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Ausgabe drei - Berliner Festspiele

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JANUAR<br />

12. + 13. Januar | 22:00 14. Januar | 18:00 + 22:00 15., 20. + 21. Januar | 18:00 + 20:00<br />

Hans Peter Litscher (Paris) Ein Käfi g ging einen Vogel fangen Annäherungen an Kafkas Relativitätstheorie Uraufführung<br />

12. – 14. Januar | 20:00 Hotel Pro Forma (Kopenhagen) Ich bin nur scheintot nach Hans Christian Andersen<br />

25. + 26. Januar | 19:30 Gilles Jobin (Genf) Steak House<br />

26. Januar | 21:30 27. + 28. Januar I 20:00 Deutschsprachige Erstaufführung<br />

François Sarhan / Bertrand Raynaud / Fred Pommerehn (Paris, Berlin) Les articulations de la Reine – Die Häutungen der Königin<br />

FEBRUAR<br />

2. – 4. Februar | 20:00 The Forsythe Company (Dresden, Frankfurt/Main) Three Atmospheric Studies<br />

Symposion<br />

der Dramaturgischen Gesellschaft<br />

im Haus der <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

vom 20. – 22. Januar 2006<br />

In letzter Zeit ist die soziale Wirklichkeit ins Theater zurückge-<br />

kommen. Nicht als Dokumentartheater, sondern mit Experten,<br />

die auf der Bühne ihre Arbeit verrichten; mit eigentlich Theater-<br />

fremden, die neue Zuschauer werden; mit Stoffen, die ihre eigene<br />

Dramatik mit sich bringen. Das Symposium präsentiert und dis-<br />

kutiert diese Entwicklung in Workshops, Arbeitsdemonstrationen<br />

und Vorträgen mit Dramaturgen, Kritikern, Wissenschaftlern und<br />

dem Publikum. Alle Veranstaltungen sind öffentlich und kostenfrei.<br />

Die Tagung findet statt in Zusammenarbeit mit den <strong>Berliner</strong><br />

<strong>Festspiele</strong>n und dem Sonderforschungsbereich „Kulturen des<br />

Performativen“ der Freien Universität Berlin.<br />

Das ausführliche Tagungsprogramm sowie Akkreditierung und<br />

Anmeldung zu den einzelnen Veranstaltungen unter<br />

www.dramaturgische-gesellschaft.de oder direkt in der Geschäfts-<br />

stelle der Dramaturgischen Gesellschaft.<br />

Kontakt: Heidrun Schlegel Dramaturgische Gesellschaft<br />

dg<br />

Tempelherrenstr. 4 – 10961 Berlin<br />

Tel: 030 / 693 24 82<br />

Fax: 030 / 693 26 54<br />

post@dramaturgische-gesellschaft.de<br />

Freitag, 20.01.06<br />

> Eröffnungsvortrag von Dirk Baecker, Professor für Soziologie an<br />

der Universität Witten/Herdecke<br />

> Sehnsucht nach Intervention, mit Sabrina Zwach, Kuratorin des<br />

6. Festivals Politik im Freien Theater in Berlin und KünstlerInnen<br />

der Sparte „Interventionen“ des Festivals<br />

> Dramaturgie jenseits von Dramatik, Werkstattgespräch mit Chris<br />

Kondek, Videokünstler, Matthias von Hartz, Regisseur, u.a.<br />

> Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen. Die hallu-<br />

zinierte Volkshochschule der Mobilen Akademie, Workshop mit<br />

Hannah Hurtzig, Kuratorin, Carolin Hochleichter, Projektleitung<br />

und Barbara Gronau, wissenschaftliche Beratung<br />

Samstag, 21.01.06<br />

> Neues Theater braucht neue Beschreibungen, Vortrag von Barbara<br />

Gronau, Theaterwissenschaftlerin, Freie Universität Berlin<br />

> Beschreibung und Bewertung von Realität im Theater, mit Till<br />

Briegleb, Theaterkritiker, Hamburg und Florian Malzacher,<br />

Dramaturg Steirischer Herbst, Graz<br />

> Theater als Lebensraum, mit der Regisseurin Gudrun Herrbold,<br />

Berlin<br />

> Heersums derbes, geiles Volkstheater, mit dem Regisseur Uli<br />

Jäckle, Hildesheim<br />

Änderungen vorbehalten<br />

> Die Winterakademie des Theaters an der Parkaue, mit Karola<br />

Marsch, Theaterpädagogin/Dramaturgin und Sascha Willenbacher<br />

Theaterpädagoge/Dramaturg, Theater an der Parkaue Berlin<br />

> Das Genter Theater und Kinderkunsthaus Kopergietery, mit Johan<br />

de Smet, Regisseur und künstlerischer Leiter Kopergietery Gent<br />

VERANSTALTUNGSORT<br />

Haus der <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

Schaperstraße 24<br />

10719 Berlin-Wilmersdorf<br />

U3 + U9 Spichernstraße | Bus 204, 249<br />

VORVERKAUF<br />

Kasse im Haus der <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

Schaperstraße 24 | Mo bis Sa 14:00 – 18:00<br />

… und bei allen bekannten Theaterkassen<br />

Karten + Informationen Tel (030) 254 89 100<br />

Mo bis Fr 10:00 – 18:00<br />

Im Internet: www.berlinerfestspiele.de<br />

kartenbuero@berlinerfestspiele.de<br />

Ermäßigte Karten auch im Vorverkauf<br />

Abendkasse jeweils 1 Stunde vor Vorstellungsbeginn<br />

R A D I K A L S O Z I A L – W a h r n e h m u n g u n d B e s c h r e i b u n g v o n R e a l i t ä t i m T h e a t e r<br />

> Kaltes Land, Workshop über das preisgekrönte Stück des Kleist-<br />

Förderpreisträgers 2005 Reto Finger<br />

> Interventionen durch Theater, Kunst und Gestaltung, mit Christian<br />

Lagé, der Gruppe anschlaege.de und dem Dramaturgen Arved<br />

Schultze, Berlin<br />

> Theater als kreativer Tauschhandel, Arbeitsgespräch über<br />

theaterpädagogische Arbeit mit Uta Plate, Theaterpädagogin,<br />

Schaubühne am Lehniner Platz<br />

> Choreografien des Sozialen, mit Bettina Masuch, Tanzkuratorin,<br />

HAU Berlin und Annemarie Matzke, Theaterwissenschaftlerin,<br />

Freie Universität Berlin<br />

Sonntag, 22.01.06<br />

> Bunnyhill, eine Staatsgründung, Projekt der Münchner Kammer-<br />

spiele, mit Björn Bicker, Dramaturg, Münchner Kammerspiele<br />

> Hunger nach Glückseligkeit, Theater im sozialen Brennpunkt<br />

Mannheim-Jungbusch, mit Bernd Görner, Regisseur, „Creative<br />

Factory“ Mannheim<br />

> In der Grauzone zwischen Realität und Fiktion, Gespräch mit<br />

Helgard Haug und Daniel Wetzel, Rimini Protokoll<br />

> Spiel und Wirklichkeit. Die Gesellschaft auf der Bühne,<br />

Arbeitsgespräch mit dem Regisseur Volker Lösch und Jörg Bochow,<br />

Chefdramaturg, Schauspiel Stuttgart<br />

> HYP‘OP Hyperaktivität und Oper, mit der Regisseurin Adriana<br />

Altaras und Ilka Seifert, Dramaturgin, Staatsoper Berlin<br />

> Rollenwechsel. Der Schauspieler im Theater des Sozialen, Vortrag<br />

von Jens Roselt, Theaterwissenschaftler, Freie Universität Berlin


Im Mittelpunkt dieser <strong>Ausgabe</strong> – der dritten und letzten zur spielzeiteuropa 05 | 06 – steht Kirsten Dehlholm, die künst-<br />

lerische Leiterin und Regisseurin der bekanntesten freien dänischen Theatergruppe Hotel Pro Forma mit ihrem Musik-<br />

theaterprojekt «Ich bin nur scheintot» nach Texten von Hans Christian Andersen. 2005 wurde Andersen zu seinem 200.<br />

Geburtstag vielerorts neu und wieder entdeckt, nicht nur als der weltbekannte Märchenerzähler, sondern als Schriftstel-<br />

ler, Reise- und Tagebuchautor sowie als bildender Künstler, dessen Scherenschnitte und Bildcollagen bereits auf surre-<br />

alistische Techniken verweisen. «Ich bin nur scheintot» handelt von den Ängsten und Obsessionen Andersens und ver-<br />

weist nochmals auf das dieser zweiten Saison zu Grunde liegende Thema: Körper und Erinnerung.<br />

Außerdem führt der in Paris lebende Schweizer «Lügenbaron» Hans Peter Litscher die Zuschauer seines Kafka/Einstein-<br />

