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Vincent van Gogh

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◊ GEHEIMAKTE ◊<br />

VINCENT<br />

VAN GOGH<br />

VON RALPH ERDENBERGER<br />

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◊ GEHEIMAKTE ◊<br />

VINCENT<br />

VAN GOGH<br />

VON RALPH ERDENBERGER<br />

Prestel<br />

MÜNCHEN ∙ BERLIN ∙ LONDON ∙ NEW YORK<br />

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Lieber Theo,<br />

München, den 25. August 2010<br />

hier kommt Hilfe! Dein Lehrer hat Recht. Es gab diesen Maler wirklich.<br />

Sein Name: <strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong>. Er lebte von 1853 bis 1890, war arm,<br />

verzweifelt und hat sich tatsächlich ums Leben gebracht. Heute gilt<br />

er als einer der bedeutendsten Künstler der Welt und für seine Werke<br />

werden Millionenbeträge bezahlt. Wer <strong>Vincent</strong> wirklich war und was<br />

er genau geschaffen hat, erfährst du in dieser Akte. Sie enthält neben<br />

einem Steckbrief und Augenzeugenberichten die Protokolle meiner<br />

eigenen Spurensuche, darunter:<br />

- die wichtigsten Orte in <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong>s Leben<br />

- berühmte Kunstwerke unter der Lupe<br />

- Landkarten der Aufbewahrungsorte berühmter Gemälde<br />

Folgende Fragen haben mich bei meiner Fahndung geleitet:<br />

- Wie glücklich war die Kindheit des Künstlers?<br />

- An welcher Krankheit hat er gelitten?<br />

- Hat er sich sein Ohr abgeschnitten?<br />

- Wo und wie ist <strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong> gestorben?<br />

- Warum gibt es zwei Gräber, die seinen Namen tragen?<br />

- Gibt es lebende Nachfahren des Künstlers?<br />

Vielleicht kannst du die offenen Rätsel des „<strong>Vincent</strong>-Code“ lösen und<br />

die Lösungsbuchstaben zu einem Codewort zusammensetzen. Damit kannst<br />

du dann im Internet exklusive Geheiminformationen abrufen.<br />

Viel Erfolg bei deinem Referat!!!<br />

XY<br />

Kunst-Detektiv<br />

Kunst-Detektei XY<br />

Prinzregentenstr. 102 • 81677 München<br />

P.S.: Mit „Lieber Theo“ fangen übrigens auch die über 600 Briefe an,<br />

die <strong>Vincent</strong> seinem Bruder geschrieben hat.<br />

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Totenschädel mit brennender Zigarette, 1885/86<br />

Der Fall<br />

<strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong><br />

KUNSTAKTENZEICHEN<br />

VVG / 2010<br />

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Inhalt<br />

27. Juli<br />

28. Juli<br />

29. Juli<br />

30. Juli<br />

31. Juli<br />

01. August<br />

02. August<br />

03. August<br />

04. August<br />

05. August<br />

06. August<br />

Wo und wie ist <strong>Vincent</strong> gestorben?<br />

Tod in Auvers-sur-Oise<br />

Untersuchung des Tatorts<br />

Besichtigung Auberge Ravoux<br />

S. 10-25<br />

Wie ist <strong>Vincent</strong> aufgewachsen?<br />

Das Nest von Zundert<br />

Besichtigung Van-<strong>Gogh</strong>-Haus<br />

S. 26-37<br />

Wo hat <strong>Vincent</strong><br />

die “Kartoffelesser” gemalt?<br />

Das Meisterwerk von Nuenen<br />

Interview mit Martien de Groot<br />

S. 38-47<br />

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07. August<br />

08. August<br />

09. 09. August<br />

10. August<br />

11. August August<br />

12. August<br />

13. 13. August<br />

14. August<br />

15. August<br />

16. August<br />

Was hat <strong>Vincent</strong> in Paris gelernt?<br />

Fremd in Paris<br />

Recherchen in der Künstlermetropole<br />

S. 48-55<br />

Was hatte es mit <strong>Vincent</strong>s Ohr auf sich?<br />

Aufbruch in den Süden<br />

S. 56-77<br />

Wie hat <strong>Vincent</strong> in der<br />

Nervenheilanstalt gelebt?<br />

Gefangen in Saint-Rémy<br />

Besichtigung Saint-Paul-de-Mausole<br />

S. 78-91<br />

Was passierte in den letzten<br />

Tagen vor seinem Tod?<br />

Die Krähe von Auvers-sur-Oise<br />

Besichtigung Haus Dr. Gachet<br />

S. 92-101<br />

Codewort S. 103 / Lösungen S. 104 / Auf den Spuren von <strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong> S. 105-109<br />

