26.07.2013 Aufrufe

Auf dem Weg zu zwei, drei, vier Kurdistans? - Goethe-Universität

Auf dem Weg zu zwei, drei, vier Kurdistans? - Goethe-Universität

Auf dem Weg zu zwei, drei, vier Kurdistans? - Goethe-Universität

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Frankfurter<br />

Montags-<br />

Vorlesungen<br />

Politische Streitfragen<br />

in zeitgeschichtlicher Perspektive<br />

© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

Neue Folge 05<br />

<strong>Auf</strong> <strong>dem</strong> <strong>Weg</strong> <strong>zu</strong> <strong>zwei</strong>, <strong>drei</strong>, <strong>vier</strong> <strong>Kurdistans</strong>?<br />

Egbert Jahn<br />

18. Juni 2012<br />

Adresse des Autors: Prof. Dr. Egbert Jahn<br />

Johann Wolfgang <strong>Goethe</strong>-<strong>Universität</strong> Frankfurt am Main<br />

Fachbereich 03 Gesellschaftswissenschaften<br />

Institut für Politikwissenschaft<br />

Robert-Mayer-Str. 5<br />

D-60054 Frankfurt<br />

Tel.: +49-69-798 22667 (Sekretariat)<br />

Fax: +49-69-798 28460<br />

E-mail-Adresse: e.jahn@soz.uni-frankfurt.de<br />

http://www.gesellschaftswissenschaften.<br />

uni-frankfurt.de/institut_2/ejahn/


Zusammenfassung<br />

© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

2<br />

Das Land der Kurden, Kurdistan, ist kein Staat, sondern ein recht geschlossenes, mehrheitlich<br />

von Kurden bewohntes Siedlungsgebiet, das <strong>zu</strong>m größten Teil bis 1920 <strong>zu</strong>m Osmanischen<br />

Reich gehörte und dann auf <strong>drei</strong> Staaten aufgeteilt wurde: Türkei, Irak und Syrien. Die Grenzen<br />

dieses Gebiets haben sich häufig geändert und sind im einzelnen unbekannt. Der Osten<br />

des kurdischen Siedlungsgebietes gehört seit Jahrhunderten <strong>zu</strong>m Iran. Das Verlangen nach<br />

einem kurdischen Nationalstaat wird durch mehrere Faktoren geschwächt. Es gibt bis heute<br />

keine gemeinsame kurdische Hoch- und Schriftsprache, außer<strong>dem</strong> ist das Stammes- und Regionalbewußtsein<br />

unter den Kurden weitaus stärker als das gesamtkurdische Nationalbewußtsein.<br />

Vor allem aber müßte sich eine gesamtkurdische Nationalbewegung gleichzeitig gegen<br />

<strong>vier</strong> Staaten und gegen den internationalen Konsens <strong>zu</strong>r Bewahrung des staatlichen Status quo<br />

durchsetzen. Kurdische nationale Bestrebungen haben sich deshalb in den letzten Jahrzehnten<br />

mehr auf die Erlangung von Minderheitenrechten, territorialer Autonomie oder föderativer<br />

Staatlichkeit innerhalb der bestehenden Staaten konzentriert. Diese Bestrebungen stoßen jedoch<br />

bei der Mehrheitsbevölkerung der <strong>vier</strong> Staaten auf die Befürchtung und den Verdacht,<br />

nur Übergangscharakter <strong>zu</strong>r vollständigen staatlichen Unabhängigkeit besitzen <strong>zu</strong> sollen.<br />

Testfall für eine föderative Integration der Kurden wird in den nächsten Jahren der Irak sein,<br />

nach<strong>dem</strong> die US-amerikanischen Truppen und ihre Verbündeten das Land verlassen haben.<br />

Die Grenzen der Autonomen Region Kurdistan sind bis heute heftig umstritten. Insbesondere<br />

ist die Zugehörigkeit der erdölreichen Provinz At Tamim mit Kirkuk ungeklärt. Viel hängt<br />

dabei auch von der Kurdenpolitik der Türkei ab, die in den letzten Jahren erste vorsichtige<br />

Schritte <strong>zu</strong>r Anerkennung kultureller Bedürfnisse ihrer eigenen Kurden unternommen hat,<br />

aber die Verselbständigung der Autonomen Region Kurdistan im Irak entschieden ablehnt.<br />

Die negativen Erfahrungen mit <strong>dem</strong> staatlichen Auseinanderbrechen von multinationalen<br />

Staaten sollten kein Hindernis dafür sein, nach Formen der Autonomie und Föderierung <strong>zu</strong><br />

suchen, die die Gefahr des Zerfalls bestehender Staaten minimieren. Die Stärkung kommunaler<br />

Autonomie und die Legalisierung von staatsbejahenden kurdischen Sektionen innerhalb<br />

bestehender Parteien kann ein bescheidener, weiterer Schritt <strong>zu</strong>r Anerkennung und Stärkung<br />

der ethnischen Identität der Kurden in der Türkei sein. Im Irak sind die ethno-religiöse Nationalisierung<br />

der Parteien und die Autonomie der Kurdenregion wohl nicht mehr revidierbar. In<br />

Syrien und im Iran wirkt die Repression der Kurden ungebrochen fort. Es ist eine offene Frage,<br />

ob die Kurden wie die Araber, die Südslawen und die Deutschen sich in mehrere Nationen<br />

auseinanderentwickeln oder auf die Dauer doch noch <strong>zu</strong> einer Nation einigen werden.


1 Der Streit um Minderheitenrechte, Autonomie und nationalstaatliche<br />

Unabhängigkeit<br />

© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

3<br />

Die Politik richtet sich wieder einmal nach <strong>dem</strong> Themenplan der Vorlesung. Vor <strong>dem</strong> Ende<br />

der letzten Woche (11. Dezember 2009) verbot das türkische Verfassungsgericht die prokurdische<br />

Partei DTP und versetzte damit der vorsichtigen Regierungspolitik beim Anpacken der<br />

Kurdenproblematik, wie später aus<strong>zu</strong>führen sein wird, einen herben Schlag. Das Land der<br />

Kurden, Kurdistan, ist kein Staat, sondern ein recht geschlossenes, mehrheitlich von Kurden<br />

bewohntes Siedlungsgebiet, das sich über rund 500.000 qkm erstreckt, also etwa so groß wie<br />

Frankreich ist. Die Grenzen dieses Gebiets haben sich häufig geändert und sind im einzelnen<br />

unbekannt, weil es keine Volkszählungen gibt, die nach der ethnischen Zugehörigkeit der<br />

Bevölkerung fragen. Auch außerhalb des kurdischen Siedlungsgebiets leben in der Diaspora<br />

Millionen Kurden, <strong>zu</strong>m Teil erst seit wenigen Jahren und Jahrzehnten, so in Istanbul und im<br />

Westen der Türkei, in Deutschland und mehreren anderen Ländern der Europäischen Union,<br />

<strong>zu</strong>m Teil aber auch in älteren Exklaven wie im Zentrum Anatoliens oder im Nordosten Irans.<br />

Weiterhin leben 150.000 Kurden in den südlichen Nachfolgerstaaten der Sowjetunion, außer<strong>dem</strong><br />

viele im Libanon. Schät<strong>zu</strong>ngsweise gibt es rund 30-35 Millionen Kurden.<br />

Die Kurden sprechen keine gemeinsame Sprache, in der sie sich untereinander verständigen<br />

könnten. Sie haben auch keine gemeinsame Schriftsprache wie die Araber oder die Han-<br />

Chinesen, die sich mündlich ebenfalls nicht untereinander verständigen können, wenn sie aus<br />

weit auseinander liegenden Gebieten <strong>zu</strong>sammenkommen. Man unterscheidet <strong>drei</strong>, <strong>vier</strong> oder<br />

fünf kurdische Sprachen oder Hauptdialekte, in denen eigene Literaturen entstanden sind. Sie<br />

gehören <strong>zu</strong> den indoeuropäischen Sprachen des westiranischen Zweiges, sind also weder mit<br />