Projektes auf labyrinthischen Irrwegen durch das Haus der <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong>. Zum Abschluss zweimal Tanz: spielzeit-<br />

europa präsentiert neue Arbeiten von Gilles Jobin und William Forsythe.<br />

Alles Gute für 2006 und viele spannende Begegnungen<br />

wünscht<br />

Die Redaktion<br />

Glück als Strafe<br />

Der dänische Philosoph Villy Sørensen über Hans Christian Andersen<br />

Hans Christian Andersen lebte, daheim und auf Reisen,<br />

mitten in einem Gewimmel von Menschen, und doch las-<br />

sen sich seine Tagebücher in zehn dicken Bänden wie<br />

eine einzige Klage über Einsamkeit lesen. Es fi el ihm<br />

schwer, sich über längere Zeit mit seiner eigenen Gesell-<br />

schaft begnügen zu müssen, und leider fanden auch die<br />

meisten anderen Menschen auf die Dauer seine Gesell-<br />

schaft anstrengend. Er war in vielen Häusern ein gern ge-<br />

sehener Gast, auch in höheren Kreisen, vertrauliches Zu-<br />

sammensein aber pfl egte er nur mit Wenigen. In der<br />

Regel musste er sich damit begnügen, sich dem Tage-<br />

buch anzuvertrauen, das für ihn mit der Zeit immer le-<br />

bensnotwendiger wurde.<br />

Wenn das Tagebuch auch ein lebendiges Zeitbild vermit-<br />

telt, ist es in erster Linie ein Selbstporträt. Ein einziges<br />

Mal ertappt sich Andersen beim Gedanken, dass jemand<br />

es lesen könnte – «dann kann ich nicht ich selbst sein».<br />

Auffallend ist dabei, dass er es gar nicht lassen konnte, er<br />

selbst zu sein, weder im Schreiben noch im Handeln.<br />

Dies war – und ist – das Faszinierende an seiner sonder-<br />

baren Persönlichkeit, die er an einer Stelle seine «lächer-<br />

liche Persönlichkeit» nennt. Das Lächerliche war, meinte<br />

er, dass er für sein Äußeres viel zu jung war: «Innerlich<br />

bin ich immer noch 16 Jahre alt, darf es aber nach Mei-<br />

nung der anderen nicht sein», schrieb er noch als 59-Jäh-<br />

riger. Er verkehrte immer in der Welt der anderen, der<br />

Welt der Erwachsenen, immer in der Angst negativ aufzu-<br />

fallen, immer gleich ehrfürchtig, wenn er von den Großen<br />

dieser Welt empfangen wurde. Deshalb konnte er niemals<br />

genug Lob bekommen und gewöhnte sich nie an Kritik,<br />

obwohl er viel davon einstecken musste.<br />

Er konnte – davon legen seine Tagebücher ein erschüt-<br />

terndes Zeugnis ab – seine Fantasie nur schwer kontrollie-<br />

ren. Doch seine schrägen Ideen und Angstausbrüche wa-<br />

Essay von Villy Sørensen > 2<br />

Gespräch mit Kirsten Dehlholm > 4<br />

Ich bin nur scheintot > 7<br />

Ein Käfi g ging einen Vogel fangen > 8<br />

Steak House > 9<br />

Die Häutungen der Königin > 10<br />

Three Atmospheric Studies > 11<br />

Programmüberblick > 12<br />

ren gleichzeitig der Ausgangspunkt der umfangreichen<br />

literarischen Produktion von Märchen, Romanen und<br />

Schauspielen. Immer wieder setzt er sich selbstquäleri-<br />

schen Zerrbildern und obskuren Gedanken aus. Aber er<br />

hört nicht damit auf, sie aufzuschreiben, um sie doch we-<br />

nigstens aufs Papier zu bannen.<br />

Den Humor und die Ironie, die in den Märchen dazu bei-<br />

tragen, dass die Dinge und die Menschen in der richtigen<br />

Perspektive erscheinen, besaß Hans Christian Andersen<br />

auch im wirklichen Leben. Er befürchtete immer, dass et-<br />

was Schreckliches passieren könnte, gleichzeitig erwarte-<br />

te er aber auch immer das große Glück, zumindest in der<br />

Glückslotterie des Lebens. Des Lebens, das ihn oft un-<br />

glücklich machte, von dem er trotzdem niemals genug<br />

bekommen konnte – wie etwa wenn er im November 1870<br />

schreibt: «Ich habe mich am Leben satt gegessen – zu-<br />

mindest für heute Abend.»<br />

Es ist für Hans Christian Andersen charakteristisch, dass<br />

sein Glaube an Gott ein Glücksglaube war, von dem Tag<br />

an, als das Kind, auf das eigene Glück vertrauend, ins<br />

Ungewisse auszog, bis ins hohe Alter, als er gewaltige<br />

seelische Qualen erlitt, wenn er in der Lotterie des Le-<br />

bens Pech hatte: Es war für ihn ein Zeichen dafür, dass<br />

Gott nicht auf seiner Seite stand. Eine ausgesprochene<br />

Religiosität kommt in Hans Christian Andersens Werken<br />

denn auch erst zum Vorschein, als er selbst bereits vom<br />

Glück begleitet wurde. Das religiöse Empfi nden ist für ihn<br />

ein Dankbarkeitsempfi nden, das Gefühl, von den Mäch-<br />

ten akzeptiert zu sein, sowohl von denen im Himmel als<br />

auch auf Erden. Letzteres erklärt teilweise Andersens<br />

Streben nach Ruhm und danach, für das erkannt zu wer-<br />

den, was er war.<br />

Das, was Hans Christian Andersen das Glück nannte, hat-<br />

te wenig mit bürgerlichem Wohlbefi nden zu tun, es ging<br />

eher ins Magische wie der altnordische Glücksbegriff.<br />

Vom Glück gesegnet zu sein, ist das Gefühl, dass alles,<br />

was man unternimmt, sinnvoll ist, «glücklich» zu sein<br />

heißt, ganz man selbst zu sein.<br />

Dies aber ist der Kern aller religiösen Mystik: Dass man in<br />

dem Moment, in dem man ganz bei sich ist, auch mehr<br />

ist. Es ist, als ob man mit etwas in Berührung kommt, das<br />

dem Menschen sonst verborgen bleibt und das er eigent-<br />

lich nicht sehen darf. Dies spürt der Dichter in seiner<br />

göttlichen Inspiration, und dies spürte gewissermaßen<br />

auch die Hauptperson im Roman «O.T.» (1837), als sie<br />

sagte: «Ich bin so glücklich, dass ich fürchte, ich werde<br />

bald von großem Kummer betroffen, denn so geht es ja<br />

immer.» Das Glück trägt bereits die Strafe in sich, allein<br />

weil es nicht festgehalten werden kann.<br />

Was berührte ihn selbst, bewegte ihn, so dass in ihm al-<br />

les in Bewegung kam? Selbstverständlich war es für ihn<br />

wie für alle anderen der Eros, die Anziehungskraft, der<br />

Ausdruckstrieb in allem Lebenden, die Schönheit, die in-<br />

nere wie die äußere, das Zentrum in seinem Universum<br />

war aber auch ein wunder Punkt. Lebenserfüllung ist in<br />

seiner Welt nicht die Verschmelzung von Mann und Frau,<br />

vielleicht eher von Männlichem und Weiblichem. Sein<br />

Traum galt wohl der Verschmelzung von Märchenhaftig-<br />

keit und Wirklichkeit, von Ursprünglichkeit und Bürger-<br />

lichkeit, sie gelang ihm aber nie ganz, weil die Bürgerlich-<br />

keit zu eng war.<br />

Dass der Individuationsprozess Hans Christian Andersens<br />

nicht «gelang», hängt damit zusammen, dass er seine ne-<br />

gative, christliche Auffassung vom Gefühlsleben für heid-<br />

nisch und sündhaft hielt – und deswegen in den unschul-<br />

digen Gefühlen der Kindheit Zufl ucht suchte.<br />

Andersen lebte und schrieb in einer Zeit, in der das über-<br />

lieferte, religiös begründete Weltbild dabei war sich auf-<br />

zulösen. Die letzte große Theodizee (eine positive Ausle-<br />

gung des Bösen), die das Negative in der Welt aufzuheben<br />

und es in etwas Positives zu verwandeln vermochte, war<br />

das philosophische System Hegels. Die desillusionieren-<br />

de wissenschaftliche Orientierung setzte sich immer mehr<br />

durch und brachte materialistische Ideen mit sich, die<br />

Erde verlor ihren himmlischen Horizont, und der Glaube<br />

an eine Ausgleich schaffende Gerechtigkeit im Jenseits<br />

war im Verschwinden. Gleichzeitig fi el die irdische Unge-<br />

rechtigkeit umso stärker ins Auge, mit der Industrialisie-<br />

rung der Gesellschaft und den krasser werdenden Gegen-<br />

sätzen zwischen den Klassen, zwischen arm und reich.<br />

Hans Christian Andersen nahm immer die Perspektive der<br />

Außenseiter der Gesellschaft ein, der Alten und der Ein-<br />

samen. Doch sein Interesse für die Benachteiligten in der<br />

Gesellschaft war kein Ausdruck einer bewussten politi-<br />

