aber<br />
bislang nicht verloren haben. Somit muss erklärt werden, warum im Französischen die<br />
oberflächliche Ähnlichkeit von SVX-Matrix- und SVX-Nebensätzen zu einer Reanalyse der<br />
Struktur der Matrixsätze geführt hat, während in den festlandskandinavischen Sprachen<br />
eine solche Reanalyse bislang nicht eingetreten ist.<br />
Roberts (1993:144-153) führt hierfür zwei strukturelle Veränderungen an, die seiner Ansicht<br />
nach zu einer Reanalyse geführt haben und für die spätere endgültige Aufgabe der<br />
Verb-Zweit-Stellungseigenschaft im Französischen ausschlaggebend waren. Er stützt sich<br />
hierbei auf zwei Beobachtungen hinsichtlich des zunehmenden Auftretens von Sätzen mit<br />
einer Verb-Dritt-Stellung im Mittelfranzösischen im Vergleich zum Altfranzösischen. Die<br />
erste Beobachtung betrifft Sätze mit initialem Adverbien. Unter Berufung auf Vance (1989)<br />
konstatiert er, dass diese Adverbien in zunehmend häufigerem Maße unmittelbar vor dem<br />
Subjekt stehen. Das Bemerkenswerte ist für Roberts dabei vor allem, dass die daraus resultierende<br />
Drittstellung des finiten Verbs auch nach solchen Adverbien zu beobachten ist,<br />
nach denen im Altfranzösischen noch die Verb-Zweit-Stellung die Regel war:<br />
(3) afr. (a) lors oïrent il venir un escroiz de tonoire<br />
dann hörten sie kommen einen Donnerschlag<br />
(que 15,8-9) (Vance 1989:2 u. 159, Roberts 1993:147)<br />
(b) jamais n' ert si vailant<br />
nie NEG (er)-war so wertvoll<br />
(ale 2c) (Roberts 1993:147)<br />
(4) mfr. (a) Lors la royne fist Saintré appeller<br />
dann die Königin ließ Saintré rufen<br />
(jds, 140,14) (Vance 1989:158, Roberts 1993:146)<br />
(b) Et jamés une jeune femme ne seroit si jaleuse<br />
und nie eine junge Frau NEG wäre so eifersüchtig<br />
(qjm 14,129-130) (Roberts 1993:146)<br />
Die Annahme von Roberts (1993:148) besteht darin, dass der Status dieser Adverbien im<br />
Mittelfranzösischen eine Änderung erfahren hat. Er nimmt an, dass die Erwachsenen dazu<br />
übergehen, diesen Adverbien einen ähnlichen Status wie der deutschen Konjunktion denn<br />
zuzuordnen, die nur in Verbindung mit einer Verb-Dritt-Stellung auftreten kann. Roberts<br />
lässt allerdings offen, wie und aus welchen Gründen dieser Wandel eingetreten ist. Unklar<br />
ist auch, auf welche Weise dieser Wandel zu einer Veränderung der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
des Französischen führt. Seiner Argumentation zufolge deutet das zunehmende
120<br />
Auftreten von Adverbien wie lors oder jamais/jamés in Verb-Dritt-Sätzen darauf hin, dass<br />
diese Adverbien nicht mehr in der Lage sind, die Verb-Zweit-Stellung zu triggern (Roberts<br />
1993:146). Das Problem einer solchen Argumentation liegt darin, dass hier stillschweigend<br />
die traditionelle Argumentationsweise übernommen wird, derzufolge in Verb-Zweit-Sprachen<br />
die Verb-Zweit-Stellung bzw. die Subjekt-Verb-Inversion durch ein satzinitial auftretendes<br />
Adverbial oder sonstiges Nicht-Subjekt ausgelöst wird. Im Rahmen des hier ausführlich<br />
diskutierten und von Roberts verwendeten generativen Erklärungsmodells werden<br />
jedoch nicht die Adverbien als Auslöser für diese Stellung angesehen, sondern die Tatsache,<br />
dass das Verb auf Grund parametrisch festgelegter Bedingungen in die Zweit-Position,<br />
d.h. nach COMP, angehoben werden muss. Auf diesen Widerspruch, der in vielen generativen<br />
Verb-Zweit-Analysen anzutreffen ist (z.B. de Bakker 1997:141), macht auch Vance<br />
(1993:283) aufmerksam:<br />
In the terminology of the traditional literature on inversion in Old French, clause-initial adverbs<br />
and preposed constituents from the VP are said to 'trigger' the postposition or omission of the pronoun.<br />
This characterization is a useful descriptive device [...]. It will be noted, however, that under<br />
the analysis just presented, no 'trigger' is necessary for a matrix CP to be formed; rather, V2 languages<br />
are assumed to have a parametrically determined property that requires, in all matrix<br />
clauses, that the verb move to C and the spec CP position be filled.<br />
Das heißt, ausgehend von der Annahme, dass das Altfranzösische eine Verb-Zweit-Sprache<br />
war, können die Sätze in (4) nur so interpretiert werden, dass diese Adverbien im Mittelfranzösischen<br />
einen besonderen Status bekommen haben, der es ihnen erlaubt, in einer an<br />
die CP adjungierten Position aufzutreten. Anders als Roberts annimmt, würde die Verbnach-COMP-Bewegung<br />
– ebenso wie im Fall des von Roberts (1993:145) zitierten deutschen<br />
denn – von dieser Statusänderung unberührt bleiben:<br />
(5) [CP Lors [CP la royne [C' fist [IP Saintré appeller]]]]<br />
(6) [CP Denn [CP Johann [C' hat [IP gestern das Buch gelesen]]]]<br />
Noch problematischer ist die Argumentation, die Roberts hinsichtlich seiner zweiten Beobachtung<br />
bezüglich der Veränderungen im Mittelfranzösischen vorlegt. Diese bestehen<br />
seiner Ansicht nach darin, dass in Texten des Mittelfranzösischen in zunehmendem Maße<br />
Verb-Dritt-Sätze mit vorangestelltem Komplement zu finden sind. Roberts (1993:149) führt<br />
hierzu die beiden folgenden Beispiele an:<br />
(7) mfr. (a) De laquelle plaisant nouvelle tous se prindrent a rire<br />
von dieser erfreulichen Nachricht alle sich anschickten zu lachen<br />
(jds 189,31-32) ( Vance 1989:186, Roberts 1993:149)<br />
(b) le petit Saintré les yeulz de Madame ne cessoient de regarder<br />
den kleinen Saintré die Augen von Madame nicht aufhörten zu betrachten<br />
(jds 55,32-33) ( Vance 1989:186, Roberts 1993:149)<br />
Nach Ansicht von Roberts (1993:149) belegt das zunehmende Auftreten solcher Sätze im<br />
Mittelfranzösischen "further evidence that the V2 constraint did not hold in full force in<br />
Mid[dle]Fr[ench]". Er begründet dies damit, dass Sätze wie (7) auf Grund der Beschränkung<br />
hinsichtlich der CP-Adjunktion in einer Verb-Zweit-Sprache ausgeschlossen sind.<br />
Folglich können seiner Ansicht nach die vorangestellten Komplemente in diesen Sätzen nur
121<br />
an eine IP adjungiert worden sein. Das heißt, diese Sätze haben eine Änderung erfahren, die<br />
darin besteht, dass die satzinitiale CP nun als IP bzw. AgrP interpretiert wird. 4<br />
Die zentrale, den Sprachwandel betreffende Frage lässt Roberts dabei allerdings vollkommen<br />
unbeantwortet. Er macht nämlich keinerlei Angaben darüber, wie es im Mittelfranzösischen<br />
zu einer solchen Änderung, d.h. zur Bildung von Sätzen, die mit einer Verb-<br />
Zweit-Grammatik unvereinbar sind, überhaupt kommen kann. Es ist zu vermuten, dass<br />
Roberts davon ausgeht, dass es sich dabei um das Resultat einer durch Kinder vorgenommenen<br />
Reanalyse handelt. Dabei ist jedoch unklar, auf Grund welcher Daten Kinder diese<br />
Reanalyse vorgenommen haben können.<br />
Wie eben gezeigt wurde, ist auszuschließen, dass der Auslöser für diese Reanalyse auf<br />
Grund quantitativer Veränderungen des erwachsenensprachlichen Inputs erfolgt ist. Eine<br />
andere Möglichkeit wäre anzunehmen, dass die Bildung von Sätzen wie (7) auf strukturelle<br />
Änderungen in der erwachsenensprachlichen Grammatik zurückzuführen ist. Damit wäre<br />
der Wandel der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft durch Veränderungen innerhalb der Erwachsenensprache<br />
selbst bedingt und nicht auf deren Reanalyse durch die Kinder einer<br />
neuen Generation zurückzuführen. Die Konsequenz dieser Annahme bestünde darin, dass<br />
parametrischer Wandel als ein vom kindlichen Spracherwerb unabhängiger Prozess angesehen<br />
werden würde. Damit würde allerdings eine der zentralen Grundannahmen der generativen<br />
Sprachwandeltheorie aufgegeben werden. Des Weiteren wirft diese Annahme die<br />
Frage auf, inwiefern es Sprechern einer Verb-Zweit-Sprache überhaupt möglich sein kann,<br />
solche Sätze wie in (7) zu bilden. Hierzu liefern theoretische Überlegungen und empirische<br />
Ergebnisse der Spracherwerbsforschung eindeutige Antworten. Die Untersuchungen zum<br />
Erstspracherwerb zeigen nämlich, dass ein Umfixieren von einmal gesetzten Parametern<br />
sowohl aus theoretischen wie auch empirischen Gründen ausgeschlossen werden muss<br />
(Meisel 1995:31ff.). Dies ergibt sich zum einen aus der theoretischen Überlegung heraus,<br />
dass die Möglichkeit eines Umfixierens dem Kind ein prinzipiell unendliches Umfixieren<br />
erlauben würde, da es keine Möglichkeit hätte zu entscheiden, an welchem Punkt es den<br />
Parameter endgültig festlegen muss (Valian 1990). Zum anderen zeigen empirische Untersuchungen<br />
des Erstspracherwerbs deutlich, dass Kinder einmal gesetzte Parameter nicht<br />
wieder umfixieren (Clahsen 1990/91, Penner 1992). Dies hat die Konsequenz, dass ein<br />
Kind, das einen Parameter auf einen nicht zielsprachlichen Wert gesetzt hat, die Festlegung<br />
nicht wieder rückgängig machen kann und die Eigenschaften, die mit der zielsprachlichen<br />
Fixierung verbunden sind, im Einzelnen erlernen muss (Müller 1994).<br />
Auch in der Zweitspracherwerbsforschung konnte in vielen Untersuchungen gezeigt<br />
werden, dass das Fixieren von Parametern ein (einmaliger) Prozess ist, der auf den Erstspracherwerb<br />
beschränkt bleibt und damit im Zweitspracherwerb keine Rolle spielt (Clahsen<br />
/ Muysken 1989). Diese Feststellung ergibt sich aus dem Vergleich von Erst- und<br />
Zweitspracherwerb, der nicht nur deutliche Unterschiede hinsichtlich des Erfolgs, sondern<br />
4 Es sei darauf hingewiesen, dass der von Vance (1989:162f.) übernommene Beispielsatz (7)(b) unvollständig<br />
ist. Eine Überprüfung zeigt nämlich, dass ein satzinitialer Nebensatz nicht mit aufgeführt<br />
wird. Somit handelt es sich hierbei nicht um einen Beleg für einen Verb-Dritt-Satz, sondern<br />
sogar für den eines Satzes mit einer Verb-Viert-Stellung:<br />
(i) mfr. Et endemantiers que ilz danssoient, le petit Saintré les yeulz de<br />
und währenddessen dass sie tanzten den kleinen Saintré die Augen von<br />
Madame ne cessoient de regarder, tant dansoit et chantoit bien.<br />
Madame nicht aufhörten zu betrachten so sehr (er)-tanzte und sang gut
122<br />
auch hinsichtlich des Erwerbsverlaufs sichtbar werden lässt. Während der Erstspracherwerb<br />
stets erfolgreich und nur durch wenige individuelle Unterschiede gekennzeichnet ist, führt<br />
der Zweitspracherwerb keineswegs immer zum Erfolg, sondern kann zu individuell sehr<br />
unterschiedlichen Ergebnissen führen, die von zahlreichen zusätzlichen Faktoren abhängig<br />
sind (z.B. Motivation, Zugang zu negativer Evidenz etc.), die beim Erstspracherwerb überhaupt<br />
keine Rolle spielen. Mit anderen Worten, die für den Erstspracherwerb charakteristische<br />
Diskrepanz zwischen dem zugänglichen – unterdeterminierten – Datenmaterial und<br />
der dabei erworbenen sprachlichen Kompetenz ist im Zweitspracherwerb nicht gegeben,<br />
d.h. es gibt auch keinen Anlass für die Annahme eines 'logischen Problems des Zweitspracherwerbs'.<br />
Damit fehlt die theoretische Rechtfertigung für die Annahme, dass der<br />
Zweitspracherwerb durch die Vorgabe universalgrammatischer Prinzipien oder das Fixieren<br />
von Parametern gesteuert ist (Bley-Vroman 1989, Meisel 1991). 5 Gegen diese Annahme<br />
sprechen auch zahlreiche empirische Untersuchungen. So lassen sich, wie Clahsen /<br />
Muysken (1989) am Beispiel des Erwerbs der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft im Deutschen<br />
zeigen, deutliche Unterschiede zwischen dem Erst- und Zweitspracherwerb feststellen.<br />
Wie bereits erwähnt, erwerben Kinder die Verb-Zweit-Stellung im Deutschen sehr<br />
schnell und nahezu fehlerfrei (Clahsen 1982, Mills 1985, Meisel 1986, Penner 1992). Beim<br />
Erwerb des Deutschen durch Zweitspracherwerber ist demgegenüber weder ein plötzlicher<br />
Erwerbssprung noch ein fehlerfreier Erwerb der Verb-Zweit-Stellung zu konstatieren<br />
(Clahsen / Meisel / Pienemann 1983). Diese Beobachtungen lassen sich durch die Annahme<br />
erfassen, dass der schnelle und fehlerfreie Erwerb der Verb-Zweit-Eigenschaft durch das<br />
(einmalige) Fixieren des entsprechenden Parameterwertes ermöglicht wird. Bei einem späteren<br />
Erwerb dieser Eigenschaft während des Erlernens einer Fremdsprache ist diese Möglichkeit<br />
hingegen nicht mehr gegeben:<br />
[...] in order to explain the deterministic character of the process of L1 acquisition, one may want<br />
to assume that even in the period of childhood children are not allowed to go on resetting parameters<br />
continually. If parameter setting is restricted in general in this way, L2 acquisition, including<br />
the acquisition of foreign languages, can never be a case of parameter setting and should be dependent<br />
on other cognitive prinicples. (Weerman 1993:906)<br />
Für eine generative Theorie des Sprachwandels kann aus diesen Beobachtungen gefolgert<br />
werden, dass der Wechsel parametrisch festgelegter Eigenschaften ausschließlich durch<br />
eine von Kindern während des Erstspracherwerbs durchgeführte Reanalyse erfolgen muss.<br />
5 Diese Beobachtung kann, wie Meisel (1991:235f.) betont, als das entscheidende Argument gegen<br />
die von einigen Zweitspracherwerbsforschern, wie z.B. White (1985), vertretene Annahme gesehen<br />
werden, wonach die Universalgrammatik auch beim Erwerb einer Zweitsprache als genetisch<br />
determinierter Spracherwerbsmechanismus zur Verfügung steht:<br />
"[...] the logical problem of language acquisition constitutes a major, if not the decisive, argument<br />
in favor of the claim that the child is endowed with a-priori knowledge about possible grammars,<br />
that is, UG. If this argument does not apply to L2 acquisition, the burden of proof rests, indeed, on<br />
the proponents of the UG/L2 hypothesis; in other words, it is not sufficient simply to demonstrate<br />
that UG principles can account for certain facts as well as other explanations can. Rather, one<br />
would have to give additional support for the assumption that UG is accessible for L2 learners. To<br />
my knowledge, very little has appeared in print which might be considered evidence of this sort.<br />
[...] In other words, the UG/L2 hypothesis appears to be insufficiently motivated in terms of<br />
epistemological reflections."
123<br />
Mit anderen Worten, ausgehend von der Annahme, dass das Altfranzösische eine Verb-<br />
Zweit-Sprache gewesen ist, können Sätze wie (7) nicht das Ergebnis qualitativer Änderungen<br />
des sprachlichen Inputs sein, sondern nur das Resultat einer zuvor erfolgten Reanalyse.<br />
Dies führt wieder zu der Frage, auf Grund welcher Evidenz Kinder eine solche Reanalyse<br />
vorgenommen haben können.<br />
Ein Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu geben, stellt die bereits in Abschnitt<br />
3.3.4.1 diskutierte Analyse von Platzack (1995) dar. Abgesehen von den bereits erörterten<br />
empirischen Schwierigkeiten weist diese Analyse aber auch in theoretischer Hinsicht Probleme<br />
auf. Zwar ist die von Platzack angenommene Klitisierung der Subjektspronomina<br />
und das damit verbundene Auftreten von Sätzen mit einer Verb-Dritt-Stellung mit einer<br />
Verb-Zweit-Grammatik der Erwachsenensprache vereinbar, dennoch kann diese angenommene<br />
strukturelle Veränderung der Erwachsenensprache den postulierten Wandel des Französischen<br />
von einer Verb-Zweit- zu einer Nicht-Verb-Zweit-Sprache nicht erklären. Denn<br />
die Möglichkeit zur Bildung von Sätzen, die oberflächlich eine Verb-Dritt-Stellung aufweisen,<br />
bleibt ausschließlich auf Sätze mit klitischen Subjektspronomina beschränkt. Nominale<br />
Subjekte hingegen können nicht präverbal auftreten, wenn eine weitere Konstituente dem<br />
Verb voransteht. Das heißt, Sätze mit einem satzinitialen Nicht-Subjekt erfordern die postverbale<br />
Stellung eines Subjektsnomens und liefern damit eindeutige Evidenz für die Festlegung<br />
des Verb-Zweit-Parameters auf den ursprünglichen Wert. Wie bereits gezeigt, kommt<br />
es dennoch in einer solchen Situation nach Ansicht von Platzack (1995) deshalb zu einer<br />
Reanalyse und einer anschließenden Parameterumfixierung, weil solche Sätze mit nominalen<br />
Subjekten in der gesprochenen Umgangssprache sehr selten sind und aus diesem Grund<br />
von den Kindern als Evidenz für eine Verb-Zweit-Struktur ignoriert werden.<br />
Damit trifft Platzacks Kritik an bisherigen Analysen des Verlusts der Verb-Zweit-Stellung,<br />
wonach ein Parameterwechsel nicht eintreten kann, solange eindeutige Triggerevidenz<br />
vorhanden ist, auch auf seine eigene Analyse zu. Nach Ansicht von Kiparsky<br />
(1997:464) stellt der im vorangehenden Abschnitt zitierte Einwand von Platzack<br />
(1985:206) sogar generell jegliche Art von Reanalyse in Frage:<br />
Platzack's objection that all the unambiguous evidence favoured the V2 analysis counts equally<br />
against his own proposal; in fact it counts equally against any pure reanalysis account of any<br />
change whatever. For prior to actual reanalysis, the data will always divide that way: some of it<br />
will be equally consistent with both analyses and some will positively support the old.<br />
An diese Schlussfolgerung schließt sich nun die Frage an, inwiefern Sprachwandelphänomene<br />
überhaupt durch den Prozess des Parameterwechsels erfasst werden können. Es zeigt<br />
sich, dass die von Lightfoot geforderten "changes in trigger experiences" als notwendige<br />
Voraussetzung für grammatischen Wandel offenbar sehr spezifischer Art sein müssen, um<br />
einen Wandel parametrisch festgelegter Eigenschaften hervorrufen zu können. Quantitative<br />
Änderungen des erwachsenensprachlichen Inputs können nicht zu einem Wandel dieser<br />
Eigenschaften führen, solange im Input Daten vorhanden sind, die als Trigger für die Fixierung<br />
des Parameters auf den ursprünglichen Wert fungieren. Strukturelle Änderungen sind<br />
deshalb ausgeschlossen, weil sie dergestalt sein müssten, dass sie in der Erwachsenensprache<br />
selbst eine Umfixierung des Parameters voraussetzen würden. Diese Möglichkeit ist<br />
jedoch grundsätzlich auszuschließen.
124<br />
4.2 Parameterwechsel durch Dialekt- oder Sprachkontakt?<br />
Ein Versuch, ein Modell des Parameterwechsels zu entwerfen, das die aufgezeigten Probleme<br />
vermeidet, basiert auf der Annahme, dass zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt<br />
die sich ändernde Sprache in Kontakt mit einer oder mehreren Dialekten der gleichen<br />
Sprache oder einer oder mehreren anderen Sprachen gestanden haben muss. Voraussetzung<br />
ist, dass der oder die Parameter, deren Fixierung sich ändert, in den miteinander in Kontakt<br />
tretenden Dialekten oder Sprachen auf unterschiedliche Werte gesetzt sind.<br />
Ein solcher Vorschlag stammt von Lightfoot (1997a, 1997b, 1999), der damit den Verlust<br />
der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft im Englischen zu erklären versucht. Er knüpft an<br />
eine Studie von Kroch / Taylor (1997) über die Wortstellungsverhältnisse im Alt- und<br />
Mittelenglischen an. Darin beobachten die Autoren im Mittelenglischen signifikante dialektale<br />
Unterschiede hinsichtlich der Stellung des finiten Verbs. In dem von ihnen untersuchten<br />
Text, der den südlichen Dialekten zuzuordnen ist, konstatieren sie eine starke Variation<br />
hinsichtlich der Verb-Zweit-Stellung. Demgegenüber ist das untersuchte Dokument<br />
des nördlichen Mittelenglischen durch eine strenge Verb-Zweit-Stellung gekennzeichnet<br />
(cf. auch Haeberli 1999:387ff., 2000). Dieser Unterschied zwischen beiden Dialekten manifestiert<br />
sich der Analyse der beiden Autoren zufolge darin, dass der nördliche Dialekt über<br />
die – parametrisch festgelegte – obligatorische V-nach-COMP-Bewegungsregel in allen deklarativen<br />
Matrixsätzen verfügt. Im südlichen Dialekt hingegen kann das Verb nur in bestimmten<br />
Kontexten nach COMP angehoben werden, während es in anderen Kontexten nur<br />
an einen funktionalen Kopf unterhalb von COMP bewegt wird.<br />
Die Annahme von Lightfoot (1997b:269) lautet, dass es zu einem Parameterwechsel dadurch<br />
kommen konnte, dass die beiden Dialekte auf Grund von "population movements"<br />
miteinander in Kontakt getreten sind. Er vermutet, dass Sprecher eines dieser Dialekte sich<br />
im Gebiet des anderen Dialekts angesiedelt haben, wodurch den Kindern der jeweiligen<br />
Sprachgruppen Evidenz für eine Sprache mit einem anders gesetzten Parameter geliefert<br />
wurde. Entscheidend ist für Lightfoot die Tatsache, dass in dieser Situation des Kontakts<br />
Kinder der Sprecher des nördlichen Dialektes nun mit einer Varietät ihrer Sprache konfrontiert<br />
werden, in der eindeutige Evidenz gegen eine V-nach-COMP-Bewegung (z.B.<br />
Verb-Dritt-Sätze) und keine Evidenz für eine solche Bewegung, nämlich deklarative Matrixsätze<br />
mit einer Subjekt-Verb-Inversion, existiert. Lightfoot nimmt an, dass damit für<br />
diese Kinder die Möglichkeit besteht, eine Reanalyse ihrer Muttersprache vorzunehmen<br />
und den entsprechenden Parameter auf den Wert '-V2' festzulegen. Gefördert wird nach<br />
Ansicht von Lightfoot diese Reanalyse dadurch, dass in dem eigenen muttersprachlichen<br />
Dialekt der prozentuale Anteil von Sätzen mit einer Subjekt-Verb-Inversion in dieser bidialektalen<br />
Situation derartig gering ist, dass diese Sätze von den Kindern nicht mehr als<br />
Evidenz gegen eine Reanalyse wahrgenommen werden. Damit versucht Lightfoot der Tatsache<br />
gerecht zu werden, dass durch die erwachsenen Sprecher des nördlichen Dialekts den<br />
Kindern im Input ihres eigenen Dialekts weiterhin Evidenz für eine Verb-Zweit-Grammatik<br />
und gegen eine solche Reanalyse geliefert wird. Unklar bleibt bei dieser Analyse Lightfoots<br />
allerdings, warum in der von ihm angenommenen Situation des Dialektkontaktes sich nicht<br />
der nördliche Dialekt durchgesetzt hat und damit zur Entwicklung des Englischen zu einer<br />
strengen Verb-Zweit-Sprache geführt hat. Diese Möglichkeit wird von Lightfoot gar nicht<br />
in Betracht gezogen.