<strong>dem</strong> Türkischen noch mit <strong>dem</strong> Arabischen verwandt. Das Kurmanci mit etwa 8-10 Millionen<br />

Sprechern ist vor allem in der Türkei, aber auch in den Nachbarländern verbreitet, das Sorani<br />

mit etwa 5 Millionen Sprechern vor allem im Irak und im Westiran. Manche Autoren unterscheiden<br />

dann noch das Gorani, das Dımıli (Zazaki) und das Luri (dessen Sprecher sich nicht<br />

für Kurden halten). Kommunikationshindernd wirkt auch, daß die kurdischen Sprachen/Dialekte<br />

in unterschiedlichen Schriften geschrieben werden: Lateinisch, Arabisch und<br />

Kyrillisch. Nicht wenige Kurden sprechen überhaupt kein Kurdisch, sondern nur Türkisch,<br />

Arabisch oder Farsi. Die Kurden sind überwiegend Muslime und gehören größtenteils der<br />

sunnitischen, aber auch <strong>zu</strong>m kleineren Teil der schiitischen Religionsgemeinschaft an. Außer<strong>dem</strong><br />

gibt es viele kurdische Aleviten und Jesiden (Êzîdî). Der größte Teil des kurdischen Siedlungsgebiets<br />

war seit Beginn des 16. Jahrhunderts im Osmanischen Reich vereinigt, sieht man


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

4<br />

von <strong>dem</strong> kurdischen Gebiet ab, das sich seit 1639 im Iran befindet. 1920 wurde das osmanische<br />

Kurdengebiet zwischen der Türkei, Irak und Syrien aufgeteilt. In der Türkei leben etwa<br />

15 Millionen Kurden, im Irak etwa 4,5 Millionen, im Iran 4 bis 4,5 Millionen und in Syrien<br />

etwa 1,2 Millionen, wobei diese Zahlen jedoch auf ungefähren und umstrittenen Schät<strong>zu</strong>ngen<br />

beruhen, nicht auf Volkszählungen.<br />

Die staatliche, sprachliche, religiöse und kulturelle Zersplitterung der Kurden sowie starke<br />

Stammes- und Regionaltraditionen haben bisher die Entstehung eines breiten gemeinsamen<br />

Nationalbewußtseins verhindert. Außer<strong>dem</strong> ist der kurdische Nationalismus noch relativ jung.<br />

Seine Wurzeln reichen lediglich in das frühe 20. Jahrhundert <strong>zu</strong>rück. Somit hatten kurdische<br />

ethnonationale Bestrebungen meist einen nur regional begrenzten Charakter und mußten sich<br />

den jeweiligen politischen Bedingungen in den Staaten anpassen, in denen sie leben. Nicht<br />

selten haben kurdische Stämme und auch moderne politische Parteien untereinander Krieg<br />

geführt. Somit finden sich in der kurdischen Bevölkerung zahlreiche Abstufungen der gesellschaftspolitischen<br />

Grundhaltung von völliger Assimilationsbereitschaft über Äußerungen ethnischen,<br />

sprachlich-kulturellen Selbstbewußtseins bis <strong>zu</strong> politischen Forderungen nach Minderheitenschutz,<br />

nach territorialer Autonomie oder föderativer Staatlichkeit oder gar nach<br />

völliger staatlicher Unabhängigkeit. Diese Forderungen werden oft mit friedlichen Mitteln<br />

verfolgt, aber nicht selten auch im bewaffneten <strong>Auf</strong>stand. Die erwähnten Grundhaltungen<br />

haben sich im Laufe der Jahrzehnte immer wieder geändert, mal radikalisiert und mal gemäßigt,<br />

meist abhängig vom gesellschaftspolitischen Unterdrückungsgrad oder von Zeichen<br />

wachsender Tolerierung durch die staatlichen Machtorgane und die gesellschaftlichen Organisationen<br />

der staatlichen Mehrheitsbevölkerung. Auch die internationalen weltpolitischen Konstellationen<br />

und die Einspannung kurdischer Bestrebungen <strong>zu</strong> mehr Eigenständigkeit in die<br />

zwischenstaatlichen Rivalitäten zwischen der Türkei, Irak, Iran und Syrien nehmen immer<br />

wieder Einfluß auf die Stärkung oder Schwächung kurdischer nationaler Bewegungen.<br />

Die Staaten der Region schüren zwar hin und wieder die kurdische Opposition im rivalisierenden<br />

Nachbarland, sie haben aber dennoch keinerlei Interesse, daß diese Opposition in einem<br />

der <strong>vier</strong> Länder all<strong>zu</strong> stark wird, so daß sich von ihm ein unabhängiges Kleinkurdistan<br />

abspalten könnte. Denn jeder unabhängige kurdische Kleinstaat könnte <strong>zu</strong>m Kristallisationkern<br />

für die kurdische Opposition in anderen Ländern werden. Der „Verrat“ an den kurdischen<br />

Verbündeten ist also stets in das regionale, internationale System eingebaut.<br />

Die bittere Erfahrung von vielen blutig niedergeschlagenen, bewaffneten <strong>Auf</strong>ständen im 20.<br />

Jahrhundert verweist die meisten national bewußten Kurden auf bescheidenere Zielset<strong>zu</strong>ngen


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

5<br />

als die nationalstaatliche Unabhängigkeit: einen effektiven Minderheitenschutz als Minimalziel<br />

und eine territoriale Autonomie oder eine föderative Staatlichkeit innerhalb des bestehenden<br />

Staates. Dennoch spielt das Streben nach kurdischer nationalstaatlicher Unabhängigkeit,<br />

vorwiegend erst einmal vom eigenen bestehenden Staat, seltener auch staatenübergreifend<br />

auch von den Nachbarstaaten, eine nicht ganz unbedeutende Rolle, so daß solche Bestrebungen<br />

von den <strong>vier</strong> Staaten gern <strong>zu</strong>r Legitimation der Unterdrückung auch geringerer Zielset<strong>zu</strong>ngen<br />

von kurdischen Parteien und Organisationen genutzt werden können. Damit kann sich<br />

der politische Extremismus von Kurden immer wieder mit <strong>dem</strong> Extremismus von Türken,<br />

Arabern und Persern wechselseitig aufschaukeln.<br />

Seit den 1980er Jahren zog über viele Jahre hinweg vor allem die kurdische nationale Bewegung<br />

in der Türkei internationale <strong>Auf</strong>merksamkeit auf sich, weil der extrem gewaltsame Umgang<br />

der Türkei mit ihrer kurdischen Bevölkerung, terroristische Anschläge der Kurden und<br />

bürgerkriegsartige Auseinanderset<strong>zu</strong>ngen in Ostanatolien gewichtige Argumente gegen einen<br />

Beitritt der Türkei <strong>zu</strong>r Europäischen Union lieferten. Seit <strong>dem</strong> <strong>zwei</strong>ten Golfkrieg 1991 trat<br />

jedoch die Kurdenfrage in Irak <strong>zu</strong>nehmend in den Vordergrund internationaler <strong>Auf</strong>merksamkeit<br />

und Politik. Die Bildung einer Flugverbotszone und einer Schutzzone der Vereinten Nationen<br />

im Norden Iraks leitete die Eigenständigkeit der Verwaltung und der Streitkräfte der<br />

kurdischen Siedlungsgebiete in Irak ein. Im dritten Golfkrieg 2003 wurden die kurdischen<br />

bewaffneten Verbände Peschmerga (d. h. „Die <strong>dem</strong> Tod ins Auge Sehenden“) faktisch <strong>zu</strong><br />

Verbündeten der US-Streitkräfte. Sie sichern ein weitgehend selbständiges kurdisches Staatswesen<br />

in Irak, das aber in den Gesamtstaat eingebunden bleibt.<br />

Die vielleicht wichtigste Streitfrage ist gegenwärtig das Verlangen der Kurden nach einer<br />