schen Tendenz. Hans Christian Andersens Methode ist,<br />

die persönlichen Probleme sozial zu machen und sie da-<br />

nach ins Licht der Ewigkeit zu rücken. «Die Ewigkeit ist<br />

lang, länger als diese Geschichte!» – dies war die Grund-<br />

lage seines Unsterblichkeitsglaubens.<br />

Hans Christian Andersen wusste ja, dass diese religiöse<br />

Auffassung von der neuen Zeit und ihren materialisti-<br />

schen Ideen bedroht war. Die Tendenz der Zeit versucht<br />

er denn auch im Roman «Sein oder Nichtsein» (1857) zu<br />

schildern. Der junge Student Niels Bryde, der Theologie<br />

studieren soll und in die Hauptstadt zieht, begeistert sich<br />

für die neuen naturwissenschaftlichen Entdeckungen und<br />

bricht das Studium ab, um Mediziner zu werden. Er kann<br />

die neuen materialistischen Dogmen zitieren: «Der<br />

Mensch ist ein Produkt seiner Eltern und seiner Amme,<br />

der Art und der Zeit, der Luft und des Wetters, der Geräu-<br />

sche und des Lichts, der Nahrung und der Kleidung. Aber<br />

das Höhere in uns, das Denken? Ist eine Bewegung des<br />

Stoffes. Ohne Phosphor kein Denken! Die Bewegung des<br />

Stoffes durch die Elektrizität, in Verbindung mit den Ner-<br />

ven, wird zum Gehirnempfi nden, zu dem, was wir Be-<br />

wusstsein nennen.»<br />

Für Hans Christian Andersen war es eine Selbstverständ-<br />

lichkeit, dass das Streben nach Wahrheit keineswegs<br />

böse sein könnte, dass der Konfl ikt zwischen der Religion<br />

und der Wissenschaft, zwischen dem Gefühl und dem<br />

Denken bloß eine Art Kinderkrankheit war. Der Konfl ikt<br />

zwischen dem Gefühl und dem Denken erinnerte an die<br />

Krise, die der junge Mensch durchleben muss, wenn er<br />

sich von der Welt eine selbstständige Auffassung bilden<br />

soll und von seiner eigenen Gelehrtheit fast wahnsinnig<br />

wird.<br />

Es scheint zwar leichter zu sein, ein Kind zu bleiben als<br />

wieder eines zu werden, aber weil das Leben ein Prozess<br />

ist, ist der Status quo nicht aufrechtzuerhalten. Wer kin-<br />

disch bleibt, wird infantil, wer seine Kräfte von den alten<br />

Bindungen nicht zu lösen vermag, wird früher oder später<br />

gegen sie kämpfen müssen.<br />

Text aus: Sørensen om Andersen. Villy Sørensens udvalgte<br />

artikler om H.C. Andersen, Gyldendal, 2004. (Abdruck der<br />

Auszüge mit Erlaubnis der Erben Villy Sørensens)<br />

Villy Sørensen (1929 – 2001), hoch angesehener däni-<br />

scher Schriftsteller und Philosoph, wurde vor allem als<br />

Mitautor der politischen Streitschrift «Aufruhr der Mitte.<br />

Modell einer künftigen Gesellschaftsordnung» Ende der<br />

siebziger Jahre einem breiteren Publikum bekannt.<br />

Abb.: Bühnenbild zu «Ich bin nur scheintot» aus 32 alten<br />

Spielkarten, bearbeitet mit Motiven aus Andersens Zeich-<br />

nungen und Collagen.


Kirsten Dehlholm, geboren 1945, war Mitgründerin des dä-<br />

nischen Billedstofteater (Bildertheater), einer experimen-<br />

tellen Gruppe, die zwischen 1977 und 1985 an der Schnitt-<br />

stelle zwischen bildender Kunst, Architektur und Perfor-<br />

mance große Installationen mit bewegten Figuren aufführ-<br />

te. 1985 gründete sie Hotel Pro Forma, mehr interdiszipli-<br />

näre Produktionsstätte als feste Theatergruppe, deren<br />

künstlerische Leiterin sie seit langem ist. Seit dem Debüt<br />

mit «An Evening Piece» (1986) wurden die von ihr in Zu-<br />

sammenarbeit mit Künstlern anderer Sparten – Architekten,<br />

Musikern, Autoren u. a. – entwickelten Stücke und Perfor-<br />

mances an vielen Orten und Festivals rund um die Welt ge-<br />

zeigt. In Deutschland gastierte Hotel Pro Forma zuletzt mit<br />

«Operation : Orfeo» (1993), «The Picture of Snow White»<br />

(1994) und «Calling Clavigo» (2002). Kirsten Dehlholm er-<br />

hielt neben anderen renommierten Auszeichnungen für<br />

ihre Arbeit den Danish Arts Foundation Lifetime Grant.<br />

spielzeiteuropa<br />

Zwanzig Jahre Hotel Pro Forma – wer Ihre Arbeiten nicht<br />

kennt, wird beim Namen Hotel Pro Forma dennoch kaum<br />

an Theater denken. Wie kamen Sie auf den Namen?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Als ich Hotel Pro Forma 1985 zusammen mit Willie Flindt<br />

gründete, wollte ich das Wort Theater vermeiden. Meine<br />

Idee war «Hotel», seine «Pro Forma». Letzteres steht für<br />

Form, aber auch für Vorläufi gkeit, während das Hotel ein<br />

Ort für Reisende ist, der viele Räume bereithält. Da gibt<br />

es große und kleine Zimmer, Korridore, geheime Kam-<br />

mern – viele Arten von Bühnen sozusagen. Leute kom-<br />

men und gehen, manche bleiben länger: Das schien mir<br />

eine geeignete Metapher für Theater zu sein. Tatsächlich<br />

bin nur ich es, die immer da ist, während selbst der har-<br />

te Kern von Mitarbeitern wechselt.<br />

spielzeiteuropa<br />

Sie sind also die Hoteldirektorin?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Ja, ich bin die Managerin des Hotels. Die Gäste hinterlas-<br />

sen ihre Spuren in diesem Gebilde. Ob als Eintrag im<br />

Gästebuch oder als Malerei an der Wand. Das Besondere<br />

ist, dass auch das Hotel reisen und sich an anderen Orten<br />

einnisten kann.<br />

spielzeiteuropa<br />

Wir sitzen hier in einem riesigen, hellen Loft am Stadt-<br />

rand von Kopenhagen, das wenig nach Theater aussieht.<br />

Ist das etwa die Hotelrezeption?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Das kann man so sehen. Wir spielen ja nicht hier, sondern<br />

an den verschiedensten Orten: in Theatern genauso wie<br />

in Museen und Ausstellungshallen. Es gibt eine Scheune<br />

auf dem Land, wo wir einen Teil der Aufbauten und Requi-<br />

siten aufbewahren, dazu Proben- und Lagerräume in Ko-<br />

penhagen. «Operation : Orfeo», eine Produktion, die mitt-<br />

lerweile zwölf Jahre alt ist, können wir sofort hervorholen.<br />

spielzeiteuropa<br />

In den Regalen stehen viele merkwürdige Dinge. Ich ver-<br />

mute, das ist der sichtbare Teil Ihres Gästebuchs?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Was ich sehr am Theater mag ist, dass es diese scheinbar<br />

alltäglichen Objekte auf der Bühne zu bedeutenden Din-<br />

gen machen kann.<br />

spielzeiteuropa<br />

So wie die Spielzeugente, die in «Ich bin nur scheintot»<br />

einen kleinen Auftritt hat?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Ja, die brachte jemand als Weihnachtsgeschenk mit, und<br />

dann stand sie hier im Büro. Ich hätte nicht im Traum da-<br />

ran gedacht, sie für Andersens «Hässliches Entlein» zu<br />

verwenden. Zu buchstäblich! Aber dann merkte ich, dass<br />

sie durch ihre ständige Anwesenheit schon immer dabei<br />

war und schließlich auf die Bühne wollte. Okay, dachte<br />

ich, warum soll sie nicht etwas Besonderes sein.<br />

spielzeiteuropa<br />

Das scheint mir typisch für Ihren Umgang mit solchen<br />

Objekten: Diese Ente, eigentlich ein Spielzeug für die Ba-<br />

dewanne, ist zunächst Schreibtischdekoration und be-<br />

kommt dann einen überraschenden Auftritt auf der Bühne.<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Mit völlig verschiedenen Bedeutungen. Natürlich lachen<br />

die Leute, wenn solch ein Spielzeug plötzlich auf der<br />

Bühne erscheint. Zumal in einer Situation, die das nicht<br />

erwarten lässt. Aber so kommen die Zuschauer vielleicht<br />

auf sich selbst zurück, in ihre ganz eigene Welt. Das ist ja<br />

im Grunde eine Funktion der Märchen.<br />

spielzeiteuropa<br />

Vor allem der Andersen-Märchen, die mit solchen Ver-<br />

schiebungen überraschen. War das Design, das ein anderes<br />

Sein offenbaren kann, schon immer ein Antrieb für Sie?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Ich wurde als Textildesignerin ausgebildet, zunächst in<br />