Die Van-<strong>Gogh</strong>-Kartei S. 110-111<br />

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Selbstporträt, 1885<br />

HAARFARBE: rot<br />

AUGENFARBE: grün-blau<br />

NATIONALITÄT: Niederländer<br />

STERNZEICHEN: Widder<br />

VATER: Pfarrer<br />

MUTTER: Hausfrau<br />

GESCHWISTER: 5<br />

Steckbrief:<br />

<strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong><br />

BERUF: Kunsthändler, Prediger, Maler<br />

CHARAKTER: naturverbunden, nachdenklich, impulsiv,<br />

melancholisch, sensibel, arbeitssüchtig<br />

HOBBYS: KEINE<br />

TEUERSTES WERK: Bildnis des Dr. Gachet (82,5 Mio. Dollar)<br />

WICHTIGE STATIONEN: Nuenen, Paris, Arles, Saint-Rémy,<br />

Auvers-sur-Oise<br />

KENNZEICHEN: Verletzung am linken Ohr<br />

UNTERSCHRIFT:<br />

8<br />

30. März 1853<br />

in Zundert (Niederlande)<br />

29. Juli 1890<br />

in Auvers-sur-Oise (Frankreich)<br />

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Im Spiegel<br />

von Augenzeugen<br />

„Mehr breit von Gestalt als lang, den Rücken<br />

leicht gekrümmt durch die Angewohnheit, den Kopf<br />

gebeugt zu halten. Das rotblonde Haar – kurz geschnitten<br />

– unter dem Strohhut, der ein abweisendes<br />

Gesicht beschattete. Gar kein Jungengesicht. Die<br />

Stirn schon leicht gerunzelt, die Augenbrauen<br />

unter der hochgewölbten Stirn in tiefer Nachdenklichkeit<br />

zusammengezogen über einem Augenpaar,<br />

klein und tiefliegend. Mal blau, dann wieder von<br />

grüner Farbe, je nach dem Eindruck, den irgendetwas<br />

in seiner Umgebung in ihm hervorrief und<br />

ihn beschäftigte…“<br />

Elizabeth, Schwester von <strong>Vincent</strong><br />

<strong>Vincent</strong> im Alter von etwa 24 Jahren<br />

<strong>Vincent</strong> im Alter<br />

von etwa 13 Jahren<br />

„Da stand er vor uns, dieser kleine,<br />

kantige Mann, der von den Bauern ‚der<br />

kleine Malerkollege‘ genannt wurde.<br />

Sein sonnengebranntes, wettergegerbtes<br />

Gesicht wurde von einem roten und<br />

struppigen Bart eingerahmt. Seine Augen<br />

waren leicht entzündet, wahrscheinlich<br />

von seinem Malen in der Sonne. Während<br />

er über seine Arbeit redete, hielt er<br />

seine Arme meist vor seiner Brust verschränkt.“<br />

Sohn eines Druckers in Nuenen<br />

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9


TOD IN<br />

AUVERS-SUR-OISE<br />

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Eine erste Spur<br />

“Am Sonntag, den 27. Juli, hat sich ein gewisser Van <strong>Gogh</strong> – 37 Jahre alt, niederländischer<br />

Maler auf Durchreise in Auvers – in den Feldern mit einem Revolver angeschossen.<br />

Verwundet ist er auf sein Zimmer zurückgekehrt, wo er am übernächsten Tag verstarb.”<br />

So steht es im ersten Zeitungsartikel, der über den Tod von <strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong><br />

berichtet hat. Er ist elf Tage nach der Tat im Lokalblatt „L’Écho Pontoisien“<br />

erschienen. Ich habe die kleine Notiz im örtlichen Archiv aufgespürt, kopiert<br />

und in meine Brusttasche gesteckt. Ich bin auf Spurensuche – auf den Tag<br />

genau 120 Jahre nachdem sich <strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong> mit einer Pistole tödlich<br />

verwundet haben soll.<br />

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AUVERS-SUR-OISE, 27. JULI 2010<br />