Zugehörigkeit der Stadt und der Provinz Kirkuk, wo sich ausgedehnte Erdölfelder befinden,<br />

<strong>zu</strong>r Autonomen Region Kurdistan, die bislang aus <strong>drei</strong> der 18 Provinzen Iraks besteht. Eine<br />

kurdische Kontrolle über die Erdölfelder würde die Chancen einer finanziellen staatlichen<br />

Selbständigkeit und im Extremfalle auch Abspaltung der Kurdengebiete beträchtlich erhöhen.<br />

Beides versuchen nicht nur die arabischen politischen Parteien Iraks, sondern auch die Türkei,<br />

Iran und Syrien <strong>zu</strong> verhindern. Der Nordwesten Iraks ist bereits seit Jahren Rück<strong>zu</strong>gsgebiet<br />

der terroristischen „Arbeiterpartei <strong>Kurdistans</strong>“ PKK, die sich im Bürgerkrieg mit der Regierung<br />

der Türkei befindet. Wiederholt sind türkische Truppen <strong>zu</strong>r Bekämpfung der PKK in den<br />

Nordirak eingedrungen. Sollte die Föderative Republik Irak nach einem endgültigen Rück<strong>zu</strong>g<br />

der US-Truppen und ihrer Verbündeten zerfallen, so kann weder ein ausgedehnter türkischkurdischer<br />

Krieg im heutigen Nordirak, noch ein gemeinsamer arabisch-türkischer Krieg ge-


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

6<br />

gen die Kurden gänzlich ausgeschlossen werden. Die Kurdenpolitik der Türkei hängt damit<br />

sehr eng mit der Kurdenpolitik Iraks <strong>zu</strong>sammen. Umgekehrt hat auch die Türkeipolitik der<br />

PKK gewisse, wenn auch keineswegs konfliktfreie Verbindungen mit der Irakpolitik der beiden<br />

dortigen, großen kurdischen Parteien im Irak. Nicht gänzlich einflußlos bleiben die Einflüsse<br />

des Irans und auch der iranischen Demokratischen Partei <strong>Kurdistans</strong> auf die irakische<br />

Innenpolitik. Eine genauere Analyse müßte auch die Einflüsse aus Syrien im Auge behalten.<br />

2 Innerstaatliche Konfliktregulierung oder Sezession<br />

Millionen Kurden mußten im 20. Jahrhundert alle Schattierungen und Abstufungen der ethnischen<br />

und nationalen Unterdrückung erleben, von der schlichten Leugnung ihrer bloßen Existenz<br />

und der Unterdrückung ihrer Sprache, Kultur und Bürgerrechte über die Ausbürgerung<br />

bis <strong>zu</strong>r massenhaften Vertreibung und Ermordung sowie <strong>zu</strong>r Vergasung von Tausenden ihrer<br />

Kinder, Frauen und Männer. Kurdische Terroristen und Bürgerkrieger haben aber auch zahllosen<br />

Arabern, Türken und Persern sowie auch Kurden mit abweichenden politischen Zielset<strong>zu</strong>ngen<br />

den Tod gebracht oder sie ins Elend gestürzt. Die vielen Vorstellungen, wie im und<br />

um das kurdische Siedlungsgebiet herum dauerhafter Frieden hergestellt werden kann, sind<br />

nach wie vor unvereinbar und werden es wohl noch jahrzehntelang bleiben.<br />

Folgende <strong>drei</strong> grundsätzliche Positionen <strong>zu</strong>r Kurdenfrage lassen sich mit mehreren Varianten<br />

ausmachen, eine national-sezessionistische, eine national-teilstaatliche und eine ethnischzivilgesellschaftliche.<br />

1. Die extremste Position verlangt einen gesamtkurdischen Nationalstaat,<br />

der aus Gebietsteilen der erwähnten <strong>vier</strong> Staaten <strong>zu</strong> bilden ist. Sie beruft sich auf das<br />

Selbstbestimmungsrecht der Völker und die These, daß die Kurden ein Volk seien. Andere<br />

extreme politische Kräfte konzentrieren sich allein auf eine kurdische Sezession in <strong>dem</strong> Staat,<br />

in <strong>dem</strong> sie heute leben, ohne die Frage auf<strong>zu</strong>werfen, ob später einmal noch andere kurdische<br />

Staaten daneben entstehen werden, mit denen sie sich irgendwann vereinigen könnten oder<br />

auch nicht wie Deutschland und Österreich, Albanien und Kosovo oder Rumänien und Moldau.<br />

Sie tragen der Tatsache Rechnung, daß sich die nationalen Bewegungen in den nordkurdischen<br />

Gebieten (Türkei) unter ganz anderen historischen und gegenwärtigen Bedingungen<br />

entwickeln mußten als in den anderen beiden ex-osmanischen, südkurdischen (Irak) und<br />

westkurdischen (Syrien), sowie insbesondere in den ostkurdischen Gebieten (Iran).<br />

2. Zur innerstaatlichen Konfliktregulierung werden <strong>zwei</strong> Grundpositionen vertreten. Die erste<br />

strebt irgendeine Form eigener kurdischer nationaler Staatlichkeit an, sei es eine territoriale


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

7<br />

Autonomie, sei es eine föderative Gliedstaatlichkeit innerhalb des bestehenden, international<br />

anerkannten Staates. Dies macht verfassungsrechtliche Veränderungen des Status quo erforderlich.<br />

Hier<strong>zu</strong> können viele europäische Vorbilder dienen: die schwedische Autonomie in<br />

Finnland, die deutsche in Italien, die katalanische in Spanien, die wallonische in Belgien usw.<br />

Die Föderalisten sind seit 2003 besonders stark im Irak vertreten und erhalten auch eine breite<br />

internationale Unterstüt<strong>zu</strong>ng. Sie wollen die seit 1970 bestehende Autonome Region Kurdistan<br />

im Nordosten Iraks ausdehnen und als einen von <strong>drei</strong> oder mehr föderierten Gliedstaaten<br />

dauerhaft etablieren. Auch in der Türkei gibt es seit langem Verfechter einer föderativen Umgestaltung<br />

des derzeitigen Zentralstaates, ohne daß es klare und übereinstimmende Vorstellungen<br />

von der Anzahl der föderativen Einheiten gibt. Autonomisten begnügen sich mit einer<br />

spezifischen kurdischen territorialen Autonomie, ohne die hegemoniale Stellung der Türken,<br />

Perser und Araber in den bestehenden Staaten in Frage <strong>zu</strong> stellen. Ob es nennenswerte Verfechter<br />

auch einer personal-kulturellen Autonomie gibt, ist nicht ersichtlich.<br />

3. Die <strong>zwei</strong>te Grundsatzposition <strong>zu</strong>r innerstaatlichen Konfliktregulierung fordert vor allem die<br />

Verwirklichung der bestehenden Bürger- und Menschenrechte, die Entwicklung der Zivilgesellschaft<br />

und die rechtliche Verankerung von ethnischen Minderheitenrechten. Sie macht<br />

zwar einige gesetzliche, aber keine größeren verfassungsrechtlichen Veränderungen nötig.<br />

Sehr stark ist <strong>zwei</strong>fellos das Verlangen nach einem Minderheitenschutz, der kurdischen<br />

Gruppen größerer Anzahl gewisse Sprachen- und Selbstorganisationsrechte sowie öffentliche<br />

Ämter gewährt. Am meisten verbreitet sind schlichte liberale, zivilgesellschaftliche Forderungen<br />

nach faktischer Gewährung der Rechte und Freiheiten, die an sich die Verfassung und die<br />

völkerrechtlichen Vertragsverpflichtungen der bestehenden Staaten vorsehen und die oft nur<br />

Angehörige der dominanten oder Titularethnie wahrnehmen können. Da<strong>zu</strong> gehört auch, daß<br />

Kurden ihre traditionellen Familien- und selbst Vornamen sowie Ortsnamen benutzen dürfen<br />

und daß ihre bloße Existenz als Kurden nicht vom Staat oder der Mehrheitsgesellschaft<br />

bestritten wird. Im Falle Syriens gehört die Rücknahme der Ausbürgerung der einheimischen<br />