Krefeld, dann in Kopenhagen. Schon als Kind war ich von<br />

Stoffen angezogen und wollte immer etwas mit den Hän-<br />

den machen. Allerdings nicht nur Pullover oder Teppiche.<br />

Von diesen Ursprüngen in den dekorativen Künsten habe<br />

ich bestimmt ganz viel mitgenommen.<br />

spielzeiteuropa<br />

Bis zu – wörtlich – dem Billedstofteater, Ihrer ersten Grup-<br />

pe mit großen bildräum-<br />

lichen Arbeiten.<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Die ersten Jahre bedeuteten<br />

tatsächlich rein visuell ori-<br />

entierte Installationen, ohne<br />

Sprache. Sie wurden auch nie in Theatern gezeigt, son-<br />

dern meistens in Museen für moderne Kunst oder ehema-<br />

ligen Industriehallen. Erst bei Hotel Pro Forma habe ich<br />

angefangen, auch mit Sprache zu arbeiten. Das Gewebe<br />

wurde dichter. Es gab große Schwierigkeiten, das Wort<br />

Billedstofteater ins Französische zu übersetzen. Wir ka-<br />

men schließlich auf tissue imaginaire.<br />

spielzeiteuropa<br />

Ein Verweis auch auf die surrealen Wurzeln?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Gewiss. Andererseits waren wir mit der englischen Über-<br />

setzung des dänischen Namens, Theatre of Images, im-<br />

mer ein wenig unglücklich, weil Robert Wilson dieses Feld<br />

schon so stark besetzt hatte.<br />

spielzeiteuropa<br />

Gab es in Dänemark damals Ähnliches?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

In Dänemark liefen wir immer außer Konkurrenz. Diese<br />

Kombination verschiedener Künste ist bis heute sehr un-<br />

gewöhnlich, nicht nur in Dänemark. Wir waren immer ein<br />

bisschen vorneweg, wobei ich trotzdem nicht Avantgarde<br />

sagen würde. Als das ausschließlich visuelle Theater ak-<br />

zeptiert wurde, hatten wir schon begonnen, es mit Texten<br />

zu erweitern. Für mich ist es sehr wichtig, mich nicht zu<br />

wiederholen und eine neue Arbeit von den vorherigen<br />

deutlich zu unterscheiden.<br />

spielzeiteuropa<br />

Visuelles Theater muss wie ein Stachel in der großen Tra-<br />

dition des skandinavischen Realismus gewirkt haben.<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Den habe ich wirklich immer als einen konservativen Ge-<br />

genpol begriffen. Für mich geht es da kaum um Kunst im<br />

eigentlichen Sinn, jedenfalls nicht um zeitgenössisches<br />

Theater, das sich um eine neue Verbindung aus Bild und<br />

Wort bemüht. Ich habe auch mit Theaterschauspielern an<br />

traditionellen Stücken gearbeitet, ohne dafür meine eige-<br />

ne Visualität aufzugeben. Das schließt sich ja auch gar<br />

nicht aus. Die Haltung vieler Schauspieler in Skandina-<br />

vien mit ihrer Ausbildung in Richtung konkrete Psycholo-<br />

gie mag dabei hinderlich sein – aber gute Schauspieler<br />

können auch in ungewöhnlich zeichenhaften Räumen ihre<br />

Kunst entfalten. In Deutschland muss man wahrschein-<br />

lich nicht groß darüber reden, denn das Regietheater hat<br />

hier die besten Beispiele für die Verbindung von Sprache<br />

mit neuen Bildwelten hervorgebracht, und zwar nicht als<br />

Experiment am Rande, sondern in den Staatstheatern.<br />

Zuhause empfand ich immer eine Hass-Liebe zum tradi-<br />

tionellen Theater: Ich mochte den roten Vorhang, und wie<br />

er sich öffnet – aber danach ist es doch oft einfach zum<br />

Einschlafen.<br />

spielzeiteuropa<br />

Sie benutzen ja gar keine Vorhänge?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Nein, aber die Dunkelheit.<br />

spielzeiteuropa<br />

Wie laden Sie Ihre Mitstreiter ein?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Ich habe am Anfang eine Idee, die ich entwickeln möch-<br />

te und für die ich dann die passenden Partner suche. Das<br />

Hotel Pro Forma – das schien<br />

mir eine geeignete Metapher<br />

für Theater zu sein.<br />

ist eher ein<br />

intuitiver Pro-<br />

zess, in dem<br />

das Konzept<br />

ganz allmäh-<br />

lich entsteht<br />

und dann in der Zusammenarbeit eine konkrete Gestalt<br />

annimmt. Ausgangspunkt ist immer das visuelle Konzept,<br />

erst dann folgen die Entscheidungen für Musik und Text.<br />

spielzeiteuropa<br />

Wie sieht so etwas aus, ein visuelles Konzept?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Es gibt eine visuelle Partitur, die ich in meiner Vorstellung<br />

entwickle und schließlich auch für einen Raum skizziere.<br />

Das muss noch kein bestimmter Aufführungsort sein,<br />

aber die Fragen, wo das Publikum sitzt und was es von<br />

dort sehen wird, bilden den Kern dieser Überlegungen.<br />

Gibt es eine Bühne? Sitzen die Zuschauer frontal oder um<br />

sie herum? Wird das Publikum zwischen den Spielorten<br />

wechseln, von oben schauen? – All das muss ich mir über-<br />

legen, bevor ich das Konzept weiterentwickele.<br />

spielzeiteuropa<br />

Gibt es da schon die Bewegung der Figuren zueinander?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Noch nicht so konkret. Ich weiß zwar, wie viele Personen<br />

sich bewegen werden, habe aber noch nicht ihre Funktion<br />

im Sinne von Figuren und Handlung festgelegt. Meine Ar-<br />

beit mit Billedstofteater würde ich als horizontal beschrei-<br />

ben, mit vielen Mitspielern in riesigen Räumen. Hotel Pro<br />

Forma dagegen ist viel stärker vertikal ausgerichtet: von<br />

einem Thema ausgehend, wird der Raum mit vergleichs-<br />

weise wenigen Figuren geordnet. Das hat auch fi nanzielle


Gründe. Beim Billedstofteater wurde niemand, der an<br />

den Projekten als eine Art lebende Skulptur teilnahm,<br />

richtig bezahlt. Alle Mittel, die wir bekamen, wurden für<br />

die Installationen gebraucht. Die Produktionen von Hotel<br />

Pro Forma sind dagegen viel kleiner besetzt und daher<br />

auch anders konzipiert.<br />

spielzeiteuropa<br />

Was war der Anlass für ein Stück über Andersen?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Schon vor vier Jahren fragte die Andersen-Foundation an,<br />

ob ich etwas zum Jubiläum machen könnte. Das schien<br />

mir auf Anhieb sehr verlockend. Andererseits zögerte ich,<br />

denn Hans Christian Andersen ist eine Ikone. Aber auch<br />

in Dänemark ist er den meisten nur durch seine Märchen<br />

bekannt. Zu meiner Zeit wurden nicht einmal diese in der<br />

Schule gelesen, geschweige denn seine anderen Werke.<br />

Meine Beziehung zu Andersen war anfangs ein bisschen<br />

ironisch. Denn es war klar, dass er wie eine Nationalmar-<br />

ke behandelt werden würde. Ich habe mich in diesem Zu-<br />

sammenhang sogar mit den Techniken des «Marken-Ma-<br />

chens» beschäftigt und Andersen zunächst als nichts<br />

anderes betrachtet. Ich mag aber keine ironischen Stü-<br />

cke, also versenkte ich mich in Andersens Werke und die<br />

biografi schen Forschungen zu ihm. Ich fand seine Tage-<br />

und Reisebücher am spannendsten und entschloss mich,<br />

etwas auf dieser Grundlage zu machen. Sehr anregend<br />

waren die Biografi en von Jackie Wullschlager und Jens<br />

Andersen, aber auch die Studien des dänischen Philoso-<br />

phen Villy Sørensen. Das alles ließ mich Andersen mit<br />

neuen Augen sehen.<br />

spielzeiteuropa<br />

Und das visuelle Konzept hierfür?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Die Bühne sollte sehr breit sein, mindestens 25 Meter,<br />

wie ein langer Weg. Man sollte nicht alles auf einmal se-<br />

hen können, und außerdem nicht jeder das Gleiche. Als<br />

nächstes kamen die kombinierbaren Bilder dazu, die wie<br />

die Spielkarten aussahen, die ich schon seit Jahren be-<br />

saß, ohne recht zu wissen, wozu sie einmal gut sein wür-<br />

den. Ich suchte sie heraus und war mir sicher, einen wich-<br />

tigen Teil des Bühnenbilds gefunden zu haben. Wir ließen<br />

sie vergrößern und konnten sie mit einigen Nachbearbei-<br />

tungen für diesen Zweck verwenden.<br />

spielzeiteuropa<br />

Die unendliche Landschaft, ein Lieblingsbild der Romantik.<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Mit diesen 32 Karten ist eine unvorstellbare Anzahl an<br />