In dieser kleinen französischen Stadt soll<br />

es passiert sein: 30 Kilometer nordwestlich<br />

von Paris. Ein altes Schloss, ein<br />

funkelnder Fluss, kleine Steinhäuser an<br />

den Hängen, blühende Gärten – ein<br />

malerisches Paradies! Hier hat <strong>Vincent</strong><br />

die letzten 70 Tage seines Lebens verbracht<br />

und über 80 Bilder geschaffen.<br />

Die meisten von ihnen: sonnig, leicht<br />

und farbenfroh. Auch der Tag seiner<br />

düsteren Tat war heiter. So steht es in<br />

alten Wetterberichten.<br />

<strong>Vincent</strong>-Statue<br />

Er hat es in den letzten drei Wochen seines<br />

Lebens gemalt. Hier an diesem Ort? Möglich,<br />

auch wenn hinter der Tafel in diesem Jahr<br />

nicht Weizen, sondern Mais angebaut wird.<br />

Ist das Bild eine gemalte Todesahnung?<br />

Einige Kunstkenner sind der Meinung. Hat<br />

dieses Kornfeld etwas mit den Ereignissen<br />

vom 27. Juli 1890 zu tun?<br />

Ich kneife die Augen zusammen und nehme<br />

das Bild genauer unter die Lupe. Meine<br />

Fantasie versucht, den Tathergang zu<br />

rekonstruieren…<br />

Was hat den Meister der lebendigen<br />

Farben so verzweifeln lassen, dass er an<br />

einem Sommertag im Jahr 1890 keine<br />

Hoffnung mehr für sich sah?<br />

Vielleicht kann der Tatort noch Antwort<br />

geben. In der Zeitungsnotiz ist von<br />

„Feldern“ die Rede. Ein Einheimischer<br />

schickt mich einen bewaldeten Hang<br />

hinauf. Der steile Anstieg raubt mir<br />

schnell den Atem.<br />

Hat auch <strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong> damals diesen Weg genommen?<br />

Etwa mit seiner Staffelei? Wenn er malen<br />

ging, dann schnallte er sich sein Malgerät immer auf<br />

den Rücken. Die <strong>Vincent</strong>-Statue unten im Park hat es<br />

mir verraten. Mindestens 14 Kilo soll sein kreatives<br />

Gepäck gewogen haben. <strong>Vincent</strong> muss gut in Form<br />

gewesen sein.<br />

Dann endlich: die Ebene – Kornfelder bis zum Horizont.<br />

Die Sonne brennt hier oben heißer, der Schweiß rinnt<br />

schneller, Grillen zirpen ihr monotones Liebeslied.<br />

Durchbrochen wird es nur vom Krächzen einer Krähen-<br />

Bande, die irgendwo im Feld Körner raubt. Am<br />

Wegesrand plötzlich: eine Tafel. Darauf eines der<br />

letzten Gemälde von <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong>: „Kornfeld mit Krähen“.<br />