Kurden <strong>zu</strong> solchen bescheidenen politischen Zielset<strong>zu</strong>ngen.<br />

3 Schwankungen in den kurdischen ethnischen und nationalen Bewegungen<br />

Man spricht wohl sinnvoller von mehreren kurdischen Nationalbewegungen als von einer,<br />

weil diese Bewegungen sich nur selten auf das gesamte, relativ geschlossene kurdische Siedlungsgebiet<br />

bezogen haben, sondern meist auf Teilgebiete. Aber bisher haben sich noch keine<br />

stabilen, ausgeprägt partikularen kurdischen Nationalismen sprachlicher oder regionaler Art


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

8<br />

gebildet. Drei Gründe lassen sich für die relative Schwäche der kurdischen Nationalbewegungen<br />

anführen. Erstens können sich Kurden nicht auf einen großen kurdischen Staat, ein kurdisches<br />

Königreich in der Vergangenheit berufen. Als Ersatz für einen Reichsmythos dient den<br />

Kurden, daß sie ein sehr altes, ortsansässiges Volk sind und schon lange in ihrem jetzigen<br />

Siedlungsgebiet lebten, ehe Türken, Araber und Perser sie fremden Reichsgewalten unterwarfen.<br />

Der Name Kurdistan („Kurdenland“) taucht erst im 12. Jahrhundert im Seldschukenreich<br />

als Bezeichnung für ein Verwaltungsgebiet auf, das im heutigen Iran liegt. Das kurdische<br />

Siedlungsgebiet wurde schließlich im Jahre 1639 zwischen <strong>dem</strong> Persischen und <strong>dem</strong> Osmanischen<br />

Reich geteilt. Die damals gezogene Grenze ist weitgehend bis heute gültig geblieben.<br />

Die Mehrheit der Fürsten der sunnitischen Kurden hatte es letztlich vorgezogen, sich den sunnitischen<br />

Osmanen und nicht den schiitischen Persern <strong>zu</strong> unterwerfen. Im Osmanischen Reich<br />

gab es von 1847-1864 eine Provinz (Vilayet) Kürdistan mit wechselnden Grenzen, das dann in<br />

die Vilayets Diyarbekir und Van aufgelöst wurde. Van war später auch ein Zentrum der armenischen<br />

Nationalbewegung in Anatolien.<br />

Im Osmanischen Reich besaßen die kurdischen Fürsten und die kleineren Herrscher lange<br />

Zeit ein hohes Maß an Selbständigkeit oder Autonomie, abgestuft nach der Lage <strong>zu</strong>r Landesgrenze<br />

und der Macht der kurdischen Herrscher. Die meisten Kurden (ohne die Aleviten) gehörten<br />

auch insofern <strong>zu</strong>r privilegierten Bevölkerung, als sie unter der osmanischen Scharia,<br />

<strong>dem</strong> religiösen Gesetz, als Sunniten <strong>zu</strong>r herrschenden Gruppe der Moslems gehörten und<br />

nicht <strong>zu</strong> den minderberechtigten dhimmi („Schutzbefohlenen“, also „Buchbesitzern“ wie die<br />

Christen, Juden) oder gar <strong>zu</strong> den besonders diskriminierten kafır („Heiden“, d.h. Jesiden u.a.).<br />

Die rechtliche Gleichset<strong>zu</strong>ng der türkischen und kurdischen Sunniten behinderte aber auch die<br />

Ausbildung einer eigenen kurdischen kollektiven Identität. Das ging so lange gut, als das Osmanische<br />

Reich sich islamisch, und dann seit 1839 auch weltlich-osmanisch legitimierte. Damals<br />

wurde im Grundsatz die rechtlich-politische Gleichheit der osmanischen Untertanen<br />

eingeführt und versucht, ein osmanisches Staatsbewußtsein <strong>zu</strong> erzeugen. Die halbherzigen<br />

Reformen, mit denen die osmanischen Herrscher ein modernes Staatswesen schaffen wollten,<br />

schlossen auch die Beseitigung der Autonomie der kurdischen Fürsten und kleineren Herrscher<br />

mit militärischer Gewalt in den Jahren 1826-1849 ein. Dennoch setzten sich nationale<br />

Sezessionen mit Unterstüt<strong>zu</strong>ng der Großmächte fort. Der griechischen (1830) folgte die rumänische,<br />

serbische und montenegrinische (1876) Sezession sowie die britische Eroberung<br />

Ägyptens (1882). Danach drohte auch eine bulgarische, mazedonische, albanische, armenische<br />

sowie eine arabische Abspaltung, so daß nun eine türkische Nationalbewegung (die


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

9<br />

„Jungtürken“ des Komitees für Einheit und Fortschritt, İttihad ve Terakki Fırkası) entstand,<br />

die das Reich durch einen Militärputsch 1908 radikal von einer absolutistischen in eine konstitutionelle<br />

<strong>zu</strong> reformieren und als pantürkischen Staat <strong>zu</strong> erneuern trachtete. Einige Jungtürken<br />

träumten sogar von einer kompensatorischen Ausdehnung des Reiches nach Nordosten,<br />

als noch im selben Jahr Bulgarien und Bosnien-Herzegowina sowie Kreta verloren gingen.<br />

Der türkische Nationalismus untergrub endgültig die islamische Einheit im Reich, rief aber<br />

vorerst nur eine schwache kurdische Nationalbewegung unter einigen Adeligen hervor (Kurdischer<br />

Verein für gegenseitige Hilfe und Fortschritt, Kürt Teavun ve Terakki Cemiyeti 1909)<br />

da es noch keine breite, städtische kurdische Intelligenz gab und die islamische Einheit auf<br />

<strong>dem</strong> Land noch funktionierte. Auch der gemeinsame Gegensatz <strong>zu</strong> den christlichen Armeniern<br />

in vielen ostanatolischen Vilayets dürfte größere Konflikte zwischen Türken und Kurden<br />

verhindert haben. So waren auch viele Kurden an den umfangreichen Massakern an den Armeniern<br />

1915 und danach beteiligt.<br />

Die Niederlage der Mittelmächte und damit auch des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg<br />

führte nicht nur <strong>zu</strong>r Zerstückelung des Reiches, sondern auch des kurdischen Siedlungsgebietes.<br />

Nach Vorstellung der Siegermächte sollten gemäß <strong>dem</strong> von ihnen oktroyierten Friedensvertrag<br />

von Sèvres vom 10. August 1920 Mesopotamien (der spätere Irak) als britisches<br />

und Syrien als französisches Mandatsgebiet abgetrennt und das von Griechen besiedelte Küstengebiet<br />

Kleinasiens an Griechenland abgetreten werden. Außer<strong>dem</strong> sollte ein Staat Armenien<br />

in Nordostanatolien sowie ein autonomes Gebiet Kurdistan in Südostanatolien gebildet<br />

werden. Schließlich war vorgesehen, große Teile des türkischen Siedlungsgebietes in Mittelund<br />

Westanatolien und auf den ägäischen Inseln für einige Zeit durch britische, französische<br />

und italienische Truppen <strong>zu</strong> besetzen.<br />

Für das anatolische Kurdistan wurde eine äußerst vage Option der staatlichen Unabhängigkeit<br />

und sogar der Ausdehnung auf kurdische Gebiete im mesopotamischen Vilayet Mossul eröffnet.<br />

So hieß es in Art. 64: „Wenn innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten dieses Vertrage die<br />

kurdische Bevölkerung ….sich an den Rat des Völkerbundes wendet und beweist, daß eine<br />

Mehrheit der Bevölkerung in diesen Regionen von der Türkei unabhängig sein will, und wenn<br />

der Rat dann annimmt, daß diese Bevölkerung dieser Unabhängigkeit fähig ist, und wenn er<br />

empfiehlt, sie ihr <strong>zu</strong><strong>zu</strong>gestehen, verpflichtet sich die Türkei, sich künftig nach dieser Empfehlung<br />