Kombinationen möglich. Für mich zeigen sie die Reise-<br />

Landschaften, die der rastlose Andersen durchquert ha-<br />

ben mag.<br />

spielzeiteuropa<br />

Was wurde an den Bildern verändert?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Ihr ursprünglicher Charakter entspricht einer Bilderbuch-<br />

Romantik. Wir haben sie ein bisschen unheimlicher ge-<br />

macht, die Farben verändert und auch ein paar Elemente<br />

aus Andersens Collagen hinzugefügt. Was er für Bilder<br />

und Scherenschnitte gemacht hat, ist einfach phantas-<br />

tisch! Für mich war das absolut inspirierend. Diese Bild-<br />

tafeln sind eine Hommage an Andersen als bildenden<br />

Künstler.<br />

spielzeiteuropa<br />

Und der Chor singt von den gleichen Abgründen, die hier<br />

zu entdecken sind. Wie kam es zur Zusammenarbeit mit<br />

dieser weltbekannten Institution?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Ich wurde schon ein paar Mal gefragt, ob ich mir vorstellen<br />

könnte, mit dem<br />

Dänischen Natio-<br />

nalchorzusam- menzuarbeiten.<br />

Andersen schien<br />

eine gute Gele-<br />

genheit dafür.<br />

Schließlich legte<br />

ich mich auf eine Chorgröße von vierzehn Sängern fest,<br />

die ich der Schauspieler-Tänzerin Ninna Steen als Ander-<br />

sen gegenüber stellen wollte. Ninna Steen hat nicht nur<br />

bei früheren Hotel-Pro-Forma-Projekten mitgewirkt, son-<br />

dern sie hat auch physiognomische Ähnlichkeit mit dem<br />

Dichter. Sie zögerte zunächst, da sie noch nie in einer<br />

Männerrolle aufgetreten war.<br />

spielzeiteuropa<br />

Vielleicht auch, weil Andersen ein merkwürdiges Verhält-<br />

nis zu seinem Körper und Aussehen hatte?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Er war voller Komplexe und machte sich ständig Gedan-<br />

ken über seine Wirkung auf andere. Aber ich wollte ja kei-<br />

nen «echten» Andersen im psychologischen Sinn auf der<br />

Bühne, sondern eine Figur, die etwas von dieser Unsi-<br />

cherheit verkörpert. Wir umkreisten das Problem, indem<br />

wir die Figur als wet boy ansprachen, ein irgendwie noch<br />

nicht ganz fertiges Wesen wie aus einem Märchen. Aber<br />

das funktionierte nicht. Wir machten dann eine Fotoses-<br />

sion mit Ninna, bei der sie eine Art Clownsmimik probier-<br />

te – von extrem traurig bis ausgelassen fröhlich – und es<br />

war verblüffend, wie nahe sie damit einigen Andersen-<br />

Porträts kam. Trotzdem sollte sie keine bloße biografi -<br />

sche Figur spielen, und so kamen wir darauf, diese Figur<br />

so zu nennen wie Andersen in England hieß: the boy of<br />

fortune, das Glückskind. Gleichzeitig kann Ninna dieser<br />

Figur aber auch den Ausdruck eines alten Mannes verlei-<br />

hen, und dieses Ineinander von Kind, Frau und altem<br />

Mann, verblüffender Ähnlichkeit und rätselhafter Abstrak-<br />

tion war der Durchbruch für die Entwicklung der Figur.<br />

spielzeiteuropa<br />

Nun hatten Sie eine perfekte Andersen-Darstellerin und<br />

einen der besten Chöre der Welt, aber immer noch keine<br />

Komposition.<br />

Kirsten Dehlholm<br />

der ausgestellten Objekte gab, was mich sofort interes-<br />

sierte. Wir haben uns dann in Köln wiedergetroffen und<br />

uns sehr gut über unser Kunstverständnis unterhalten.<br />

Als er mir sagte, er würde gern etwas für Chor komponie-<br />

ren, lud ich ihn ein, ohne genau zu wissen, was er tun<br />

würde.<br />

spielzeiteuropa<br />

Die Hotel-Pro-Forma-Intuition?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Ja, diese und das Vertrauen, über eine lange Strecke zu-<br />

sammenarbeiten zu können. Ich sagte zu Manos: Ich will<br />

schöne Musik haben für diesen Chor. Eine der wenigen<br />

Verabredungen, die wir treffen mussten, war, dass es sich<br />

nicht um Instrumentalmusik handeln könne. Schließlich<br />

gibt es keine Musiker, denn nur Simon Stockhausen kam<br />

Als das visuelle Theater<br />

akzeptiert wurde, hatten wir<br />

schon begonnen, es mit Texten<br />

zu erweitern.<br />

Zuallererst dachte ich an Beck, den amerikanischen Sän-<br />

ger, dann an einen sehr bekannten chinesischen Film-<br />

komponisten, zwischendurch auch mal an Arvo Pärt. Wo-<br />

ran Sie sehen können, dass das Hotel praktisch für alle<br />

offen ist, was eine mögliche Einladung betrifft. Bei einer<br />

Ausstellung in Odense, Andersens Geburtsort, lernte ich<br />

Manos Tsangaris kennen, der dort ein Konzert inmitten<br />

für die elektro-<br />

nischeBear- beitung noch<br />

dazu. Das visu-<br />

elle und das<br />

musikalische<br />

Konzept muss-<br />

ten in einem<br />

nächsten Schritt auf einen Text hin vereinigt werden.<br />

spielzeiteuropa<br />

Das Libretto wirkt auf den ersten Blick wie eine Stich-<br />

wortliste.<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Genau so habe ich es auch entwickelt. Es gibt zwölf Bän-<br />

de Tagebücher und dazu einen <strong>drei</strong>zehnten Band mit<br />

Stichworten. Ich arrangierte also meine Auswahl, die in<br />

Dänisch, Deutsch und Italienisch erklingen sollte, und<br />

schickte sie an Manos.<br />

spielzeiteuropa<br />

Während Sie an der visuellen Partitur arbeiteten?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Die endgültige visuelle Partitur der Aufführung entstand<br />

nach zwei Jahren Vorbereitung in nur sechs Stunden. Vor-<br />

her kannten wir die Musik überhaupt noch nicht, während<br />

Manos wiederum die visuelle Partitur nicht kannte. Das<br />

Besondere seiner Arbeit bestand darin, dass er die Kom-<br />

position wie Module angelegt hatte, die für die szenische<br />

Arbeit beweglich waren, sich also in der Länge durchaus<br />

verändern konnten. Das war vor allem für die Bewegun-<br />

gen des Chors auf der Bühne von großem Vorteil.<br />

spielzeiteuropa<br />

Dessen Arrangements erinnern an Prozessionen. Norma-<br />

lerweise ist es sehr schwierig, einen Chor so zu inszenie-<br />

ren. Gab es da Widerstand?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Überhaupt nicht. Die waren sehr offen dafür, in Bildern zu<br />

arbeiten.<br />

spielzeiteuropa<br />

Hat sich das Andersen-Bild durch dieses Jubiläum verän-<br />

dert?<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Andersen ist mit allen Facetten seines Werks wiederent-<br />

