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Ausgabe eins - Berliner Festspiele

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OKTOBER<br />

22. + 23. Oktober | 19:30 Spielort: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz<br />

Andriy Zholdak (Charkiw/Ukraine) Romeo und Julia. Das Fragment nach William Shakespeare Uraufführung<br />

NOVEMBER<br />

11. – 13. November<br />

Guy Cassiers / ro theater (Rotterdam) Auf der Suche nach der verlorenen Zeit<br />

> Fr 11. November | 18:30 Proust 1: De kant van Swann – In Swanns Welt<br />

> Fr 11. November | 22:30 Sa 12. November | 16:30 Proust 2: De kant van Albertine – In Albertines Welt<br />

> Sa 12. November | 20:00 Proust 3: De kant van Charlus – In Charlus’ Welt<br />

> So 13. November | 20:00 Proust 4: De kant van Marcel – In Marcels Welt<br />

18. + 19. November I 20:00 Aydin Teker (Istanbul) aKabi Uraufführung<br />

23. – 26. November | 20:00 27. November | 17:00<br />

Claude Régy (Paris) 4.48 Psychose von Sarah Kane<br />

DEZEMBER<br />

1. – 3. Dezember | 20:00 Lloyd Newson / DV8 Physical Theatre (London) Just for Show<br />

8. – 10. Dezember | 20:00 10. + 11. Dezember | 15:00<br />

Jossi Wieler / Theater X (Tokio) Yotsuya Ghost Story nach Tsuruya Nanboku Europäische Erstaufführung<br />

16. – 18. Dezember | 20:00<br />

Simon McBurney / Complicite (London) Measure for Measure von William Shakespeare<br />

JANUAR<br />

in Planung<br />

12. + 13. Januar | 22:00 14. Januar | 18:00 + 22:00 15., 20. + 21. Januar | 18:00 + 20:00<br />

Hans Peter Litscher (Paris) Ein Käfi g ging einen Vogel fangen Annäherungen an Kafkas Relativitätstheorie Uraufführung<br />

12. – 14. Januar | 20:00 Hotel Pro Forma (Kopenhagen) Ich bin nur scheintot nach Hans Christian Andersen<br />

25. + 26. Januar | 19:30 Gilles Jobin (Genf) Steak House<br />

26. Januar | 21:30 27. + 28. Januar I 20:00 Deutschsprachige Erstaufführung<br />

François Sarhan / Bertrand Raynaud / Fred Pommerehn (Paris, Berlin) Les articulations de la Reine (Knochen und Zungen der Königin)<br />

FEBRUAR<br />

2. – 4. Februar | 20:00 The Forsythe Company (Dresden, Frankfurt/Main) Three Atmospheric Studies<br />

VERANSTALTUNGSORT<br />

Haus der <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

Schaperstraße 24<br />

10719 Berlin-Wilmersdorf<br />

U3 + U9 Spichernstraße | Bus 204, 249<br />

«Romeo und Julia. Das Fragment»<br />

in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz<br />

10178 Berlin-Mitte<br />

S + U Alexanderplatz | U2 Rosa-Luxemburg-Platz<br />

Bus 200, 240 | Tram M2, M8<br />

VORVERKAUF<br />

Kasse im Haus der <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

Schaperstraße 24 | Mo bis Sa 14:00 – 18:00<br />

im Nov auch So 14:00 – 18:00<br />

… und bei allen bekannten Theaterkassen<br />

Karten + Informationen Tel (030) 254 89-100<br />

Mo bis Fr 10:00 – 18:00<br />

Im Internet: www.berlinerfestspiele.de<br />

kartenbuero@berlinerfestspiele.de<br />

Ermäßigte Karten auch im Vorverkauf<br />

Abendkasse jeweils 1 Stunde vor Vorstellungsbeginn<br />

Änderungen vorbehalten<br />

KOSTENLOSES ABO<br />

spielzeiteuropa – die Zeitung<br />

Die nächste <strong>Ausgabe</strong> der Zeitung erscheint<br />

Ende November 2005 (Dezember-Programm)<br />

– kostenlos zu abonnieren unter:<br />

Tel (030) 254 89-100<br />

Fax (030) 254 89-230<br />

kartenbuero@berlinerfestspiele.de<br />

www.berlinerfestspiele.de


spielzeiteuropa – die Zeitung begleitet, wie im letzten Jahr, die Tanz- und Theatersaison mit aktuellen Programminfor-<br />

mationen und Hintergrundberichten zu Stücken und Künstlern sowie einem ausführlichen Porträt des «Regisseurs des<br />