<strong>zu</strong> richten und auf alle Rechte und Besitztitel über die Region <strong>zu</strong> verzichten…. Wenn<br />

und falls der Verzicht erfolgt ist, wird von den Hauptalliierten keinerlei Einwand erhoben<br />

gegen den freiwilligen Anschluß der Kurden, die in <strong>dem</strong> Teil von Kurdistan wohnen, der bis


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

10<br />

heute <strong>zu</strong>m Vilayet Mossul gehört, an dieses unabhängige Kurdistan.“ Im Unterschied <strong>zu</strong> den<br />

sonstigen definitiven Entscheidungen der Siegermächte wurde also ein unabhängiges Kurdistan<br />

an sechs kaum ein<strong>zu</strong>lösende Bedingungen geknüpft: 1. die Bildung einer alliierten<br />

Kommission <strong>zu</strong>r Ausarbeitung eines Autonomieprojektes (die dann niemals entstand), 2. die<br />

Bildung einer kurdischen politischen Vertretung, 3. ein Referendum in Kurdistan innerhalb<br />

eines Jahres, 4. eine Entscheidung des Völkerbundrates über die Reife der Kurden <strong>zu</strong>r Unabhängigkeit<br />

und über eine entsprechende Empfehlung an die Türkei, wobei <strong>zu</strong> beachten ist, daß<br />

diese Reife den Arabern der Mandatsgebiete nicht <strong>zu</strong>gebilligt wurde, 5. eine Einhaltung der<br />

Verpflichtung der Türkei, auf Kurdistan tatsächlich <strong>zu</strong> verzichten, 6. eine Wahl <strong>zu</strong> einer „legitimen<br />

Führung“ oder ein Referendum in den Kurdengebieten Nordmesopotamiens.<br />

Der Friedensvertrag wurde zwar von der osmanischen Regierung unterzeichnet, aber auf<br />

Druck der türkischen Nationalbewegung unter Führung des Generals Mustafa Kemal nie ratifiziert.<br />

Seine Truppen konnten bald danach ganz Anatolien unter türkischer Herrschaft vereinigen,<br />

die osmanische Herrschaft stürzen und einen neuen Friedensvertrag in Lausanne (24.<br />

Juli 1923) aushandeln, in <strong>dem</strong> von Kurdistan wie von Armenien keine Rede mehr war. Politisch-moralisch<br />

hat die Erwähnung eines autonomen und potentiell unabhängigen <strong>Kurdistans</strong><br />

(wenn auch ohne manche kurdischen Gebiete im Iran, in Syrien und in der verkleinerten Türkei)<br />

für die kurdische Nationalbewegung bis heute eine gewisse Bedeutung behalten.<br />

In den kritischen Jahren des Kampfes um einen neuen türkischen Staat sprach Mustafa Kemal<br />

wiederholt von den türkischen und kurdischen Brudervölkern, vor allem auch, um den türkischen<br />

Anspruch auf das erdölreiche Vilayet Mossul <strong>zu</strong> untermauern, auf das die Türkei<br />

schließlich in einem gesonderten Vertrag mit Großbritannien verzichten mußte, nach<strong>dem</strong> kurdische<br />

<strong>Auf</strong>stände sowohl in Anatolien als auch in Nordmesopotamien von den Türken und<br />

Briten niedergeschlagen worden waren. Wäre der Nordirak mit der Türkei vereinigt worden,<br />

dann wären die meisten Kurden Bürger der Republik Türkei geworden, die somit viel deutlicher<br />

ein türkisch-kurdischer Staat in seiner ethnischen Zusammenset<strong>zu</strong>ng geworden wäre. Die<br />

Dreiteilung des osmanischen Kurdengebiets hingegen erleichterte die repressive Kurdenpolitik<br />

seit <strong>dem</strong> Sieg der türkischen Nationalbewegung und <strong>dem</strong> Frieden von Lausanne.<br />

Das neue türkische Nationsverständnis orientierte sich stark an <strong>dem</strong> Frankreichs von der zentralistischen<br />

Einheit des Staates und der Nation, die keine nationalen oder ethnischen Minderheiten<br />

kennen will. Allerdings ist die Durchführung dieses Grundsatzes in der Türkei weitaus<br />

rigider als die in Frankreich. Es wurden nicht nur die Bürger der Republik <strong>zu</strong> Türken erklärt,<br />

was im gleichen Sinne in allen Staaten geschieht, die einen sprachlich-ethnischen Staatsna-


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

11<br />

men tragen. Das gilt außer für Frankreich auch für Polen und Deutschland und viele andere.<br />

Über diese Entscheidung hinaus wurde aber in der Türkei über Jahrzehnte hinweg die Existenz<br />

von Kurden, einer kurdischen Sprache und Kultur geleugnet und diejenigen Bürger der<br />

Türkei schwer bestraft, die diese Existenz behaupteten und die kurdische Sprache öffentlich<br />

gebrauchten. Dementsprechend wurden kurdische Vereine und Parteien verboten und unterdrückt,<br />

auch nach<strong>dem</strong> bereits türkische Parteien neben der ursprünglichen Einheitspartei erlaubt<br />

worden waren, also seit 1946. Die Türkei ist ein extrem nationalisierender Staat, wie es<br />

Rogers Brubaker nennt, der seine Bürger ethnisch homogenisieren möchte. Die Auslöschung<br />

auch nur der bescheidensten Ausdrucksformen ethnischer Besonderheit wie des öffentlichen<br />

Gebrauchs von kurdischen Orts-, Familien- und Vornamen war lange Zeit und ist <strong>zu</strong>m Teil<br />

auch heute noch Ziel einer extremistischen ethnonationalen Assimilierungspolitik.<br />

Dennoch konnten immer wieder kurdische Vereinigungen und Parteien unter verschleiernden<br />

Bezeichnungen entstehen, die sich an den repressiven gesetzlichen Vorgaben orientieren. Außer<strong>dem</strong><br />

konnten die türkischen Behörden nicht die Entstehung illegaler Parteien verhindern,<br />

die unter einem nicht unerheblichen Teil der kurdischen Bevölkerung Resonanz fanden. International<br />

berühmt und als terroristische Vereinigung berüchtigt, in vielen Ländern auch illegalisiert<br />

wurde die Arbeiterpartei <strong>Kurdistans</strong> (Partiya Karkerên Kurdistan, PKK) unter ihrem<br />

ersten Vorsitzenden Abdullah Öcalan. Die ursprünglich nicht nur national-, sondern auch sozialrevolutionäre<br />

Partei wurde 1978 nach fünf Jahren organisatorischer Vorbereitung gegründet.<br />

Sie trägt seit einigen Jahren wechselnde Namen und hat auch Schwesterorganisationen in<br />

Irak, Iran und Syrien. 1984 begann sie einen äußerst blutigen Guerillakrieg in der Türkei, in<br />

<strong>dem</strong> bis heute etwa 40.000 Menschen umkamen, meist Kurden, aber auch zahlreiche ethnische<br />

Türken. In diesem Bürgerkrieg wurden von den türkischen Behörden auch kurdische<br />

„Dorfschützer“ unter Ausnut<strong>zu</strong>ng von Stammes- und Clanquerelen eingesetzt, die besonders<br />

brutal vorgingen. Tausende von Dörfern wurden in diesem Krieg <strong>dem</strong> Erdboden gleich gemacht,<br />

zahllose Menschen in die Flucht nach der mittleren und westlichen Türkei oder nach<br />

Westeuropa gejagt oder systematisch vertrieben. 1999 wurde Öcalan in Kenia verhaftet, an<br />

die Türkei ausgeliefert und dort <strong>zu</strong>m Tode verurteilt. <strong>Auf</strong> internationalen Druck wurde die<br />