deckt und so vom Image des Märchenerzählers befreit<br />

worden. Auffallend ist natürlich, dass das biografi sche In-<br />

teresse häufi g darauf zielte, ihm das Geheimnis seiner<br />

Sexualität zu entreißen. Für mich bleibt er ein großer, rät-<br />

selhafter Autor.<br />

Gespräch Thomas Irmer<br />

Fotos Andrea Stappert<br />

7<br />

Foto Mie Riis Christiansen<br />

Hotel Pro Forma<br />

Ich bin nur scheintot<br />

Der Titel «Ich bin nur scheintot» verweist auf jene hand-<br />

geschriebenen Zettel, die Hans Christian Andersen, aus<br />

Angst lebendig begraben zu werden, auf seinen Nacht-<br />

tisch legte. Dieser Titel könnte sich aber ebenso auf die<br />

große Aufmerksamkeit beziehen, die Andersens Person<br />

und Werk im Jahr 2005 anlässlich seines 200. Geburts-<br />

tags zuteil wurden. Das Stück von Kirsten Dehlholm und<br />

Hotel Pro Forma zeigt die düsteren Seiten des Dichters,<br />

seine Ängste und Obsessionen, die er in seinen Tagebü-<br />

chern und Reisebeschreibungen festgehalten hat und die<br />

direkt in sein Werk eingefl ossen sind.<br />

Der Andersen, dem wir hier begegnen, ist ein ganz ande-<br />

rer als der weltweit bekannte Märchendichter, der «nur»<br />

für Kinder schrieb. Vorherrschend sind Dunkelheit, Zwei-<br />

fel und eine schicksalsschwangere Grundstimmung. Die<br />

Eintragungen legen ein erschütterndes Zeugnis davon ab,<br />

wie schwer es ihm fi el, seine Phantasien zu beherrschen.<br />

Man ist fasziniert von einem Geist, der größte Poesie und<br />

größte Unheimlichkeit vereinte und nur durch schwarzen<br />

Humor und den unabwendbaren Glauben an das Glück<br />

überlebte.<br />

Andersens eindrückliche Landschaftsbeschreibungen und<br />

charakteristischen Kommentare aus seinen Tagebüchern<br />

bilden die Grundlage dieser poetischen Musik-Perfor-<br />

mance. Die lange, schmale Bühne, die sich dem Ge-<br />

samtüberblick des Zuschauers entzieht, bezeichnet so-<br />

wohl den Weg als auch die Reise, auf welchen die Fügun-<br />

gen des Lebens stattfi nden. Die gewohnte Tiefe und der<br />

Abstand zwischen Publikum und Darstellern sind durch<br />

Nähe und ein panoramahaftes Raumerlebnis ersetzt. Die<br />

Figuren, Mitglieder des Dänischen Nationalchors sowie<br />

die Tänzerin Ninna Steen, folgen in einer Reihe von mehr-<br />

stimmigen szenischen Situationen einer strengen Bewe-<br />

gungspartitur. Die Musik des Kölner Komponisten Manos<br />

Tsangaris für 14-stimmigen gemischten Chor a cappella<br />

verwandelt die Texte, die auf Deutsch, Dänisch und Itali-<br />

enisch gesungen werden, in ein polyphon bewegtes Land-<br />

schaftsbild. Die live gesungenen Passagen vermischen<br />

sich mit elektronisch bearbeiteten Klängen von Simon<br />

Stockhausen zu sich überlagernden, geheimnisvollen<br />

Klangschichten.<br />

«Manche Bilder lassen sich nicht aufl ösen und bleiben<br />

rätselhaft. Gerade deshalb führt die Aufführung ganz nah<br />

an den Menschen Andersen heran.»<br />

(Frankfurter Rundschau, April 2005)<br />

12. – 14. Januar | 20:00<br />

Ich bin nur scheintot<br />

nach Texten aus H. C. Andersens Tagebüchern<br />

Konzept, Regie | Kirsten Dehlholm<br />

Musik | Manos Tsangaris<br />

Elektronische Bearbeitung | Simon Stockhausen<br />

Visuelle Dramaturgie | Ralf Richardt Strøbech<br />

Bühne | Maja Ravn, Ralf Richardt Strøbech,<br />

Kirsten Dehlholm<br />

Kostüme | Maja Ravn<br />

Maske, Perücken | Helena von Bergen<br />

Lichtdesign | Jesper Kongshaug<br />

Sounddesign | Anders Jørgensen<br />

Dramaturgie | Claus Lynge<br />

Darsteller | Mitglieder des Dänischen Nationalchors<br />

unter der Leitung von Martin Nagashima Toft<br />

The Boy of Fortune | Ninna Steen<br />

Dauer 1h 20 | keine Pause<br />

Karten 16,- (erm. 12,-)<br />

Produktion | Hotel Pro Forma<br />

In Koproduktion mit dem Dänischen Nationalchor<br />

und dem Schauspiel Köln<br />

Unterstützt von H.C. Andersen 2005-Fonds,<br />

Danish Arts Council – Committee for the Performing Arts and<br />

Committee for Music, Kunststiftung NRW, Københavns<br />

Kulturfond, Wilhelm Hansen Fonden, Toyota-Fonden,<br />

Dansk Kapelmesterforening, Beckett Fonden,<br />

Dansk Korforbund and Overretssagfører L. Zeuthens Mindelegat<br />

und der Biennale di Venezia<br />

Publikumsgespräch am 13. Januar im Anschluss an<br />

die Vorstellung<br />

Foto Roberto Fortuna


Hans Peter Litscher<br />

Ein Käfi g ging einen Vogel fangen<br />

Annäherungen an Kafkas Relativitätstheorie<br />

Es ist zwar allgemein bekannt, dass Franz Kafka am 24.<br />

Mai 1911 einen Vortrag Albert Einsteins über die Relati-<br />

vitätstheorie im physikalischen Institut der Karls-Univer-<br />

sität in Prag hörte; auch dass er im gleichen Jahr mit Ein-<br />

stein im Salon der Prager Apothekergattin Berta Fanta<br />

verkehrte und mit Einsteins Assistenten Ludwig Hopf<br />

Spaziergänge in der Umgebung Prags unternahm. Laut<br />

Elsa Einstein soll Kafka in seiner <strong>Berliner</strong> Zeit Einstein<br />

auch manchmal in dessen Wohnung in der Haberland-<br />

straße besucht haben. Doch haben sich bisher außer Wal-<br />

ter Benjamin, Gilles Deleuze, Felix Guattari oder Jan Kott<br />

so gut wie keine Kafka-Exegeten dafür interessiert, ob –<br />

und wenn ja, wie – der Umgang mit Einstein und dessen<br />

Denken Kafkas Schreiben beeinfl usst hat.<br />

Nach Recherchen in der Bodleian Library in Oxford und<br />

diversen anderen Archiven wird der «Spurensucher» Hans<br />

Peter Litscher in den labyrinthischen Gängen sowie zwi-<br />

schen und hinter den Kulissen des Hauses der <strong>Berliner</strong><br />

<strong>Festspiele</strong> versuchen, Kafkas ebenso wie Einsteins revo-<br />

lutionär-bahnbrechende Entdeckungen über Raum und<br />

Zeit in seinem Echokammerspiel vor Ort nachhallen zu<br />

lassen.<br />

Eindrückliche Kostproben seiner bisherigen theatralen<br />

Spurensuche lieferte Litscher – 1955 in der Schweiz ge-<br />

boren und seit langem als Ausstellungs- und Filmema-<br />

cher, Regisseur und Autor in Paris lebend – u. a. mit<br />

«Cechows <strong>drei</strong> entfernte Cousinen» am Zürcher Neumarkt-<br />

Theater (2004), mit «Potemkinsche Dörfer» beim Festival<br />

Theater der Welt (2002) oder am Hamburger Schauspiel-<br />

haus mit «Die tausend Tode der Maria Magdalena Brett-<br />

schneider» (2001). Daneben führte er 2004 in Luzern<br />

durch die seltsamen Wunderkammern der Fotografen und<br />

Gesamtkunstwerker Jules und Jacob Bonnet («Post Tene-<br />

bras Lux»).<br />

«Wie soll man es nennen, was er macht – Aufführung,<br />

Ausstellung, Performance? Das alles trifft es nicht richtig<br />

und ist doch nicht falsch. Hans Peter Litscher ist ein Er-<br />

fi nder. Er fi ndet Lebensläufe, die er so umfassend und<br />

überzeugend dokumentiert, dass man nie sicher ist, ob<br />

sie nun echt sind oder nicht. Alles könnte so gewesen<br />

sein, muss aber nicht. Seine Geschichten sind die Fort-<br />

setzung der Realität mit anderen Mitteln, wie bei Münch-<br />

hausen.<br />

Seine Kunst besteht in der richtigen Mischung von Dich-<br />