125<br />
Ein anderer Versuch, der Parameterwechsel als Resultat einer Sprachkontaktsituation ansieht,<br />
geht auf eine Studie von Weerman (1993) zurück. Darin wird versucht, die unterschiedliche<br />
Entwicklung der Objekt-Verb-Stellung zwischen Englisch und Niederländisch<br />
darauf zurückzuführen, dass das Altenglische – bedingt durch die Wikingerinvasion in der<br />
Zeit zwischen 800 bis 1050 – sehr starkem Einfluss des (Alt)-Nordischen ausgesetzt war. In<br />
ähnlicher Weise argumentieren auch Kroch / Taylor (1997), um die Entwicklung der Verb-<br />
Zweit-Stellung im Englischen zu erfassen. 6 Wie bereits gesehen, unterscheiden diese Autoren<br />
zwischen einem nördlichen und einem südlichen Dialekt des Mittelenglischen. Ihren<br />
Beobachtungen zufolge besteht ein Unterschied zwischen beiden Dialekten im System der<br />
Person- und Numeruskongruenzmarkierung, die im Nordmittelenglischen morphologisch<br />
schwächer ausgeprägt ist als im südlichen Dialekt des Mittelenglischen sowie im Altenglischen.<br />
Sie vermuten, dass diese Vereinfachung "the result of imperfect second-language<br />
learning of English by the Norse invaders of the ninth to eleventh centuries" ist (Kroch /<br />
Taylor 1997:318):<br />
The appearance of Norse-origin grammatical markers in the northern dialect [...] is clear evidence<br />
that second-language learners with an imperfect command of English grammar were a sufficiently<br />
large fraction of the population in the North to pass on their mixed language to succeeding generations,<br />
what is traditionally known as a substratum effect. One feature of imperfect learning, as is<br />
well known, is the imperfect acquisition of inflectional endings; and the northern M[iddle]<br />
E[nglish] endings seem to have originated in this way.<br />
Diese morphologische Reduktion des Systems der Flexionsmarkierung ist nach Ansicht von<br />
Kroch / Taylor (1997) für die Entwicklung der Verb-Zweit-Stellung im Nordenglischen<br />
verantwortlich. Ihre Analyse basiert auf der Annahme, dass die V-nach-INFL-Bewegung<br />
von morphologisch reichen Flexionsmerkmalen abhängig ist. Auf Grund des mangelnden<br />
'Reichtums' dieser Merkmale kann ihrer Ansicht nach nun ein nach INFL angehobenes<br />
Verb keine offene Spezifizierer-Kopf-Kongruenz zu einem in SpezIP vorhandenden Topik<br />
herstellen, so dass die Anhebung nach COMP erfolgen muss. Demzufolge führt eine –<br />
durch Sprachkontakt hervorgerufene – Reduktion des verbalen Kongruenzsystems dazu,<br />
dass eine ursprüngliche "IP-V2-Grammatik" zu einer "CP-V2-Grammatik" reanalysiert<br />
wird (Kroch / Taylor 1997:318).<br />
In ähnlicher Weise versucht Weerman (1993:922) die unterschiedliche Entwicklung des<br />
Englischen im Vergleich zum Niederländischen hinsichtlich der Stellung von Objekt und<br />
Verb auf eine "substantial L2 acquisition influence" zurückzuführen. Es geht ihm vor allem<br />
um die Beantwortung der von ihm als "(17b)" gekennzeichneten Frage, warum nur im<br />
Englischen, aber nicht im Niederländischen ein Wandel von einer OV- zu einer VO-Stellung<br />
stattgefunden hat (Weerman 1993:912):<br />
Thus, in contrast to what we see in the Netherlands during the Middle Dutch period, a substantial<br />
L2 acquisition influence is probable in Old English. Given what we know of the susceptibility of<br />
OV languages with V2 to VO overgeneralizations under L2 acquisition, I propose that this is deci-<br />
6 Merkwürdigerweise nehmen die Autoren dabei nicht Bezug auf die Arbeit von Weerman (1993).<br />
Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil Lightfoot (1997b:266), der Weermans Studie<br />
ebenfalls ignoriert, die Untersuchung von Kroch / Taylor (1997) als "striking new analysis" bezeichnet.
126<br />
sive for an answer to (17b) and that we should not force the theory of L1 acquisition to explain this<br />
change. (Weerman 1993:922)<br />
Die hier skizzierten Sprachwandelanalysen von Weerman (1993), Kroch / Taylor (1997)<br />
und Lightfoot (1997a,b) liefern somit einen Ansatz zur Lösung einiger der im vorangegangenen<br />
Abschnitt dargestellten Probleme einer generativen Sprachwandeltheorie. Durch die<br />
angenommene Kontaktsituation von – parametrisch unterschiedlich fixierten – Dialekten<br />
oder Sprachen ist eine Situation gegeben, in der Kinder mit einem Input konfrontiert sein<br />
können, der eindeutige Evidenz für das Fixieren eines Parameters auf einen anderen Wert<br />
liefert, als er im Dialekt oder in der Sprache der Eltern festgelegt ist. Unklar ist allerdings in<br />
einer solchen Situation des Sprach- oder Dialektkontaktes die Rolle des ebenfalls vorhandenen<br />
Inputs, der den Kindern Evidenz gegen ein Umfixieren eines Parameters liefert. So<br />
stellt sich die Frage, warum die Kinder nur den Dialekt der nicht elterlichen Dialektgruppe<br />
als Grundlage für das Fixieren des Parameters berücksichtigen und Input des elterlichen<br />
Dialektes ignorieren sollten. Ebenso muss gefragt werden, warum Kinder den Parameter<br />
nur auf der Grundlage der von den Eltern fehlerhaft erlernten Fremdsprache fixieren sollten<br />
und nicht etwa auf der Grundlage der Muttersprache ihrer Eltern oder auf der Grundlage<br />
des Inputs der muttersprachlichen Sprecher der Fremdsprache. Es ist zu betonen, dass es in<br />
beiden Situationen durchaus denkbar und sogar wahrscheinlich wäre, dass Kinder bilingual<br />
oder bidialektal aufwachsen, d.h. beide Sprachen oder Dialekte, denen sie ausgesetzt sind,<br />
simultan erwerben und dabei die entsprechenden Parameter jeweils auf einen unterschiedlichen<br />
Wert festlegen. Wie die Ergebnisse bisheriger generativer Bilingualismusforschung<br />
zeigen, ist der bilinguale Spracherwerb in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass Kinder<br />
die verschiedenen Muttersprachen voneinander getrennt erwerben und für jede Sprache die<br />
einzelnen Parameter gesondert und gegebenenfalls auf einen unterschiedlichen Wert festlegen<br />
(Meisel 1993, 2001, Köppe 1997).<br />
Trotz dieser Einwände scheint die Annahme, wonach in einer Dialekt- oder Sprachkontaktsituation<br />
die Möglichkeit für einen Parameterwechsel gegeben ist, grundsätzlich richtig<br />
zu sein. Sie ist, wie beispielsweise auch Meisel (2001) anhand einer Diskussion von Daten<br />
des bilingualen Erstspracherwerbs zeigt, zumindest ein erster Schritt zur Lösung des 'logischen<br />
Problems des Sprachwandels'. In den meisten generativen Sprachwandelanalysen ist<br />
dieses Problem bislang allerdings entweder ignoriert oder nicht adäquat gelöst worden:<br />
In my opinion, generative historical linguists (and not only they) too often become rather sloppy<br />
when they have to transplant their synchronic theory to diachronic. Marked settings of parameters<br />
disappear without it becoming clear why these marked settings could ever appear. New constructions<br />
are the cause of new settings of parameters, without it becoming clear why the older constructions<br />
no longer count as positive evidence. (Weerman 1993:926)<br />
Es genügt also nicht, die diachronische Variation parametrischer Eigenschaften dadurch zu<br />
"erklären", dass zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten die entsprechenden Parameter<br />
auf unterschiedliche Werte festgelegt waren. Vielmehr müssen die genauen spezifischen<br />
Bedingungen genannt werden, unter denen der angenommene Parameterwechsel eingetreten<br />
ist. Solange dies nicht geleistet werden kann, muss davon ausgegangen werden, dass<br />
das beobachtete Sprachwandelphänomen nicht durch die Annahme eines Parameterwechsels<br />
erfasst werden kann.<br />
Was die romanischen Sprachen und den dort zu beobachtenden Verbstellungswandel<br />
betrifft, so muss nun die Frage gestellt werden, ob für einen hierfür angenommenen
127<br />
Parameterwechsel – in ähnlicher Weise, wie für das Englische vermutet wird – Sprachkontakt<br />
oder dialektaler Kontakt verantwortlich gemacht werden können. Es muss überprüft<br />
werden, ob es in den Zeiträumen, in denen in diesen Sprachen der Wandel der Verbstellung<br />
eingetreten ist, zu Kontakten dieser Sprachen mit anderen Sprachen gekommen ist, die hinsichtlich<br />
des Verb-Zweit-Parameters anders fixiert gewesen sind. Für die iberoromanischen<br />
Sprachen, insbesondere das Spanische, liegt die Vermutung nahe, dass dieser Wandel durch<br />
den Kontakt mit dem Arabischen ausgelöst worden ist. Die vielen romanistischen Untersuchungen<br />
zu diesem Kontakt stimmen jedoch darin überein, dass Einflüsse des Arabischen<br />
auf das Spanische vorwiegend im Bereich des Lexikons, nicht aber im Bereich der Syntax<br />
nachgewiesen werden können (Meyer-Hermann 1988). Ähnliches gilt auch für die Entwicklung<br />
anderer romanischer Sprachen und den Einfluss auf deren Syntax durch andere<br />
Kontaktsprachen.<br />
Auch was die Frage nach dem Einfluss dialektalen Kontaktes auf die Wortstellungsentwicklung<br />
betrifft, so liefern die romanistischen Untersuchungen keinerlei Belege dafür,<br />
dass innerhalb der einzelnen frühromanischen Sprachen Dialekte existiert haben, deren<br />
Syntax dermaßen unterschiedlich ausgeprägt war, dass von Unterschieden hinsichtlich der<br />
Fixierung des Verb-Zweit-Parameters ausgegangen werden muss. Die im Langue d'Oïl<br />
gesprochenen alt- und mittelfranzösischen Dialekte unterscheiden sich allenfalls im morphophonologischen<br />
Bereich. Syntaktische Unterschiede werden vor allem nur im Bereich<br />
des Gebrauchs und der Funktion der Personalpronomina beobachtet (Gossen 1976). Auch<br />
ein von mir durchgeführter empirischer Vergleich zweier franzischer Texte (ros und tho)<br />
mit zwei anglo-normannischen Texten (rol und mar) kommt zu dem Ergebnis, dass hinsichtlich<br />
der Stellung des finiten Verbs keine Unterschiede existieren (Kaiser 2000). Die<br />
Texte beider Dialekte enthalten in ähnlichem Umfang zahlreiche Verb-Zweit-Stellungseffekte.<br />
Auf Grund der Tatsache, dass das Franzische die Grundlage für die Herausbildung<br />
des späteren Standardfranzösischen bildet, wäre allerdings zu erwarten gewesen, dass die<br />
franzischen Texte sich hier deutlich von den Texten der anderen Dialekte unterscheiden<br />
und wesentlich weniger häufig Verb-Zweit-Stellungseffekte aufweisen. Denn es muss davon<br />
ausgegangen werden, dass derjenige Dialekt, der sich gegen die übrigen durchgesetzt<br />
hat, hinsichtlich des Verb-Zweit-Parameterwertes anders fixiert war und bei einem möglichen<br />
Kontakt mit anderen Dialekten Input für eine Parameterumfixierung dieser Dialekte<br />
geliefert hat. Alle bisherigen Untersuchungen und Hinweise in der Literatur deuten jedoch<br />
darauf hin, dass dies nicht der Fall gewesen ist. Die gleiche Feststellung scheint auch für<br />
Dialekte anderer frühromanischer Sprachen zuzutreffen. Mit anderen Worten, es gibt bislang<br />
offenbar keine empirische Evidenz dafür, dass die von Weerman (1993) und von<br />
Kroch / Taylor (1997) gelieferte Erklärung für den parametrischen Verbstellungswandel im<br />
Englischen zur Erklärung für den Verb-Stellungswandel in den romanischen Sprachen<br />
herangezogen werden kann.<br />
Somit muss zusammenfassend festgestellt werden, dass es bislang nicht gelungen ist, in<br />
Übereinstimmung mit den Grundannahmen der Parametertheorie die These zu belegen, wonach<br />
sich das Französische sowie andere romanische Sprachen durch Parameterwechsel<br />
von einer Verb-Zweit- zu einer Nicht-Verb-Zweit-Sprache entwickelt haben. Das Hauptproblem<br />
für den Nachweis dieser Annahme besteht darin, dass keine Erklärung dafür geliefert<br />
werden konnte, wie dieser Parameterwechsel ausgelöst worden sein soll. Die vielfach<br />
angenommenen quantitativen und/oder strukturellen Veränderungen in der Erwachsenensprache<br />
müssen aus theoretischen Gründen als inadäquate Erklärungen zurückgewiesen
128<br />
werden. Für die Annahme, dass Sprach- oder Dialektkontakt zum Vorhandensein der notwendigen<br />
eindeutigen Triggerevidenz geführt hat, konnte bislang keine empirische Evidenz<br />
vorgelegt werden. Diese Feststellung führt zu der Frage, inwiefern es überhaupt gerechtfertigt<br />
ist anzunehmen, dass das Alt- und Mittelfranzösische sowie auch andere frühromanische<br />
Sprachen durch eine strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft charakterisiert waren,<br />
die im Laufe der historischen Entwicklung durch Parameterwechsel verloren gegangen ist.<br />
Dieser Frage soll in der folgenden empirischen Untersuchung nachgegangen werden.
5. Verbstellungswandel in den romanischen Sprachen.<br />
Eine empirische Untersuchung<br />
5.1 Die Datenbasis<br />
Ziel der vorliegenden empirischen Untersuchung ist es, die Adäquatheit der Annahme zu<br />
überprüfen, wonach die romanischen Sprachen ursprünglich Verb-Zweit-Sprachen gewesen<br />
sind und demzufolge der Wandel der Stellung des finiten Verbs in diesen Sprachen als das<br />
Ergebnis eines Parameterwechsels aufzufassen ist. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung<br />
steht das Französische, da es diejenige romanische Sprache ist, die am ausgeprägtesten<br />
Verb-Zweit-Effekte aufgewiesen und diesbezüglich die größten Veränderungen erfahren<br />
hat. Im Vergleich dazu werden außerdem das Spanische und Portugiesische sowie das<br />
Bündnerromanische untersucht. Grundlage der Untersuchung bilden Übersetzungen von<br />
sieben Kapiteln der alttestamentlichen Bücher Samuel. Der Grund für die Auswahl dieser<br />
Bibeltexte als Datenbasis liegt darin, dass mit den so genannten Quatre livre des Reis eine<br />
altfranzösische Übersetzung der Bücher Samuel (sowie der Bücher der Könige) existiert.<br />
Diese Übersetzung, die mit sehr großer Wahrscheinlichkeit vorwiegend auf der Vulgata<br />
(= vul), der zwischen 383 und 405 n. Chr. durch den lateinischen Kirchenlehrer Hieronymus<br />
angefertigten lateinischen Bibelübersetzung, basiert, ist in vier Manuskripten erhalten,<br />
die in verschiedenen Regionen entstanden sind. Die erste – vermutlich in England angefertigte<br />
– Übersetzung stammt etwa aus dem Jahre 1170, die anderen Manuskripte sind etwas<br />
später in Frankreich erstellt worden. Eine auf dem ältesten Manuskript basierende kritische<br />
Edition wurde im Jahre 1911 von E.R. Curtius angefertigt (= qlr). Sie ist mit einem sehr<br />
ausführlichen einleitenden Kommentar versehen, der viele, auch für eine linguistische<br />
Analyse hilfreiche Anmerkungen über Aufbau und Besonderheiten des Textes und der<br />
einzelnen Manuskripte enthält (Curtius 1911). 1<br />
Nach Ansicht von Curtius (1911:LXXI) dürfen die Quatre livre des Reis, "obwohl auf<br />
lateinischen Grundlagen beruhend, als das erste selbständige Werk französischer Prosa<br />
angesehen werden" (cf. auch Haarhoff 1936:44, Herman 1954:260f., Stempel 1975). Sie<br />
unterscheiden sich deutlich von allen anderen früheren altfranzösischen Prosatexten, wie<br />
dem Fragment de Valenciennes (Jonasfragment, 1. Hälfte des 10. Jhdts.) oder den Versions<br />
des Psaumes (Psalterhandschriften, ca. 1. Drittel des 12. Jhdts.), die sich durch eine sehr<br />
enge sprachliche Anlehnung an den übersetzten lateinischen Text auszeichnen. Demgegenüber<br />
handelt es sich bei den Quatre livre des Reis um eine sehr freie und sprachlich vom<br />
Original unabhängige Übersetzung. Der Text geht sogar über eine Übersetzung hinaus, da<br />
er zusätzliche erklärende Kommentare enthält und teilweise den Originaltext in veränderter<br />
Form wiedergibt. Insbesondere was die Stellung des finiten Verbs betrifft, ist der Text, wie<br />
Herman (1954:261) in seiner, bereits diskutierten, detaillierten Wortstellungsanalyse der<br />
1 Nach Ansicht von Stempel (1975:358) handelt sich hierbei um "[d]as Beste, was zur Charakterisie-<br />
rung der Quatre livres des Rois (QldR) gesagt wurde".
130<br />
Quatre livre des Reis bemerkt, vollkommen selbstständig und unabhängig vom lateinischen<br />
Original:<br />
L'ordre des termes essentiels de la proposition (sujet, verbe, compléments) est pratiquement indépendant<br />
de l'ordre latin – et il faut ajouter que la comparaison est souvent malaisée à cause de la<br />
liberté que prend le traducteur dans le choix des tournures. Là, où, exceptionnellement, les deux<br />
ordres se recouvrent, la phrase française n'en cadre pas moins parfaitement avec les habitudes<br />
syntaxiques propres de l'ancien français (et ipsi praeparantur cogitationes – é a lui sunt apreste li<br />
pensed) [...]. Ce n'est que dans un ou deux groupes syntaxiques plus étroits qu'on découvre un reflet<br />
indubitable de l'ordre latin à travers telle tournure un peu inaccoutumée: quia deus scientiae<br />
dominus est – kar Deu est de science sires (cependant, ici encore, le calque se limite au groupe de<br />
l'attribut: la place du verbe – et, par conséquent, la place respective des termes essentiels de la proposition<br />
– est déterminée indépendamment de l'original).<br />
Die Quatre livre des Reis sind somit auf Grund der Textsorte und des Prosastils als das<br />
erste authentische Dokument der französischen Syntax überhaupt anzusehen und daher für<br />
eine Untersuchung des syntaktischen Wandels in besonderem Maße geeignet. Nur an einigen<br />
Stellen, insbesondere am Anfang, weicht die Übersetzung vom Prosastil ab und enthält<br />
Sätze in Reim- bzw. Versform. Lässt man diese Sätze außer Betracht, liefert der Text ein<br />
wesentlich adäquateres Bild der Syntax des Altfranzösischen, als durch einen lyrischen<br />
Text vermittelt wird. In diesem Fall kann nämlich ausgeschlossen werden, dass Verstöße<br />
gegen syntaktische Prinzipien des Altfranzösischen enthalten sind, die von Versmaß- oder<br />
Reimbeschränkungen herrühren. 2 Außerdem kann davon ausgegangen werden, dass ein<br />
Prosatext eine größere Nähe zur gesprochenen Sprache aufweist, als dies in lyrischen Texten<br />
der Fall ist:<br />
En outre nous avons voulu décrire un français qui soit le plus proche possible de la langue telle<br />
qu'elle fut (ou est) réellement parlée. Pour cette raison, nous n'avons pris que des textes en prose.<br />
De cette façon toutes les influences sur la syntaxe qui sont dues à des facteurs rythmiques, aux<br />
besoins de l'assonance, de la rime, ou de la mesure sont éliminées. (Kok 1985:4)<br />
Für eine historisch-vergleichende Untersuchung stellen die Quatre livre des Reis vor allem<br />
auch deshalb eine gute Grundlage dar, weil die Möglichkeit des Vergleichs mit anderen –<br />
zahlreich vorhandenen – Übersetzungen des gleichen Textes besteht. Dadurch kann – anders<br />
als bei vielen anderen vergleichenden empirischen Untersuchungen – weitgehend<br />
ausgeschlossen werden, dass mögliche Variationen zwischen den Texten von Unterschieden<br />
des Textinhaltes oder der Textsorte herrühren. Ein solcher Übersetzungsvergleich eignet<br />
sich daher einerseits "hervorragend dazu, sich einen Gesamtüberblick über verschiedene<br />
2 Dass solche Verstöße in lyrischen Texten generell möglich sind, zeigt beispielsweise auch ein<br />
Blick auf das Deutsche. Wie die folgenden Beispiele illustrieren, kann die dort gültige strenge<br />
Verb-Zweit-Stellungsregel in Texten in Versform ohne weiteres verletzt werden:<br />
(i) dt. (a) Es schienen so golden die Sterne,<br />
am Fenster ich einsam stand<br />
(J. v. Eichendorff, Die Sehnsucht)<br />
(b) Jeder, der den Springer liest,<br />
auch auf Vietnamesen schießt<br />
(APO-Slogan 1968)<br />
Diese Beispiele belegen, dass erst die Untersuchung eines prosaischen Text einen Einblick in die<br />
"herrschenden Sprachgewohnheiten" einer Einzelsprache erlaubt (Thurneysen 1892:296).
131<br />
konkurrierende Verfahren in verschiedenen Sprachen" (Albrecht 1973:75) zu verschaffen,<br />
andererseits bietet er eine sehr gute Möglichkeit, diachronische Veränderungen bei der<br />
Herausbildung und Entwicklung einer Einzelsprache – im Vergleich mit der modernen<br />
Sprache – herauszuarbeiten (cf. auch Chavy 1974:565, Rickard 1993, Stein 1997:27f.):<br />
Bien entendu, il n'en reste pas moins que cette approche offre un intérêt indéniable pour le linguiste<br />
aussi. Par exemple, elle peut profiter à la linguistique contrastive parce qu'elle oblige à circonscrire<br />
de façon précise les divergences entre les langues qui interviennent dans le processus. De<br />
même, elle peut être particulièrement utile à la linguistique diachronique: si un texte ancien est<br />
traduit dans un idiome issu de la langue dans laquelle ce texte a été composé, la traduction permet<br />
de saisir sur le vif des changements qui ont tran[s]formé la langue mère et provoqué l'émergence<br />
d'un nouveau système linguistique. [...] Les traductions successives forment autant de témoignages<br />
authentiques de locuteurs natifs sur l'expression la plus appropriée d'un message dans leur système<br />
linguistique. Si, comme c'est le cas de langues tel le français, on dispose en outre de traductions<br />
dans le système actuel, celles-ci constituent pour le locuteur natif moderne un point d'ancrage pour<br />
l'interprétation des données anciennes. (Goyens / Hoecke 1992:13f.)<br />
Die Verwendung von Bibelübersetzungen als Grundlage für Untersuchungen von Sprachwandel<br />
ist allerdings häufig kritisiert worden. Vielfach wird die Bibel deshalb als ungeeignet<br />
angesehen, weil "ihre Sprache [...], wie religiöse Sprache überhaupt, eigenen stilistischen<br />
Gesetzen folgt" (Stein 1997:30). Außerdem wird angenommen, dass Bibeltexte insbesondere<br />
deshalb besonders anfällig für Interferenzen sind, weil die Übersetzungen nicht<br />
nur auf den Originalausgaben basieren, sondern auch durch bereits existierende Übersetzungen<br />
beeinflusst sind. Aus diesem Grund kritisiert beispielsweise Meyer-Hermann<br />
(1988:69,Fn.4) die Arbeit von Crabb (1955), in der unter anderem einige Kapitel der Samuelbücher<br />
aus der altspanischen Biblia medieval romanceada (= bmr) mit den entsprechenden<br />
Kapiteln der altfranzösischen qlr-Übersetzung verglichen werden:<br />
El método que, por ejemplo, utiliza Crabb en su estudio es problemático al menos en dos aspectos.<br />
Compara una traducción española de la Biblia, para la cual sirvió de modelo un texto hebreo o<br />
árabe, con una traducción francesa basada en la Vulgata. La traducción del árabe al español es<br />
siempre problemática, por un lado porque hay interferencias inherentes propias de cualquier traducción<br />
que la apartan de las estructuras del español no traducido, por otro lado hay que atribuir<br />
parte de las diferencias que se dan en las traducciones a las diferentes versiones de la Biblia que a<br />
las mismas sirvieron de modelo.<br />
Die Kritik Steins oder Meyer-Hermanns mag sicherlich für Untersuchungen berechtigt sein,<br />
die semantisch-pragmatische und/oder stilistisch bedingte Besonderheiten von Wortstellungsvariation<br />
zum Gegenstand haben. In der hier vorliegenden Untersuchung geht es aber<br />
um die Frage, ob in den untersuchten Sprachen die Stellung des finiten Verbs durch rein<br />
syntaktische Prinzipien bestimmt ist. Das bedeutet, dass eine Untersuchung von Texten mit<br />
besonderen stilistischen Merkmalen keineswegs problematisch ist, auch dann nicht, wenn<br />
es sich dabei um eine Übersetzung handelt, die durch andere Übersetzungen beeinflusst<br />
worden ist. Im Gegenteil, die hier praktizierte Vorgehensweise des Übersetzungsvergleiches<br />
erweist sich als geradezu ideal für eine Überprüfung der Gültigkeit der Verb-Zweit-<br />
Stellungsregel in den zu untersuchenden Sprachen, da ausgeschlossen werden muss, dass es<br />
auf Grund von Interferenzen oder aus stilistischen Gründen zu einer Verletzung dieser<br />
Regel kommt, wenn diese Regel Bestandteil der Grammatik der jeweiligen Sprache ist.<br />
Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung stellen die ersten drei Kapitel des ersten<br />
Buches sowie die Kapitel 11-14 des zweiten Buches der Quatre livre des Reis dar. Nach
132<br />
heutiger Zählweise entspricht dies den Bibelstellen 1 Sam(uel) 1-3 und 2 Sam(uel) 11-14. 3<br />
Diese Kapitel werden mit den entsprechenden Kapiteln einer mittel- und dreier neufranzösischer<br />
Bibelübersetzungen aus verschiedenen Epochen verglichen. Da es hier um die Frage<br />
geht, ob und inwiefern das Alt- und Mittelfranzösische als eine (asymmetrische oder symmetrische)<br />
Verb-Zweit-Sprache beschrieben werden kann, werden zu Vergleichszwecken<br />
jeweils die entsprechenden Übersetzungen in das Neuhochdeutsche und in das moderne Isländische<br />
herangezogen. Für die Untersuchung der Verbstellungsentwicklung im Spanischen<br />
und Portugiesischen wird jeweils eine mittelalterliche mit einer zeitgenössischen<br />
Bibelübersetzung verglichen. Grundlage für die Untersuchung des Bündnerromanischen<br />
bilden die älteste surselvische Bibelübersetzung, die aus dem frühen 18. Jhdt. stammt, und<br />
die einzige zusammenhängende – allerdings nicht vollständige – Übersetzung des Alten<br />
Testaments in das moderne Surselvische.<br />
Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die untersuchten Texte und deren Entstehungszeit<br />
und enthält Angaben über die Gesamtanzahl der finiten Sätze sowie derjenigen<br />
deklarativen Matrixsätze, die ein lexikalisch realisiertes Subjekt enthalten:<br />
Sprache Entstehungs- Text Anzahl aller Sätze Anzahl der deklarativen Matrixsätze<br />
zeit<br />
mit finitem Verb mit realisiertem Subjekt<br />
afr. 1170 qlr 1017 302<br />
mfr. 1494/1520 reg 975 414<br />
nfr. 1570 hon 981 438<br />
1736 mar 998 506<br />
1994 caq 919 537<br />
dt. 1980 ein 952 529<br />
is. 1981 hei 989 485<br />
asp. 14. Jhdt. bmr 925 291<br />
nsp. 1975 jer 914 313<br />
apg. Ende 13.Jhdt. bmp 527 185<br />
npg. 1993 sag 927 314<br />
asur. 1718 cue 991 434<br />
nsur. 1967 veg 616 344<br />
Tabelle (5): Zusammenstellung der untersuchten Texte und Daten<br />
Die Tabelle (5) zeigt, dass die untersuchten Texte auffallend große Unterschiede hinsichtlich<br />
der Gesamtanzahl der finiten Sätze aufweisen. Dies liegt zum einen daran, dass einige<br />
Bibelübersetzungen, insbesondere die alt- und die mittelfranzösische Übersetzung (qlr und<br />
reg), mitunter sehr ausführliche zusätzliche Kommentare enthalten, die in die Übersetzung<br />
eingefügt sind. Zum anderen rühren die zahlenmäßigen Unterschiede daher, dass es sich bei<br />
der altportugiesischen und der modernen bündnerromanischen Übersetzung (bmr und veg)<br />
um teilweise stark gekürzte Bibelübersetzungen handelt. Um diese Diskrepanz etwas auszugleichen,<br />
wurde bei diesen beiden Übersetzungen zusätzlich das Kapitel 1 Samuel 4 in<br />
3 In der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des hebräischen Alten Testamentes, wurden die<br />
beiden Samuelbücher noch zu den Büchern der Könige gezählt. Erst ab der lateinischen Vulgata<br />
wurde damit begonnen, sie als eigenständige Bücher zu bezeichnen. In den Quatre livre des Reis<br />
ist noch die ursprüngliche Einteilung in die vier Bücher der Könige erhalten geblieben (Preuß /<br />
Berger 1985:82).