Kornfeld mit Van-<strong>Gogh</strong>-Tafel<br />

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13


Ein Schuss im Kornfeld<br />

EIN FELD AUS GOLD<br />

UNTER BLAUEM HIMMEL<br />

Weich wiegt der Wind den Weizen. In<br />

langen Wellen bewegt er dieses weite<br />

Meer aus Getreide. Sanft, fast zärtlich.<br />

Die trockenen Halme rauschen, flüstern<br />

das Wiegenlied des Sommers. Ihre<br />

üppigen Ähren sind reif. Würzig, strohig,<br />

beinah süßlich duften sie in der Hitze<br />

dieses Sommertages... Bald nun wird die<br />

Sense kommen und reiche Ernte holen.<br />

Da fällt der Schuss. Zerfetzt den stillen<br />

Tag. Krähen schießen aus dem Feld,<br />

flattern in den metallischen Himmel<br />

und verdunkeln die Sonne. Das heisere<br />

Geschrei des schwarzen Schwarms gellt<br />

über die endlose Ebene.<br />

Zurück im Feld bleibt ein einsamer<br />

Mann. Flammende Haare, roter Bart.<br />

Durch sein grobes Hemd sickert Blut.<br />

Er liegt auf dem Rücken, die Arme vor<br />

dem Bauch verschränkt, als wolle er<br />

sich selbst umarmen. Wind kommt auf,<br />

schüttelt das schutzlose Korn. Schmerzverzerrt<br />

blickt der Schwerverwundete<br />

14<br />

Kornfeld mit Krähen, 1890<br />

in einen turbulenten Himmel. Dunkle<br />

Wolken türmen sich. Oder ist es die<br />

anrollende Ohnmacht?<br />

Gegen Abend kehrt eine Krähe zurück.<br />

Sie landet am linken Ohr des Mannes.<br />

Es ist verstümmelt, vernarbt – eine alte<br />

Wunde! Diesmal hat es den Brustkorb<br />

erwischt. Es sieht aus, als nähere sich<br />

der aasfressende Vogel seiner Beute.<br />

Doch das blauschwarze Gefieder streift<br />

nur die Wange, streichelt sie.<br />

Da erwacht der Mann. Seine grünblauen<br />

Augen blicken in die Pupillen<br />

der Krähe wie in rabenschwarze Nacht.<br />

Wo ist er? Dann spürt sein Körper, wie<br />

kühle Abendluft in seine brennenden<br />

Lungen strömt. Er fühlt, dass er lebt.<br />

Immer noch! Er stöhnt. Dann bewegt<br />

er sich. Und die Krähe? Flieht. Unter<br />

Qualen richtet sich der kräftige Maler<br />

auf und setzt fast mechanisch einen Fuß<br />

vor den anderen. Langsam macht sich<br />

<strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong> auf den Weg hinaus<br />

aus diesem tödlichen Kornfeld. Er geht<br />

nach Hause, um zu sterben.<br />

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Kann das Bild helfen, die Geschehnisse vom 27. Juli 1890 zu verstehen?<br />

Hat <strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong> sogar verschlüsselte Botschaften hineingemalt?<br />

DER HIMMEL<br />

Die Gewitterwolken wirken bedrohlich.<br />

Gleich werden sich Wind und Regen über<br />

das schutzlose Korn hermachen. Ein Bild<br />

vom Untergang? Stürmisches Wetter hat<br />

<strong>van</strong> <strong>Gogh</strong> schon immer fasziniert. Er hatte<br />

großen Respekt vor den Kräften der Natur.<br />

Darin sah er aber auch Möglichkeiten. So<br />

schreibt er im Mai 1888 an seinen Bruder<br />

Theo: „Ein Pilot kann einen Sturm erfolgreich<br />

benutzen, um vorwärts zu kommen –<br />

anstatt von ihm zerschmettert zu werden.“<br />

DIE KRÄHEN<br />

Ein ganzer Schwarm von Krähen fliegt<br />

über das Feld. Überfallen sie den Maler,<br />

begleiten sie ihn oder fliegen sie weg?<br />

Als Aasfresser gelten sie als Vorboten<br />

von Unheil und Tod. Mit schwarzen<br />

Strichen hat <strong>Vincent</strong> die unheimlich<br />

kreischenden Vögel angedeutet. An<br />

einigen Stellen lösen sich ihre Konturen<br />

im düsteren Himmel auf.<br />

DER WEG<br />

Der grün-braune Weg beginnt an einer<br />

Weggabel. Der mittlere Pfad verliert sich<br />

im Nichts. Er könnte ein Symbol sein für<br />

den Lebensweg. Auch dessen Anfang<br />

und Ende kennen wir nicht. Führt der<br />

Weg uns in eine Sackgasse oder zu neuen<br />

Horizonten?<br />

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15


Der wahre Tatort?<br />

AUVERS-SUR-OISE, 27. JULI 2010<br />

Ich verlasse die sengende Hitze der<br />

Felder und suche Abkühlung im Tourismusbüro<br />

im Herzen der Stadt. Dort überschwemmt<br />

mich eine bunte Welle von<br />

Van-<strong>Gogh</strong>-Souvenirs: Postkarten, Poster,<br />

T-Shirts, Tassen und sogar Radiergummis.<br />

Ein Gemälde, das etwas abseits hängt,<br />

stammt allerdings nicht von <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong>.<br />

