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„Wer lebendig bleiben und eigen sein will, muss zuerst mal den Mut dazu haben...“<br />
Sieben Milliarden Kreative und ich<br />
Sugata W. Schneider über Kreativität und Talent<br />
Habe ich Talent? Bin ich kreativ? Mein Geschreibsel<br />
oder Gekritzel, meine Fotos, mein Tanz, ist das originell?<br />
Oder ist es nur ein Abklatsch von irgendeinem<br />
Vorbild, dessen ich mir vielleicht nicht einmal bewusst<br />
bin? Wenn bei dir die akute Not des Überlebens nicht<br />
gerade alles andere dominiert, fragst auch du dich das<br />
irgendwann mal im Leben, so wie ich.<br />
Als ich 2006 eines morgens las, dass Orhan Pamuk<br />
den Literaturnobelpreis bekommen hatte, vor allem<br />
<strong>für</strong> seine Erzählkunst, freute ich mich: Uiii, ER hat<br />
ihn bekommen! Wie schön. Er ist ein guter Schreiber,<br />
ehrlich, bescheiden und witzig, ein Glücksfall von<br />
Autor. Er beschreibt die türkische Kultur so hautnah<br />
berührend und dabei insbesondere auch Istanbul, diese<br />
quirlige, kosmopolitische Stadt, die ich so sehr mag.<br />
Und er ist bereit, <strong>für</strong> seine Werte einzustehen, ohne<br />
dabei aggressiv zu werden.<br />
Aber DEN Literaturpreis der Welt da<strong>für</strong> zu bekommen?<br />
Ich kenne hunderte Anderer, die ihn ebenso<br />
verdient hätten. Er hat Glück gehabt, es war Zufall. Die<br />
glücklichen Umstände haben ihm der Preis zugespielt,<br />
nicht die Qualität seiner Arbeit. Wenn es nach Qualität<br />
ginge, hätten hunderte Anderer ebensogut den Preis<br />
bekommen müssen.<br />
Auch einige der Autoren, die kaum einer kennt<br />
und deren Texte ich als Herausgeber meiner kleinen<br />
Zeitschrift zu beurteilen habe, hätten ihn verdient.<br />
Es gibt so viel Erzähltalent in der Welt und so viel<br />
Bereitschaft und Fähigkeit sich sprachlich gut auszudrücken!<br />
Ob das grad irgendwelchen Juroren gefällt,<br />
ist Glückssache.<br />
Sand auf den Straßen der Großen<br />
Ich meine damit nicht, dass jemand anderes den Preis<br />
hätte bekommen sollen. Pamuk hat ihn verdient. Aber<br />
auch andere hätten ihn verdient, die ihr Talent bereits<br />
entwickelt haben und Erzählkunstwerke vorlegen<br />
können. Und Millionen anderer gibt es, die verdient<br />
hätten, Umstände vorzufinden, die ihr Talent ausgebildet<br />
hätten!<br />
Die normalen Umstände in der Welt sind Talentvernichtungsmaschinen.<br />
Du kommst mit Talent auf die<br />
Welt, dann mahlen diese Mühlen, und wenn sie ihr<br />
Werk getan haben, bist du ein paar Körnchen Sand<br />
auf einer der Straßen, auf denen »die Großen« ihre<br />
Paraden aufführen, ein erloschenes Licht, ein ausgehauchter<br />
Lebensgeist, als Individuum gestorben längst<br />
vor dem physischen Tod.<br />
Wenn man die Menschen in Bezug auf ihre Erzählqualität<br />
vergleicht, dann gibt es vielleicht nur ein<br />
paar Hundert oder paar Tausend, die sich mit Pamuk<br />
messen können.<br />
Wenn man das Talent vergleicht, das bei dir oder<br />
sonstwem als Kind da war mit dem von dem jungen<br />
Pamuk, dann stellt man fest, dass es Millionen gibt,<br />
die zu solcher Dichtung fähig gewesen wären.<br />
KGSBerlin 02/2010<br />
Foto: © Michael Levy - Fotolia.com