133<br />
die Untersuchung mit einbezogen. Die Unterschiede hinsichtlich der Anzahl der deklarativen<br />
Matrixsätze mit realisiertem Subjekt hängen vor allem mit der Null-Subjekt-Eigenschaft<br />
zusammen. Bei den Sprachen, die diese Eigenschaft besitzen, ist die Anzahl dieser<br />
Sätze im Vergleich zur Gesamtzahl der Sätze deutlich niedriger als in den Sprachen, die<br />
keine Null-Subjekte erlauben.<br />
Wie bereits im Kapitel 2 ausführlich erläutert wurde, manifestiert sich die Verb-Zweit-<br />
Stellungseigenschaft primär in deklarativen Matrixsätzen. Diese Sätze bilden daher die<br />
Grundlage für die folgende Untersuchung. Berücksichtigt werden dabei nur Sätze mit einem<br />
realisierten Subjekt. Wie bereits mehrfach betont, liefern Sätze, die kein realisiertes<br />
Subjekt enthalten, keine eindeutige Evidenz für die strukturelle Position des Verbs, da keine<br />
zuverlässigen Aussagen über die Stellung des leeren Subjekts getroffen werden können.<br />
Bei der Diskussion der Frage nach der Existenz eingebetteter Verb-Zweit-Effekte im Altfranzösischen<br />
werden ebenfalls nur deklarative Nebensätze mit realisiertem Subjekt untersucht.<br />
Ein Vergleich mit den entsprechenden Nebensätzen der isländischen Bibelübersetzung<br />
soll helfen, diese Frage zu klären.<br />
Die Auswertung der hier untersuchten Sätze orientiert sich an der von Roberts (1993)<br />
vorgenommenen Einteilung zur Ermittlung der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft im Altfranzösischen<br />
(vgl. Tabelle (2) in Kapitel 3). Da hierfür die Sätze mit einer XVS-Stellung<br />
von besonderer Relevanz sind, sind die Zahlen bzgl. dieser Sätze in den folgenden Tabellen<br />
zur besseren Veranschaulichung stets durch stärkere Einrahmung hervorgehoben. Der prozentuale<br />
Gesamtanteil dieser XVS-Sätze ist in der zusammenfassenden Tabelle (13) in Kapitel<br />
6 aufgeführt. Neben den von Roberts unterschiedenen Stellungsmustern ('Sub(jekt) –<br />
V(erb)', 'Obj(ekt) – V(erb)', 'P(rädikative) E(rgänzung) – V(erb)' und Adv(erbialphrase) –<br />
V(erb)') werden hierbei außerdem die Kontexte 'Präp(ositionalphrase) – V(erb)' sowie die<br />
des so genannten 'Zwischensatzes' ('"X"V') und des 'uneingeleiteten Nachsatzes' ('Satz V')<br />
unterschieden. Mit 'Zwischensatz' (fr. incise) sind in die direkte Rede eingefügte oder daran<br />
anschließende Sätze gemeint, die ein Verbum dicendi enthalten, 'uneingeleitete Nachsätze'<br />
sind Sätze, die durch einen finiten Nebensatz eingeleitet sind. Koordinierende Konjunktionen,<br />
wie z.B. frz. car, et, mais und si 'und', klitische Pronomina sowie die französische Negationspartikel<br />
ne werden nicht als eigenständige Konstituenten gewertet.<br />
5.2 Das Altfranzösische als Verb-Zweit-Sprache?<br />
5.2.1 Verb-Zweit-Stellungseffekte in altfranzösischen Matrixsätzen<br />
Auf Grund der genannten Unterscheidungskriterien kann für den altfranzösischen qlr-Text<br />
der folgende absolute und prozentuale Anteil der Verbstellungsmuster ermittelt werden:
134<br />
Text V1 V2 V>2 gesamt<br />
qlr<br />
Subj V Obj V Präp V PE V Adv V "X"V Satz V<br />
abs. 35 204 1 10 2 23 3 0 55 333<br />
(afr.) % 10.5 61.3 0.3 3.0 0.6 6.9 0.9 0.0 16.5 100.0<br />
Tabelle (6): Anteil der Verbstellungsmuster aller deklarativen Matrixsätze mit realisiertem Subjekt<br />
Als erstes Ergebnis dieser Auswertung lässt sich festhalten, dass der Anteil der – durch stärkere<br />
Einrahmung hervorgehobenen – Verb-Zweit-Sätze, die ein postverbales Subjekt enthalten,<br />
mit insgesamt 11,7% relativ gering ist. Er ist deutlich niedriger als beispielsweise in<br />
den von Roberts (1993) untersuchten Textausschnitten, in denen dessen Auszählungen zufolge<br />
durchschnittlich 56,5% aller Sätze eine XVS-Stellung aufweisen (siehe Tabelle (2) in<br />
Kapitel 3). Besonders deutlich ist außerdem die Diskrepanz zu den Ergebnissen der Untersuchung<br />
von Roberts bei denjenigen Sätzen, die mehr als eine dem finiten Verb voranstehende<br />
Konstituente enthalten. Dem hier ermittelten Anteil von 16,5% steht ein durchschnittlicher<br />
Anteil von 5,5% bei Roberts gegenüber. Wie bereits ausführlich gezeigt, ist<br />
die Auswertung von Roberts allerdings fehlerhaft und von zahlreichen Widersprüchen gekennzeichnet.<br />
Es ist daher nicht allzu verwunderlich, dass die hier erhobenen Ergebnisse<br />
stark divergieren. Betont werden muss, dass die von Roberts (1993:95) konstatierte "rigidity<br />
of the V2 constraint" im Altfranzösischen auf der Grundlage der hier vorliegenden Ergebnisse<br />
nicht bestätigt werden kann. Die Tatsache, dass der qlr-Text sogar einen größeren<br />
Anteil an V>2-Sätzen als an XVS-Sätzen aufweist, spricht vielmehr eher sogar gegen die<br />
Annahme, dass das Altfranzösische über eine Verb-Zweit-Stellungseigenschaft verfügt hat.<br />
Bei einer genaueren Betrachtung der V>2-Sätze tritt allerdings eine – bereits erwähnte –<br />
Besonderheit des untersuchten Textes zu Tage, die zur Folge hat, dass diese Ergebnisse teilweise<br />
revidiert werden müssen. Ein Teil dieser Sätze ist nämlich dadurch gekennzeichnet,<br />
dass das finite Verb am Satzende erscheint und mit einem Verb oder einem anderen Wort<br />
eines vorangehenden oder folgenden Satzes einen Reim oder eine Assonanz bildet:<br />
(1) afr. (a) Anna puis que ele out mangied é beüd levad é<br />
Hanna nachdem dass sie hatte gegessen und getrunken (sich)-erhob und<br />
al sucurs Deu requerre tut sun quer turnad<br />
um Hilfe Gottes (zu) erbitten ganzes ihr Herz hinwendete<br />
(qlr 4: 1 Sam 1,9) 4<br />
4 Um eine bessere Vergleichbarkeit der verschiedenen, hier untersuchten Bibeltexte zu ermöglichen,<br />
werden im Folgenden zur Kennzeichnung der Textstellen bei allen Beispielen neben der genauen<br />
Quellenangabe (Quellenkürzel mit Seitenangabe, soweit vorhanden) auch die genaue Bibelstelle<br />
angegeben. Die Kennzeichnung der Bibelstelle richtet sich nach der – seit der Vulgata – üblichen<br />
und weitgehend einheitlichen Zählweise. Die Angabe 'qlr 4: 1 Sam 1,9' verweist somit auf eine<br />
Stelle auf Seite 4 der von E.R. Curtius herausgegebenen Edition der Quatre livre des Reis. Dies<br />
entspricht dem neunten Vers des ersten Kapitels des ersten Buches Samuel. Bei denjenigen Bibeltexten,<br />
die keine oder unpräzise Versangaben enthalten, dient als Referenz zur Bibelstellenkennzeichnung<br />
stets die deutsche Einheitsübersetzung der Bibel (= ein). Im Falle der Kommentare, die<br />
manche Übersetzungen enthalten, wird jeweils die Stelle angegeben, an der der Kommentar in die<br />
Übersetzung eingefügt ist.
(b) É Deu de rechief Samuel apela, é Samuel chalt pas leva,<br />
und Gott von neuem Samuel rief und Samuel heißen Schrittes aufstand<br />
vint a l' evesche, si l' áreisna<br />
kam zu dem Bischof und ihn ansprach<br />
(qlr 9: 1 Sam 3,6)<br />
(c) É la grace Deu la dame visitá, suvent cunceut é enfantá<br />
und die Gnade Gottes die Frau besuchte oft (sie)-empfing und gebar<br />
(qlr 7: 1 Sam 2,21)<br />
(d) Helchana al son en vait é li enfes od Deu remaint<br />
Elkana zu-dem seinen hin geht und das Kind mit Gott zurückbleibt<br />
(qlr 7: 1 Sam 2,11)<br />
(e) é Amon chalt pas la saisid é sa volonted li descuvrid<br />
und Amnon heißen Schrittes sie ergriff und sein Verlangen ihr eröffnete<br />
(qlr 81: 2 Sam 13,11)<br />
135<br />
Besonders häufig sind Reimstellen in denjenigen V>2-Sätzen zufinden, in denen dem Verb<br />
drei oder mehr Konstituenten vorangehen. Dies ist in neun der insgesamt elf Sätze mit dieser<br />
Wortstellung der Fall:<br />
(2) afr. (a) Ensement la Synagoge par la lei plusurs éngendrad, mais ore<br />
ebenso die Synagoge nach dem Gesetz mehrere gebar aber jetzt<br />
est baraigne par mescreance dum ele forsvead<br />
ist unfruchtbar durch Unglauben durch-den sie vom-Weg-abkam<br />
(qlr 5: 1 Sam 1,20)<br />
(b) Tierce fiede Deu Samuel apela, é tierce feiz á Hely<br />
(zum) dritten Mal Gott Samuel rief und (zum) dritten Mal zu Eli<br />
Samuel returna<br />
Samuel zurückkehrte<br />
(qlr 9: 1 Sam 3,8)<br />
Auffallend ist, dass die in Reimstellen vorkommenden Sätze von wenigen Ausnahmen abgesehen<br />
in den ersten drei der untersuchten Kapitel anzutreffen sind. Dies entspricht den<br />
Beobachtungen von Curtius (1911:LXXIIIf.), denen zufolge der überwiegende Teil der von<br />
ihm gefundenen insgesamt 197 Reimstellen der Quatre livre des Reis am Anfang des Textes<br />
auftritt. Diese Reime und Assonanzen sind vom Übersetzer in den Prosatext offenbar in<br />
der Absicht eingefügt worden, den Text dadurch auszuschmücken. 5 Allerdings unterscheiden<br />
sich diese Reimverse oder Assonanzbildungen deutlich von Versen aus rein poetischen<br />
Werken. Sie wirken sehr holprig, da sie rhythmisch oft ungleich sind und sich dadurch<br />
auszeichnen, dass der Übersetzer "sehr häufig die gleichen Verbalendungen miteinander<br />
reimen ließ, was ein guter Dichter vermeidet" (Curtius 1911:LXXXVII). Diese Art der<br />
Reimbildung hat zur Folge, dass das finite Verb in den Reimversen meist am Ende eines<br />
5 Diese als 'Reimprosa' bezeichnete charakteristische Besonderheit der Quatre livre des Reis hat zu<br />
der Überlegung Anlass gegeben, dass dem Übersetzer ein Original in Reimform vorgelegen haben<br />
könnte. Dies wird von Curtius (1911:LXXI-LXXXVIII) allerdings überzeugend widerlegt. Cf.<br />
auch Berger (1884:55):<br />
"Mais il faut savoir renoncer au rêve de retrouver l'original en vers de la traduction des Livres des<br />
Rois. De telles hypothèses sont trop souriantes pour n'être pas dangereuses, et il sera plus sage de<br />
se borner à voir, dans la prose rimée des Quatre Livres des Rois, l'influence de la littérature<br />
poétique du temps, et peut-être l'habitude du rythme et de la rime, ou du moins de cette rime imparfaite<br />
que nous appelons assonance, et qui était fréquente chez les anciens."
136<br />
Satzes oder Satzteils auftritt. Dies geschieht unabhängig von der Anzahl der voranstehenden<br />
Konstituenten:<br />
[...] le verbe se place à la fin de la proposition [...] parce que la terminaison verbale constitue une<br />
rime avec une série plus ou moins longue de terminaisons verbales du même genre. [...] Voici un<br />
exemple caractéristique: (p. 159, XVIII, 34) Tost ápres cumandad que l'um quatre chánes de éwe<br />
emplíst é sur l'altel é la busche é le sacrefise le éwe éspandíst, é l'um tut issi le fist. Curtius fait<br />
remarquer (p. LXXX) que le traducteur utilisait les hasards qui se présentaient au fur et à mesure<br />
de la traduction pour «amener» les rimes au moyen de légères modifications dans son texte. Dans<br />
l'exemple que nous venons de citer, le traducteur a constitué un passage rimé en plaçant les formes<br />
verbales en -ist à la fin de la phrase; dans deux cas, le verbe se trouvait ainsi placé après le sujet et<br />
le complément (ou adverbe), ce qui a eu pour résultat des schémas SCV. Si on tient compte de ces<br />
procédés visant à constituer des passages rimés au prix de certaines infractions aux habitudes syntaxiques,<br />
la moitié à peu près des exceptions du type SCV s'explique tout naturellement. (Herman<br />
1954:270)<br />
Es besteht daher kein Zweifel, dass die Wortstellung in diesen Sätzen als Abweichung von<br />
den üblichen Wortstellungsregeln angesehen werden muss. Für eine syntaktische Analyse<br />
ist es daher unerlässlich, diese Sätze gesondert zu betrachten. 6 Ein adäquateres Bild der<br />
Wortstellungsverhältnisse des Altfranzösischen ergibt sich somit erst unter Ausschluss<br />
derjenigen Sätze, die in gereimten oder assonierenden Textstellen auftreten: 7<br />
Text V1 V2 V>2 gesamt<br />
qlr<br />
Subj V Obj V Präp V PE V Adv V "X"V Satz V<br />
abs. 35 196 1 9 2 23 3 0 33 302<br />
(afr.) % 11.5 64.9 0.3 3.0 0.7 7.7 1.0 0.0 10.9 100.0<br />
Tabelle (7): Anteil der Verbstellungsmuster aller deklarativen Matrixsätze mit realisiertem Subjekt<br />
in nicht gereimten Textstellen<br />
Im Vergleich zu den Ergebnissen der Auswertung in Tabelle (6) hat sich mit 12,6% der<br />
Anteil der für eine Verb-Zweit-Sprache charakteristischen Verb-Zweit-Sätze mit postverbalem<br />
Subjekt leicht erhöht. Abgesehen von der Verb-Zweit-Stellung nach einem einleiten-<br />
6 Bemerkenswert ist, dass Kok (1985), die – wie bereits erwähnt – ihre Analyse explizit ausschließlich<br />
auf Prosatexte stützt, bei ihrer eigenen Analyse der Quatre livres des Reis offenbar keine Unterscheidung<br />
zwischen Prosa- und Nicht-Prosastellen vornimmt. Auch Haarhoff (1936) ist sich der<br />
Besonderheiten der gereimten Stellen in den Quatre livre des Reis nicht bewusst (cf. auch Herman<br />
1954:270,Fn.34).<br />
7 Die Bestimmung dieser Stellen ist nicht unproblematisch, da sie in den Prosatext eingebaut sind<br />
und nicht immer ohne weiteres als Reime oder Assonanzen zu erkennen sind (Dardel 1987, 1988).<br />
Ich habe mich dabei an den Angaben von Curtius (1911) und an den von Dardel (1988) aufgestellten<br />
Kriterien zur Bestimmung der Reimstellen in den Quatre livre des Reis orientiert.<br />
Sätze, die in Reimen auftreten, jedoch ganz offensichtlich nicht von der üblichen Wortstellung<br />
abweichen, wurden mit in die Analyse einbezogen:<br />
(i) afr. Il le me dunad á sun plaisir é jo li rend pur lui servir<br />
er ihn mir gab aus seinem Willen und ich ihn zurückgebe um ihm (zu) dienen<br />
(qlr 6: 1 Sam 1,28)
den Nebensatz enthält das Korpus Belege für alle hier unterschiedenen Verb-Zweit-Stellungskontexte:<br />
(3) afr. (a) Icest lieu seintefied fud li bers Helchana ácustumiers á visiter<br />
diesen Ort heiligen war der Herr Elkana gewohnt zu besuchen<br />
pur Deu depreier<br />
um Gott anzuflehen<br />
(qlr 4: 1 Sam 1,3)<br />
(b) En tel sen dist la dame les paroles<br />
in diesem Sinne sagte die Frau die Worte<br />
(qlr 83: 2 Sam 14,9)<br />
(c) A cest lieu servir furent dui pruveire átitele, Ofni é Phinéés<br />
an diesem Ort (zu)-dienen waren zwei Priester zugeordnet Hofni und Pinhas<br />
(qlr 4: 1 Sam 1,3)<br />
(d) É puis úrad Anna<br />
und dann betete Hanna<br />
(qlr 6: 1 Sam 2,1)<br />
(e) 'Sire, sire', fist Absalon, 'quant venir n' i vóls,<br />
Herr Herr machte Abschalom wenn kommen nicht dorthin (du)-willst<br />
vienge í siveáls mes freres Amón.'<br />
komme dorthin wenigstens mein Bruder Amnon<br />
(qlr 82: 2 Sam 13,26)<br />
137<br />
Die Anzahl der Verb-Erst-Sätze ist gegenüber dem Korpus mit den gereimten Sätzen unverändert<br />
geblieben. Dies liegt daran, dass der Übersetzer in den meisten Fällen das finite<br />
Verb zur Reimbildung verwendet, wozu es in der Erst-Stellung nicht herangezogen wird.<br />
Der überwiegende Anteil dieser Sätze wird durch ein Verbum dicendi eingeleitet:<br />
(4) afr. (a) Respundi li evesches:<br />
antwortete der Bischof<br />
(qlr 9: 1 Sam 3,7)<br />
(b) Fist se uns de ces<br />
machte REFL einer von diesen<br />
(qlr 82: 2 Sam 13,32)<br />
Weitaus seltener sind Verb-Erst-Sätze mit anderen Verben. Hier handelt es sich ausschließlich<br />
um die von Herman (1954:277) als "proposition[s] complémentaire[s]" bezeichneten<br />
Sätze, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie durch eine einleitende Konjunktion et oder<br />
si an den vorangehenden Satz anknüpfen. Der geringe Prozentsatz dieser Sätze ist insofern<br />
bemerkenswert, weil viele vergleichbare altromanische Texte sich "durch einen exzessiven<br />
Gebrauch der Anreihung durch et aus[zeichnen]" (Stempel 1975:357) und weil der Übersetzer<br />
in dieser Hinsicht ganz deutlich von dem lateinischen Ausgangstext abweicht (Stempel<br />
1975:368):<br />
(5) afr. (a) É ourent li plusur muillers plusurs pur le multipliement del pople Deu<br />
und hatten die meisten Frauen mehrere für die Vergrößerung des Volkes Gottes<br />
(qlr 3: 1 Sam 1,2)<br />
(b) E ne remaindra hoem antif en ta maisun<br />
und nicht bleiben-wird Mann alter in deinem Haus<br />
(qlr 8: 1 Sam 2,31)<br />
Wie in Kapitel 2 kurz gezeigt wurde, sind auch in einigen germanischen Verb-Zweit-Sprachen<br />
derartige deklarative Matrixsätze mit einer Verb-Erst-Stellung möglich. Insbesondere<br />
das Isländische erlaubt die Bildung solcher Verb-Erst-Sätze (Sigurðsson 1990). Entspre-
138<br />
chend der Analyse dieser Sätze im Isländischen wäre es denkbar, auch die altfranzösischen<br />
Verb-Erst-Sätze in (4) und (5) als Beispiele Narrativer Inversion anzusehen und ihnen eine<br />
CP-Struktur zuzuweisen. Somit wären diese Sätze mit einer Analyse des Altfranzösischen<br />
als Verb-Zweit-Sprache problemlos vereinbar (Vance 1993, Roberts 1993:96, Fontana<br />
1997:227).<br />
Wesentlich problematischer ist es, im Rahmen einer Verb-Zweit-Analyse des Altfranzösischen<br />
eine Erklärung für diejenigen Sätze zu liefern, die eine V>2-Stellung aufweisen.<br />
Trotz der Nichtberücksichtigung der Sätze, die in gereimten Passagen auftreten, ist deren<br />
Anteil mit 10,9% immer noch relativ hoch. Die Behauptung von Roberts (1993:95), wonach<br />
in diesen Sätzen dem Subjekt unter Rektion, d.h. seiner Analyse zufolge in postverbaler<br />
Position, Kasus zugewiesen wird, erweist sich auf Grund der hier vorliegenden Daten<br />
als empirisch vollkommen inadäquat. In 30 der insgesamt 33 V>2-Sätze, die das hier untersuchte<br />
Korpus enthält, steht das Subjekt in einer präverbalen Position. In 17 dieser Fälle<br />
bildet es die unmittelbar vor dem finiten Verb stehende Konstituente:<br />
(6) afr. (a) Kar des treze lignees ki vindrent del patriarche Jacob Deu<br />
denn von-den dreizehn Stämmen die kamen vom Stammvater Jakob Gott<br />
en severad le lignáge Leví<br />
davon bewahrte den Stamm Levis<br />
(qlr 3: 1 Sam 1,2)<br />
(b) Le matín li reis fist faire un brief<br />
am Morgen der König ließ machen einen Brief<br />
(qlr 78: 2 Sam 11,14)<br />
(c) mais nepurquant il se dormid la núit od la maisnéé<br />
aber trotzdem er REFL schlief die Nacht mit der Dienerschaft<br />
(qlr 78: 2 Sam 11,13)<br />
(d) é ki mei despirra, jol metrai en despit<br />
und wer mich verachten-wird ich-ihn werfen-werde in Verachtung<br />
(qlr 8: 1 Sam 2,30)<br />
(e) L' án après, a cel cuntemple que reis se solent esmuvéir<br />
das Jahr danach zu dieser Zeit dass Könige sich pflegen (zu)-begeben<br />
á ost é a bataille, çó est en mái, li reis David envéiad<br />
zum Heer und zur Schlacht das ist im Mai der König David schickte-aus<br />
Joab é od lui l' ost de Israel<br />
Joab und mit ihm das Heer von Israel<br />
(qlr 77: 2 Sam 11,1)<br />
Für eine Verb-Zweit-Analyse wäre ein Satz wie (6)(a) unproblematisch. Hier handelt es<br />
sich um eine Dislokation, in der die satzinitiale Konstituente durch das klitische Pronominaladverb<br />
en wieder aufgenommen wird. In Anlehnung an die Analyse vergleichbarer, in<br />
Kapitel 2 besprochener Sätze im Deutschen, könnte angenommen werden, dass in diesen<br />
Fällen ausnahmsweise die Möglichkeit einer CP-Rekursion besteht. Alle übrigen XSV-<br />
Sätze sind jedoch keine Dislokationssätze. Das heißt, abgesehen von Satz (6)(a) sind die<br />
Sätze in (6) ebenso wie alle übrigen – hier nicht aufgeführten – Sätze mit einer XSV-Wortstellung<br />
nicht mit einer Analyse vereinbar, wonach das finite Verb in Matrixsätzen in die<br />
COMP-Position bewegt wird. Auf Grund der Restriktion bzgl. der CP-Rekursion ist die<br />
Bildung solcher Sätze nur dann möglich, wenn sich das finite Verb nicht in dieser Position<br />
befindet, sondern in der tiefer angeordneten INFL- oder AgrS-Position.<br />
Die gleiche Feststellung lässt sich auch in Bezug auf diejenigen V>2-Sätze machen, in<br />
denen das präverbal stehende Subjekt durch eine Konstituente vom finiten Verb getrennt<br />
erscheint:
(7) afr. (a) é la parole Deu rélment fud óïé<br />
und das Wort Gottes selten wurde gehört<br />
(qlr 9: 1 Sam 3,1)<br />
(b) É Samuel á sun lit returna<br />
und Samuel zu seinem Bett zurückkehrte<br />
(qlr 9: 1 Sam 3,9)<br />
(c) Uns messages Deu pur cest pechie vint a l' evesche Hely<br />
ein Bote Gottes wegen dieser Sünde kam zu dem Bischof Eli<br />
(qlr 7: 1 Sam 2,27)<br />
(d) É Fenenna íçó li turna á repruce<br />
und Peninna das ihr machte zum Vorwurf<br />
(qlr 4: 1 Sam 1,6)<br />
(e) Entre ces afaires li reis David á ún júr levad<br />
zwischen diesen Angelegenheiten der König David an einem Tag sich-erhob<br />
apres meriéne<br />
nach Mittagsruhe<br />
(qlr 77: 2 Sam 11,2)<br />
139<br />
Wie bereits in Kapitel 3 gesehen, versucht Herman (1954) in seiner Analyse der Quatre<br />
livre des Reis, diese SXV-Sätze mit einer Verb-Zweit-Analyse des Altfranzösischen zu<br />
verbinden. Herman (1954:271) sieht in diesen Verb-Dritt-Sätzen "des vestiges du type SCV<br />
très courant en latin", d.h. er sieht sie als das Resultat von Interferenzen aus dem lateinischen<br />
Original an. Dieser Erklärungsversuch ist allerdings wenig überzeugend. Wie oben<br />
gezeigt weist Herman selbst in überzeugender Weise nach, dass der altfranzösische Text<br />
syntaktisch vollkommen unabhängig vom lateinischen Original ist. Dies belegt auch der<br />
Vergleich der SVX-Sätze in (7) mit den entsprechenden Sätzen in der lateinischen Vulgata.<br />
In keinem dieser Sätze entspricht die Wortstellung der altfranzösischen Übersetzung der des<br />
lateinischen Originals:<br />
(8) lt. (a) et sermo Domini erat pretiosus in diebus illis<br />
und (das)-Wort Gottes war kostbar in Tagen jenen<br />
(vul 370: 1 Sam 3,1)<br />
(b) abiit ergo Samuhel et dormivit in loco suo<br />
wegging daher Samuel und schlief an Ort seinem<br />
(vul 370: 1 Sam 3,9)<br />
(c) venit autem vir Dei ad Heli<br />
kam aber (ein)-Mann Gottes zu Eli<br />
(vul 369: 1 Sam 2,27)<br />
(d) adfligebat quoque eam aemula eius<br />
demütigte daher sie Rivalin ihre<br />
(vul 366: 1 Sam 1,6)<br />
(e) dum haec agerentur accidit ut surgeret David de stratu<br />
während diese gemacht-wurden (es)-geschah dass aufstand David von Bett<br />
suo post meridiem<br />
seinem nach (der)-Mittagsruhe<br />
(vul 429: 2 Sam 11,2)<br />
Der Versuch Hermans, einen Teil der Verb-Dritt-Sätze in den Quatre livre des Reis auf das<br />
lateinische Original zurückzuführen, ist somit weder plausibel noch lässt er sich empirisch<br />
bestätigen. Mit anderen Worten, die Wortstellungsmuster in den Sätzen in (7) lassen sich<br />
nicht als Ausnahmen einer allgemein gültigen Verb-Zweit-Stellungsregel beschreiben, die<br />
darauf zurückgeführt werden, dass hier eine auf einem lateinischen Original basierende<br />
Bibelübersetzung vorliegt.