Todesstrafe nicht ausgeführt. Er wird seither auf einer Insel im Marmarameer in Haft gehalten,<br />

besitzt jedoch noch eine beträchtliche Autorität unter den Kurden. 1999 verkündete er<br />

einen einseitigen Waffenstillstand der PKK, der 2004 wieder aufgekündigt wurde, nach<strong>dem</strong><br />

die türkische Regierung nur geringe Konzessionen an ihre kurd-türkischen Mitbürger gemacht<br />

hatte. Seit <strong>dem</strong> <strong>zwei</strong>ten Golfkrieg kann die PKK auch Rück<strong>zu</strong>gsstellungen im Nordirak nut-


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

12<br />

zen, mit <strong>zu</strong>m Teil nur widerwilliger Duldung durch die irakischen Kurden und ihre Behörden.<br />

In den letzten Jahren hat die türkische Regierung der Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Partei<br />

für Gerechtigkeit und <strong>Auf</strong>schwung) unter der Führung von Recep Tayyip Erdoğan erstaunliche<br />

Schritte auf die Kurden hin gemacht. Aus den „Bergtürken“ sind inzwischen im offiziellen<br />

Sprachgebrauch wieder „Kurden“ geworden. Mit gemäßigten prokurdischen Parteien wie<br />

der 2005 gegründeten und nun im Parlament vertretenen Partei der <strong>dem</strong>okratischen Gesellschaft<br />

(Demokratik Toplum Partisi, DTP, kurdisch: Partîya Cîvaka Demokratîk) wurden<br />

zeitweise Gespräche geführt. Seit Anfang 2009 gibt es einen staatlichen Fernsehsender mit<br />

kurdischsprachigem Programm, offenbar um ein Gegengewicht <strong>zu</strong>m kurdischen Exilsender<br />

Roj-TV in Dänemark (seit 2004) her<strong>zu</strong>stellen. Zwar sprechen mittlerweile führende türkische<br />

Politiker gelegentlich ein paar kurdische Sätze, aber noch immer werden kurdische Politiker<br />

bestraft, wenn sie öffentlich ihre Sprache benutzen.<br />

Anscheinend hat die syrische Kurdenpolitik viel mit der ehemaligen türkischen gemein. In<br />

einem Punkt ist sie allerdings noch extremer. 1962 wurden rund 120.000 kurdische Syrer ausgebürgert<br />

und <strong>zu</strong> Staatenlosen in ihrer Heimat gemacht, die sozial besonders unter der Einparteienherrschaft<br />

der Baath-Partei („<strong>Auf</strong>erstehung“, „Erneuerung“) im Namen der syrischarabischen<br />

Nation diskriminiert werden, <strong>zu</strong>m Teil auch zwangsweise umgesiedelt wurden, um<br />

ihre Arabisierung <strong>zu</strong> erleichtern. Aus den gängigen Nachrichten ist nicht ersichtlich, welche<br />

Rolle die Kurden im gegenwärtigen Bürgerkrieg spielen.<br />

In völlig anderen Bahnen verlief die Kurdenpolitik in Iran. Im August 1941 besetzten Großbritannien<br />

und die Sowjetunion gemeinsam das Land, dessen Herrscher mit Deutschland<br />

sympathisierte. Nach <strong>dem</strong> Weltkrieg verweigerte die UdSSR jedoch den vereinbarten Rück<strong>zu</strong>g<br />

aus Iran und nutzte die ethnischen Gegensätze, in<strong>dem</strong> sie außer einer Aserbaidschanischen<br />

Volksregierung in Täbris auch eine Republik Kurdistan in Mahabad mit Präsident Qazi<br />

Mohammed von der Demokratischen Partei <strong>Kurdistans</strong> (DPK) im Januar 1946 gründete. Dieser<br />

erste kurdische Staat wurde jedoch bereits Ende des Jahres wieder von iranischen Truppen<br />

beseitigt. Die DPK-Iran ging 1953 in den Untergrund. Heute trägt noch eine der 30 Provinzen<br />

Irans den Namen Kordestān (29.000 qkm). Sie umfaßt jedoch nur einen Teil des kurdischen<br />

Siedlungsgebiets. Als das Regime Schah Mohammad Reza Pahlevis 1979 <strong>zu</strong>sammenbrach,<br />

wurde befürchtet, daß der polyethnische Staat Iran auseinanderbrechen könne. Die kurdischen<br />

Gebiete erlangten zeitweise Autonomie, die ihnen jedoch in der sich konsolidierenden Islamischen<br />

Republik wieder genommen wurde. Die iranische Repression rief in den letzten Jahren<br />

immer wieder kleinere kurdische <strong>Auf</strong>stände hervor, bei denen viele Menschen starben. Im


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

13<br />

ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran (1980-88) stachelte Saddam Hussein die iranischen<br />

Kurden <strong>zu</strong>m <strong>Auf</strong>stand auf. Umgekehrt bemühte sich auch der Iran um einen <strong>Auf</strong>stand der<br />

irakischen Kurden gegen das Regime in Bagdad. Diesem diente der kurdische Widerstand als<br />

Anlaß, die Vergasung Tausender irakischer Kurden in Helabdscha im März 1988 <strong>zu</strong> befehlen.<br />

Im Irak wiederum haben die Kurden in den vergangenen Jahrzehnten eine vergleichsweise<br />

starke politische Stellung erlangt, wohl vor allem deshalb, weil die Araber durch scharfe Konflikte<br />

zwischen Sunniten und Schiiten gespalten sind. 1958 erklärte sich Irak als Staat <strong>zwei</strong>er<br />

Nationen, der Araber und der Kurden. Unter Saddam Hussein wurde 1970 aus <strong>drei</strong> nordostirakischen<br />

Provinzen eine Kurdische Autonome Region (37.000 qkm) gebildet, die 2005 in<br />

(Autonome) Region Kurdistan umbenannt wurde. (Das Wort „Autonome“ fehlt in der irakischen<br />

Verfassung.) Sie hat sich inzwischen auf über 40.000 qkm vergrößert. Die Kurden verlangen<br />

jedoch noch weitere Gebiete. Vor allem die erdölreiche Provinz Kirkuk bleibt bis heute<br />

umstritten. Aus ihr hatte Saddam Hussein zahlreiche Kurden vertrieben, um dort viele Araber<br />

aus <strong>dem</strong> Süden an<strong>zu</strong>siedeln. In den letzten Jahren gab es erhebliche Rücksiedlungen beider<br />

Gruppen. Bei den Auseinanderset<strong>zu</strong>ngen um Kirkuk beansprucht die Türkei, die Interessen<br />

der dort lebenden turkmenischen Minderheit, die gelegentlich sowohl von Arabern als<br />

auch Kurden drangsaliert werden, <strong>zu</strong> vertreten. Vor allem aber geht es der Türkei darum, daß<br />

die Kurden mit den Erdölquellen keine wirtschaftliche Basis für einen unabhängigen kurdischen<br />

Staat erlangen. Gleichzeitig wird jedoch seit wenigen Jahren Gas und Erdöl aus der<br />

Region unter der Beteiligung türkischer Firmen nach Ceyhan in der Türkei geleitet.<br />

Politisch wurden die irakischen Kurden lange von der 1946 im Iran gegründeten Demokratische<br />

Partei <strong>Kurdistans</strong> (Partîya Demokrata Kurdistanê, PDK) unter der Führung Mustafa<br />

Barzanis vertreten, der 1964 einen Waffenstillstand mit der irakischen Regierung aushandelte.<br />

Dies führte <strong>zu</strong>r Abspaltung der Patriotischen Union <strong>Kurdistans</strong> (PUK) unter Dschalal Talabani,<br />

die sich im Osten des Kurdengebiets eine eigene Machtbasis (Zentrum Sulaimaniyya)<br />

schuf. Die PUK erhielt während des ersten Golfkrieges Unterstüt<strong>zu</strong>ng vom Iran, während die<br />

PDK von Saddam Hussein, unter dessen Herrschaft über 100.000 Kurden sterben mußten, in<br />

einem längeren Krieg zwischen den beiden irak-kurdischen Parteien (1994-1998) taktische<br />