Sein Titel macht mich stutzig: „Der Ort,<br />

an dem sich <strong>Vincent</strong> umgebracht hat.“<br />

Seltsam! Das Bild zeigt nicht das Kornfeld,<br />

sondern einen anderen Ort, einen<br />

abschüssigen Weg zwischen Lehmhäusern<br />

und einer Mauer. Gemalt hat<br />

es ein gewisser Louis <strong>van</strong> Ryssel im Jahr<br />

1904, 14 Jahre nach der Tat. Wer war<br />

dieser Maler?<br />

„Louis <strong>van</strong> Ryssel war der Sohn des<br />

Arztes, der <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong> zuletzt behandelt<br />

hat“, klärt mich die Frau vom<br />

Tourismusbüro auf. „Eigentlich hieß er<br />

Paul Gachet. Sein Vater war dabei, als<br />

<strong>van</strong> <strong>Gogh</strong> an seiner Schussverletzung<br />

gestorben ist.“ Später, als dieser Dr.<br />

Gachet selbst auf dem Sterbebett lag,<br />

habe er seinem Sohn seine Erinnerungen<br />

diktiert.<br />

Tatsächlich! In der kleinen Bibliothek im<br />

hinteren Teil des Tourismusbüros ist es<br />

nachzulesen:<br />

Louis <strong>van</strong> Ryssel, Der Ort, an dem sich <strong>Vincent</strong><br />

umgebracht hat, 1904<br />

16<br />

Der mutmaßliche<br />

Tatort heute<br />

Tourismusbüro von Auvers<br />

„Zwischen sieben und halb acht Uhr<br />

abends hat <strong>Vincent</strong> sich auf der Ebene<br />

hinter dem Schlosspark mit einem Revolver<br />

in der Nähe des Herzens angeschossen.<br />

Er ist in die ungefähr 800 Meter<br />

entfernte Herberge zur Familie Ravoux<br />

zurückgekehrt.“<br />

Auch Wirtstocher Adeline Ravoux gab<br />

zu Protokoll:<br />

„<strong>Vincent</strong> ist in die Weizenfelder hinter<br />

dem Schloss gegangen. Es war einen<br />

halben Kilometer von uns entfernt. Im<br />

Verlauf des Nachmittags – so hat mein<br />

Vater verstanden – hat er sich auf der<br />

Straße hinter der Schlossmauer angeschossen<br />

und ist ohnmächtig geworden.“<br />

Selbstbildnis, 1889<br />

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Hinter der Schlossmauer? Neugierig nehme ich die neue Spur auf. Mit einem<br />

Stadtplan suche ich den mutmaßlichen Tatort. Die Lehmhütten und Felder sind<br />

verschwunden. Stattdessen finde ich dort Einfamilienhäuser und eine geteerte<br />

Straße. Der historische Ort ist planiert. Immerhin – die alte Schlossmauer kann<br />

ich identifizieren. Auch hier ist eine Tafel angebracht: mit dem letzten Selbstbildnis<br />

von <strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong>. Es sei, so lese ich, an dem Ort aufgestellt worden,<br />

an dem sich <strong>Vincent</strong> die Kugel gab, die ihn erst zwei Tage später töten sollte.<br />

Wie weit ist es von hier bis zur Pension<br />

der Familie Ravoux? 800 Meter? Gespannt<br />

schreite ich die Straße ab. Nach fast 1000<br />

Schritten erreiche ich das Haus, in dem<br />

<strong>Vincent</strong> gestorben ist…<br />

Plan von Auvers-sur-Oise<br />

X<br />

Tatort B<br />

X<br />

Tatort A<br />

Kornfeld mit Krähen, 1890<br />

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17


Die Kammer des Todes<br />

AUVERS-SUR-OISE, 28. JULI 2010<br />

Das alte Holz ächzt unter dem Gewicht meiner Schritte. Die ausgetretene Treppe<br />

der Auberge Ravoux ist steil. Wie viel Kraft muss es erst <strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong> gekostet<br />