Monats».<br />

«Der Körper erinnert…» ist die zweite spielzeiteuropa überschrieben. Andriy Zholdaks «Romeo und Julia. Das Fragment»,<br />

Guy Cassiers großer Zyklus nach Proust und Claude Régys Erarbeitung von Sarah Kanes letztem Stück «Psychose 4.48»<br />

beschreiben keine Erinnerungen im herkömmlichen Sinn. Sie sind, so unterschiedlich Material und theatraler Zugriff<br />

sein mögen, szenische Darstellung von Erinnerungsprozessen: im postkommunistischen Charkiw, im großfl ächigen Ge-<br />

sellschaftsbild Prousts, in der suizidalen Vorhölle Sarah Kanes. Der Körper im Theater, realer Schauspieler und tatsäch-<br />

liche Fiktion in einem, steht in dieser Doppelung für die so einzig im Theater mögliche Herausforderung: Erinnerung zu<br />

zeigen, die mit der Erinnerung des Betrachters verschmelzen kann. Proust nannte diese spontane, durch eine Sinnes-<br />

wahrnehmung ausgelöste Erinnerung souvenir involontaire. Theater verkörpert vor allem diese «Souvenirs» als ungeheu-<br />

ren Raum zum Schauen.<br />

Allen Lesern eine anregende Lektüre und spannende Theaterabende wünscht<br />

Die Redaktion<br />

Fluch und Sühne von Stefan Schmidtke<br />

Wie nur kann man einen Fluch loswerden? Zu spüren war<br />

er überall, doch keiner wusste, wann und wie er über das<br />

Schewtschenko-Theater im ukrainischen Charkiw herein-<br />

gebrochen war. Die Direktoren verließen, einer rasch ge-<br />

folgt vom nächsten, glücklos das Theater. Die Regisseure<br />

verzweifelten. Das Haus schlummerte einen Dornröschen-<br />

schlaf. Für den Namensgeber, den ukrainischen Dichter<br />

Taras Schewtschenko<br />

(1814–1861), wäre<br />

es ein Albtraum ge-<br />

wesen.<br />

Es musste etwas Au-<br />

ßergewöhnlichespas- sieren. Man berief<br />

zum x-ten Mal einen<br />

neuen Intendanten:<br />

den Regisseur An-<br />

driy Zholdak – An-<br />

fang vierzig, hoch<br />

aufgeschossen und niemals zu überhören. Zholdak, der in<br />

Moskau beim berühmten Anatolij Wassiljew studiert hat<br />

und dann an verschiedenen Theatern in Russland und der<br />

Ukraine arbeitete, ist für die verfallene Industriestadt<br />

Charkiw das, was man als «Luxus pur» bezeichnen könn-<br />

te. Anstandslos betreibt er Eigenreklame. Er legte sich<br />

den Titel «Tobilewitsch IV.» zu (die Tobilewitschs, seine<br />

Vorfahren, spielten eine wichtige Rolle im Theaterleben<br />

der Ukraine), geniert sich nicht, von sich selbst in der<br />

dritten Person zu sprechen und zettelt an jeder Ecke<br />

Skandale an. «Wenn es im ‹Hamlet› wirklich nackte Men-<br />

schen zu sehen gibt, bleibt der Bürgermeister der Pre-<br />

miere fern», lautete eine Warnung aus dem Bürgermeis-<br />

teramt. Die lange von den Verwirrungen des modernen<br />

Theaters verschonten Bürger der Stadt Charkiw klauen<br />

neuerdings mit Vorliebe Theaterplakate aus den Schau-<br />

kästen. Die Ankündigungen zu «Monat der Liebe», Plaka-<br />

te mit kopulierenden Hunden, mussten schon zum dritten<br />

Mal neu aufgelegt werden.<br />

Das Schewtschenko-Theater mit seinen heute rund 200<br />

Mitarbeitern ist eines von sechs Repertoirehäusern in der<br />