Hilfe erhielt. Vermutlich spielt auch der sprachliche Unterschied zwischen den Kurmanci-<br />

Sprechern im Westen und den Sorani-Sprechern im Osten eine gewisse Rolle in diesem Parteienzwist.<br />

Nach <strong>dem</strong> <strong>zwei</strong>ten Golfkrieg 1991 schufen die Alliierten eine Flugverbots- und<br />

Sicherheitszone im Norden Iraks. Dies ermöglichte faktisch die Bildung eines PDK-Staates in<br />

Arbil und eines PUK-Staates in Sulaimaniyya mit starken, von den USA unterstützten kurdi-


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

14<br />

schen Truppen. Nach <strong>dem</strong> 3. Golfkrieg konnten die DPK unter Masud Barzani und die PUK<br />

unter Dschalal Talabani sich <strong>zu</strong> einem gemeinsamen <strong>Auf</strong>treten bei den ersten irakischen Wahlen<br />

im Januar 2005 einigen. Die Demokratische Patriotische Allianz <strong>Kurdistans</strong> erwirkte die<br />

Wahl Talabanis <strong>zu</strong>m irakischen Staatspräsidenten und Barzanis <strong>zu</strong>m Präsidenten der Region<br />

Kurdistan mit Sitz in Arbil (Hewlêr). Bei den Regionalwahlen im Juli 2009 erlangte eine neue<br />

Partei Goran („Wandel“) 23,8 % der Stimmen, die die Korruption in der bisher dominanten<br />

Elite angeprangert hatte. Die Region Kurdistan versteht sich als Teil der Bundesrepublik Irak,<br />

erhebt aber den Anspruch auf Unabhängigkeit im Namen des Selbstbestimmungsrechts der<br />

Völker, falls die irakische Verfassung gegen kurdischen Willen geändert werden sollte.<br />

4 Die Autonome Region Kurdistan im Irak – ein Konfliktherd für die gesamte<br />

Region des Mittleren Ostens<br />

Es ist in allen <strong>vier</strong> Staaten immer wieder damit <strong>zu</strong> rechnen, daß lokale Ereignisse und staatliche<br />

oder gesellschaftliche Unterdrückungsmaßnahmen <strong>zu</strong> kurdischen Unruhen, Attentaten<br />

und <strong>Auf</strong>ständen führen. Der gefährlichste Konfliktherd dürfte jedoch der Streit um die Angliederung<br />

kurdischer oder ehemals kurdischer Gebiete an die Autonome Region Kurdistan<br />

sowie um das Erdöl und Erdgas in diesen Gebieten sein. Außer<strong>dem</strong> könnten damit verbundene<br />

arabische Versuche <strong>zu</strong>r Rezentralisierung des Staates einen furchtbaren Bürgerkrieg im<br />

Irak hervorrufen. Die dann <strong>zu</strong> erwartende Unabhängigkeitserklärung der Region Kurdistan<br />

könnte die Türkei veranlassen, nachhaltiger als bisher in der Region militärisch <strong>zu</strong> intervenieren,<br />

vermutlich mit <strong>dem</strong> Grund oder auch nur unter <strong>dem</strong> Vorwand, die kurdische Regionsregierung<br />

unterstütze die separatistischen Bestrebungen der bewaffneten Verbände der PKK<br />

massiv, übe also aggressive Handlungen gegenüber der Türkei aus. Nach <strong>dem</strong> Rück<strong>zu</strong>g der<br />

US-Truppen könnten die Extremisten in der Türkei sich <strong>zu</strong> einer stärker interventionistischen<br />

Politik im Nordirak ermutigt fühlen. Die kurdischen Truppen im Nordirak sind jedoch mittlerweile<br />

so stark, daß ein neuer Bürger- und Interventionskrieg in der Region außerordentlich<br />

blutig und langwierig sein dürfte. Aber vermutlich werden die Kurden ihn kaum gewinnen<br />

können. Der Preis für einen neuerlichen arabischen und türkischen Sieg dürfte aber ungeheuer<br />

groß sein. Im Lichte einer solch schrecklichen Perspektive dürften gemäßigtere, pragmatische<br />

Politiker auf allen Seiten nicht unbeträchtliche Chancen haben, Kompromisse aus<strong>zu</strong>handeln,<br />

die Schritt für Schritt kurdische ethnisch-kulturelle und nationalpolitische Interessen besser<br />

als gegenwärtig befriedigen, ohne die Integrität der bestehenden Staaten <strong>zu</strong> gefährden und das<br />

regionale Staatensystem in eine tiefe Krise <strong>zu</strong> stürzen.


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

15<br />

Am meisten können Kurden in der internationalen, aber vor allem auch in Teilen der türkischen,<br />

arabischen und iranischen Öffentlichkeit Verständnis und Unterstüt<strong>zu</strong>ng finden für<br />

zivilgesellschaftliche und politische Forderungen im Sinne einfacher Bürger- und Menschenrechte,<br />

vor allem wenn sie mit friedlichen Mitteln verfochten werden. Nur stellt sich immer<br />

wieder das Problem, daß gewaltlose Aktionen weit weniger internationale <strong>Auf</strong>merksamkeit<br />

finden als Attentate, Terroraktionen und <strong>Auf</strong>stände, wie sich in den vergangenen Jahren wieder<br />

im Kosovo zeigte. Dennoch dürften sich mit der Urbanisierung und Alphabetisierung auch<br />

von vielen Kurden die Chancen des Erlernens von gewaltlosen oder gar gewaltfreien Aktionsformen<br />

erhöhen. Viel schwieriger sind kurdische politische Forderungen auf kollektiven Minderheitenschutz,<br />

auf personale und territoriale Autonomie oder gar auf föderative Staatlichkeit<br />

in der Türkei, in Iran und Syrien durch<strong>zu</strong>setzen.<br />

5 Verschiedene Formen der Autonomie als Chance für eine friedliche<br />

Konfliktregulierung<br />

Nichts spricht dafür, daß die Kurden irgendwann einmal eine ähnlich günstige, internationale<br />

politische Situation erleben werden wie die Polen 1918, als die sie beherrschenden Staaten<br />

Österreich-Ungarn, Deutschland und Rußland gleichzeitig durch Niederlagen im Ersten Weltkrieg<br />

so geschwächt und die herrschende Meinung in den anderen Großmächten ihnen so<br />

günstig gesonnen war, daß ein polnischer Nationalstaat entstehen konnte. Ein vereinigtes,<br />

unabhängiges Gesamtkurdistan ist also völlig unwahrscheinlich, da eine gleichzeitige drastische<br />

politisch-militärische Schwächung der Türkei, Iraks, Irans und Syriens so gut wie undenkbar<br />

ist, selbst nicht in einem Dritten Weltkrieg.<br />

Auch die Sezession eines kleinen <strong>Kurdistans</strong> von einem der bestehenden Staaten wird voraussichtlich<br />

nicht ohne umfangreiches Blutvergießen möglich sein. Es ist nicht erkennbar, daß<br />

irgendeine Großmacht bereit wäre, eine kurdische Sezession von einem der <strong>vier</strong> Staaten Türkei,<br />

Irak, Iran oder Syrien <strong>zu</strong> unterstützen. Wenig spricht auch dafür, daß die Westmächte sich<br />

eines Tages für ein unabhängiges Kurdistan einsetzen werden, wie sie das 2008 für ein unabhängiges<br />

Kosovo getan haben. Völlig unklar ist hingegen, ob die Kurden selbst eine realistische<br />

Einschät<strong>zu</strong>ng ihrer internationalen Situation besitzen und wie viele unter ihnen eine<br />

friedliche und wie viele eine kriegerische Sezession wünschen oder gar unterstützen. Dabei ist<br />

<strong>zu</strong> berücksichtigen, daß kurdische Sezessionswünsche sich häufig beträchtlich in Abhängigkeit<br />

vom Grade der jeweiligen Repression als auch von den Freiheiten <strong>zu</strong>r nationalen politischen<br />