140<br />
Die dritte Gruppe der V>2-Sätze, die in den nicht gereimten Stellen des untersuchten<br />
Korpus anzutreffen sind, ist dadurch gekennzeichnet, dass das Subjekt postverbal auftritt<br />
und dem Verb zwei Konstituenten voranstehen. Hiervon gibt es insgesamt drei Belege:<br />
(9) afr. (a) é pois chascun an quant enfant out Anne, perdi alcun Fenénne<br />
und dann jedes Jahr wenn Kind hatte Hanna verlor eines Peninna<br />
(qlr 6: 1 Sam 2,5)<br />
(b) Quant la chambre fud delívre: 'Or en vien', fist se il<br />
als das Zimmer war frei nun her komm machte REFL er<br />
(qlr 81: 2 Sam 13,9-10)<br />
(c) Mais nepuroc tant le esforchad Absalon<br />
aber trotzdem sehr ihn drängte Abschalom<br />
(qlr 82: 2 Sam 13,27)<br />
Auch diese Sätze stellen Belege gegen eine Analyse des Altfranzösischen als eine Verb-<br />
Zweit-Sprache mit einer obligatorischen V-nach-COMP-Anhebung dar. Ebenso wie in den<br />
Sätzen mit einer (X)SXV- bzw. XSV-Stellung wäre eine solche Anhebung in diesen V>2-<br />
Sätzen nur dadurch erklärbar, dass sich die initialen Konstituenten in einer durch CP-Rekursion<br />
adjungierten Position befinden. Dies ist jedoch generell auszuschließen, da es nicht<br />
– anders als in den besonderen Fällen der Verb-Dritt-Sätze etwa des Deutschen – möglich<br />
ist, diese Sätze als spezifische Ausnahmen hinsichtlich der generell gültigen Restriktion<br />
bzgl. der CP-Rekursion zu erfassen. Die hier vorgefundenen V>2-Sätze weisen keine gemeinsamen<br />
Besonderheiten auf, die es erlauben würden, spezifische Bedingungen zu benennen,<br />
unter denen ausnahmsweise eine CP-Rekursion möglich wäre.<br />
Zusammenfassend kann somit konstatiert werden, dass der hier untersuchte altfranzösische<br />
Text mit den 33 gefundenen V>2-Sätzen annähernd eine fast genauso große Anzahl an<br />
Sätzen enthält, die Evidenz gegen eine Verb-Zweit-Analyse liefern, wie an Sätzen, die für<br />
eine solche Analyse sprechen, nämlich den 38 Sätzen, die eine XVS-Wortstellung aufweisen.<br />
Es ist wichtig zu betonen, dass es für beide Konstruktionstypen Beispiele gibt, die auf<br />
Grund von Besonderheiten nicht als eindeutige Belege für die eine oder andere Analyse<br />
dienen können. Dies betrifft bei den V>2-Sätzen das bereits erwähnte Beispiel (6)(a), bei<br />
dem es sich um eine Dislokation handelt. Auch die Sätze (6)(c) und (9)(c) könnten als Spezialfall<br />
angesehen werden, da sie durch das Adverbial neporquant eingeleitet werden, das –<br />
wie bereits in Kapitel 3.3.1.1 gezeigt – dadurch gekennzeichnet zu sein scheint, dass es fast<br />
ausnahmslos die Verb-Dritt-Stellung nach sich zieht. Was die Sätze mit einer XVS-Struktur<br />
betrifft, so wurde ebenfalls in Kapitel 3 gezeigt, dass die so genannten 'Zwischensätze'<br />
einen besonderen Status einnehmen. Sie treten, wie alle empirischen Untersuchungen belegen,<br />
stets und zu allen Epochen im Französischen mit einer Verb-Zweit-Stellung auf. Die<br />
Verb-Zweit-Stellung in Sätzen wie (3)(e) oder (10) erfolgt somit unabhängig von einer<br />
generellen Verb-Zweit-Stellungsregel, so dass diese Sätze keine Evidenz für die mögliche<br />
Existenz der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft im Altfranzösischen liefern:<br />
(10) afr. (a) 'Sire', firent les privez le rei, 'que deit çó?<br />
Herr machten die Diener des Königs was soll das?<br />
(qlr 80: 2 Sam 12,21)<br />
(b) 'Paróle', fist li reis<br />
sprich machte der König<br />
(qlr 83-84: 2 Sam 14,12)
141<br />
Mit anderen Worten, der hier untersuchte altfranzösische Text enthält Belege, die sowohl<br />
für die Existenz der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft im Altfranzösischen als auch dagegen<br />
sprechen. Allerdings ist die Anzahl dieser Belege insgesamt relativ gering.<br />
Um die Frage nach der adäquaten Analyse für das Altfranzösische besser beantworten zu<br />
können, bietet es sich an, den untersuchten Text mit entsprechenden Übersetzungen in<br />
germanischen Sprachen zu vergleichen, die durch eine strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
gekennzeichnet sind. Die Tabelle (8) liefert einen Überblick über die Wortstellungsverhältnisse<br />
in den hier untersuchten Samuel-Kapiteln einer deutschen und isländischen<br />
Bibelübersetzung:<br />
Text V1 V2 V>2 gesamt<br />
ein<br />
Subj V Obj V Präp V PE V Adv V "X"V Satz V<br />
abs. 0 362 14 19 1 98 0 32 3 529<br />
(dt.) % 0.0 68.4 2.6 3.6 0.2 18.5 0.0 6.1 0.6 100.0<br />
hei<br />
abs. 20 301 12 22 1 95 0 22 12 485<br />
(is.) % 4.1 62.1 2.5 4.5 0.2 19.6 0.0 4.5 2.5 100.0<br />
Tabelle (8): Anteil der Verbstellungsmuster aller deklarativen Matrixsätze<br />
Der Vergleich dieser Ergebnisse mit der Auswertung des altfranzösischen Textes in Tabelle<br />
(7) macht mehrere Unterschiede deutlich. Zunächst zeigt sich eine Gemeinsamkeit zwischen<br />
dem Altfranzösischen und dem Isländischen. Im Gegensatz zum Deutschen weisen<br />
die Texte beider Sprachen Sätze mit Verb-Erst-Stellung auf. Bei den isländischen Sätzen<br />
dieser Art handelt es sich um typische Belege der für das Isländische charakteristischen<br />
Narrativen Inversion (Sigurðsson 1990). Wie bereits gesehen, liegt bei den unter (5) aufgeführten<br />
Verb-Erst-Sätzen des Altfranzösischen offensichtlich ein ähnlicher Konstruktionstyp<br />
vor:<br />
(11) is. (a) Fór Samúel þá og lagðist til svefns á sínum stað<br />
ging Samuel dann und legte-sich zum Schlafen an seinen Platz<br />
(hei 290: 1 Sam 3,9)<br />
(b) Lét hann þá kalla Absalon, og gekk hann fyrir konung<br />
ließ er dann rufen Abschalom und trat er vor-den König<br />
(hei 339: 2 Sam 14,33)<br />
Was die Sätze mit einer Verb-Zweit-Stellung betrifft, so ist hier der Anteil an SV-Sätzen in<br />
allen Sprachen annähernd gleich. Der Anteil an XVS-Sätzen ist allerdings in den beiden<br />
germanischen Sprachen wesentlich höher als im Altfranzösischen. Mit 31,0% für das Deutsche<br />
und 31,3% für das Isländische ist deren Anteil mehr als doppelt so hoch wie im Altfranzösischen<br />
(12,6%). Abgesehen von den Zwischensätzen gibt es in beiden germanischen<br />
Texten für alle typischen XVS-Kontexte Belege. Besonders bemerkenswert ist hier vor<br />
allem der hohe Anteil an Verb-Zweit-Sätzen nach eingeleitetem Nebensatz, für die es im<br />
Altfranzösischen keinen einzigen Beleg gibt:<br />
(12) dt. (a) Als sie ihn entwöhnt hatte, nahm sie ihn mit hinauf<br />
(ein 530: 1 Sam 1,24)<br />
(b) Sobald die Trauerzeit vorüber war, ließ David sie zu sich in sein Haus holen<br />
(ein 609: 2 Sam 11,27)
142<br />
(c) Als das Kind noch am Leben war, habe ich gefastet und geweint<br />
(ein 611: 2 Sam 12,22)<br />
(13) is. (a) En er hún hafði vanið hann af brjósti, fór hún með hann<br />
und als sie hatte entwöhnt ihn von der-Brust ging sie mit ihm<br />
(hei 288: 1 Sam 1,24)<br />
(b) En þegar sorgardagarnir voru liðnir, sendi Davíð og tók<br />
und als die-Trauerzeit war vorbei sandte David (nach ihr) und nahm<br />
hana heim til sín<br />
sie heim zu sich<br />
(hei 334: 2 Sam 11,27)<br />
(c) Meðan barnið var á lífi, fastaði ég og grét, því að ég hugsaði<br />
während das-Kind war am Leben fastete ich und weinte weil ich nachdachte<br />
(hei 335: 2 Sam 12,22)<br />
Außerdem weisen beide germanischen Sprachen im Vergleich zum Altfranzösischen eine<br />
wesentlich geringere Anzahl an Verb-Dritt-Sätzen auf. Hier handelt es sich ausschließlich<br />
um Sätze, in denen ein – meist sehr komplexer – Nebensatz und ein darauf Bezug nehmendes<br />
Adverb dem Verb voranstehen:<br />
(14) dt. (a) Herr der Heere, wenn du das Elend deiner Magd wirklich ansiehst, wenn du an mich<br />
denkst und deine Magd nicht vergißt und deiner Magd einen männlichen Nach-<br />
kommen schenkst, dann will ich ihn für sein ganzes Leben dem Herrn überlassen<br />
(ein 529-530: 1 Sam 1,11)<br />
(b) Und wenn er sein Haar schneiden ließ - das geschah von Zeit zu Zeit, weil es so<br />
schwer wurde, daß er es schneiden lassen mußte-, und man wog sein Haar, dann<br />
wog es zweihundert Schekel nach königlichem Gewicht<br />
(ein 617: 2 Sam 14,26)<br />
(15) is. (a) Éf þu lítur á eymd ambáttar þinnar og minnist mín og<br />
wenn du siehst auf (die)-Not Magd deiner und denkst an-mich und<br />
gleymir eigi ambátt þinni og gefur ambátt þinni son, þá skal ég<br />
vergisst nicht Magd deine und gibst Magd deiner Sohn dann will ich<br />
gefa hann Drottni alla daga ævi hans<br />
geben ihn Gott alle Tage Leben seines<br />
(hei 287: 1 Sam 1,11)<br />
(b) Og þegar hann lét skera hár sitt, – en hann lét jafnan<br />
und wenn er ließ schneiden Haar seines aber er ließ immer wieder<br />
skera það á árs fresti, af því að það varð honum svo þungt, að<br />
schneiden es zur Jahrsfrist weil es wurde ihm so schwer dass<br />
hann hlaut að láta skera það –, þa vó hárið af höfði<br />
er musste zu lassen schneiden es dann wog das-Haar von Kopf<br />
hans tvö hundreð sikla á konungsvog<br />
seinen zweihundert Schekel nach Königswaage<br />
(hei 338: 2 Sam 14,26)<br />
Der altfranzösische Text unterscheidet sich somit in zweierlei Hinsicht deutlich von den<br />
beiden germanischen Bibelübersetzungen. Zum einen weist er Unterschiede hinsichtlich der<br />
quantitativen Verteilung der einzelnen Wortstellungsmuster auf, die in einer deutlich geringeren<br />
Häufigkeit an XVS-Sätzen und in einem wesentlich häufigeren Auftreten von V>2-<br />
Sätzen bestehen. Zum anderen unterscheiden sich diese Sätze auch in struktureller Hinsicht<br />
von denen der germanischen Texte. Der altfranzösische Text enthält keinen einzigen Beleg<br />
für die Verb-Zweit-Stellung in Sätzen, die durch einen Nebensatz eingeleitet sind. Die<br />
germanischen Sprachen weisen in diesem Kontext sowohl Verb-Zweit- als auch Verb-Dritt-<br />
Stellung auf. Diese Verb-Dritt-Stellung resultiert ausschließlich aus dem Einfügen eines mit
143<br />
dem Nebensatz koreferenten Adverbs in die präverbale Position. Die entsprechenden altfranzösischen<br />
Sätze hingegen enthalten kein solches Adverb, sondern stattdessen erscheint<br />
– abgesehen von einer Ausnahme (cf. (9)(b)) – das Subjekt in präverbaler Position, d.h.<br />
unmittelbar hinter dem Nebensatz:<br />
(16) afr. (a) Mais puis que il out set anz passed, la mere áturnad un<br />
aber nachdem dass es war sieben Jahre vergangen die Mutter bereitete ein<br />
bel present de flur, de sa pecunie é de sun vin<br />
schönes Geschenk aus Blumen von ihrem Geld und von ihrem Wein<br />
é menad l' enfant jesque en Sylo<br />
und führte das Kind bis nach Schilo<br />
(qlr 6: 1 Sam 1,24)<br />
(b) Tant cume li enfes vesquid, jó esperóue que Deu le guaresist é<br />
solange wie das Kind lebte ich hoffte dass Gott es heilte und<br />
pur çó jeǘnówe é pluróue<br />
daher (ich)-fastete und weinte<br />
(qlr 80: 2 Sam 12, 22)<br />
(c) É quant passéé fud la plainte, David la mandad, si la prist a femme<br />
und als vorbei war die Klage David sie holen-ließ und sie nahm zur Frau<br />
(qlr 78: 2 Sam 11,27)<br />
Ein weiterer deutlicher struktureller Unterschied zwischen dem altfranzösischen Text und<br />
den beiden germanischen Texten besteht darin, dass die V>2-Stellung nicht auf Sätze mit<br />
satzeinleitendem Nebensatz beschränkt ist, sondern in sehr unterschiedlichen Kontexten zu<br />
beobachten ist. Hierbei ist auffallend, dass in den meisten dieser Fälle das Subjekt nicht<br />
invertiert ist.<br />
Der Vergleich des altfranzösischen Textes mit den isländischen und germanischen Texten<br />
macht somit eine Reihe von quantitativen und strukturellen Unterschieden hinsichtlich<br />
der Stellung des finiten Verbs deutlich. Der altfranzösische Text enthält zwar typische Belege<br />
für die Verb-Zweit-Stellung und liefert somit offenbar Evidenz für die Existenz der<br />
strengen Verb-Zweit-Stellungseigenschaft im Altfranzösischen. Allerdings sind diese Belege<br />
wesentlich weniger häufig als in den beiden germanischen Texten. Gleichzeitig weist der<br />
altfranzösische Text zahlreiche Sätze mit einer V>2-Stellung auf, die in dieser Form nicht<br />
in den germanischen Sprachen anzutreffen sind und gegen die Annahme der strengen Verb-<br />
Zweit-Stellungseigenschaft im Altfranzösischen sprechen. Die Frage, die im folgenden<br />
Abschnitt kurz erörtert werden soll, ist die, ob solche scheinbar sich widersprechenden<br />
Evidenzen bzgl. der Existenz der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft auch in den eingebetteten<br />
Nebensätzen des hier untersuchten altfranzösischen Textes zu beobachten sind.<br />
5.2.2 Verb-Zweit-Stellungseffekte in altfranzösischen Nebensätzen<br />
Zur Überprüfung dieser Frage bietet sich die Möglichkeit, den altfranzösischen mit dem isländischen<br />
Text zu vergleichen, da das Isländische über die Eigenschaft der eingebetteten<br />
Verb-Zweit-Stellung verfügt und gleichzeitig – ebenso wie das Altfranzösische – eine zugrunde<br />
liegende SVO-Stellung besitzt. Die Ergebnisse der Auswertung aller konjunktional<br />
eingeleiteten deklarativen Nebensätze mit realisiertem Subjekt sind in der folgenden Tabelle<br />
aufgeführt:
144<br />
Text V1 V2 V>2 gesamt<br />
qlr<br />
Subj V Obj V Präp V PE V Adv V "X"V Satz V<br />
abs. 1 93 1 0 3 1 0 0 6 105<br />
(afr.) % 0.9 88.6 0.9 0.0 2.9 0.9 0.0 0.0 5.8 100.0<br />
hei<br />
abs. 4 123 1 1 1 0 0 0 0 130<br />
(is.) % 3.0 94.6 0.8 0.8 0.8 0.0 0.0 0.0 0.0 100.0<br />
Tabelle (9): Anteil der Verbstellungsmuster aller konjunktional eingeleiteten deklarativen Nebensätze<br />
mit realisiertem Subjekt 8<br />
Die Tabelle (9) zeigt, dass beide Texte nur eine sehr geringe Anzahl an XVS-Sätzen, d.h.<br />
von Sätzen, die als Evidenz für eine Verb-Zweit-Eigenschaft dienen können, aufweisen. Im<br />
altfranzösischen Text beträgt mit fünf Belegen der Anteil an XVS-Sätzen nur 4,7%, im<br />
isländischen Text mit drei Belegen nur 2,4%. Ein deutlicher Unterschied zwischen beiden<br />
untersuchten Texten ist in Bezug auf Sätze zu beobachten, in denen mehr als eine Konstituente<br />
dem Verb vorangeht. Während im isländischen Text hierfür kein einziges Beispiel<br />
existiert, weist der altfranzösische Text insgesamt sechs Belege auf:<br />
(17) afr. (a) ... que cist lignages numéément dout si le servise Deu celebrer<br />
dass dieser Stamm besonders muss so sehr den Dienst Gottes zelebrieren<br />
(qlr 3: 1 Sam 1,2)<br />
(b) ... se alcuns par vud á Deu se sacrast ...<br />
wenn jemand durch Gelübde zu Gott sich widmete<br />
(qlr 5: 1 Sam 1,11)<br />
(c) ... qu' il as alanz é as venanz parole de salu mustrast<br />
dass er zu-den Gehenden und zu-den Kommenden Wort des Grußes erwies<br />
(qlr 4: 1 Sam 1,9)<br />
(d) ... que ambdui tes fiz en un jur murrunt<br />
dass beide deine Söhne an einem Tag sterben-werden<br />
(qlr 8: 1 Sam 2,34)<br />
(e) ... si que l'um bíen le saverad<br />
so dass man gut es wissen-wird<br />
(qlr 79: 2 Sam 12,11)<br />
(f) ... é que li reis pur çó venist<br />
und dass der König daher käme<br />
(qlr 80: 2 Sam 12,28)<br />
In der Diskussion der Untersuchungen zu altfranzösischen Nebensätzen wurde bereits deutlich,<br />
dass die Existenz solcher Sätze klar gegen die Analyse des Altfranzösischen als eine<br />
symmetrische Verb-Zweit-Sprache spricht (Côté 1995:175). Diese Sätze zeigen, dass im<br />
altfranzösischen Nebensatz die Verb-Zweit-Stellungsregel generell keine Anwendung findet.<br />
Eine genauere Betrachtung der im qlr-Text auftretenden XVS-Sätze unterstützt diese<br />
8 Im qlr-Text sind selbstverständlich nur Nebensätze berücksichtigt, die in nicht gereimten und nicht<br />
assonierenden Textstellen auftreten. Relativsätze sind in die Auswertung nicht mit einbezogen.<br />
Wie in Kapitel 3.3.1.2 gezeigt wurde, verhalten sich diese Sätze – ähnlich wie die eingebetteten<br />
Interrogativsätze – grundsätzlich anders und müssen daher für eine Untersuchung der Wortstellung<br />
in Deklarativsätzen ausgeschlossen oder zumindest gesondert betrachtet werden.
Feststellung. Es fällt nämlich auf, dass drei dieser Sätze im Text unmittelbar aufeinander<br />
folgen:<br />
(18) afr. (a) Li antif Judéu aferment que morz fud li éinznez fiz Fenénne<br />
Die alten Juden bekräftigen dass tot wurde der einzige Sohn Peninnas<br />
(qlr 6: 1 Sam 2,5)<br />
(b) quant néz fúd Samuél ki fud fiz a la bonuréé Ánne<br />
als geboren wurde Samuel der war Sohn von der glücklichen Hanna<br />
(qlr 6: 1 Sam 2,5)<br />
(c) é pois chascun an quant enfant out Anne, perdi alcun Fenénne<br />
und dann jedes Jahr als Kind hatte Hanna verlor eines Peninna<br />
(qlr 6: 1 Sam 2,5)<br />
145<br />
Bei dem Textabschnitt handelt es sich teilweise um einen der erläuternden Kommentare des<br />
Übersetzers zu einer Bibelstelle, die insbesondere in den Anfangskapiteln durch Reime und<br />
Assonanzen gekennzeichnet sind. Dies scheint auch hier der Fall zu sein. Darauf deutet die<br />
satzfinale Stellung der Eigennamen Anne und Fenénne hin, die eine – sehr schwach ausgeprägte<br />
– Assonanz miteinander eingehen. Mit anderen Worten, die in diesen drei aufeinander<br />
folgenden Nebensätzen anzutreffende ungewöhnliche Wortstellung scheint daher zu<br />
resultieren, dass es sich auch hier um eine für die Quatre livre des Reis typische Reimprosastelle<br />
handelt. Das bedeutet, dass diese drei XVS-Nebensätze nicht als eindeutige Evidenz<br />
für eine Verb-Zweit-Stellung im altfranzösischen Nebensatz angesehen werden können.<br />
9<br />
Die isländische Bibel weist demgegenüber zwar wenige, aber eindeutige Belege für dieses<br />
Stellungsmuster auf. Die Daten bestätigen somit die Beobachtung, dass im Isländischen<br />
die Verb-Zweit-Stellungsregel auch im Nebensatz Anwendung findet:<br />
(19) is. (a) ... því að af mínum mikla harmi og trega hefi ég talað hingað til<br />
weil aus meinem großen Kummer und Trauer habe ich gesprochen bis jetzt<br />
(hei 287: 1 Sam 1,16)<br />
(b) ... því að fyrir eigin mátt sigrar enginn<br />
weil aus eigener Kraft siegt niemand<br />
(hei 288: 1 Sam 2,9)<br />
(c) ... meðan verið var að sjóða kjötið<br />
während gewesen war am Kochen das-Fleisch<br />
(hei 289: 1 Sam 2,13)<br />
Der Vergleich der altfranzösischen Nebensätze mit denen des Isländischen bringt somit<br />
deutliche Unterschiede zu Tage. Anders als der isländische Text liefert die altfranzösische<br />
Übersetzung keine Evidenz für die Anwendung der Verb-Zweit-Stellungsregel im Nebensatz.<br />
Vielmehr gibt es klare Evidenzen gegen diese Annahme, so dass auf der Grundlage<br />
der hier vorliegenden Daten davon ausgegangen werden muss, dass das Altfranzösische<br />
nicht als symmetrische Verb-Zweit-Sprache analysiert werden kann. Die Frage, die bislang<br />
unbeantwortet blieb, ist die, ob es auf Grund der hier vorliegenden Daten überhaupt gerechtfertigt<br />
ist, das Altfranzösische als eine Verb-Zweit-Sprache zu analysieren.<br />
9 Dementsprechend muss auch der bereits bei der Besprechung der Matrixsätze erwähnte Verb-<br />
Dritt-Matrixsatz (9)(a) gesondert betrachtet werden, da der eingebettete Satz in (18)(c) dessen Bestandteil<br />
ist.