tung und Wahrheit. Man nehme Weltgeschichte und Lo-<br />

kalkolorit, ein bizarres Schicksal vor gewöhnlichem Hin-<br />

tergrund, Hobbys und Ticks, Katastrophen und Zeitgeist,<br />

verfeinere das Ganze mit einem Spritzer Irrsinn, mixe al-<br />

les gut durch, schlage es schaumig und serviere es eiskalt<br />

– so einfach ist das und so kompliziert.<br />

‹Es sind die Dinge, die mir Geschichten erzählen›, sagt<br />

der Lügenbaron, der für seine Kuriositätensammlung<br />

Auktionen und Antiquariate in halb Europa durchstreift:<br />

vergilbte Familienfotos, alte Theaterzettel und Speisekar-<br />

ten, Einladungen zu Vorträgen, Vernissagen, Versamm-<br />

lungen … Seine Ausstellungen fi nden in Museen, Thea-<br />

tern, am liebsten an Originalschauplätzen statt; die<br />

Führungen in kleinen Gruppen, nicht mehr als ein Dut-<br />

zend Interessierte, übernimmt der Meister selbst. Ihm zu-<br />

zuhören, wenn er Leben erklärt, verklärt, von Fundstück<br />

zu Fundstück eilend eine Biografi e herbeizaubert, ist so<br />

vergnüglich, dass selbst grämliche Kritiker ins Schmun-<br />

zeln geraten und arglose Zeitgenossen ins Grübeln.»<br />

(Die Zeit, April 2001)<br />

12. + 13. Januar | 22:00<br />

14. Januar | 18:00 + 22:00<br />

15., 20. + 21. Januar | 18:00 + 20:00<br />

Rundgang im Haus der <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

(begrenzte Teilnehmerzahl)<br />

Uraufführung | Koproduktion<br />

Ein Käfi g ging einen Vogel fangen<br />

Annäherungen an Kafkas Relativitätstheorie<br />

Ein Echokammerspiel von Hans Peter Litscher<br />

mit Klängen von Hans Jörn Brandenburg und Andres Bosshard<br />

mit den Stimmen von Albert Einstein, Jan Kott, Gilles Deleuze,<br />

George Tabori, Ueli Jaeggi, Franz Schuh, Vera von Lehndorff<br />

sowie mehreren sprechenden Prager Dohlen<br />

Dauer ca. 1h | keine Pause<br />

Karten 12,- (erm. 10,-)<br />

In Koproduktion mit spielzeiteuropa | <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes<br />

Publikumsgespräch am 15. Januar im Anschluss an<br />

die zweite Vorstellung<br />

Foto Zora von Westphal<br />

8<br />

9<br />

Foto Marco Caselli<br />

Gilles Jobin Steak House<br />

«Was tut man bei trübem Wetter in einer Wohngemein-<br />

schaft? Die eine bastelt, der andere ordnet Bücher. Man<br />

kann aber auch Hundeknochen schnitzen oder Fleisch-<br />

messer polieren wie die Zimmerbewohner in Gilles<br />

Jobins neustem Stück ‹Steak House›.» (NZZ, Mai 2005)<br />

Zum Ausgangspunkt seines neuen Projekts, das im Früh-<br />

jahr 2005 in Lausanne Premiere hatte, nahm Gilles Jo-<br />

bin ein ganz normales Zimmer, mit Wänden und Möbeln,<br />

Decken und anderen Alltagsgegenständen. Sechs Men-<br />

schen bewohnen diesen Raum, begegnen sich, teilen<br />

sich Dinge und interagieren mit der Umgebung. Auf den<br />

ersten Blick scheinen sich alltägliche Szenen abzuspie-<br />

len, nach und nach werden jedoch bestimmte Muster<br />

und Rhythmen erkennbar – normale Verhaltensregeln<br />

sind in diesem Raum außer Kraft gesetzt.<br />

Die formalisierten Handlungen der Tänzer rhythmisieren<br />

den Raum genauso wie die Töne der Musikmaschine An-<br />

gus, die sie mit ihren Bewegungen erzeugen. Rasend<br />

schnell entstehen aus dem Chaos einprägsame Bilder<br />

und zerfallen wieder im nächsten Augenblick. Einrich-<br />

tungsgegenstände fl iegen durcheinander, der Raum<br />

leuchtet in grellen Farben auf. Wie in einem Comic wird<br />

die Handlung immer surrealer, vorangetrieben durch ei-<br />

nen Prozess, der dem Träumen ähnelt. «Die Logik des<br />

Absurden ist das Grundmuster des Stücks», sagt der<br />

Westschweizer Choreograf. «Dann folgt die Dekonstruk-<br />

tion des Raums, die Körper breiten sich im Raum aus …<br />

Wohin das führt, wird man sehen.»<br />

Der 1964 in Lausanne geborene Gilles Jobin ist einer der<br />

innovativsten Choreografen der internationalen Tanz-<br />

szene. Seit Beginn der neunziger Jahre hinterfragt er mit<br />

kompromisslosen Arbeiten wie «A+B=X» (1997),<br />

«Braindance» (1999) oder «The Moebius Strip» (2001)<br />

den menschlichen Körper.<br />

25. + 26. Januar | 19:30<br />

Koproduktion<br />

Steak House<br />

Choreografi e | Gilles Jobin<br />

Musik, Konzeption Musikmaschine Angus | Cristian Vogel<br />

Konstruktion Musikmaschine Angus | Simon Jobin<br />

Bühne | Sylvie Kleiber<br />

Kostüme | Karine Vintache<br />

Lichtdesign | Frédéric Richard<br />

Tänzer | Jean-Pierre Bonomo, Niki Good,<br />

Marie-Caroline Hominal, Gilles Jobin,<br />

Susana Panadès Diaz, Rudi Van Der Merwe<br />

Dauer 1h 10 | keine Pause<br />

Karten 16,- (erm. 12,-)<br />

Produktion | Gilles Jobin / Parano Fondation, Schweiz<br />

In Koproduktion mit Théâtre de la Ville Paris,<br />

Teatro Comunale di Ferrara, Théâtre Arsenic Lausanne,<br />

Danse à Aix (Aix en Provence), Tanzquartier Wien<br />

und spielzeiteuropa | <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

Unterstützt von Canton de Vaud, Ville de Lausanne,<br />

Ville de Genève, Pro Helvetia – Schweizer Kulturstiftung,<br />

DIP de l’Etat de Genève und Binding Stiftung<br />

Publikumsgespräch am 26. Januar im Anschluss an<br />

die Vorstellung


Fotos Thomas Bold<br />

Sarhan | Raynaud | Pommerehn<br />

Les articulations de la Reine<br />

– Die Häutungen der Königin<br />

«Sie waren gekommen, um zu herrschen – doch sie wur-<br />

den gefressen.»<br />

Vermeintlich vertraute Gegenstände entwickeln ein beun-<br />

ruhigendes Eigenleben. Vor dem Hintergrund geheimnis-<br />

voller Klangwelten und skurriler Sprachgewalt, erzeugt<br />

durch vier Musiker, zehn Instrumente, fünf Stimmen und<br />

elektronische Verzerrung, entsteht ein absurder Kampf<br />

um die Macht der Königin.<br />

Mit dem Text von Bertrand Raynaud entwickelt sich nach<br />

dem Vorbild von Alfred Jarrys legendärem «Ubu Roi» eine<br />

alptraumhafte Farce. Am Beginn fi ndet – unter unguten<br />

Vorzeichen – eine königliche Hochzeit statt. Ein Attentat<br />

bringt das gesamte Reich ins Wanken, alle Versuche der<br />

Machtübernahme sind von Vornherein zum Scheitern ver-<br />

urteilt – und die Rache der Königin ist fürchterlich.<br />

Im Gegensatz zum blutigen Geschehen steht das Materi-<br />

al der Kulisse und der agierenden Figuren: ein Sammel-<br />

surium ausrangierten Mobiliars und anderen Hausrats.<br />

Dazu kommt das Musik-Ensemble, das den Figuren seine<br />

sze_image_ok 14.12.2005 13:59 Uhr Seite 1<br />

2006<br />

spielzeiteuropa [ Oktober 05 – Februar 06 ]<br />

<strong>Berliner</strong> Lektionen [ Oktober 05 – Februar 06 ]<br />

MaerzMusik – Festival für aktuelle Musik [16. – 26. März 06 ]<br />

Theatertreffen [ 5. – 21. Mai 06 ]<br />

Theatertreffen der Jugend [19. – 27. Mai 06 ]<br />

sonambiente berlin 2006 – Festival für Hören und Sehen<br />

[1. Juni – 16. Juli 06 ] Eine Produktion der Akademie der Künste und der <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

Ausstellungen im Martin-Gropius-Bau<br />

Barock im Vatikan. Kunst und Kultur im Rom der Päpste [12. April – 10. Juli 06 ]<br />

