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Mariana Prusák: Blicke im Text. Robert Walsers Gedicht «Renoir

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<strong>Gedicht</strong>s, in den Versen 5 bis 12. 11 Auffallend an der Umsetzung des Betrachterblicks<br />

<strong>im</strong> <strong>Text</strong> ist der ständige Wechsel der Blickrichtungen – von oben nach unten und<br />

umgekehrt. 12 Mit der Bezeichnung eines Gemäldes, das in der Sezession «hing» (V 3),<br />

wird zu Beginn auf einen nach oben blickenden Betrachter angespielt. In Vers 6 fällt<br />

der Blick des Betrachters nach unten, indem er «am weißen Kleide» entlang nun der<br />

«schwarze[n] Schleife» folgt, die dem «Frauenbild» «zu Füßen» «fiel» (V 5–8). Irritiert<br />

wird diese Blickrichtung nach unten jedoch durch den Begriff der «Augenweide»,<br />

der durch den Verweis auf die Augen einen Blick nach oben – auf die Augen der<br />

Abgebildeten – andeutet. 13 Durch den eingeschobenen Vergleich der «breite[n],<br />

schwarze[n] Schleife», die «wie eine Augenweide» sein soll, wird aber nicht nur der<br />

Blick von oben nach unten irritiert, sondern die Störung wird verstärkt durch die Art<br />

des Vergleichs: Die «breite, schwarze Schleife» ist nämlich keine «Augenweide» an<br />

sich, sondern sie verhält sich lediglich wie eine Augenweide. Mit dieser medialen<br />

Reflexion, die durch den Verweis auf bloße Ähnlichkeit zustande kommt, zitiert das<br />

<strong>Gedicht</strong> das grundsätzliche Verhältnis von Bild und <strong>Text</strong> und wirft Fragen zu diesem<br />

auf: Denn ist es nicht eigentlich die Frau auf dem Gemälde, die eine Augenweide ist?<br />

Der Blick des Betrachters ist nun am unteren Teil des Gemäldes angekommen, und<br />

zwar «zu Füßen» (V 8). Darauf folgt ein Blick nach oben, auf ein «niedliches Hüt-<br />

chen», welches «das Haar» «bedeckte» (V 9). Während der Blick nach oben wandert,<br />

zeigt sich erneut eine Irritation dieser Blickrichtung durch das kontrastierende Ad-<br />

jektiv «niedlich», das durch die etymologische Verwandtschaft mit dem Adverb<br />

11 Bei der Frau <strong>im</strong> Gemälde handelt es sich um Lise Tréhot (1848–1922), die von ca. 1865 bis 1972<br />

Renoirs bevorzugtes Modell war. Siehe das Kapitel: «Camille und ihre ‹Schwestern› – Ganzfigurige<br />

Frauenportraits als Programmbilder der modernen Malerei», Kat. 20: Pierre-Auguste Renoir (1841–<br />

1919), Lise, 1867, in: Dorothee Hansen u. Wulf Herzogenrath (Hg.): «Monet und Camille. Frauenportraits<br />

<strong>im</strong> Impressionismus», München 2005, S. 104–107, hier: S. 104. In der von seinem Sohn<br />

Jean verfassten Biographie «Mein Vater Auguste Renoir» von 1962 wird Lise Tréhot nur kurz erwähnt:<br />

«Bei meiner Schilderung der Jahre vor und nach dem siebziger Krieg habe ich Renoirs Beziehung<br />

zu zwei Menschen übergangen, die eine Rolle für seine Entwicklung spielten: den Maler<br />

Lecoeur und Lisa, eine reizende junge Frau, die für ihn und andere Maler Modell stand. Aus erster<br />

Hand weiß ich nichts über die Beziehungen des Trios, außer daß Renoir und Lecoeur einige Monate<br />

bei Lisas Eltern in Ville d’Avray lebten.» (Jean Renoir: «Mein Vater Auguste Renoir», übers. von<br />

Sigrid Stahlmann, München 1962, S. 127.) Renoir lernte Lise Tréhot 1865 kennen, <strong>«Renoir</strong>s Freund<br />

Jules Le Coeur, der Geliebte von Lises Schwester, muss die beiden miteinander bekannt gemacht<br />

haben, und wahrscheinlich waren auch Renoir und Lise ein Paar.» (Hansen/Herzogenrath: Monet<br />

und Camille, S. 104) Es gibt drei Versionen der Szene mit Tréhot <strong>im</strong> weißen Kleid mit schwarzer<br />

Schleife, von der dieses Gemälde das bekannteste ist.<br />

12 Zwar ist von einem «Blick» selbst <strong>im</strong> <strong>Text</strong> nicht die Rede, jedoch zeigt sich hier ein best<strong>im</strong>mtes<br />

Muster der visuellen Wahrnehmung.<br />

13 Der Begriff der «Augenweide» findet sich auch bei Goethe: «süßer Anblick, Seelenfreude / augenweid<br />

und herzensweide». «Süß» ist bei Goethe die Augenweide, bei Walser die Frauenfigur.<br />

Johann Wolfgang von Goethe: «Scherz, List und Rache. Ein Singspiel», in: ders.: «Sämtliche Werke.<br />

Briefe, Tagebücher und Gespräche», vierzig Bde., I. Abteilung, Bd. 5: Dramen 1776–1790, unter<br />

Mitarbeit von Peter Huber hg. von Dieter Borchmeyer, München 1988, S. 369–412, hier: S. 379. Die<br />

Goethe-Stelle wird zitiert in: Johann Christoph Adelung: «Grammatisch-kritisches Wörterbuch der<br />

hochdeutschen Mundart». Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe, Bd. 1, Leipzig 1793, Sp.<br />

566.<br />

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