146<br />
5.2.3 Verlust der Verb-Zweit-Stellungseigenschaft im Französischen?<br />
Im Folgenden soll die Entwicklung der Stellung des finiten Verbs im Französischen empirisch<br />
untersucht und der Frage nachgegangen werden, inwiefern Evidenzen vorliegen, die<br />
für den Verlust einer möglichen Verb-Zweit-Stellungseigenschaft des Französischen und<br />
damit für ein entsprechendes Umfixieren des Verb-Zweit-Parameters sprechen. Grundlage<br />
für diese Untersuchung liefern neben dem altfranzösischen qlr-Text vier weitere französische<br />
Bibelübersetzungen aus verschiedenen Epochen, und zwar aus der mittelfranzösischen<br />
sowie jeweils aus der frühen, klassischen und modernen neufranzösischen Zeit. 10<br />
Die folgende Tabelle enthält die Auswertungsergebnisse der Stellung des finiten Verbs<br />
in allen Matrixsätzen mit lexikalischem Subjekt in dem jeweiligen Bibelabschnitt. Zur<br />
besseren Vergleichbarkeit sind die Ergebnisse der Auswertung des altfranzösischen qlr-<br />
Textes in dieser Tabelle ebenfalls mit aufgeführt:<br />
Text V1 V2 V>2 gesamt<br />
Subj V Obj V Präp V PE V Adv V "X"V Satz V<br />
qlr abs. 35 196 1 9 2 23 3 0 33 302<br />
(afr.)<br />
% 11.6 64.9 0.3 3.0 0.6 7.7 1.0 0.0 10.9 100.0<br />
reg abs. 8 259 7 10 0 94 0 0 36 414<br />
(mfr.)<br />
% 1.9 62.6 1.7 2.4 0.0 22.7 0.0 0.0 8.7 100.0<br />
hon abs. 8 307 0 1 0 13 1 0 108 438<br />
(nfr.)<br />
% 1.9 70.0 0.0 0.2 0.0 3.0 0.2 0.0 24.7 100.0<br />
mar abs. 0 405 0 0 0 4 0 0 97 506<br />
(nfr.)<br />
% 0.0 80,0 0.0 0.0 0.0 0.8 0.0 0.0 19.2 100.0<br />
caq abs. 1 450 0 1 0 7 0 0 78 537<br />
(nfr.)<br />
% 0.2 83.8 0.0 0.2 0.0 1.3 0.0 0.0 14.5 100.0<br />
Tabelle (10): Anteil der Verbstellungsmuster aller deklarativen Matrixsätze mit realisiertem Subjekt<br />
Die Auswertung der Daten bestätigt die in allen Untersuchungen zur Entwicklung der<br />
Verbstellung im Französischen gemachte Beobachtung, wonach sich die Stellung des fini-<br />
10 Ausgelöst durch die Reformation und ermöglicht durch die Erfindung des Buchdruckes sind ab<br />
dem frühen 16. Jhdt. zahlreiche Bibelübersetzungen entstanden, die bis heute gut erhalten sind.<br />
Somit stehen ab dem frühesten Neufranzösischen für eine historisch-vergleichende Untersuchung<br />
eine große Anzahl von Bibeltexten zur Verfügung. Schwieriger ist es, geeignete Bibeltexte aus der<br />
mittelfranzösischen Epoche (1300-1500) zu finden, da die Bibelübersetzungen aus dieser Zeit<br />
meist nur als Manuskripte vorliegen und schwer zugänglich sind. Aus diesem Grund habe ich auf<br />
die älteste mir zugängliche gedruckte Bibelübersetzung zurückgegriffen, die aus dem Jahre 1520<br />
stammt (= reg). Obwohl das Druckdatum dieser Bibel damit in der neufranzösischen Epoche liegt,<br />
kann sie noch dem Mittelfranzösischen zugerechnet werden. Darauf deutet zum einen die Tatsache<br />
hin, dass die von mir konsultierte Buchausgabe eine handschriftliche Notiz enthält, die besagt,<br />
dass die Übersetzung im Jahre 1494 im Auftrag des französischen Königs Charles VIII. (1470-<br />
1498) angefertigt wurde. Zum anderen rechtfertigen die sprachlichen Besonderheiten dieses Textes<br />
dessen Einordnung in die mittelfranzösische Epoche.
147<br />
ten Verbs im Neufranzösischen deutlich von der Stellung im Alt- und Mittelfranzösischen<br />
unterscheidet. Zum einen ist in den vorliegenden Daten ab dem ersten neufranzösischen<br />
Text (= hon) ein deutlicher Rückgang bei den – in der Tabelle eingerahmten – XVS-Sätzen<br />
im Vergleich zu den früheren Texten zu verzeichnen. Alle drei neufranzösischen Texte<br />
weisen hier einen wesentlich geringeren Prozentsatz auf (hon: 3,4%, mar: 0,8%, caq: 1,5%<br />
vs. qlr: 12,6%, reg: 26,8%). Zum anderen ist der Anteil an Sätzen mit einer Verb-Dritt-<br />
Stellung in den neufranzösischen Texten wesentlich höher als in den beiden mittelalterlichen<br />
Texten.<br />
Beim Vergleich der beiden mittelalterlichen Texte ist insbesondere die Tatsache bemerkenswert,<br />
dass im mittelfranzösischen reg-Text kein Rückgang, sondern vielmehr ein deutlicher<br />
Anstieg an Verb-Zweit-Konstruktionen zu konstatieren ist. Mit 26,8% ist der Anteil<br />
der XVS-Konstruktionen im mittelfranzösischen reg-Text mehr als doppelt so hoch wie im<br />
altfranzösischen qlr-Text. Dies ist insofern erstaunlich, als in allen Untersuchungen zur<br />
französischen Wortstellungsentwicklung immer wieder betont wird, dass die mittelfranzösische<br />
Epoche eine Übergangsphase darstellt, in der die Verb-Zweit-Stellungseigenschaft des<br />
Französischen nur noch 'optional' ist und allmählich verloren geht. Die hier gefundenen<br />
Daten deuten jedoch eher auf einen Ausbau dieser Eigenschaft hin. Wie der Tabelle (10) zu<br />
entnehmen ist, enthält der reg-Text Belege für die XVS-Stellung in Sätzen mit satzeinleitender<br />
Objekt-, Präpositional- und Adverbialphrase:<br />
(20) mfr. (a) Ceste cantique parfist toute anne<br />
dieses Lied vollendete ganz Hanne<br />
(reg: 1 Sam 2,33)<br />
(b) Ces choses faisoit dauid pour cõforter bersabee sa fẽme<br />
diese Dinge machte David um-zu trösten Batseba seine Frau<br />
(reg: 2 Sam 12,24)<br />
(c) Sur ce mesmes chapitre de la bible dit le maistre de hystoires<br />
über dieses selbige Kapitel der Bibel sagt der Herr der Geschichten<br />
(reg: 1 Sam 1,1)<br />
(d) car en celles promesses deuons nous tousiours entendre ceste<br />
denn in diesen Versprechen müssen wir immer verstehen diese<br />
condition<br />
Bedingung<br />
(reg: 1 Sam 3,14)<br />
(e) Lendemain se leuerent helcana e ses fẽmes et ses filz<br />
am nächsten Morgen sich erhoben Elkana und seine Frauen und seine Kinder<br />
(reg: 1 Sam 1,19)<br />
(f) et maintenant est lenfant mort<br />
und jetzt ist das-Kind tot<br />
(reg: 2 Sam 12,21)<br />
Den weitaus größten Anteil an XVS-Sätzen machen Sätze aus, die ein satzinitiales Adverb<br />
enthalten. Hier ist im reg-Text im Vergleich zum altfranzösischen qlr-Text ein sprunghafter<br />
Anstieg an Verb-Zweit-Sätzen zu konstatieren. Auffallend ist, dass es sich hierbei in den<br />
meisten Fällen um ein Temporaladverb handelt, das die Bedeutung von dann hat:<br />
(21) mfr. (a) Adonc luy dist helcana son mary<br />
dann ihr sagte Elkana ihr Mann<br />
(reg: 1 Sam 1,8)
148<br />
(b) Et puis sen alla helcana et toute sa mesgnie en<br />
und dann REFL-weg ging Elkana und ganzer sein Haushalt nach<br />
ramatha en sa maisõ<br />
Rama in sein Haus<br />
(reg: 1 Sam 2,11)<br />
(c) Lors appella nostre seigñr samuel<br />
dann rief unser Herr Samuel<br />
(reg: 1 Sam 3,4)<br />
(d) Alors luy compta samuel toutes les parolles de nostre seigneur<br />
dann ihm erzählte Samuel alle die Worte von unserem Herrn<br />
(reg: 1 Sam 3,18)<br />
Diese Beispiele illustrieren deutlich den sehr einfachen Sprachstil dieser Übersetzung. Es<br />
wird darin aufzählungsartig vom Geschehenen berichtet, wobei floskelhaft in jede neue<br />
Handlung i.d.R. mit einem durch ein Adverbial eingeleiteten Satz eingeführt wird. Da in<br />
diesen Fällen das lexikalische Subjekt fast ausnahmslos in postverbaler Stellung erscheint,<br />
ergibt sich daher die relativ hohe Anzahl an AdvVS-Sätzen. Auffallend ist dabei, dass auch<br />
solche Adverbien stets mit Inversion verwendet werden, die bereits im Altfranzösischen –<br />
wie in Kapitel 3.3.1.1 gezeigt – regelmäßig ohne Inversion auftreten:<br />
(22) mfr. (a) non pourtant diẽnt ilz que anne en eut sept<br />
nicht trotzdem sagen sie dass Hanna davon hatte sieben<br />
(reg: 1 Sam 2,5)<br />
(b) Nõpourtant diẽnt aucuns quilz ne gisoiẽt pas auec elles<br />
trotzdem sagen einige dass-sie nicht sich-hinlegten NEG mit ihnen<br />
(reg: 1 Sam 2,22)<br />
Abgesehen von dieser Besonderheit sind die Unterschiede zwischen dem mittelfranzösischen<br />
reg-Text und dem altfranzösischen qlr-Text ausschließlich quantitativer Art. Was die<br />
Sätze mit einer V>2-Stellung betrifft, so weisen beide Texte einen annähernd gleichen<br />
Anteil auf. Ebenso wie der qlr-Text enthält der reg-Text hier mehrheitlich Sätze mit einer<br />
XSV-Stellung:<br />
(23) mfr. (a) De quoy le pere leur dist<br />
von daher der Vater ihnen sagte<br />
(reg: 1 Sam 2,23)<br />
(b) Dequoy il appert appertement que samuel le filz helcana ne fut<br />
daher es scheint offenkundig dass Samuel der Sohn Elkanas nicht war<br />
pas ne ne descẽdit de aaron<br />
NEG geboren und-nicht stammte ab von Aaron<br />
(reg: 1 Sam 1,1)<br />
(c) par lequel prestaigne toy et ta lignee deuez auoir la dextre<br />
durch diese Gabe du und dein Stamm müsst haben die rechte<br />
espaule des bestes que len sacrifioit<br />
Schulter der Tiere die man opferte<br />
(reg: 1 Sam 2,31)<br />
(d) En ceste cantique anne fait trois choses<br />
in diesem Lied Hanna macht drei Dinge<br />
(reg: 1 Sam 2,2)<br />
Darüber hinaus gibt es auch einige Belege für SXV-Sätze sowie für Verb-Dritt-Sätze mit<br />
postverbalem Subjekt:
(24) mfr. (a) fenenne angoisseusemẽt luy reprochoit souuent ce quelle estoit<br />
Peninna heftig ihr vorwarf oft das dass-sie war<br />
vrehaigne<br />
unfruchtbar<br />
(reg: 1 Sam 1,6)<br />
(b) Car nul homme selon la loy nosoit prẽdre a femme<br />
denn kein Mann nach dem Gesetz nicht-wagte nehmen zur Frau<br />
sa seur de par son pere silz fussent seur<br />
seine Schwester von Seite(n) seines Vaters wenn-sie wären Schwester<br />
et frere dung mesmes peuple<br />
und Bruder von-einem gleichen Volk<br />
(reg: 2 Sam 13,12)<br />
(25) mfr. (a) Car ainsi adoncques estoient vestues les filles des roys qui<br />
denn so damals waren gekleidet die Töchter der Könige die<br />
estoient uierges<br />
waren Jungfrauen<br />
(reg: 2 Sam 13,18)<br />
(b) ou par aduenture tant les achetoiẽt les femmes pour<br />
oder aufs Geratewohl so sehr sie kauften die Frauen um-zu<br />
aorner leurs chiefz & mesler auecques leurs cheueulx<br />
schmücken ihre Köpfe und vermischen mit ihren Haaren<br />
(reg: 2 Sam 14,26)<br />
149<br />
Besonders hervorzuheben ist hier vor allem die Tatsache, dass der reg-Text ebenso wie der<br />
qlr-Text keinen einzigen Beleg für die Verb-Zweit-Stellung nach einem einleitenden Nebensatz<br />
aufweist. Stattdessen ist in diesem Kontext ausnahmslos die V>2-Stellung zu beobachten:<br />
(26) mfr. (a) Sire se tu me donnes vng filz & tu as pitie de ma douleur<br />
Herr wenn du mir gibst einen Sohn und du hast Mitleid mit meinem Schmerz<br />
et te souuiengne de moy ton ancelle ie le donneray a toy nazarien<br />
und dich erinnerst an mich deine Magd ich ihn geben-werde zu dir Nazaräer<br />
tous les iours de sa vie<br />
alle die Tage von seinem Leben<br />
(reg: 1 Sam 1,11)<br />
(b) Ainsi qlle aouroit moult fort a nostre seigñr hely luy veit les leures<br />
so wie-sie betete sehr heftig zu unserem Herrn Eli sie sah die Lippen<br />
mouuoir<br />
bewegen<br />
(reg: 1 Sam 1,12)<br />
(c) et se tu ne le nous dõnes nous le te touldrons a force<br />
und wenn du nicht es uns gibst wir es dir nehmen-werden mit Gewalt<br />
(reg: 1 Sam 2,16)<br />
(d) Et quant il deuoit dire a lune il dist a la seconde<br />
und wenn er musste sprechen zu der-einen er sagte zu der zweiten<br />
(reg: 1 Sam 1,2)<br />
Damit enthält der mittelfranzösische reg-Text – ebenso wie der altfranzösische qlr-Text –<br />
zahlreiche Belege unterschiedlicher Art, die mit einer Verb-Zweit-Analyse nicht vereinbar<br />
sind. Der Unterschied zum altfranzösischen Text besteht lediglich darin, dass im reg-Text<br />
die Anzahl dieser Belege im Verhältnis zu den Belegen für eine XV-Stellung deutlich geringer<br />
ist.<br />
Was die neufranzösischen Texte betrifft, so belegt die Auswertung dieser Daten deutlich<br />
den Nicht-Verb-Zweit-Charakter des Neufranzösischen. Bereits der erste Text aus dem
150<br />
16. Jhdt. liefert hierfür zahlreiche Belege, die auch in den beiden anderen neufranzösischen<br />
Texten zu finden sind. Alle drei Texte weisen einerseits einen sehr geringen Anteil an<br />
XVS-Konstruktionen auf. Bei den wenigen Belegen für diesen Konstruktionstyp handelt es<br />
sich fast ausschließlich um Sätze mit einem satzeinleitenden Adverb:<br />
(27) nfr. (a) Ainsi en faisoit elle d' an en an<br />
so davon machte sie von Jahr zu Jahr<br />
(hon 254: 1 Sam 1,7)<br />
(b) Ainsi a dit l' Eternel<br />
so hat gesagt der Ewige<br />
(mar 285: 1 Sam 2,27)<br />
(c) Jamais ne sera expié le péché de la maison d' Éli, ni par<br />
nie NEG wird gesühnt die Sünde des Hauses von Eli weder durch<br />
le sacrifice ni par l' offrande<br />
die Opferung noch durch die Opfergabe<br />
(caq 63: 1 Sam 3,14)<br />
Andererseits ist in allen drei Texten des Neufranzösischen ein wesentlich höherer Anteil an<br />
V>2-Strukturen als in den beiden früheren Texten zu verzeichnen. Am häufigsten sind hier<br />
Sätze mit einer (X)XSV-Stellung, in denen entweder ein Adverbial oder – in selteneren Fällen<br />
– eine Präpositionalphrase die satzinitiale Position einnimmt:<br />
(28) nfr. (a) Au matin ils se leuerent<br />
am Morgen sie sich erhoben<br />
(hon 255:1 Sam 1,19)<br />
(b) alors la colère de David s' enflamma fort contre cet homme-là<br />
da die Wut von David sich entflammte stark gegen diesen Mann da<br />
(mar 331: 2 Sam 12,5)<br />
(c) puis il ouvrit les portes de la maison de YHWH<br />
dann er öffnete die Türen von dem Haus von YHWH<br />
(caq 63: 1 Sam 3,15)<br />
(d) contre eux dans les cieux il tonnera<br />
gegen sie in den Himmeln er donnern-wird<br />
(caq 45: 1 Sam 2,10)<br />
In einigen seltenen Fällen ist in Sätzen mit einer V>2-Struktur das Subjekt vom finiten<br />
Verb durch eine Konstituente getrennt:<br />
(29) nfr. (a) Samuel donc s' en alla<br />
Samuel daher sich davon ging<br />
(hon 257: 1 Sam 3,9)<br />
(b) Elle donc aïant le cœur plein d' amertume, pria l' Eternel<br />
sie daher habend das Herz voll von Bitterkeit betete-an den Ewigen<br />
en abondamment<br />
ausgiebig<br />
(mar 283: 1 Sam 1,10)<br />
(c) Lors Anna, apres qu' elle eut beu & mãgé en Silo, se leua<br />
dann Hanna nachdem dass sie hat getrunken und gegessen in Schilo sich erhob<br />
(hon 255: 1 Sam 1,9)<br />
Bei den durch einen Nebensatz eingeleiteten Sätzen tritt in allen drei neufranzösischen<br />
Texten das Subjekt stets in präverbaler Position auf:
(30) nfr. (a) Et deuant que la lumiere de Dieu fust esteinte, Samuel dormoit<br />
und bevor dass das Licht von Gott war erloschen Samuel schlief<br />
au temple du Seigñr<br />
im Tempel des Herrn<br />
(hon 257: 1 Sam 3,3)<br />
(b) Si un homme a péché contre un autre homme, le Juge<br />
wenn ein Mensch hat gesündigt gegen einen anderen Menschen der Richter<br />
en jugera<br />
dafür richten-wird<br />
(mar 285: 1 Sam 2,25)<br />
(c) et s' il arrive qu' il t' appelle, tu diras:<br />
und wenn es passiert dass er dich ruft du sagen-wirst<br />
(caq 63: 1 Sam 3,9)<br />
151<br />
Die Daten der hier untersuchten neufranzösischen Texte bestätigen somit die vielfach gemachte<br />
Beobachtung, dass das Französische ab dem frühesten Neufranzösisch als eine<br />
Nicht-Verb-Zweit-Sprache angesehen werden muss. Das heißt, es ist dadurch gekennzeichnet,<br />
dass in deklarativen Matrixsätzen das finite Verb nach INFL und nicht nach COMP<br />
angehoben wird. Dies erlaubt die Bildung der hier gefundenen Verb-Dritt- oder Verb-Viert-<br />
Sätze, da durch Adjunktion(en) an IP prinzipiell beliebig viele topikalisierte Konstituenten<br />
vor das finite Verb gestellt werden können. Für die Analyse der Stellung des Subjekts in<br />
den neufranzösischen Inversionskonstruktionen sind in der Literatur zahlreiche Vorschläge<br />
gemacht worden, auf die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht detailliert eingegangen<br />
werden kann. Wie in Kapitel 3 kurz gezeigt, sind viele dieser Vorschläge mit der Annahme<br />
vereinbar, dass das finite Verb die INFL-Position besetzt. Im Falle der Inversion mit einem<br />
klitischen Subjektspronomen kann angenommen werden, dass das Pronomen an das Verb<br />
in der INFL-Position klitisiert ist (Friedemann 1997, Wind 1995). Für die postverbale<br />
Stellung eines nominalen Subjekts besteht unter anderem die Möglichkeit anzunehmen,<br />
dass es in seiner basisgenerierten VP-internen Position verbleibt (Rizzi / Roberts 1989, de<br />
Bakker 1997:Kap.4.5, Costa 1998) oder in eine VP-adjungierte Position bewegt wird (Rizzi<br />
1990a:63, Giorgi / Longobardi 1991:171-175, Roberts 1993:24).<br />
Die Frage, die hier nun zu klären bleibt, ist die, ob eine solche Analyse auch in der Lage<br />
ist, die Wortstellungsmuster des Alt- und Mittelfranzösischen zu erfassen. In der Diskussion<br />
generativer Erklärungsansätze für den Verbstellungswandel im Französischen wurde<br />
gezeigt, dass Vance (1995, 1997) und de Bakker (1997) die Annahme vertreten, dass für<br />
bestimmte Inversionssätze des Alt- bzw. Mittelfranzösischen die Stellung des nominalen<br />
Subjekts ähnlich erklärt werden kann, wie hier für die Inversionssätze des Neufranzösischen<br />
angenommen wird. Der Unterschied zum Neufranzösischen wird allerdings darin<br />
gesehen, dass im Altfranzösischen und teilweise auch noch im Mittelfranzösischen das<br />
Verb in diesen Sätzen regelmäßig die COMP- und nicht die INFL-Position einnimmt. Angesichts<br />
der vorliegenden Daten lautet aber die entscheidende Frage, auf Grund welcher<br />
Evidenz Kinder zu einer solchen Interpretation dieser Daten gelangt sein könnten. Ausgehend<br />
von dem von Lightfoot (1997a, 1999) aufgestellten quantitativen Kriterium für das<br />
Fixieren des Verb-Zweit-Parameters, könnte auf Grund der hier ermittelten Ergebnisse für<br />
das Mittelfranzösische vermutet werden, dass ausreichende Evidenz für das Fixieren auf<br />
den Wert '+V2' vorhanden gewesen ist. Angesichts eines Anteils von 26,8% an XVS-Sätzen<br />
sollte zu erwarten sein, dass die kritische Grenze für das Triggern einer Verb-Zweit-<br />
Grammatik, die nach Ansicht von Lightfoot (1997a:179) "somewhere between 17% and<br />
30%" liegt, erreicht ist. Für das Altfranzösische hingegen müsste man annehmen, dass das
152<br />
Fixieren des Verb-Zweit-Parameters nicht auf den Wert '+V2' erfolgen konnte, da im untersuchten<br />
Text mit lediglich 12,6% XVS-Sätzen diese kritische Grenze für das Fixieren auf<br />
diesen Wert deutlich unterschritten ist. Angesichts der Tatsache, dass in den neufranzösischen<br />
Texten der Anteil an XVS-Sätzen ebenfalls weit unter dieser Grenze liegt, müsste<br />
demnach angenommen werden, dass das Französische eine Entwicklung von einer Nicht-<br />
Verb-Zweit- über eine Verb-Zweit- zu einer Nicht-Verb-Zweit-Sprache durchlaufen hat.<br />
Es liegt auf der Hand, dass diese Analyse nicht adäquat sein kann. Vielmehr bestätigen<br />
die hier vorgefundenen Fakten die bereits ausführlich diskutierte Annahme, wonach quantitative<br />
Unterschiede hinsichtlich der Triggerdaten für einen parametrischen Wandel nicht<br />
von Relevanz sind. Entscheidend ist allein die Tatsache, dass eindeutige Trigger vorhanden<br />
sind, die das Fixieren des Parameterwertes auf einen entsprechenden Wert auslösen. Gemäß<br />
der Analyse von Fodor (1998) sind für eine SVO-Sprache, wie das Alt- und Mittelfranzösische<br />
oder das Isländische, Sätze mit einer AdvSVO-Stellung und für eine SOV-Sprache,<br />
wie das Deutsche, AdvSOV-Sätze eindeutige Trigger für das Fixieren auf den Wert '-V2'.<br />
Sätze mit einer AdvAuxSVO- bzw. AdvAuxSOV-Stellung hingegen stellen eindeutige<br />
Trigger für die Fixierung auf den Wert '+V2' dar (cf. Tabelle (4) in Kapitel 4). Die Daten<br />
der beiden hier untersuchten germanischen Sprachen bestätigen diese Annahme. Beide<br />
Textkorpora enthalten, wie die folgenden Beispiele illustrieren, zahlreiche Sätze mit einer<br />
AdvAuxSOV- bzw. AdvAuxSVO-Stellung. Für die AdvSOV- bzw. AdvSVO-Stellung hingegen<br />
gibt es in den beiden germanischen Texten keinen einzigen Beleg:<br />
(31) dt. (a) da werde ich deinen Arm abhauen und die Macht deines Vaterhauses vernichten<br />
(ein 533: 1 Sam 2,31)<br />
(b) Darum soll jetzt das Schwert auf ewig nicht mehr von deinem Haus weichen<br />
(ein 610: 2 Sam 12,10)<br />
(32) is. (a) Nei, heldur skalt þú gefa það nú þegar<br />
nein lieber sollst du geben das jetzt sofort<br />
(hei 289: 1 Sam 2,16)<br />
(b) ella mun ég taka það með valdi<br />
sonst werde ich nehmen es mit Gewalt<br />
(hei 289: 1 Sam 2,16)<br />
In den hier untersuchten Daten des Alt- und Mittelfranzösischen sind die Verhältnisse weniger<br />
eindeutig. Im altfranzösischen Text finden sich weder Sätze mit einer AdvSVO-Stellung<br />
noch Sätze mit einer AdvAuxSVO-Stellung. Der qlr-Text enthält also keinen Beleg für<br />
die von Fodor (1998) für das Fixieren des Verb-Zweit-Parameters als ausschlaggebend<br />
angesehenen Wortstellungsmuster. Im mittelfranzösischen reg-Text findet sich – trotz der<br />
großen Anzahl an Sätzen mit satzinitialem Adverb – lediglich ein einziger Satz, der als<br />
möglicher Beleg für ein AdvAuxSVO-Stellungsmuster angesehen werden kann:<br />
(33) mfr. si a lung occis lautre<br />
so hat der-eine getötet den-anderen<br />
(reg: 2 Sam 14,6)<br />
Dieser Beleg ist allerdings insofern problematisch, als der kategoriale Status von si als<br />
Adverb sehr fraglich ist. Wie in zahlreichen Untersuchungen gezeigt worden ist, hat si<br />
vielmehr – ähnlich wie ainz oder or – i.d.R. die Funktion einer satzeinleitenden Partikel, die<br />
sich anders verhält als volle Adverbien (Marchello-Nizia 1985, Fleischmann 1992, Ferraresi<br />
/ Goldbach 2002). Aus diesem Grund bildet Satz (33) keinen eindeutigen Beleg für
153<br />
einen adverbial eingeleiteten Satz mit einer Subjekt-Auxiliar-Inversion. Gleichzeitig ist zu<br />
konstatieren, dass der reg-Text auch keine eindeutigen Belege für Sätze mit einer AdvSVO-<br />
Stellung aufweist. Das einzige Beispiel, das hierzu gerechnet werden könnte, ist das folgende:<br />
(34) mfr. Car certainement ie ne le pourroye souffrir<br />
denn bestimmt ich nicht es könnte ertragen<br />
(reg: 2 Sam 13,12)<br />
Da in diesem Satz jedoch das Objekt als klitisch gebundenes Pronomen realisiert wird und<br />
daher in präverbaler Position erscheint, entspricht der Satz nur in eingeschränktem Maße<br />
dem geforderten Wortstellungsmuster.<br />
Mit anderen Worten, beide mittelalterlichen französischen Texte enthalten weder eindeutige<br />
Daten, auf Grund derer in Anlehnung an die Analyse von Fodor (1998) die Festlegung<br />
des Verb-Zweit-Parameterwertes auf den Wert '+V2' möglich wäre, noch finden sich<br />
eindeutige Daten, die die Fixierung auf den entgegengesetzten Wert ermöglichen würden.<br />
Aus dieser Beobachtung folgt nun keineswegs, dass Fodors Annahme eindeutiger Wortstellungsmuster<br />
für das Triggern des Verb-Zweit-Parameters aufgegeben werden muss. Wie<br />