Artikulation und Organisation wandeln. Die Anzahl der Araber, Türken und Perser, die


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

16<br />

wollen, daß sich ihre Staaten von den immer wieder rebellierenden, mehrheitlich kurdischen<br />

Gebieten trennen, um sich in ihren eigenen Kerngebieten friedlich entfalten <strong>zu</strong> können, so wie<br />

sich die meisten Engländer schließlich mit der Lostrennung Irlands abfanden, die meisten<br />

Tschechen mit der Lostrennung der Slowakei usw., dürfte noch lange sehr gering bleiben.<br />

Es spricht also alles dafür, daß die Kurden auf eine innerstaatliche Konfliktregulierung in den<br />

<strong>vier</strong> bestehenden Staaten angewiesen sind. Diese hängt jedoch nur <strong>zu</strong>m kleineren Teil von<br />

ihnen selbst ab, sondern weit mehr von der Bereitschaft der bestehenden Staaten und ihrer<br />

Bevölkerungsmehrheit, die Kurden als gleichberechtigte Bürger und Ethnie oder auch Nation<br />

politisch und gesellschaftlich <strong>zu</strong> integrieren. Die größten Chancen bestehen hier<strong>zu</strong> derzeit im<br />

Irak durch eine noch aus<strong>zu</strong>bauende und <strong>zu</strong> stabilisierende föderative Staatsordnung. Die anderen<br />

<strong>drei</strong> Staaten dürften noch lange nicht <strong>zu</strong> einer vergleichbaren Staatsreform bereit sein.<br />

Sollte jedoch die Bundesrepublik Irak nicht auseinanderbrechen und sich nachhaltig stabilisieren,<br />

so werden mit Sicherheit von <strong>dem</strong> Beispiel der Autonomen Region Kurdistan Impulse<br />

auf die Nachbarstaaten ausgehen, ebenfalls auf kurdische Belange ein<strong>zu</strong>gehen.<br />

Denkbar wäre in den nächsten Jahren die Einrichtung von kommunaler, vor allem auch<br />

sprachlich-kultureller Selbstbestimmung, solange die Furcht vor regionaler Autonomie oder<br />

gar Föderierung noch mit <strong>dem</strong> Verdacht behaftet ist, Hebel und Vorstufe <strong>zu</strong>r Sezession werden<br />

<strong>zu</strong> können. Dem könnte eine kleinregionale Selbstregierung der Provinzen bei gleichzeitiger<br />

Unterbindung des politisch-administrativen Zusammenschlusses der großen ethnischen<br />

Siedlungsgebiete folgen. Eine solche Regelung entspräche eher <strong>dem</strong> Modell Schweiz als <strong>dem</strong><br />

Modell Spanien. Befriedend kann auch die Bildung von kurdischen Sektionen in den türkischen,<br />

iranischen und syrischen Parteien wirken. <strong>Auf</strong> der ideologischen Ebene schließt die<br />

einheitliche Bezeichnung der Staatsangehörigen mit <strong>dem</strong> Namen der ethnisch-sprachlich dominanten<br />

Gruppe (Titularethnie) und die Benut<strong>zu</strong>ng des Wortes Nation für alle Staatsangehörigen<br />

nicht die Anerkennung einer sekundären gesellschaftlichen oder gar einer politischen<br />

Identität als Ethnie aus. So wie man sich als katalanischer Spanier, arabischer Franzose, türkischer<br />

Deutscher verstehen und als solcher von der Mehrheitsbevölkerung anerkannt werden<br />

kann, so bleibt es nicht ausgeschlossen, daß es eines Tages selbstbewußte kurdische Türken,<br />

Iraker, Syrer und Iraner gibt, die als solche auch von anderen anerkannt werden. Für die Türkeikurden<br />

kann es ein sozialökonomischer Vorteil sein, die Chance einer EU-Mitgliedschaft<br />

<strong>zu</strong> haben, die sie in einem unabhängigen, ostanatolischen Kurdistan nie bekämen. Schon heute<br />

zwingt die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft die Türkei, sich schrittweise den europäischen<br />

minderheitspolitischen Mindest-Standards an<strong>zu</strong>passen.


6 Die Wahrscheinlichkeit fortgesetzter bewaffneter Auseinanderset<strong>zu</strong>ngen<br />

© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle<br />

17<br />

Eine umfassende Regulierung der Kurdenfrage in allen <strong>vier</strong> Staaten ist in den nächsten Jahren<br />

nicht <strong>zu</strong> erwarten. Deshalb muß immer wieder mit bewaffneten Auseinanderset<strong>zu</strong>ngen gerechnet<br />

werden, obwohl bisher häufige Terroranschläge wie in Afghanistan, Pakistan und in<br />

den arabischen Teilen Iraks vermieden werden konnten. Die möglicherweise ethnischkulturellen<br />

Gründe für dieses erstaunliche Phänomen wurden anscheinend bisher noch wenig<br />

ergründet. Andererseits haben die Kurden bisher noch keine ausgeprägte Kultur des gewaltlosen<br />

Widerstands entwickelt, wie sie bis 1987 die Kosovo-Albaner oder vor 1991 die baltischen<br />

Völker praktiziert hatten. Es bleibt ab<strong>zu</strong>warten, ob die Verstädterung und Europäisierung<br />

vieler Kurden <strong>zu</strong>r Entwicklung einer gewaltlosen Aktionskultur führen wird, die eine<br />

breitere gesellschaftliche Basis und eine bessere internationale Resonanz gewährleistet.<br />

Mit großer Sicherheit wird eine vollständige sprachlich-ethnische Assimilation der Kurden<br />

durch die Mehrheitsbevölkerungen mit Zwang oder auch mit ökonomisch-politischen Anreizen<br />

nicht gelingen. Mit ebenso großer Sicherheit kann man annehmen, daß sich das kurdische<br />

Nationalbewußtsein mit den Fortschritten der Urbanisierung und Alphabetisierung in der Region<br />

weiter entfalten wird, wobei es noch offen bleiben muß, ob es gelingt, dieses Nationalbewußtsein<br />

in eher realistische, pragmatische Bahnen partikularer Staatlichkeit <strong>zu</strong> lenken oder<br />

ob doch noch – wider Erwarten – ein starkes gesamtkurdisches Nationalbewußtsein entsteht.<br />

Letzteres dürfte eher <strong>zu</strong> den illusionären pannationalen Vorstellungen wie das „arabische“,<br />

das „slawische“ oder auch „jugoslawische“, das „pantürkische“ oder „turanische“ und das<br />

„skandinavische“ Nationalbewußtsein gehören, die bisher stets nur Übergangsstadien <strong>zu</strong> territorial<br />

und sprachlich-kulturell engeren „nationalen Identitäten“ waren. Die Ausbreitung der<br />

Schriftkultur dürfte auch einen spezifischen Sorani- und einen Kurmanci-Nationalismus befördern.<br />

Am Anfang des 19. Jahrhunderts träumte noch mancher Deutsche von einem<br />

Deutschland als Nationalstaat von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt.<br />

Heute ist das damalige Deutschen-Land auf neun Staaten neben <strong>dem</strong> drastisch verkleinerten<br />

Deutschland verteilt, in denen die dort lebenden Deutschen sich überwiegend <strong>zu</strong>r schweizerischen,<br />

österreichischen, luxemburgischen, belgischen, italienischen, französischen, dänischen,<br />

polnischen, litauischen, tschechischen Nation <strong>zu</strong>gehörig fühlen, ohne auf<strong>zu</strong>hören, irgendwie<br />

immer noch kulturell Deutsche <strong>zu</strong> sein. Auch ein Kurden-Land hat eine Zukunft als kurdisches<br />

Land, selbst wenn kein Teil davon ein unabhängiger Staat werden sollte, sondern wenn<br />

sich mehrere „<strong>Kurdistans</strong>“ mit kommunaler bzw. regionaler Autonomie oder mit föderativer<br />

Staatlichkeit innerhalb der heutigen Staatsgrenzen entwickeln.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!