haben, sich mit einer Kugel im Leib in den zweiten Stock zu schleppen!<br />

Die Auberge Ravoux heute<br />

18<br />

„Er war ein starker Mann“,<br />

sagt Anne-Claire mit Bewunderung<br />

in der Stimme. Die<br />

junge, rothaarige Angestellte<br />

des Van-<strong>Gogh</strong>-Hauses geht<br />

mit mir den letzten, schweren<br />

Weg des Malers. „Er ist<br />

an jenem Abend allein zurückgekommen aus den<br />

Feldern hinter dem Schloss.“ Seine Gastgeber – die<br />

Familie Ravoux – warteten noch mit dem Abendessen<br />

auf ihn. Normalerweise verpasste <strong>Vincent</strong> nie eine<br />

Mahlzeit. An den Abend erinnert sich die Tochter des<br />

Wirtes, Adeline, später so:<br />

Die Auberge Ravoux 1890<br />

„Wir standen vor der Haustür,<br />

um ein wenig frische Luft zu<br />

schöpfen. Als wir Monsieur<br />

<strong>Vincent</strong> wiederkommen<br />

sahen, muss es etwa neun<br />

Uhr abends gewesen sein.<br />

Er ging gebeugt, hielt sich<br />

den Magen und übertrieb<br />

seine Gewohnheit, eine<br />

Schulter höher zu ziehen als<br />

die andere. Meine Mutter<br />

sagte zu ihm: ‚Monsieur <strong>Vincent</strong>, wir haben uns Sorgen gemacht. Ist etwas Schlimmes<br />

passiert?‘ Er antwortete mit leidender Stimme: ‚Nein, aber ich hab mich...‘“<br />

Dann soll <strong>Vincent</strong> die Stufen hinaufgeklettert sein zu seiner letzten Zuflucht.<br />

Meine Begleiterin erzählt: „Er hatte sich dieses Zimmer ausgesucht, weil es das<br />

preiswerteste im Ort war.“ Die Tür knarrt auf und gibt den Blick frei in einen Raum,<br />

der nicht größer ist als eine Abstellkammer. Anne-Claire lächelt: „Glücklicherweise<br />

war es ein Selbstmord!“ Glücklicherweise? Ich sehe sie bestürzt an.<br />

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„Deshalb ist dieses Zimmer nicht wieder<br />