die Analyse des deutschen und isländischen Textes zeigt, lässt sich für diese Sprachen<br />
Fodors Analyse bestätigen. Angesichts der hier gemachten Beobachtung hinsichtlich des<br />
alt- und mittelfranzösischen Textes stellt sich die Frage, ob es möglicherweise zusätzlich zu<br />
der von Fodor angenommenen Triggerevidenz weitere eindeutige Wortstellungsmuster gibt,<br />
auf Grund derer die Fixierung des Verb-Zweit-Parameters möglich ist und die es erlauben,<br />
adäquate Aussagen darüber zu machen, ob das Alt- und Mittelfranzösische über eine Verb-<br />
Zweit- oder eine Nicht-Verb-Zweit-Grammatik verfügt haben.<br />
Von entscheidender Bedeutung für die Beantwortung dieser Frage ist die Beobachtung,<br />
dass in Verb-Zweit-Sprachen Verb-Dritt-Sätze prinzipiell ausgeschlossen sind. Die Bildung<br />
von solchen Sätzen ist in diesen Sprachen allenfalls dann möglich, wenn die erste<br />
Konstituente disloziert und mit einer zweiten Konstituente koindiziert ist. Für diese Art der<br />
Dislokation liefern auch die beiden hier untersuchten germanischen Texte einige Belege.<br />
Im Gegensatz dazu handelt es sich bei den in den beiden mittelalterlichen französischen<br />
Texten vorkommenden V>2-Sätzen – abgesehen von einer Ausnahme (cf. (6)(a)) – nicht<br />
um derartige Dislokationskonstruktionen. Diese Sätze weisen, wie gezeigt wurde, keine Besonderheiten<br />
auf, die es erlauben, sie als Ausnahmen gegenüber der universell gültigen Restriktion<br />
anzusehen, derzufolge keine zusätzlichen Konstituenten an die SpezCP-Position<br />
adjungiert werden können. Sie sind folglich nicht mit einer Verb-Zweit-Grammatik vereinbar,<br />
in der das finite Verb obligatorisch nach COMP bewegt wird, um die dort generierten<br />
Kongruenz-und Finitheitsmerkmale zu erhalten. Vielmehr muss stattdessen angenommen<br />
werden, dass diese Merkmale in der INFL-Position generiert werden und das Verb nur nach<br />
INFL angehoben wird. Auf Grund der generellen Möglichkeit der (rekursiven) IP-Adjunktion<br />
kann es daher in diesen Fällen zu der Bildung von V>2-Sätzen kommen. Gleichzeitig<br />
muss dann auch für diejenigen Sätze, in denen im Alt- und Mittelfranzösischen das finite<br />
Verb in der Zweit-Position erscheint, angenommen werden, dass sie nicht aus einer Verbnach-COMP-Bewegung<br />
resultieren. Trotz der vor allem im mittelfranzösischen Text zu beobachtenden<br />
massiven Präsenz solcher Sätze – insbesondere von AdvVS-Sätzen – müssen<br />
diese Sätze als IP-Rekursionen mit einer damit verbundenen Verb-nach-INFL-Bewegung<br />
analysiert werden. Es handelt sich hierbei nur um scheinbare Verb-Zweit-Effekte, weil
154<br />
durch die Annahme einer obligatorischen, parametrisch festgelegten Verb-nach-COMP-Anhebung<br />
die Möglichkeit der Bildung der gleichzeitig vorhandenen V>2-Sätze nicht erklärt<br />
werden könnte.<br />
Auffallend ist in allen französischen Texten vor allem die bereits mehrfach erwähnte<br />
Tatsache, dass es keinen einzigen Beleg für die Verb-Zweit-Stellung in Sätzen mit satzeinleitendem<br />
Nebensatz gibt. Hier bestätigen die Daten weitgehend die in der Literatur gemachten<br />
Beobachtungen. Demgegenüber liefern sie keine (eindeutigen) Belege für Sätze<br />
mit einer AdvSVO-Stellung, die nach Fodor (1998) eine entscheidene Rolle beim Fixieren<br />
des Verb-Zweit-Parameters spielen. Die Daten sprechen stattdessen für die Annahme, dass<br />
diese Funktion durch nebensatzeingeleitete Sätze übernommen wird. Sie fungieren dann als<br />
eindeutige Trigger für das Fixieren des Verb-Zweit-Parameters auf den Wert '-V2', wenn<br />
sie eine zweite, nicht mit dem Nebensatz koindizierte präverbale Konstituente enthalten.<br />
Im Folgenden soll nun geprüft werden, ob diese Annahme auch in der Lage ist, den Daten<br />
bezüglich der Verbstellungsentwicklung in den beiden hier untersuchten iberoromanischen<br />
Sprachen und im Rätoromanischen gerecht zu werden.<br />
5.3 Entwicklung der Verb-Zweit-Stellung im Iberoromanischen<br />
Grundlage für die Untersuchung der Verbstellungsentwicklung im Iberoromanischen bilden<br />
zwei mittelalterliche sowie zwei zeitgenössische Bibelübersetzungen des Spanischen und<br />
Portugiesischen. Wie bereits erwähnt, stand für die Untersuchung des Altportugiesischen<br />
nur eine stark gekürzte und sehr vereinfachte Bibelübersetzung (= bmp) zur Verfügung.<br />
Auf Grund der Kürze ist bei diesem Text zusätzlich das Kapitel 1 Samuel 4 mit in die Auswertung<br />
einbezogen worden. In der folgenden Tabelle sind der absolute und der prozentuale<br />
Anteil der Verbstellungsmuster aller vier Texte zusammengestellt:<br />
Text V1 V2 V>2 gesamt<br />
bmr<br />
Subj V Obj V Präp V PE V Adv V "X"V Satz V<br />
abs. 172 83 2 8 0 13 0 3 10 291<br />
(asp.) % 59.1 28.6 0.7 2.7 0.0 4.5 0.0 1.0 3.4 100.0<br />
jer<br />
abs. 73 184 1 6 0 15 0 6 28 313<br />
(nsp.) % 23.3 58.8 0.3 1.9 0.0 4.8 0.0 1.9 9.0 100.0<br />
bmp<br />
abs. 79 78 2 5 0 10 0 5 6 185<br />
(apg.) % 42.7 42.2 1.1 2.7 0.0 5.4 0.0 2.7 3.2 100.0<br />
sag<br />
abs. 12 214 0 2 1 4 1 1 79 314<br />
(npg.) % 3.8 68.2 0.0 0.6 0.3 1.3 0.3 0.3 25.2 100.0<br />
Tabelle (11): Anteil der Verbstellungsmuster aller deklarativen Matrixsätze mit realisiertem Subjekt<br />
Die Zahlen zeigen, dass beide mittelalterlichen Texte einen sehr hohen Anteil an Sätzen mit<br />
einer Verb-Erst-Stellung aufweisen. Damit verhalten sich beide Texte typisch für altromanische<br />
Texte, deren Erzählstil häufig durch exzessives Aneinanderreihen meist konjunk-
tional eingeleiteter Sätze charakterisiert ist (Stempel 1975:357). In diesen Fällen erscheint<br />
das Subjekt, wenn es überhaupt realisiert wird, fast ausnahmslos in postverbaler Position:<br />
(35) asp. (a) mató absalon a todos 1os fijos del rey<br />
tötete Abschalom PRÄP alle die Söhne von-dem Königs<br />
(bmr 451: 2 Sam 13,30)<br />
(b) E enbió dauid mensajeros<br />
und schickte David Boten<br />
(bmr 447: 2 Sam 11,4)<br />
(36) apg. (a) morreu meu marido<br />
gestorben-ist mein Mann<br />
(bmp 241: 2 Sam 14,5)<br />
(b) e veo Urias<br />
und kam Urija<br />
(bmp 298: 2 Sam 11,7)<br />
In den modernen Bibelversionen ist dieser Erzählstil nicht mehr so stark ausgeprägt. Dies<br />
schlägt sich in der wesentlich niedrigeren Zahl an Verb-Erst-Sätzen nieder:<br />
(37) nsp. (a) Entró, pues, donde el rey la mujer de Técoa<br />
trat-ein dann bei dem König die Frau von Tekoa<br />
(jer 344: 2 Sam 14,4)<br />
(b) y murió también Urías el hitita<br />
und gestorben-ist auch Urija der Hetiter<br />
(jer 340: 2 Sam 11,17)<br />
(38) npg. (a) Vão chegar os dias em que exterminarei todos os<br />
werden kommen die Tage an denen (ich)-auslöschen-werde alle die<br />
descendentes da tua família e do teu clã<br />
Nachfahren von deiner Familie und von deinem Klan<br />
(sag 280: 1 Sam 2,31)<br />
(b) e morreram alguns dos oficiais, entre eles Urias, o hitita<br />
und starben einige von-den Knechten unter ihnen Urija der Hetiter<br />
(sag 323: 2 Sam 11,24)<br />
155<br />
Was die XVS-Sätze betrifft, so sind in den beiden spanischen Texten Anzahl und prozentualer<br />
Anteil dieser Sätze genau identisch (bmr: 26 (8,9%), jer: 28 (8,9%)). In beiden Texten<br />
sind adverbial eingeleitete Sätze die häufigsten Sätze mit dieser Wortstellung. Daneben<br />
gibt es auch einige Belege für die XVS-Stellung in anderen Kontexten. Bemerkenswert ist<br />
hierbei, dass im altspanischen Text in denjenigen drei Sätzen, die durch einen Nebensatz<br />
eingeleitet sind, stets die koordinierende Konjunktion e vor dem finiten Verb eingefügt ist.<br />
Im neuspanischen Text hingegen ist dies nicht der Fall (cf. (39)(d) vs. (40)(d)):<br />
(39) asp. (a) E un manto pequeño le fasía su madre<br />
und einen Mantel kleinen ihm machte seine Mutter<br />
(bmr 385: 1 Sam 2,19)<br />
(b) ca non por fuerça vençe el varón<br />
denn nicht durch Kraft siegt der Mann<br />
(bmr 385: 1 Sam 2,9)<br />
(c) e ende eran los dos fijos de eli<br />
und dort waren die zwei Söhne von Eli<br />
(bmr 383: 1 Sam 1,3)
156<br />
(d) E aun antes que safumasen el seuo, e venía el moço del<br />
und noch bevor dass (sie)-räucherten das Fett und kam der Junge von-dem<br />
saçerdote<br />
Priesters<br />
(bmr 385: 1 Sam 2,15)<br />
(40) nsp. (a) Este niño pedía yo<br />
dieses Kind erbat ich<br />
(jer 296: 1 Sam 1,27)<br />
(b) en el mismo día morirán los dos<br />
am gleichen Tag sterben-werden die zwei<br />
(jer 297: 1 Sam 2,34)<br />
(c) Aún no conocía Samuel a Yahveh<br />
noch nicht kannte Samuel PRÄP Jahwe<br />
(jer 298: 1 Sam 3,7)<br />
(d) Incluso antes de que quemasen la grasa, venía el criado del<br />
sogar bevor PRÄP dass (sie)-brannten das Fett kam der Diener von-dem<br />
sacerdote<br />
Priester<br />
(jer 296: 1 Sam 2,15)<br />
Die beiden portugiesischen Texte weisen hinsichtlich des Auftretens von Sätzen mit einer<br />
XVS-Stellung einen deutlichen Unterschied zu den spanischen Texten auf. Hier ist im neuportugiesischen<br />
im Vergleich zum altportugiesischen Text ein starker Rückgang zu verzeichnen<br />
(bmp: 22 (11,9%), sag: 9 (2,8%)). Wie in den spanischen Texten sind AdvVS-<br />
Sätzen in beiden portugiesischen Texten am häufigsten. Daneben gibt es aber auch Sätze<br />
mit anderen präverbalen Konstituenten:<br />
(41) apg. (a) esto dizia ela<br />
dieses sagte sie<br />
(bmp 241: 2 Sam 13,13)<br />
(b) Em aquele tempo juntaromsse os Filisteus<br />
in jener Zeit vereinigten-sich die Philister<br />
(bmp 201: 1 Sam 4,1)<br />
(c) Entom enviou nostro Senhor o propheta Nathan a David<br />
dann schickte unser Herr den Propheten Natan zu David<br />
(bmp 239: 2 Sam 12,1)<br />
(d) quando o moço aynda era vivo, chorey eu<br />
als der Junge noch war lebendig weinte ich<br />
(bmp 239: 2 Sam 12,22)<br />
(42) npg. (a) e entre os mortos encontrava-se Urias, o hitita<br />
und unter den Toten befand-sich Urija der Hetiter<br />
(sag 323: 2 Sam 11,17)<br />
(b) Esse homem és tu<br />
dieser Mann bist du<br />
(sag 324: 2 Sam 12,7)<br />
(c) Também morreu Urias, o hitita, oficial de Vossa Majestade<br />
auch gestorben-ist Urija der Hetiter Diener von Eurer Majestät<br />
(sag 323: 2 Sam 11,21)<br />
(d) "Fala!" - respondeu-lhe o rei<br />
Sprich antwortete-ihr der König<br />
(sag 327: 2 Sam 14,12)
(e) Quando os soldados que defendiam a cidade saíram para lutar<br />
als die Soldaten die verteidigten die Stadt hinausgingen um-zu kämpfen<br />
contra Joab, morreram alguns dos oficiais de David<br />
gegen Joab starben einige von-den Diener von David<br />
(sag 323: 2 Sam 11,17)<br />
157<br />
Wie der Tabelle (11) zu entnehmen ist, kommen in allen vier iberoromanischen Texten<br />
auch Sätze mit einer V>2-Stellung vor. In den beiden modernen Übersetzungen – insbesondere<br />
in der portugiesischen – ist deren Anteil deutlich höher als in den mittelalterlichen<br />
Texten. Im altspanischen und im altportugiesischen Text gibt es Belege für Sätze mit einer<br />
XSV- und SXV-Struktur sowie für Sätze mit postverbalem Subjekt:<br />
(43) asp. (a) ca çiertamente yo soy mejor a ty que dies fijos<br />
denn bestimmt ich bin besser PRÄP dir als zehn Söhne<br />
(bmr 383: 1 Sam 1,8)<br />
(b) e mi señor joab e los sieruos de mi señor sobre la fas<br />
und mein Herr Joab und die Diener von meinem Herrn auf dem Boden<br />
del canpo posan<br />
des Feldes liegen<br />
(bmr 447: 2 Sam 11,11)<br />
(c) E como multiplicó a faser oraçión delante el señor, e<br />
und als (sie)-vermehrte zu machen Gebet vor dem Herrn und<br />
heli esguardaua lo que desía<br />
Eli beobachtete das was (sie)-sagte<br />
(bmr 383: 1 Sam 1,12)<br />
(d) Al torno del año, en la ora que salen los reyes, enbió<br />
zur Wende des Jahres in der Stunde (in)-der ausziehen die Könige schickte-aus<br />
dauid a joab e a sus sieruos<br />
David PRÄP Joab und PRÄP Diener<br />
(bmr 447: 2 Sam 11,1)<br />
(44) apg. (a) e Ana chorando fez voto a nostro Senhor<br />
und Hanna weinend machte Gelübde zu unserem Herrn<br />
(bmp 199: 1 Sam 1,10)<br />
(b) En aquel tempo a palavra de Deus era muy pouca<br />
in jener Zeit das Wort von Gott war sehr karg<br />
(bmp 200: 1 Sam 3,1)<br />
(c) ca per ventura, se o vir, renovar-se-á em mym a door<br />
denn vielleicht wenn ihn (ich)-sehe erneuern-sich-wird in mir der Schmerz<br />
do outro meu filho, que el matou<br />
von-dem anderen meinen Sohn den er getötet-hat<br />
(bmp 242: 2 Sam 14,24)<br />
In der neuspanischen Übersetzung erscheint in allen V>2-Sätzen das Subjekt unmittelbar<br />
vor dem finiten Verb. Im neuportugiesischen Text kommen darüber hinaus auch Sätze mit<br />
einer SXV-Stellung vor (cf. (46)(d)):<br />
(45) nsp. (a) Entonces Natán dijo a David<br />
darauf Natan sagte zu David<br />
(bmr 341: 2 Sam 12,7)<br />
(b) En efecto, Yahveh visitó a Ana<br />
in der Tat Jahwe besuchte PRÄP Hanna<br />
(bmr 297: 1 Sam 2,21)<br />
(c) Como ella prolongase su oración ante Yahveh, Elí observaba sus labios<br />
als sie ausdehnte ihr Gebet vor Jahwe Eli beobachtete ihre Lippen<br />
(bmr 295: 1 Sam 1,12)
158<br />
(46) npg. (a) Então Samuel contou-lhe tudo sem esconder nada<br />
daraufhin Samuel erzählte-ihm alles ohne (zu)-verbergen nichts<br />
(sag 281: 1 Sam 3,18)<br />
(b) Na verdade, o Senhor achou que eles deviam morrer<br />
in Wirklichkeit der Herr fand dass sie sollten sterben<br />
(sag 280: 1 Sam 2,25)<br />
(c) Se um homem ofende outro homem, Deus pode defendê-lo<br />
wenn ein Mensch beleidigt anderen Menschen Gott kann verteidigen-ihn<br />
(sag 280: 1 Sam 2,25)<br />
(d) E ele assim o fez<br />
und er so es machte<br />
(sag 281: 1 Sam 3,5)<br />
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ähnlich wie in den französischen Daten auch<br />
in den Daten der beiden hier betrachteten iberoromanischen Sprachen sowohl das Auftreten<br />
von XVS-Sätzen als auch von Sätzen mit einer V>2-Stellung beobachtet werden kann. In<br />
allen vier untersuchten iberoromanischen Texten ist bei den Sätzen mit einer XVS-Stellung<br />
der Anteil von adverbial eingeleiteten Sätzen am höchsten. Darunter gibt es keinen einzigen<br />
Beleg für die von Fodor (1998) als eindeutige Triggerevidenz für eine Verb-Zweit-Grammatik<br />
angesehenen Sätze mit einer AdvAuxSVO-Stellung. In den beiden modernen iberoromanischen<br />
Texten finden sich demgegenüber zahlreiche Belege für Sätze mit einer die<br />
AdvSVO-Stellung:<br />
(47) nsp. (a) así Yahveh cumpla su palabra<br />
so Jahwe erfüllt sein Wort<br />
(jer 296: 1 Sam 1,23)<br />
(b) Entonces Ana dijo esta oración<br />
daraufhin Hanna sprach dieses Gebet<br />
(jer 296: 1 Sam 2,1)<br />
(48) npg. (a) entretanto, o Senhor deu uma doença grave ao filho<br />
in der Zwischenzeit der Herr gab eine Krankheit schwere dem Sohn<br />
(sag 324: 2 Sam 12,15)<br />
(b) Então David reuniu todas as suas tropas<br />
daraufhin David vereinigte alle die seinen Truppen<br />
(sag 325: 2 Sam 12,29)<br />
Es steht damit außer Frage, dass beide modernen iberoromanischen Sprachen als Sprachen<br />
mit einer Nicht-Verb-Zweit-Grammatik beschrieben werden müssen. Beide hier untersuchten<br />
Texte liefern Belege für Sätze, die mit einer Verb-Zweit-Grammatik unvereinbar<br />
sind und die als eindeutige Trigger für das Fixieren des Verb-Zweit-Parameters auf den<br />
Wert '-V2' fungieren können.<br />
Was hingegen das Altspanische und Altportugiesische betrifft, so ist die Datenlage in<br />
den vorliegenden Texten weniger eindeutig. Lediglich im altspanischen Text findet sich ein<br />
einziger adverbial eingeleiteter Satz, der gleichzeitig ein Objekt enthält. Ebenso wie im mittelfranzösischen<br />
Beispiel (34) kann der Satz jedoch nicht als eindeutiger Beleg für die<br />
AdvVSO-Stellung gelten, da das Objekt klitisch ist und daher vor dem finiten Verb erscheint:<br />
(49) asp. ca çiertamente yo lo mando<br />
denn bestimmt ich ihn schicke<br />
(bmr 451: 2 Sam 13,28)
159<br />
Damit gibt es in den beiden mittelalterlichen iberoromanischen Texten keine klaren Belege<br />
für diejenigen Wortstellungsmuster, die von Fodor als Triggerevidenz für das Fixieren des<br />
Verb-Zweit-Parameters angesehen werden. Dies führt – ebenso wie bei der Analyse der<br />
französischen Daten – zu der Feststellung, dass für eine adäquate Interpretation dieser Ergebnisse<br />
die Tatsache relevant ist, dass in den untersuchten Texten Sätze mit einer V>2-<br />
Stellung vorhanden sind und dass sich diese Sätze strukturell von den in den germanischen<br />
Verb-Zweit-Sprachen zu beobachtenden Verb-Dritt-Sätzen unterscheiden. In keinem der in<br />
den iberoromanischen Texten gefundenen V>2-Sätze ist die satzinitiale Konstituente disloziert,<br />
so dass deren Voranstellung nicht durch eine CP-Rekursion erfasst werden kann. Mit<br />
anderen Worten, die angetroffenen V>2-Sätze sind nicht mit einer Verb-Zweit-Grammatik<br />
vereinbar, in der das Verb obligatorisch nach COMP angehoben wird. Stattdessen muss –<br />
ähnlich wie im Fall des Alt- und Mittelfranzösischen – davon ausgegangen werden, dass<br />
das finite Verb regelmäßig nur nach INFL bewegt wird und dass in dieser Position die<br />
Kongruenz- und Finitheitsmerkmale generiert sind. Die Voranstellung von Konstituenten,<br />
die nicht die Subjektfunktion einnehmen, erfolgt dann durch Adjunktion an die SpezIP-<br />
Position.<br />
Die bei der Diskussion der französischen Daten geäußerte Vermutung, wonach Sätze,<br />
die durch einen Nebensatz eingeleitet sind, eine besondere Rolle bei der Bestimmung der<br />
Verb-Zweit-Stellungseigenschaft spielen, kann durch die Daten der iberoromanischen<br />
Texte zumindest teilweise bestätigt werden. Auffallend ist zunächst, dass – im Unterschied<br />
zu den untersuchten Texten des Französischen – alle vier iberoromanischen Texte Belege<br />
für die Verb-Zweit-Stellung in diesem Kontext liefern (cf. die (d)-Beispiele in (39)-(41)<br />
sowie Beispiel (42)(e)). Allerdings konnte bei der Auswertung der Wortstellungsuntersuchungen<br />
zum Französischen festgestellt werden, dass auch im Alt- und Neufranzösischen<br />
nebensatzeingeleitete Sätze in seltenen Fällen die Verb-Zweit-Stellung aufweisen (cf.<br />
(17)(b) und (18) in Kapitel 3). Die meisten Untersuchungen stimmen darin überein, dass<br />
dies nur dann möglich ist, wenn das finite Verb des Matrixsatzes entweder intransitiv oder<br />
ein Bewegungsverb ist. Diese Beobachtung lässt sich auch für die meisten der hier untersuchten<br />
iberoromanischen Texte machen. Wie die oben aufgeführten iberoromanischen<br />
Daten illustrieren, ist in fast allen Sätzen mit einer 'Satz-V'-Stellung das finite Matrixverb<br />
ein intransitives Verb oder ein Bewegungsverb. Lediglich der altportugiesische Text fällt<br />
hier aus dem Rahmen. Dort enthalten vier der fünf Verb-Zweit-Sätze mit einer 'Satz-V'-<br />
Struktur ein transitives Verb im Matrixsatz:<br />
(50) apg. (a) e depois que o moço foi criado levou- o Ana a Sylo<br />
und nachdem dass der Junge war aufgezogen brachte ihn Hanna nach Schilo<br />
(bmp 199: 1 Sam 1,24)<br />
(b) Quando veo a manhãa, esconjurou Hely Samuel<br />
als kam der Morgen beschwor Eli Samuel<br />
(bmp 201: 1 Sam 3,17)<br />
(c) e quando ela entrou, e lhe tragia de comer, lançou Amon fora<br />
und als sie eintrat und ihm brachte zu essen warf Amnon aus<br />
da casa todos os que hy estavão<br />
von-dem Haus alle die die dort waren<br />
(bmp 240f.: 2 Sam 13,8-9)
160<br />
(d) E quando a lançarom fóra os sergentes de Amon deitou ela cijnza<br />
und als sie warfen hinaus die Diener von Amnon warf sie Asche<br />
sobre sua cabeça<br />
über ihren Kopf<br />
(bmp 241: 2 Sam 13,19)<br />
Bemerkenswert ist, dass sich der altportugiesische Text noch hinsichtlich einer weiteren<br />
Besonderheit von den übrigen iberoromanischen Texten unterscheidet. Mit Ausnahme des<br />
altportugiesischen Textes weisen nämlich alle iberoromanischen Bibelübersetzungen V>2-<br />
Sätze auf, die durch einen Nebensatz eingeleitet sind, ohne dass dieser durch ein Adverbial<br />
wieder aufgenommen wird (cf. die (c)-Beispiele in (43) und in (45)-(46)). Auch hier zeigt<br />
sich wieder eine Parallelität zu den französischen Bibelübersetzungen. Die Tatsache, dass<br />
es im altportugiesischen Text keinen Beleg für dieses Wortstellungsmuster gibt, hängt<br />
möglicherweise mit dem sehr einfachen Erzählstil dieses Textes zusammen. Wichtig ist die<br />
Beobachtung, dass es sich hierbei nicht um eine typische Besonderheit des Altportugiesischen<br />
handelt. Dies bestätigt ein Blick auf andere altportugiesische Texte. So finden sich<br />
beispielsweise in der Heiligenlegende A Vida da Eufrosina aus dem 14. Jhdt. zahlreiche Belege<br />
für die präverbale Stellung des Subjekts nach satzeinleitendem Nebensatz:<br />
(51) apg. (a) Quando Paunuçio dizia estas cousas e outras taaes, todos aquelles<br />
als Paunuçio sagte diese Sachen und andere solche alle diejenigen<br />
que hy estavõ fazyam planto<br />
die dort waren machten Wehklagen<br />
(euf 362)<br />
(b) Sse me ffor perao moesteyro de molheres, meu padre<br />
wenn mich begeben-würde zu-einem Kloster von Frauen mein Vater<br />
catar me ha<br />
suchen mich wird<br />
(euf 360)<br />
Die Existenz solcher Sätze belegt, dass sich das Altportugiesische nicht grundsätzlich anders<br />
verhält, was die Satzstellung in nebensatzeingeleiteten Sätzen betrifft. Insgesamt bestätigen<br />
vielmehr die Daten der hier untersuchten iberoromanischen Bibelübersetzungen die<br />
vielfach gemachte Beobachtung, wonach weder das Spanische noch das Portugiesische jemals<br />
'perfekte' Verb-Zweit-Sprachen gewesen sind (Fontana 1997, Ribeiro 1995). Beide<br />
Sprachen weisen – sowohl in ihren frühen als auch in ihren modernen Varietäten – zwar<br />
einige der für Verb-Zweit-Sprachen typischen Wortstellungsmuster auf, erlauben aber<br />
gleichzeitig die Bildung von Sätzen, die in diesen Sprachen grundsätzlich ausgeschlossen<br />
sind. Mit anderen Worten, beide Sprachen müssen daher als Sprachen analysiert werden, in<br />
denen der Verb-Zweit-Parameter auf den Wert '-V2' festgelegt ist. Ebenso wie für das<br />
Französische kann angenommen werden, dass für die Festlegung auf diesen Wert<br />
nebensatzeingeleitete Sätze ausschlaggebend sind. Die Bildung solcher Sätze ist zwar in<br />
diesen Sprachen – anders als in den hier untersuchten Daten des Französischen zu<br />
beobachten ist – unter bestimmten Bedingungen auch mit einer Verb-Zweit-Stellung<br />
möglich. Gleichzeitig kann in diesen Sätzen aber auch das finite Verb in der Dritt-Position<br />
auftreten, und zwar ohne dass die zweite Position notwendigerweise durch ein mit dem<br />
Nebensatz koindiziertes Adverbial besetzt ist. Folglich kann diese Art von V>2-Sätzen als<br />
eindeutige Triggerevidenz für die Festlegung des Verb-Zweit-Parameters auf den Wert<br />
'-V2' fungieren.