1,5-Millionenstadt. In den Jahren 1926 bis 1933 wurde<br />

an diesem Haus ukrainische Theatergeschichte geschrie-<br />

ben. Der Regisseur Les Kurbas, der in Wien am Reinhardt-<br />

Seminar studiert hatte und den man auch den «ukrai-<br />

nischen Meyerhold» nennt, war mit seiner in Kiew<br />

gegründeten Theatertruppe in das Haus nach Charkiw<br />

umgezogen. Die Stadt war seit 1918 die Hauptstadt der<br />

jungen Ukrainischen Sowjetrepublik. Das legendäre<br />

«Haus der Staatlichen Industrie» («Gosprom») wurde ge-<br />

rade hochgezogen. Mit seinen elf Stockwerken kündet der<br />

noch immer beeindruckende Gebäudekomplex am riesi-<br />

gen Dsershinski-Platz von den Aufbruchszeiten, als man<br />

daran ging, den «Neuen Menschen» zu erschaffen.<br />

Das Theater hieß damals «Berezil». Im Ukrainischen be-<br />

schreibt das Wort «Berezil» den Zustand der Natur im<br />

Frühling, wenn die Wasser das Eis aufbrechen. Kurbas in-<br />

szenierte erstmals die Stücke des jungen Dichters Myko-<br />

la Kulish – ein Zeitgenosse, der später Kurbas’ Schicksal<br />

teilen sollte. Im Jahre 1933 setzte das NKWD (Nationa-<br />

les Komitee für Innere Angelegenheiten – das Vorläuferor-<br />

gan des sowjetischen Geheimdienstes KGB) der jungen<br />

Blüte der Kultur ein jähes Ende. Die Schauspieler wurden<br />

unter Druck gesetzt, sich in einer Debatte gegen Kurbas<br />

und den von ihm beschrittenen künstlerischen Weg aus-<br />

zusprechen. Nach einer Abstimmung, bei der ihn seine<br />

eingeschüchterte Truppe im Stich ließ, wurde er seiner<br />

Funktion enthoben und das Theater umbenannt. Kurbas<br />

verschwand in einem Konzentrationslager. Nach seiner<br />

Erschießung 1934 verfl uchte seine Witwe dieses Theater<br />

und seine Schauspieler. Der Ort, an dem Kurbas’ Leiche<br />

vergraben wurde, ist bis heute nicht bekannt. Die einzi-<br />

gen Dokumente aus dieser künstlerisch fruchtbaren Zeit,<br />

ein paar Fotos, Bühnenbildentwürfe und Texte, sind im<br />

staubigen kleinen Theatermuseum im Foyer des Theaters<br />

zu besichtigen. Der Geist der Vergangenheit scheint noch<br />

nicht ganz verschwunden zu sein.<br />

2002 stürzte sich die Schauspielertruppe gem<strong>eins</strong>am mit<br />

ihrem neuen Intendanten in die Arbeit. Das Ensemble<br />

wurde in zwei Gruppen aufgeteilt. Beide probierten gleich-<br />

zeitig an ganz unterschiedlichen Materialien: die eine<br />

Hälfte an einer freien Fantasie nach Alexander Solscheni-<br />

zyns Lagernovelle «Ein Tag im Leben des Iwan Denisso-<br />

witsch», die andere an einer Version nach Turgenjews<br />

«Ein Monat auf dem Lande» – abgewandelt zu «Monat der<br />

Liebe». Zholdaks Inszenierung des «Iwan Denissowitsch»<br />

ist keine Bühnenfassung des Buches, sondern kompo-<br />

niert aus eindrucksvollen Bildern eine Apparatur der Ent-<br />

menschlichung in Ordnungen, in denen Unterdrückung<br />

regiert. Wo geschwiegen wird, spricht sein Theater be-<br />

redt. Seine Metapher vom Gang durch das menschliche<br />

Chaos ist eine Warnung an die postsowjetische Gesell-<br />