Rebecca Horn [ 7. Oktober 06 – 15. Januar 07]<br />

www.berlinerfestspiele.de | 030 – 254 89 100<br />

verstörenden Stimmen leiht, die von überall herzukom-<br />

men scheinen.<br />

Der französische Komponist François Sarhan und der in<br />

Berlin lebende Bühnenbildner und Installationskünstler<br />

Fred Pommerehn experimentieren hier einmal mehr mit<br />

den Schnittmengen der darstellenden und bildenden<br />

Konzeptkunst. Ihr Interesse ist es, dem Grundgedanken<br />

des von Sarhan gegründeten Collectif CrWth folgend, die<br />

jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen der Verbindung der<br />

verschiedenen künstlerischen Disziplinen auszuloten.<br />

«Les articulations de la Reine» ist seit der Uraufführung<br />

zum Auftakt des Genfer Festivals Archipel – musique<br />

d’aujourdhui im März 2005 an zahlreichen Orten im fran-<br />

zösischsprachigen Raum mit großem Interesse aufge-<br />

nommen worden. Mit der deutschsprachigen Erstauffüh-<br />

rung stellen sich die Künstler einer weiteren<br />

Herausforderung: der Transportierbarkeit ästhetischer<br />

Tradition und sprachlicher Diktion innerhalb europäischer<br />

Grenzen.<br />

Musikfest Berlin [1. – 17. September 06 ]<br />

internationales literaturfestival berlin<br />

[ 5. – 16. September 06 ]<br />

JazzFest Berlin [ 2. – 5. November 06 ]<br />

Treffen Junge Musik-Szene [ November 06 ]<br />

Treffen Junger Autoren [ November 06 ]<br />

26. Januar | 21:30<br />

27. + 28. Januar I 20:00<br />

Seitenbühne<br />

Deutschsprachige Erstaufführung<br />

Koproduktion<br />

Les articulations de la Reine – Die Häutungen der Königin<br />

Groteske Kammeroper für belebte Objekte<br />

Musik, Konzept | François Sarhan<br />

Bühne, Licht, Konzept | Fred Pommerehn<br />

Text | Bertrand Raynaud<br />

Dramaturgie | Rebecca Rohde<br />

Puppenspiel | Paulo Duarte, Uta Gebert<br />

Erzählerin | Anja Hempel<br />

Musiker | Erwan Burban, Frédéric Daverio, Raphaël Godeau,<br />

Sylvain Lemêtre<br />

Dauer 1h 20 | keine Pause<br />

Karten 16,- (erm. 12,-)<br />

Produktion | Collectif CrWth<br />

In Koproduktion mit Muse en Circuit Paris, Centre André<br />

Malraux / Scène Nationale de Vandoeuvre-lès-Nancy,<br />

Festival Archipel Genf, Festival Perspectives Saarbrücken,<br />

Arsenal de Metz und spielzeiteuropa I <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

Unterstützt von Subsistances, Institut International de<br />

la Marionnette (Charleville-Mézières), SPEDIDAM,<br />

Association Beaumarchais, AFAA, Ministère de la Culture<br />

et de la Communication (DRAC Haute-Normandie)<br />

Gefördert vom Hauptstadtkulturfonds Berlin<br />

Publikumsgespräch am 27. Januar im Anschluss an<br />

die Vorstellung<br />

The Forsythe Company<br />

Three Atmospheric Studies<br />

Bei spielzeiteuropa ist zum ersten Mal die Neufassung<br />

von «Three Atmospheric Studies» zu sehen, der ersten<br />

Produktion der vor einem Jahr gegründeten Forsythe<br />

Company. Die im November 2005 mit großem Erfolg in<br />

Frankfurt gezeigte Performance «Clouds after Cranach»<br />

wird nun als Teil I und II in «Three Atmospheric Studies»<br />

einfl ießen.<br />

«‹Clouds after Cranach› thematisiert Bedrohung, Agonie<br />

und Leid, Aggression, Misshandlung und Wut. … Das<br />

Stück referiert im Titel auf Lucas Cranachs d. Ä. Gemäl-<br />

de ‹Klage unter dem Kreuz›. Forsythe liest die Wolke da-<br />

rin als Zeichen für Gewalt und Unglück. Es ist eine äu-<br />

ßerst anspruchsvolle, präzise gearbeitete und kluge<br />

Refl exion auf die (Tanz-) Kunst im Angesicht von Gewalt.<br />

Kein Trost ist da zu erwarten, auch keine ungebrochene<br />

Katharsis. Am Ende dieser Stunde hat man vielmehr eini-<br />

ges erfahren über die schauerliche Dramaturgie von Un-<br />

heil und die bewegende Gestaltung von Leid – ohne dass<br />

Veranstalter<br />

<strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

Ein Geschäftsbereich der<br />

Kulturveranstaltungen<br />

des Bundes in Berlin GmbH<br />

Intendant Prof. Dr. Joachim Sartorius<br />

Kfm. Geschäftsführer Dr. Thomas Köstlin<br />

Gefördert durch<br />

Kommunikation<br />

Leitung Kerstin Schilling<br />

Presse Jagoda Engelbrecht<br />

Telefon (030) 254 89-262<br />

presse@berlinerfestspiele.de<br />

Kartenbüro I Protokoll<br />

Peter Böhme, Michael Grimm,<br />

Heinz Bernd Kleinpaß<br />

dabei die drastische Referenz auf die Realität aufgeho-<br />

ben würde.» (Christina Thurner, NZZ, November 2005)<br />

Der in New York geborene Choreograf und Tanz-Visionär<br />

William Forsythe arbeitet seit 1973 in Deutschland; zu-<br />

nächst am Stuttgarter Ballett, dann als künstlerischer<br />

Leiter, später Intendant des Ballett Frankfurt (1984 bis<br />

2004), wo wegweisende Produktionen wie «Gänge»<br />

(1982), «The Loss of Small Detail» (1991), «Eidos:Telos»<br />

(1995) oder «Kammer/Kammer» (2000) entstanden. Sei-<br />

ne Choreografi en wurden vielfach ausgezeichnet und ge-<br />

hören genauso zum Repertoire des New York City Ballet<br />

wie des Ballet de L’Opéra National de Paris. Ende 2004<br />

gründete er ein eigenes Ensemble: The Forsythe Company,<br />

ansässig in Dresden und Frankfurt/Main. Das aus 18<br />

Tänzern bestehende Ensemble wurde nach der Schlie-<br />

ßung des Balletts Frankfurt durch eine innovative Public<br />

Private Partnership ermöglicht.<br />

Impressum Nr. 8 > 2005 | 06<br />

Herausgeber | <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

Redaktion | Giselind Rinn, Thomas Irmer<br />

Produktion | Bernd Krüger<br />

Gestaltung | granma | berlin werbeagentur<br />

Art Direction | Dirk Lebahn<br />

Titelfoto | Andrea Stappert<br />

Herstellung | enka-druck, Berlin<br />

Redaktionsschluss 15. Dezember 2005<br />

© <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong>, 2005<br />

spielzeiteuropa Georg Bugiel (Technische Leitung) | Edda von Gerlach (Projektkoordination) | Albrecht Grüß (Spielstättenbetreuung)<br />

Thomas Irmer (Programmberatung) | Juliane Kaul (Redaktionsassistenz) | Eva Kiefer (Programm-Mitarbeit) | Markus Luchsinger (Künstleri-<br />

sche Leitung) | Stella Maxeiner (Projektassistenz) | Giselind Rinn (Redaktion) | Hanka Rörig (Finanzen) | Hartmut Schaffrin (jugendtour)<br />

Olaf Spaarmann (Projektassistenz)<br />

2. – 4. Februar | 20:00<br />

Three Atmospheric Studies<br />

A work from The Forsythe Company<br />

Teil I + II: Clouds after Cranach<br />

Teil III: Study III<br />

Choerografi e/Regie | William Forsythe<br />

Musik Teil II | David Morrow<br />

Musik Teil III | Thom Willems<br />

Bühne, Licht | William Forsythe<br />

Kostüme | Satoru Choko, Dorothee Merg<br />

Sounddesign, Klangsynthese | Dietrich Krüger, Niels Lanz<br />

Voice-Treatment, dsp-programming | Andreas Breitscheid,<br />

Manuel Poletti in Zusammenarbeit mit dem<br />

Forum Neues Musiktheater Staatsoper Stuttgart<br />

Sprecher Teil II | Amancio Gonzalez, David Kern,<br />

Jone San Martin<br />

Sprecher Teil III | Dana Caspersen, David Kern, Ander Zabala<br />

Tänzer | The Forsythe Company<br />

Dauer 1h 45 | eine Pause<br />

Karten 24,- (erm. 16,-)<br />

The Forsythe Company wird gefördert durch die Landes-<br />

hauptstadt Dresden und den Freistaat Sachsen sowie die<br />

Stadt Frankfurt am Main und das Land Hessen.<br />

Publikumsgespräch am 3. Februar im Anschluss an<br />

die Vorstellung<br />

Wir danken<br />

Foto Dominik Mentzos

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