5.4 Entwicklung der Verb-Zweit-Stellung im Rätoromanischen<br />
161<br />
Die hier vorgenommene Untersuchung des Rätoromanischen basiert auf Daten der in Graubünden<br />
gesprochenen Variante des Surselvischen. Als Grundlage für die Untersuchung des<br />
älteren Surselvischen dient die älteste surselvische Übersetzung des Alten Testaments, der<br />
so genannten 'Biblia da Cuera', die 1718 in Chur angefertigt wurde. Für die Analyse des<br />
modernen Surselvischen wurde die bislang einzige zusammenhängende neusurselvische<br />
Übersetzung des Alten Testamentes aus dem Jahre 1967 verwendet. Wie bereits erwähnt,<br />
ist diese Übersetzung allerdings nicht vollständig. Von den hier untersuchten Kapiteln der<br />
beiden Samuelbücher sind die Kapitel 2 Samuel 13 und 2 Samuel 14 nicht übersetzt. Aus<br />
diesem Grund wurde – ebenso wie bei der Analyse des Altportugiesischen – stattdessen das<br />
Kapitel 1 Samuel 4 in die Analyse des modernen Surselvischen mit einbezogen. In der<br />
folgenden Tabelle sind die Ergebnisse der Auswertung aller deklarativen Matrixsätze mit<br />
realisiertem Subjekt erfasst:<br />
Text V1 V2 V>2 gesamt<br />
cue<br />
Subj V Obj V Präp V PE V Adv V "X"V Satz V<br />
abs. 0 317 4 12 0 73 0 10 18 434<br />
(asur.) % 0.0 73.0 0.9 2.8 0.0 16.8 0.0 2.3 4.2 100.0<br />
veg<br />
abs. 0 196 10 16 10 75 0 28 9 344<br />
(nsur.) % 0.0 57.0 2.9 4.7 2.9 21.8 0.0 8.1 2.6 100.0<br />
Tabelle (12): Anteil der Verbstellungsmuster aller deklarativen Matrixsätze mit realisiertem Subjekt<br />
Die Ergebnisse dieser Auswertung belegen einerseits die deutlichen Unterschiede, die hinsichtlich<br />
der Stellung des finiten Verbs zwischen dem Bündnerromanischen und den übrigen<br />
romanischen Sprachen bestehen, und andererseits die Gemeinsamkeiten zwischen dem<br />
Bündnerromanischen und den germanischen Verb-Zweit-Sprachen. Zunächst ist zu beobachten,<br />
dass es ebenso wie in der deutschen Bibelübersetzung in beiden bündnerromanischen<br />
Texten keinen einzigen Beleg für eine Verb-Erst-Stellung gibt. Des Weiteren fällt der<br />
relativ hohe Anteil an Sätzen mit einer XVS-Wortstellung auf. Im älteren cue-Text beträgt<br />
er mit insgesamt 99 Belegen 22,8%, im veg-Text mit insgesamt 139 Belegen 40,4%. Darunter<br />
finden sich Belege für fast alle typischen Kontexte der Verb-Zweit-Stellung:<br />
(52) asur. (a) Vin a ferma buvronda hai jou bucca buvieu<br />
Wein und starkes Getränk habe ich nicht getrunken<br />
(cue 233: 1 Sam 1,15)<br />
(b) Mo ad Hanna dev' el dubla part<br />
aber an Hanna gab er doppelten Anteil<br />
(cue 232: 1 Sam 1,5)<br />
(c) Cuntut vangit Joab tiers ilg Reg<br />
daher ging Joab zu dem König<br />
(cue 272: 2 Sam 14,33)<br />
(d) Mo cur Elkana unfria ün gi, dev' el á sia dunna Penina, ad<br />
aber als Elkana opferte eines Tages gab er an seine Frau Peninna und<br />
als filgs a filgias da quellas parts<br />
an-die Söhne und Töchter von diesen Teilen<br />
(cue 232: 1 Sam 1,4)
162<br />
(53) nsur. (a) Vin ni bubrondas fermas hai jeu buca buiu<br />
Wein noch Getränke starke habe ich nicht getrunken<br />
(veg 273: 1 Sam 1,15)<br />
(b) mo a Hanna deva el duas parts<br />
aber an Hanna gab er zwei Teile<br />
(veg 272: 1 Sam 1,5)<br />
(c) Svanida ei la gliergia d' Israel<br />
verschwunden ist die Ehre von Israel<br />
(veg 281: 1 Sam 4,22)<br />
(d) Ussa ha Eli entgiert ch' il Segner clumava il mat<br />
jetzt hat Eli begriffen dass der Herr rief den Jungen<br />
(veg 278: 1 Sam 3,8)<br />
(e) Mo cu Elcana ei puspei ius tier sia dunna Hanna, ei il Segner<br />
aber als Elkana ist wieder gegangen zu seiner Frau Hanna ist der Herr<br />
seregurdaus dad ella<br />
sich-errinnert an sie<br />
(veg 273: 1 Sam 1,19)<br />
Hinsichtlich der Sätze mit einer V>2-Stellung kann für den altsurselvischen Text die gleiche<br />
Beobachtung wie bei der Analyse der beiden germanischen Texte gemacht werden.<br />
Alle Sätze dieser Art sind durch einen Nebensatz eingeleitet, der durch ein unmittelbar<br />
anschließendes koindiziertes Adverb wieder aufgenommen wird:<br />
(54) asur. (a) Cur anzachi fa puccau ancunter ün carstiaun, scha sa ilg<br />
wenn jemand macht Sünde gegen einen Menschen dann kann der<br />
Derschader lugar<br />
Richter richten<br />
(cue 234: 1 Sam 2,25)<br />
(b) Sco tieu survient ha gig, aschi eis ei daventau<br />
wie dein Diener hat gesagt so ist es geschehen<br />
(cue 271: 2 Sam 13,35)<br />
Auch im neusurselvischen Text weist die Mehrzahl der V>2-Sätze die gleiche Satzstruktur<br />
auf:<br />
(55) nsur. (a) Sche ti fas stem dalla misergia da tia fintschala e seregordas<br />
wenn du gibst Acht auf-die Not von deiner Magd und dich-erinnerst<br />
da mei, sche ti emblidas buca tia fintschala e regalas ad ella<br />
an mich wenn du vergisst nicht deine Magd und schenkst PRÄP ihr<br />
in fegl, sche vi jeu dedicar quel al Segner per tut sia veta<br />
einen Sohn dann will ich widmen ihn dem Herrn für ganzes sein Leben<br />
(veg 273: 1 Sam 1,11)<br />
(b) e sche quei fuss aunc memia pauc, sche vuless jeu aschunscher aunc<br />
und wenn das wäre noch zu wenig dann würde ich hinzufügen noch<br />
quei ni tschei<br />
das-eine oder das-andere<br />
(veg 355: 2 Sam 12,8)<br />
Allerdings enthält der neusurselvische Text drei V>2-Sätze, die von diesem Satzstellungsmuster<br />
abweichen:<br />
(56) nsur. (a) il basignus el leventa ord lozza<br />
den Bedürftigen er hebt aus-dem Schlamm<br />
(veg 275: 1 Sam 2,8)
(b) Da sesez il carstgaun vegn tier nuot<br />
von sich der Mensch kommt zu nichts<br />
(veg 275: 1 Sam 2,9)<br />
(c) gl' Altissim en tschiel els smardeglia<br />
der Höchste im Himmel sie zerschmettert<br />
(veg 275: 1 Sam 2,10)<br />
163<br />
Bei diesen drei Belegen handelt es sich ganz offensichtlich um Verletzungen der Verb-<br />
Zweit-Stellungsregel. 11 Dennoch bilden diese Beispiele keine Belege gegen das Vorhandensein<br />
der strengen Verb-Zweit-Eigenschaft im Surselvischen. Das Bemerkenswerte an<br />
diesen Sätzen ist nämlich, dass sie im so genannten 'Danklied der Hanna' (1 Samuel 2,1-11)<br />
auftreten. Diese Bibelstelle ist dadurch gekennzeichnet, dass sie in Versform geschrieben<br />
ist. Es kann kein Zweifel darin bestehen, dass die Abweichungen von der üblichen Wortstellung<br />
in diesen Fällen durch die Versform des Textes bedingt sind. Ebenso wie bei den<br />
oben aufgeführten Beispielen aus dem Deutschen (cf. Fußnote 2, Seite 131) handelt sich<br />
hierbei folglich um keine Belege, die gegen die generelle Gültigkeit der Verb-Zweit-Stellungsregel<br />
im Surselvischen sprechen.<br />
Die Ergebnisse veranschaulichen somit deutlich den fundamentalen Unterschied, der<br />
zwischen dem Rätoromanischen und den anderen romanischen Sprachen besteht. Er manifestiert<br />
sich nicht nur im wesentlich höheren Anteil an XVS-Sätzen, sondern insbesondere<br />
darin, dass sich die wenigen Verb-Dritt-Sätze strukturell deutlich von denen der anderen romanischen<br />
Sprachen unterscheiden. Die einzigen regelmäßigen Abweichungen von der<br />
Verb-Zweit-Stellung beschränken sich auf die in den Beispielen (54) und (55) illustrierten<br />
Fälle. Ein weiterer deutlicher Unterschied zu den anderen romanischen Sprachen besteht<br />
darin, dass beide rätoromanische Texte zahlreiche Belege für eine AdvAuxSVO-Stellung<br />
aufweisen, wodurch der Analyse von Fodor (1998) zufolge die Verb-Zweit-Eigenschaft in<br />
einer SVO-Sprache festgelegt werden kann:<br />
(57) asur. (a) lur ilg vi jou manar cun mei<br />
dann ihn werde ich führen mit mir<br />
(cue 233: 1 Sam 1,22)<br />
(b) Ouncalura vi jou bucca cassar tuts ils humens da mieu Altar<br />
überdies werde ich nicht jagen alle die Männer von meinem Altar<br />
(cue 234: 1 Sam 2,33)<br />
(58) nsur. (a) Sinquei ei la dunna ida sia via<br />
daraufhin ist die Frau gegangen ihren Weg<br />
(veg 273: 1 Sam 1,18)<br />
(b) Sche ha era il Segner perdunau a ti tiu puccau<br />
so hat auch der Herr vergeben PRÄP dir deine Sünde<br />
(veg 356: 2 Sam 12,13)<br />
Die hier untersuchten Daten des Rätoromanischen belegen somit klar, dass sowohl das<br />
ältere als auch das moderne Bündnerromanische – ebenso wie das Deutsche, jedoch im<br />
11 Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass das Objektspronomen in Satz (56)(c)<br />
nicht klitisch ist und daher als eigene Konstituente gezählt werden muss. Im Gegensatz zu fast allen<br />
anderen Varietäten des Bündnerromanischen hat das Surselvische das Paradigma der klitischen<br />
Objektspronominaformen vollkommen aufgegeben und durch nicht klitische Formen ersetzt, die<br />
die gleiche Position wie volle Objekt-NPs einnehmen (Widmer 1959). Das ältere Surselvische verfügt<br />
noch über die klitischen Formen der Objektspronomina, wie zum Beispiel Satz (57)(a)) belegt.
164<br />
Gegensatz zu allen anderen hier betrachteten früh- und neuromanischen Sprachen – durch<br />
eine strenge Verb-Zweit-Stellungseigenschaft charakterisiert sind. Die Daten zeigen auch,<br />
dass das Bündnerromanische keinen diachronischen Wandel hinsichtlich dieser Eigenschaft<br />
erfahren hat. Es war und ist parametrisch dadurch gekennzeichnet, dass das finite Verb in<br />
allen deklarativen Matrixsätzen obligatorisch nach COMP bewegt werden muss, weil dort<br />
die Kongruenz- und Finitheitsmerkmale generiert sind. Daraus folgt, dass Verb-Dritt-Sätze<br />
nur in solchen Fällen gebildet werden können, in denen die satzinitiale Konstituente disloziert<br />
und mit der nachfolgenden Konstituente koindiziert ist. Diese strukturelle Beschränkung<br />
ist in allen anderen romanischen Sprachen nicht vorhanden. Einzig einige Dialekte<br />
des Dolomitenladinischen scheinen sich hier ebenso wie das Bündnerromanische zu verhalten.<br />
Allerdings bedarf deren Verhalten in dieser Hinsicht noch einer eingehenderen Untersuchung.
6. Schlussbetrachtung<br />
In der hier vorgelegten Untersuchung wurde von der Annahme ausgegangen, dass die für<br />
die germanischen Sprachen mit Ausnahme des Englischen charakteristische strenge Verb-<br />
Zweit-Stellung in deklarativen Matrixsätzen eine parametrisch festgelegte Eigenschaft ist.<br />
Im Rahmen der generativen Prinzipien- und Parametertheorie wird diese Eigenschaft dadurch<br />
beschrieben, dass die Flexions- und Finitheitsmerkmale in der COMP-Position basisgeneriert<br />
werden. Demzufolge unterscheiden sich Sprachen, die diese Eigenschaft besitzen,<br />
von Nicht-Verb-Zweit-Sprachen dadurch, dass das finite Verb im deklarativen Matrixsatz<br />
stets in die COMP-Position bewegt werden muss. Für den kindlichen Erstspracherwerb bedeutet<br />
diese Annahme, dass Kinder auf der Grundlage der sprachlichen Erfahrung während<br />
des Spracherwerbs lediglich den entsprechenden Wert des Verb-Zweit-Parameters festlegen<br />
müssen, ohne die damit verbundenen Eigenschaften im Einzelnen erlernen zu müssen.<br />
Diese Annahme erlaubt es, den schnellen und weitgehend fehlerfreien Erwerb der Verb-<br />
Zweit-Stellungseigenschaft im Verlauf des kindlichen Erstspracherwerbs und die deutlichen<br />
Unterschiede zum Erwerb dieser Eigenschaft im Zweitspracherwerb zu erklären.<br />
Im Mittelpunkt der hier durchgeführten empirischen Untersuchung der Verbstellung und<br />
des Verbstellungswandels in den romanischen Sprachen stand die Frage, ob die in diesen<br />
Sprachen zu beobachtenden Verb-Zweit-Stellungseffekte in ähnlicher Weise wie die Verb-<br />
Zweit-Stellung der germanischen Verb-Zweit-Sprachen analysiert werden können. Die Antwort<br />
hierfür fällt eindeutig negativ aus: Mit Ausnahme des Bündnerromanischen und einiger<br />
regionaler Varietäten des Dolomitenladinischen ist diese Analyse weder für die frühromanischen<br />
noch für die modernen romanischen Sprachen gerechtfertigt.<br />
In den modernen romanischen Sprachen ist die Zweit-Stellung des finiten Verbs vor allem<br />
in Interrogativsätzen zu beobachten. Ausgehend von der Annahme, dass Verb-Zweit-<br />
Stellungseffekte in Interrogativsätzen darauf zurückzuführen sind, dass das finite Verb auf<br />
Grund universaler Prinzipien stets nach COMP angehoben wird, konnte gezeigt werden,<br />
dass es sich hierbei nicht um ein 'Relikt' einer vermuteten strengen Verb-Zweit-Stellungseigenschaft<br />
der frühromanischen Sprachen handeln kann. Zwar existiert mit der gleichen<br />
Landeposition des finiten Verbs eine Gemeinsamkeit zwischen Matrixsätzen in Verb-<br />
Zweit-Sprachen und den Verb-Zweit-Interrogativsätzen in (romanischen) Nicht-Verb-<br />
Zweit-Sprachen, der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass der Auslöser der<br />
Verb-nach-COMP-Bewegung unterschiedlicher Natur ist. Demzufolge besteht kein Grund<br />
dafür anzunehmen, dass ein diachronischer Zusammenhang zwischen Verb-Zweit-Effekten<br />
in den Interrogativsätzen moderner romanischer Sprachen und den in den Matrixsätzen der<br />
frühromanischen Sprachen zu beobachtenden Verb-Zweit-Effekten besteht.<br />
Gefragt werden muss darüber hinaus, inwiefern es überhaupt empirisch gerechtfertigt<br />
ist, eine overte Verb-nach-COMP-Bewegung für die Interrogativsätze in den modernen romanischen<br />
Sprachen anzunehmen. Für viele Varietäten dieser Sprachen konnte gezeigt werden,<br />
dass in zahlreichen Interrogativsätzen die Subjekt-Verb-Inversion fakultativ ist oder<br />
mehrere Konstituenten vor dem finiten Verb auftreten können. Ähnliche Beobachtungen<br />
konnten auch bezüglich der in den Deklarativsätzen vieler moderner romanischer Sprachen<br />
zu beobachtenden Subjekt-Verb-Inversion gemacht werden. In den meisten Kontexten ist<br />
diese Inversion weder obligatorisch noch dadurch beschränkt, dass dem finiten Verb nur
166<br />
eine Konstituente vorangestellt werden kann. Die Stellung des finiten Verbs kann in diesen<br />
Sätzen folglich nicht aus einer Verb-nach-COMP-Bewegung resultieren, da auf Grund der<br />
universal gültigen Beschränkung der CP-Rekursion die Adjunktion einer Konstituente an<br />
die SpezCP-Position generell ausgeschlossen ist. Die in den modernen romanischen Sprachen<br />
zu beobachtenden Verb-Zweit-Effekte sind somit grundsätzlich anders zu beschreiben<br />
als die streng festgelegte Verb-Stellung der Verb-Zweit-Sprachen, da sowohl Auslöser als<br />
auch Landeplatz der Verb-Bewegung unterschiedlicher Natur sind. Die einzige Ausnahme<br />
bilden das Bündnerromanische und einige dolomitenladinische Dialekte, deren deklarative<br />
Matrixsätze durch eine strenge Verb-Zweit-Stellung gekennzeichnet sind.<br />
An diese Feststellungen knüpft die Frage an, inwiefern es gerechtfertigt ist, für die frühromanischen<br />
Sprachen die Existenz einer strengen Verb-Zweit-Stellungseigenschaft anzunehmen.<br />
Diese – in den meisten Analysen der Verbstellungsentwicklung im Französischen<br />
und in anderen romanischen Sprachen vertretene – Annahme basiert auf der Beobachtung,<br />
dass in den Texten frühromanischer Sprachen Verb-Zweit-Effekte, d.h. Sätze mit einer<br />
XVS-Stellung, (wesentlich) häufiger auftreten als in modernen Texten. Diese Beobachtung<br />
findet nur teilweise eine empirische Bestätigung in der hier durchgeführten vergleichenden<br />
Untersuchung von Übersetzungen des alttestamentlichen Buches Samuel, deren prozentuale<br />
Auswertungsergebnisse in der folgenden Tabelle nochmals zusammengestellt sind:<br />
Sprache Text V1 V2 V>2<br />
SV(X) XVS<br />
afr. qlr 11.6 64.9 12.6 10.9<br />
mfr. reg 1.9 62.6 26.8 8.7<br />
nfr. hon 1.9 70.0 3.4 24.7<br />
mar 0.0 80.0 0.8 19.2<br />
caq 0.2 83.8 1.5 14.5<br />
asp. bmr 59.1 28.6 8.9 3.4<br />
nsp. jer 23.3 58.8 8.9 9.0<br />
apg. bmp 42.7 42.2 11.9 3.2<br />
npg. sag 3.8 68.2 2.8 25.2<br />
asur. cue 0.0 73.0 22.8 4.2<br />
nsur. veg 0.0 57.0 40.4 2.6<br />
dt. ein 0.0 68.4 31.0 0.6<br />
is. hei 4.1 62.1 31.3 2.5<br />
Tabelle (13): Prozentualer Anteil der Verbstellungsmuster aller deklarativen Matrixsätze mit realisiertem<br />
Subjekt<br />
Für das Französische und Portugiesische belegen die Daten einen deutlichen Rückgang des<br />
Anteils an XVS-Sätzen, wobei allerdings im Mittelfranzösischen zunächst eine starke Zunahme<br />
dieser Sätze zu konstatieren ist. Im Spanischen bleibt der Anteil an XVS-Sätzen<br />
hingegen gleich, während im Bündnerromanischen ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen<br />
ist. Basierend auf der Annahme, dass der quantitative Anteil an XVS-Sätzen Aufschluss<br />
über die Verb-Zweit-Stellungseigenschaft einer Sprache gibt, müssten diese Ergebnisse<br />
dahingehend interpretiert werden, dass lediglich das Französische und Portugiesische die<br />
Verb-Zweit-Stellungseigenschaft verloren haben. Für das Spanische müsste angenommen<br />
werden, dass es keine Änderungen hinsichtlich der Verbstellung erfahren und somit schon
167<br />
in frühromanischer Zeit nicht (mehr) über die Verb-Zweit-Stellungseigenschaft verfügt hat.<br />
Die Daten des Bündnerromanischen hingegen scheinen auf eine Festigung dieser Eigenschaft<br />
hinzudeuten.<br />
In der vorliegenden Arbeit wurde versucht zu zeigen, dass diese Schlussfolgerungen<br />
nicht gerechtfertigt sind, da die (relative) Häufigkeit von Sätzen mit einer XVS-Struktur<br />
keinen Rückschluss auf die Existenz einer strengen Verb-Zweit-Stellungseigenschaft erlaubt.<br />
Entscheidend für eine adäquate Analyse ist vielmehr, ob eine Sprache Wortstellungsmuster<br />
aufweist, die mit einer Verb-Zweit-Grammatik vereinbar sind oder nicht. Aufschluss<br />
darüber liefert der Vergleich der romanischsprachigen Texte mit einer deutschen<br />
und isländischen Bibelübersetzung. Wie aus der Tabelle (13) hervorgeht, ist der Anteil an<br />
XVS-Sätzen in beiden germanischen Texten höher als in den frühromanischen Texten.<br />
Gleichzeitig sind Sätze mit einer Verb-Dritt-Stellung wesentlich seltener. Von entscheidender<br />
Bedeutung ist die Beobachtung, dass es sich hierbei ausschließlich um Sätze handelt, in<br />
denen ein einleitender Nebensatz disloziert ist und durch ein Adverbial wieder aufgenommen<br />
wird. Abgesehen von drei durch Versmaß bedingte Abweichungen trifft dies auch für<br />
die Verb-Dritt-Sätze zu, die in den bündnerromanischen Daten vorkommen. Gemäß der<br />
Analysen von Verb-Zweit-Sprachen stellt diese Art von Sätzen eine der wenigen Ausnahmen<br />
dar, in denen eine CP-Rekursion erfolgen kann. Die Verb-Dritt- (oder Verb-Viert)-<br />
Sätze der übrigen frühromanischen Sprachen lassen sich hingegen nicht als derartige Ausnahmen<br />
erfassen. V>2-Sätze treten in sehr unterschiedlichen Kontexten und meist in Verbindung<br />
mit einem präverbalen Subjekt auf. Solche Sätze sind nicht vereinbar mit einer<br />
Verb-Zweit-Grammatik. In diesen Fällen kann das finite Verb nicht in die COMP-Position<br />
bewegt werden, da das Hinzufügen einer zusätzlichen vor der in der SpezCP-Position auftretenden<br />
Konstituente eine Verletzung der CP-Rekursionsrestriktion zur Folge hätte. Mit<br />
Ausnahme des (Alt-)Bündnerromanischen sind demzufolge alle frühromanischen Sprachen<br />
– ebenso wie deren moderne Varietäten – trotz der teilweise sehr häufig ausgenutzten Möglichkeit<br />
der Bildung von Sätzen mit einer XVS-Stellung als Nicht-Verb-Zweit-Sprachen anzusehen.<br />
Die entscheidende Konsequenz dieser Analyse besteht darin, dass für die untersuchten<br />
romanischen Sprachen kein Parameterwechsel zur Erklärung des Verbstellungswandels<br />
postuliert werden muss. Vor dem Hintergrund der generellen Problematik der Annahme<br />
eines Parameterwechsels gewinnt die hier vorgeschlagene Analyse damit zusätzlich an<br />
Plausibilität. Es konnte deutlich gemacht werden, dass ein solcher Wandel nur unter ganz<br />
spezifischen Bedingungen stattfinden kann. Auf Grund der Annahme, dass ausschließlich<br />
die Existenz eindeutiger Trigger für die Fixierung eines Parameterwertes relevant ist, kann<br />
eine quantitative Reduzierung dieser Triggerevidenz in der Erwachsenensprache keinerlei<br />
Auswirkungen für die Festlegung des entsprechenden Parameterwertes haben. Solange eindeutige<br />
Triggerevidenz vorhanden ist, spielt deren Häufigkeit allenfalls insofern eine Rolle,<br />
als dadurch die Fixierung des Parameters beschleunigt bzw. verzögert werden könnte. Auch<br />
die Annahme struktureller Änderungen in der Erwachsenensprache selbst, die dazu führen,<br />
dass den Kindern neue eindeutige Triggerevidenz für die Fixierung auf einen anderen Parameterwert<br />
geliefert wird, stellt keine adäquate Erklärung für einen Parameterwechsel dar.<br />
Sie ist weder plausibel noch ist sie mit der Annahme vereinbar, dass einmal fixierte Parameter<br />
nicht mehr auf einen anderen Wert umgesetzt werden können. Die bislang lediglich<br />
für den Wortstellungswandel im Englischen vorgeschlagene Analyse, derzufolge durch den<br />
Kontakt – parametrisch unterschiedlich fixierter – Dialekte ein Parameterwechsel ausgelöst
168<br />
worden ist, scheint demgegenüber ein theoretisch adäquater Erklärungsansatz für einen<br />
Parameterwechsel zu sein. Dieser Ansatz erweist sich aber in empirischer Hinsicht als nicht<br />
geeignet, den Wandel der Verbstellung in den romanischen Sprachen als das Resultat eines<br />
Parameterwechsel zu erklären. Somit findet die hier vorgeschlagene Analyse der frühromanischen<br />
Sprachen als Nicht-Verb-Zweit-Sprachen eine zusätzliche empirische und theoretische<br />
Unterstützung.<br />
Auffallend ist, dass es in allen französischen Texten keinen einzigen Beleg für die Verb-<br />
Zweit-Stellung in Sätzen gibt, die durch einen Nebensatz eingeleitet sind. Damit bestätigt<br />
sich eine bereits von Diez (1882:1015) konstatierte Besonderheit der romanischen Sprachen,<br />
wonach der "Hauptsatz als Nachsatz hingestellt" in der Regel "nicht, wie im Deutschen<br />
('da es regnet, bleiben wir zu Hause'), durch die Wortstellung als solcher angezeigt"<br />
wird. Stattdessen erscheint in den – frühen und modernen – romanischen Sprachen das Subjekt<br />
in diesen Sätzen normalerweise vor dem finiten Verb. Wenngleich in den hier untersuchten<br />
Texten des Spanischen und Portugiesischen einige Ausnahmen von dieser Regel zu<br />
konstatieren sind, ist die entscheidende Beobachtung die, dass in allen romanischen Sprachen<br />
– mit Ausnahme des Bündnerromanischen – nach einem eingeleiteten Nebensatz das<br />
Subjekt in präverbaler Position erscheinen kann. Hier wird ein zentraler Unterschied zu den<br />
Verb-Zweit-Sprachen sichtbar, in denen solche Sätze ungrammatisch sind. Auf der<br />
Grundlage der hier untersuchten Daten kann somit konstatiert werden, dass das Auftreten<br />
solcher Sätze als ein Indiz für die Nicht-Verb-Zweit-Eigenschaft einer Sprache angesehen<br />
werden kann. Mit anderen Worten, solche Verb-Dritt-Sätze stellen einen eindeutigen<br />
Trigger für das Fixieren des Verb-Zweit-Parameters auf den Wert '-V2' dar.<br />
Aus diesen Beobachtungen und Überlegungen kann gefolgert werden, dass der Wandel<br />
hinsichtlich der Stellung des finiten Verbs im Laufe der Entwicklung des Französischen<br />
und der anderen romanischen Sprachen lediglich in einem Wandel des Gebrauchs der<br />
Grammatik besteht. Dieser Wandel vollzieht sich in der Erwachsenensprache unter Ausnützung<br />
der durch die Grammatik vorgegebenen Möglichkeiten. Eine dieser Möglichkeiten<br />
besteht in einem zunehmend verstärkten Gebrauch von Sätzen mit topikalisierten Elementen<br />
bei gleichzeitiger Verwendung präverbaler Subjekte. Dies hat eine Zunahme von Sätzen<br />
mit einer V>2-Stellung zur Folge. Allerdings führt diese Entwicklung weder im Französischen<br />
noch in den übrigen romanischen Nicht-Verb-Zweit-Sprachen zu einem vollkommenen<br />
Verlust von Sätzen mit Verb-Zweit-Stellung und invertiertem Subjekt. Entscheidend<br />
ist, dass diese Inversionskonstruktionen als Sätze mit einer IP-Struktur analysiert werden<br />
müssen, in der das Verb nach INFL bewegt wird und das Subjekt eine postverbale Position<br />
einnimmt. Mit anderen Worten, es handelt sich hierbei nur um scheinbare Verb-Zweit-Stellungseffekte,<br />
da sie nicht wie in den Sprachen mit einer strengen Verb-Zweit-Stellung<br />
durch eine Verb-nach-COMP-Bewegung, sondern durch eine IP-Adjunktion hervorgerufen<br />
werden. Der Wandel hierbei besteht lediglich darin, dass diese Effekte in den meisten modernen<br />
romanischen Sprachen wesentlich seltener sind, weil die IP-Adjunktion strengeren<br />
Beschränkungen unterliegt, als es in deren mittelalterlichen Varietäten der Fall gewesen ist.
