Christa Wolf Kassandra - eBook.de
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genen. Keiner hat mich je gefragt, warum ich so genaue<br />
Erkundigungen über das feindliche Land einzog. Und<br />
warum tat ich es <strong>de</strong>nn, zu einer Zeit, als auch mir sicher<br />
schien, daß wir siegten? Da man <strong>de</strong>n Feind schlagen,<br />
nicht aber kennen sollte? Was trieb mich, ihn zu kennen,<br />
da ich <strong>de</strong>n Schock: Sie sind wie wir! für mich behalten<br />
mußte. Wollte ich wissen, wo ich sterben wür<strong>de</strong>?<br />
Dacht ich ans Sterben? War ich nicht triumphgeschwollen<br />
wie wir alle?<br />
Wie schnell und gründlich man vergißt.<br />
Der Krieg formt seine Leute. So, vom Krieg gemacht<br />
und zerschlagen, will ich sie nicht im Gedächtnis behalten.<br />
Dem Sänger, <strong>de</strong>r noch bis zuletzt <strong>de</strong>n Ruhm <strong>de</strong>s<br />
Priamos sang, hab ich eins aufs Maul gegeben, wür<strong>de</strong>loser<br />
schmeichlerischer Wicht. Nein. Vergessen will ich<br />
<strong>de</strong>n zerrütteten, verwahrlosten Vater nicht. Doch auch<br />
<strong>de</strong>n Kçnig nicht, <strong>de</strong>n ich als Kind über alle Menschen<br />
liebte. Der es nicht ganz genau nahm mit <strong>de</strong>r Wirklichkeit.<br />
Der in Phantasiewelten leben konnte; nicht ganz<br />
scharf die Bedingungen ins Auge faßte, die seinen Staat<br />
zusammenhielten, auch die nicht, die ihn bedrohten.<br />
Das machte ihn nicht zum i<strong>de</strong>alen Kçnig, doch war er<br />
<strong>de</strong>r Mann <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>alen Kçnigin, das gab ihm Son<strong>de</strong>rrechte.<br />
Abend für Abend, ich seh ihn noch, ist er zur<br />
Mutter gegangen, die, häufig schwanger, in ihrem Megaron<br />
saß, auf ihrem hçlzernen Lehnstuhl, <strong>de</strong>r einem<br />
Thron sehr ähnlich sah und an <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Kçnig sich, liebenswürdig<br />
lächelnd, einen Hocker heranzog. Dies ist<br />
mein frühestes Bild, <strong>de</strong>nn ich, Liebling <strong>de</strong>s Vaters und<br />
an Politik interessiert wie keines meiner zahlreichen Geschwister,<br />
ich durfte bei ihnen sitzen und hçren, was sie<br />
re<strong>de</strong>ten, oft auf Priamos’ Schoß, die Hand in seiner<br />
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