vermietet worden. Man dachte, das bringe<br />

Unglück für die anderen Gäste. Alles<br />

ist so geblieben, wie es damals war.“<br />

Die Kammer ist spärlich möbliert: ein<br />

wackeliger Stuhl und ein kleiner Einbauschrank.<br />

Die Wände sind rissig und<br />

schmutzig, durch eine fast blinde Dachluke<br />

fällt etwas Tageslicht. <strong>Vincent</strong>s<br />

letzte Aussicht!<br />

Ich trete heran und… zucke zusammen.<br />

Da sitzt ein dunkler Schatten auf dem<br />

Dach. Hockt dort ein gefiederter Geist?<br />

Schon ist er auf dem Glas über meinem<br />

Kopf und pickt mit spitzem Schnabel<br />

dagegen. Anne-Claire lacht auf französisch:<br />

„Schräge Vögel, diese Krähen!“<br />

Die Vögel sind nicht die einzigen Schaulustigen.<br />

„Die ganze Welt kommt, um<br />

diese sieben Quadratmeter zu sehen.<br />

Dabei gibt es hier nichts“, gesteht Anne-<br />

Claire. „Und doch ist der Raum voll mit<br />

Gefühlen.“ Das Sterbebett hinter der<br />

Tür fehlt. Dort muss <strong>Vincent</strong> gelegen<br />

haben. Wie hat die Wirtstochter den<br />

Moment beschrieben, als das Unglück<br />

klar wurde?<br />

„Mein Vater ging nach oben und er<br />

fand Monsieur <strong>Vincent</strong> kauernd auf dem<br />

Eisenbett. ‚Was ist los?‘, fragte mein<br />

Vater. ‚Haben Sie sich etwas angetan?‘<br />

<strong>Vincent</strong> hob sein Hemd und zeigte ihm<br />

eine Wunde in der Nähe des Herzens.<br />

Mein Vater schrie ihn an: ‚Sie Unglücklicher!<br />

Was haben Sie getan!‘ – ‚Ich<br />

habe versucht, mich zu erschießen – und<br />

dieses Mal habe ich es hoffentlich nicht<br />

vermasselt.‘“<br />

Die Stiege zu <strong>Vincent</strong>s Kammer<br />

<strong>Vincent</strong>s Vi <strong>Vincent</strong>s t Kammer KKammer<br />

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19


Die letzten Stunden<br />

Arthur Ravoux<br />

Adeline Ravoux<br />

Dr. Gachet<br />

20<br />

27. JULI 1890, GEGEN 21 UHR<br />

Arthur Ravoux, Vater von Adeline, schickt den Zimmernachbarn,<br />

den niederländischen Maler Tom Hirschig,<br />

einen Arzt zu holen. <strong>Vincent</strong> verlangt nach seiner<br />

Pfeife, raucht und starrt vor sich hin.<br />

27. JULI 1890, GEGEN 21 UHR 30<br />

Dr. Gachet und sein Sohn Paul treffen in der Herberge<br />

ein. Sie stellen fest, dass die Kugel das Herz verfehlt<br />

hat und noch im Brustkorb steckt. Angesichts des<br />

schlechten Gesundheitszustands entscheiden sich die<br />

beiden gegen eine Operation. Ihre Verordnung: eine<br />

Nachtwache und absolute Ruhe.<br />

28. JULI 1890, FRÜHER MORGEN<br />

„Sind Sie derjenige, der sich umbringen wollte?“ Zwei<br />

Polizisten stehen an <strong>Vincent</strong>s Bett. Er antwortet: „Ich<br />

glaube ja.“ – „Sie wissen, dass Sie kein Recht dazu<br />

haben?“ Darauf <strong>Vincent</strong> in weichem Ton: „Mein Körper<br />

gehört mir und ich kann damit tun und lassen, was ich<br />

will.“ – „Und wo ist die Pistole?“ Keine Antwort.<br />

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28. JULI 1890, FRÜHER NACHMITTAG<br />

Bruder Theo trifft in Auvers-sur-Oise ein<br />

und begrüßt <strong>Vincent</strong> mit einem Kuss. Er<br />

hält ihm die Hand, sie sprechen ihre Muttersprache:<br />

Niederländisch. „Ich fand ihn in<br />

einem besseren Zustand vor als ich dachte“,<br />

schreibt Theo später an seine Frau. „Er war<br />

froh, dass ich kam und wir die ganze Zeit<br />

zusammen waren. Armer Kerl, so wenig<br />

Glück war ihm beschieden, und er hat keine<br />

Träume mehr. Die Last wird manchmal zu<br />

schwer, er fühlt sich dann so allein. Oh,<br />

wenn wir ihm nur neuen Lebensmut geben<br />

könnten!“ Dennoch erkennt Theo den Ernst<br />

der Lage. „Aber du sollst wissen, Liebling,<br />

dass sein Leben in Gefahr ist.“<br />

29. JULI 1890, 1 UHR 30<br />

<strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong> ist tot. Bruder Theo<br />

schreibt: „Einer seiner letzten Sätze war:<br />

‚Ich wünschte, ich könnte auf die Weise<br />

gehen‘ – und sein Wunsch wurde erfüllt.<br />

Eine große Ruhe kam über ihn, von der er<br />

nicht wieder ins Leben zurückkehrte. Er<br />

hat nun die Ruhe, die er auf Erden nicht<br />

finden konnte.“<br />

29. JULI 1890, VORMITTAG<br />

Theo <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong>, Arthur Ravoux und<br />

Dr. Gachet geben die offizielle Todesanzeige<br />

auf. Die Tatwaffe bleibt verschwunden.<br />

Theo <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong><br />

Sterbeurkunde<br />

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE<br />

Der Fall <strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong><br />

Ralph Erdenberger<br />

Geheimakte <strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong><br />

Gebundenes Buch, Pappband, 112 Seiten, 16,0 x 23,5 cm<br />

220 farbige Abbildungen<br />

ISBN: 978-3-7913-7016-3<br />

Prestel<br />

Erscheinungstermin: Oktober 2010<br />

<strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong>: War er verrückt oder ein Genie? Oder gar beides? Wie schaffte er es in zehn<br />

Jahren über 800 Bilder zu malen? Das geheime Dossier des Kunstdetektivs erzählt Kindern<br />

anhand von Materialen, Bildern, Dokumenten vom Leben und Werk des einsamen Künstlers<br />

<strong>Vincent</strong> <strong>van</strong> <strong>Gogh</strong>, der zeitlebens kaum ein Bild verkaufte und dessen Gemälde heute zu den<br />

teuersten der Welt zählen.

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