7. Quellen- und Literaturverzeichnis<br />
7.1 Quellen<br />
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170<br />
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cun ils Cudischs Apocryphs. Meßa giu Ent igl Lunguaig Rumonsch da la Ligia Grischa<br />
tras Anchins Survients d'igl Plaid da Deus d'ils Venerands Colloquìs Sur- a Sut igl Guault.<br />
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8. Autorenregister<br />
Abeillé, A., 10<br />
Abraham, W., 11, 13, 25 (Fn.11)<br />
Adams, M., 1, 62, 89, 90-92, 94, 102-103<br />
Aitchison, J., 54<br />
Albrecht, J., 131<br />
Ambar, M.M., 35, 42-43, 50-51<br />
Andersen, H., 12, 12 (Fn.5)<br />
Anderson, S.R., 55<br />
Anttila, R., 12, 12 (Fn.5)<br />
Ashby, W.J., 38<br />
Atkinson, J., 49 (Fn.34)<br />
Authier, J.-M., 27 (Fn.14), 27, 33<br />
Baauw, S., 44 (Fn.30)<br />
Bach, E., 23 (Fn.9)<br />
de Bakker, C., 1, 54, 67, 69, 99, 120, 151<br />
Bartels, W., 59<br />
Bayer, J., 17, 32<br />
Bean, M.C., 115<br />
Bechert, J., 12, 12 (Fn.5)<br />
Behnstedt, P., 38<br />
Benincà, P., 6-7, 57, 62, 76, 89-90, 102, 105,<br />
107<br />
Berger, K., 132 (Fn.3)<br />
Berger, S., 135 (Fn.5)<br />
Berwick, R., 114<br />
den Besten, H., 16-19, 23-24<br />
Bhatt, R.M., 2 (Fn.1)<br />
Biener, C., 84 (Fn.20)<br />
Blasberg, H., 59, 75<br />
Bley-Vroman, R., 122<br />
Blinkenberg, A., 38, 66 (Fn.43), 80<br />
Borsley, Robert D., 2 (Fn.1)<br />
Bossong, G., 105<br />
Brandner, E., 114<br />
Brito, A.M., 38 (Fn.23)<br />
Brucart, J., 38 (Fn.23)<br />
Bruneau, C., 88<br />
Brunot, F., 88<br />
Buchmüller, A., 40 (Fn.26), 49 (Fn.34)<br />
Burzio, L., 99<br />
Bußmann, H., 25 (Fn.12)<br />
Calabrese, A., 45 (Fn.31)<br />
Campbell, L., 14, 55<br />
Cardinaletti, A., 23 (Fn.8), 24, 41, 45, 103<br />
Carigiet, W., 2<br />
Carroll, S., 111, 118<br />
Chavy, P., 132<br />
Chomsky, N., 9, 10, 10 (Fn.3), 11, 20 (Fn.5),<br />
22, 22 (Fn.6), 29, 40, 41 (Fn.28), 53, 91,<br />
99, 111<br />
Clahsen, H., 122-123<br />
Clifford, P.M., 62, 74, 74 (Fn.11)<br />
Contreras, H., 99<br />
Coseriu, E., 53<br />
Costa, J., 51, 151<br />
Côté, M.-H., 90, 103-104, 144<br />
Coveney, A., 38<br />
Crabb, D.M., 57, 59, 105, 131<br />
Culicover, P.W., 34<br />
Curtius, E.R., 129, 134 (Fn.4), 135-136, 135<br />
(Fn.5), 136 (Fn.7)<br />
Dardel, R. de, 136 (Fn.7)<br />
David, R., 105<br />
Davis, J.C., 46<br />
Dees, A., 104<br />
deHaan, G., 26<br />
Dekkers, J., 39, 49 (Fn.34)<br />
Diesing, M., 30, 102<br />
Diez, F., 55, 55 (Fn.2), 56, 60, 63, 69, 88, 105<br />
(Fn.34), 168<br />
Dill, W., 59, 73<br />
Donati, C., 31<br />
Drijkoningen, F., 39<br />
Duarte, M.E.L., 45<br />
Duarte, M.I.S., 38 (Fn.23), 51<br />
Dürscheid, C., 29 (Fn.17)<br />
Dupuis, F., 71, 95, 102-103<br />
Ebering, E., 59<br />
Eder, H., 58 (Fn.3)<br />
Eguzkitza, A., 23 (Fn.8), 47<br />
England, J., 6, 105<br />
Evans, M., 2<br />
Fanselow, G., 8<br />
Faria, I.H., 38 (Fn.23)<br />
Felix, S.W., 8<br />
Ferraresi, G., 114<br />
Fleischmann, S., 152
192<br />
Fodor, J.D., 29 (Fn.17), 111-113, 117, 152-<br />
153, 159, 163<br />
Fontana, J.M., 105, 106 (Fn.35), 138, 160<br />
Foulet, L., 7, 39 (Fn.24), 60, 62-63, 65 (Fn.7),<br />
67, 88, 94, 96<br />
Fournier, N., 49, 49 (Fn.34), 50, 52<br />
Frank, N., 25<br />
Friedemann, M.-A., 36 (Fn.20), 37, 39-41, 40<br />
(Fn.27), 41 (Fn.29), 42, 151<br />
Fries, N., 24 (Fn.10)<br />
Gabelentz, G. v.d., 81 (Fn.17)<br />
Gärtner, H.-M., 22 (Fn.6), 23 (Fn.8), 23<br />
Fn.9), 24<br />
Gamillscheg, E., 53<br />
Georgopoulos, C., 36 (Fn.21)<br />
Gerritsen, M., 116<br />
Gibson, E., 111, 111 (Fn.1), 112, 117<br />
Giorgi, A., 46, 151<br />
Glück, H., 1<br />
Goldbach, M. 152<br />
Goldsmith, J., 7<br />
Goodall, G., 44<br />
Gossen, C.T., 127<br />
Goyens, M. 131<br />
Greenberg, J.H. 53<br />
Grewendorf, G. 20 (Fn.5), 32<br />
Grosse, K., 59<br />
Guasti, M.T., 44-45<br />
Guimier, C., 48, 49 (Fn.34), 49 (Fn.35), 50<br />
Günthner, S., 25 (Fn.11)<br />
Haarhoff, A., 5, 59, 76, 80, 86-87, 129, 136<br />
(Fn.6)<br />
Haase, A., 59<br />
Haeberli, E., 31, 118 (Fn.3), 124<br />
Haegeman, L., 17, 22, 32<br />
Haider, H., 3, 3 (Fn.1), 17 (Fn.1), 24, 25<br />
(Fn.12), 26 (Fn.12), 27, 31, 110<br />
Haïk, I., 37 (Fn.21)<br />
Harris, A.C., 14, 55<br />
Harris, M., 53<br />
Haspelmath, M., 13<br />
Herman, J., 59, 62 (Fn.5), 76-77, 84, 129,<br />
136-137, 136 (Fn.6), 139<br />
Hernanz, M.L., 38 (Fn.23)<br />
Herzog, M.I., 12<br />
Hilgers, H., 59<br />
Hirschbühler, P., 71, 102, 105<br />
Hobæk Haff, M., 49 (Fn.34)<br />
Hock, H.H., 9, 55<br />
Hoecke, W. van, 131<br />
Hoekstra, J., 17<br />
Holmberg, A., 95-96<br />
Höpfner, E., 59, 71<br />
Huang, C.T.J., 24, 24 (Fn.10)<br />
Huguet, E., 59<br />
Hulk, A., 38-39, 95<br />
Iatridou, S., 10, 26-30, 28 (Fn.15), 32 (Fn.18)<br />
Jaeggli, O., 97, 97 (Fn.30)<br />
Janßen, H., 15<br />
Johnson, D.E., 11 (Fn.4)<br />
Jonare, B., 49 (Fn.34)<br />
Junker, M., 102<br />
Kaiser, E., 66 (Fn.9)<br />
Kaiser, G.A., 2, 23 (Fn.8), 38, 40, 42 (Fn.29),<br />
79, 127<br />
Kathol, A., 2 (Fn.1), 31<br />
Kato, M.A., 38 (Fn.23), 45, 116 (Fn.2)<br />
Kayne, R.S., 31, 35, 35 (Fn.19), 39-40, 39<br />
(Fn.25), 40 (Fn.27), 41, 53<br />
Kellenberger, H., 59, 80 (Fn.16)<br />
Kemenade, A. van, 14, 32, 95, 115<br />
Kiparsky, P., 32, 123<br />
Klemperer, V.v., 80 (Fn.15)<br />
Koch, W., 60, 85<br />
Köppe, R., 127<br />
Kok, A. de, 69, 130, 136 (Fn.6)<br />
Koopman, H., 3 (Fn.1), 17 (Fn.1), 22, 92<br />
Koopmann, W., 60-62, 64-72, 65 (Fn.7), 66<br />
(Fn.8), 66 (Fn.9), 74<br />
Koster, J., 23 (Fn.9)<br />
Kroch, A., 26-30, 28 (Fn.15), 31, 32 (Fn.18),<br />
93, 124-127, 125 (Fn.6)<br />
Krüger, P., 59-60, 65-67, 65 (Fn.7)<br />
Kuen, H., 107<br />
Kuttner, M., 80, 80 (Fn.15), 81 (Fn.17), 88<br />
Labov, W., 12<br />
Laenzlinger, C., 17 (Fn.1), 21, 29, 41, 41<br />
(Fn.28), 49 (Fn.34)<br />
Laka, I., 28 (Fn.15)<br />
Lalande, J., 20 (Fn.5)<br />
Langacker, R.W., 12<br />
Lappin, S., 11 (Fn.4)<br />
Lasnik, H., 20 (Fn.5)<br />
Law, P., 21
Le Bidois, R., 49 (Fn.34), 59-60, 64-65, 64<br />
(Fn.6), 66 (Fn.8), 68, 72-74, 74 (Fn.10),<br />
74 (Fn.11)<br />
Le Coultre, J., 59, 88<br />
Lehmann, W.P., 53<br />
Lemieux, M., 71, 95<br />
Lenerz, J., 8, 14, 23 (Fn.8)<br />
Lerch, E., 80-88, 81 (Fn.17), 81 (Fn.18), 82<br />
(Fn.19), 86 (Fn.23), 87 (Fn. 25)<br />
Levin, B., 34<br />
Levine, R.D., 11 (Fn.4)<br />
Lewinsky, B., 59, 73<br />
Lightfoot, D., 9, 13-14, 53-54, 108, 112, 114-<br />
116, 116 (Fn.2), 118 (Fn.3), 123-124, 126,<br />
125 (Fn.6), 151<br />
Ling, A., 85-86, 86 (Fn.22)<br />
Longobardi, G., 151<br />
Mallén, E., 43-44<br />
Marácz, L., 17<br />
Marchello-Nizia, C., 54 (Fn.1), 152<br />
Martinez Moreno, A., 55<br />
Marx, G., 59<br />
Mateus, M.H.M., 38 (Fn.23)<br />
May, R., 35<br />
McMahon, A.P.S., 54<br />
Meisel, J.M., 10, 110-111, 117, 121-122, 122<br />
(Fn.5), 126<br />
Melander, J., 83<br />
Meyer-Hermann, R., 105, 127, 131<br />
Meyer-Lübke, W., 56-57, 75, 80, 82 (Fn.19),<br />
83-84, 88, 105 (Fn.34), 106<br />
Mills, A.E., 122<br />
Moignet, G., 67, 94<br />
Morf, H., 58-60, 65, 65 (Fn.7), 67<br />
Muller, C., 40<br />
Müller, G., 10, 22 (Fn.7), 110<br />
Müller, N., 21, 121<br />
Musolino, J., 41, 41 (Fn.28)<br />
Mussafia, A., 83<br />
Muysken, P., 121-122<br />
Neumann-Holzschuh, I., 105<br />
Nissen, H., 59, 86, 105 (Fn.34)<br />
Niyogi, P., 114<br />
Noonan, M., 36 (Fn.21), 39, 39 (Fn.24)<br />
Núñez Cedeño, R.A., 46<br />
Ordoñez, F., 44, 45 (Fn.31)<br />
Orlopp, W., 59<br />
Ortiz de Urbina, J., 47, 47 (Fn.32)<br />
193<br />
Pádua, M. da Piedade Canaes e Mariz, 105<br />
Pape, R., 105<br />
Paris, G., 39 (Fn.24)<br />
Paul, H., 12, 81 (Fn.17)<br />
Penner, Z., 21, 121, 122<br />
Philippsthal, R., 60<br />
Pianesi, F., 46<br />
Pienemann, M., 122<br />
Piera, C., 50, 51<br />
Pietrkowski, A., 59<br />
Pintzuk, S., 26-27, 31, 118 (Fn.3)<br />
Platzack, C., 17 (Fn.1), 21, 24 (Fn.10), 94-96,<br />
94 (Fn.27), 117, 123<br />
Poletto, C., 2, 38 (Fn.23), 46<br />
Pollock, J., 10<br />
Posner, R., 15, 54 (Fn.1)<br />
Preuß, H.D., 132 (Fn.3)<br />
Price, G., 62<br />
Quirk, R.J., 46<br />
Rabe, H., 59-60, 61, 65-66, 65 (Fn.7), 68-72<br />
Rappaport Hovav, M., 34<br />
Reinholtz, C., 31<br />
Reis, M., 20 (Fn.5), 25<br />
Renchon, H., 38<br />
Renzi, L., 57, 76, 89<br />
Ribeiro, I., 106-107, 160<br />
Richter, E., 56-57, 75, 80-83, 80 (Fn.15), 105<br />
(Fn.34)<br />
Rickard, P., 131<br />
Rizzi, L., 7, 10, 19-20, 34-38, 36 (Fn.20), 36<br />
(Fn.21), 37 (Fn.22), 40-41, 41 (Fn.28), 43,<br />
46, 47, 49, 151<br />
Roberts, I., 9, 13-14, 20, 22, 24, 24 (Fn.10),<br />
40-41, 49, 62-63, 62 (Fn.5), 77-79, 89-92,<br />
95-98, 96 (Fn.28), 96 (Fn.29), 97 (Fn.30),<br />
103, 107, 114, 116, 118, 119-121, 133-<br />
134, 138, 151<br />
Rochemont, M.S., 34<br />
Rogger, K. 73, 86, 87 (Fn.24)<br />
Rögnvaldsson, E., 30-31<br />
Rohlfs, G., 1, 7<br />
Rohrbacher, B., 110<br />
Rossi, M., 38 (Fn.23), 45<br />
Safir, K., 97, 97 (Fn.30), 99 (Fn.31)
194<br />
Salvi, G., 2, 57, 105<br />
Santorini, B., 30<br />
Scaglione, A., 55<br />
Schad, G., 59<br />
Schafer, R., 2 (Fn.1)<br />
Schellert, D., 105<br />
Schlickum, J., 59<br />
Schönfelder, W., 59<br />
Schulze, A., 58<br />
Schwartz, B.D., 22, 23 (Fn.8), 23 (Fn.9), 28-<br />
29<br />
Shlonsky, U., 41 (Fn.28)<br />
Siepmann, E., 59-60, 72-73, 80 (Fn.14)<br />
Sigurðsson, H.Á., 137, 141<br />
Silva, M.C.F., 45<br />
Skårup, P., 94, 104<br />
Solà, J., 20 (Fn.4)<br />
Spitzer, L., 65<br />
Sportiche, D., 39, 92<br />
Stein, P., 61 (Fn.4), 131<br />
Steinbach, M., 22 (Fn.6), 23 (Fn.8), 23 (Fn.9),<br />
24<br />
Stempel, W., 129, 129 (Fn.1), 137, 155<br />
Sternefeld, W., 10, 22 (Fn.7)<br />
Stockwell, R.P., 31, 118 (Fn.3)<br />
Stowell, T.A., 27<br />
Suñer, M., 43-45<br />
Swan, T., 31<br />
Tappe, H.T., 31, 118 (Fn.3)<br />
Terker, A., 51<br />
Thiersch, C.L., 16-17, 23 (Fn.9), 89<br />
Thráinsson, H., 30-31<br />
Thurneysen, R., 5, 59, 62, 62 (Fn.5), 75-76,<br />
75 (Fn.12), 75-76 (Fn.13), 79, 83-84, 84<br />
(Fn.20), 88, 105 (Fn.34), 130 (Fn.2)<br />
Tobler, A., 60, 64, 65 (Fn.7), 83<br />
Tomaselli, A., 16, 19-20, 19 (Fn.2), 20 (Fn.3),<br />
23 (Fn.8), 23 (Fn.9), 31, 107<br />
Torrego, E., 35, 42-43<br />
Travis, L. deMena, 22-23, 23 (Fn.8)<br />
Treviño, E., 44<br />
Uhmann, S., 25 (Fn.11)<br />
Ultan, R., 48, 48 (Fn.33)<br />
Valian, V., 121<br />
Vance, B., 67, 69, 71, 93-95, 99-101, 99<br />
(Fn.32), 100 (Fn.33), 119-120, 121 (Fn.4),<br />
138, 151<br />
Vanelli, L., 57, 62, 76, 89<br />
Vennemann, T., 53<br />
Vikner, S., 16, 17 (Fn.1), 20 (Fn.3), 22, 23<br />
(Fn.8), 23 (Fn.9), 25, 25 (Fn.12), 26, 26<br />
(Fn.13), 27-34, 27 (Fn.14), 28 (Fn.16),<br />
100 (Fn.33)<br />
Vincent, N., 14<br />
Völcker, B., 59-62, 64-65, 63 (Fn.6), 65<br />
(Fn.7), 67, 69-71, 82 (Fn.19)<br />
Voßler, K., 79, 80 (Fn.14)<br />
Wackernagel, J., 55, 75, 83-84<br />
Wartburg, W. von, 62, 73-74, 74 (Fn.10), 75-<br />
76 (Fn.13), 85 (Fn.21)<br />
Weerman, F., 24, 26, 31, 33, 115, 117, 118,<br />
122, 125-127, 125 (Fn.6)<br />
Weinreich, U., 12<br />
Werner, H., 14 (Fn.6), 15 (Fn.6)<br />
Wespy, L., 59-61, 65-66, 68, 71-72<br />
Wexler, K. 111, 111 (Fn.1), 112, 117<br />
White, L., 122 (Fn.5)<br />
Widmer, A., 163 (Fn.11)<br />
Wilder, C., 22 (Fn.6)<br />
Wind, J.M. de, 39, 151<br />
Wright, R., 54 (Fn.1)<br />
Wundt, W., 80, 88<br />
Zimmermann, V., 58 (Fn.3), 59<br />
Zubizarreta, M.L., 42-43, 44 (Fn.30), 51<br />
Zwart, C.J., 17 (Fn.1), 18, 21-24, 21 (Fn.6),<br />
22 (Fn.7), 23 (Fn.8), 23 (Fn.9), 24 (Fn.10),<br />
26, 31