schaft. Zholdaks Theater versetzt seine Zuschauer in ei-<br />

nen Zustand der Freiheit. Die einen haben beim Nach-<br />

hauseweg entzündete Augen, gestikulieren aufgeregt und<br />

Romeo und Julia. Das Fragment > 3<br />

Interview Guy Cassiers > 4<br />

Proust 1–4 > 7<br />

aKabi > 9<br />

4.48 Psychose > 10<br />

Claude Régy: Außenseiter und Vorbild > 11<br />

Programmüberblick > 12<br />

lassen ihren Emotionen in völliger Glückseligkeit freien<br />

Lauf. Andere sind voller Hass und Ablehnung und fordern<br />

wie besessen das Verbot der Aufführungen und die Ver-<br />

treibung dieses «Regie-Scharlatans». Mittlerweile tourt<br />

das Ensemble mit zahlreichen preisgekrönten Inszenie-<br />

rungen durch ganz Europa.<br />

Den fi nalen Befreiungsschlag führte das Regiegenie<br />

schließlich im Mai 2004 auf einer Gastspielreise an ei-<br />

nem grauen Sonntagmorgen im noch schläfrigen Wien.<br />

Der kräftige Intendant mit wildem Haarschopf, gefolgt<br />

von einem wunderlichen Tross aus beleibten Damen mit<br />

kahlgeschorenen Köpfen, zierlichen Blondinen in hauten-<br />

gen Kleidern, Kindern, zittrigen älteren Herren in Turn-<br />

schuhen, einem zottigen Hund und allerlei Jungvolk,<br />

stapfte zielsicher durch die engen Gassen des achten Ge-<br />

meindebezirks. Auch der unablässig niederprasselnde<br />

Regen konnte die Schar der Charkiwer Schauspieler nicht<br />

davon abhalten, genau dort, wo Les Kurbas als Student<br />

gewohnt hatte – neben der Schankwirtschaft «Zur närri-<br />

schen Kastanie», wo heute eine Gedenktafel angebracht<br />

ist –, auf der Straße auf die Knie zu fallen. Der Intendant<br />

sprach eindringlich zu seinen Leuten. Von Schuld und<br />

Sühne, von Zukunft und Verantwortung, von der Liebe<br />

zum Theater und der Kunst, bis sich aus aller Munde ein<br />

«Vergib uns, Les!» in den grauen Himmel erhob. Das Wei-<br />

tere kann man sich am besten als Intermezzo in einer<br />

Zholdak-Inszenierung vorstellen: Die Wolkendecke stiebt<br />

auseinander, und der Himmel beginnt in magischen Far-<br />

ben zu schimmern. Auf einer watteweichen Wolke<br />

schmiegt sich die Seele der leidgeprüften Witwe Kurbas’<br />

an ihren geliebten Les, welcher auf das versammelte<br />

Schauspielervolk hinabblickt – und wahrscheinlich sprach-<br />

los ist … Als die Schauspieler diese Ruhe in sich aufge-<br />

nommen haben, springen sie auf und fallen sich, weinend<br />

vor Glück, in die Arme. So haben sie den Fluch von ihrem<br />

Theater genommen.<br />

Stefan Schmidtke, 35, ist leitender Dramaturg/Schauspiel<br />

bei den Wiener Festwochen.<br />

Anm. d. Red.: Anfang September gab Andriy Zholdak auf<br />

eigenen Wunsch die Leitung des Schewtschenko-Thea-<br />

ters in Charkiw ab. Vorausgegangen waren dieser Ent-<br />

scheidung Auseinandersetzungen mit der Stadt im Zu-<br />

sammenhang mit seinen letzten Inszenierungen.<br />

Andriy Zholdak<br />

Romeo und Julia. Das Fragment<br />

Romeo und Julia in Charkiw …<br />

Am 5. September hat Andriy Zholdak in Charkiw in der<br />

Ostukraine mit zwei öffentlichen Proben die Arbeit an sei-<br />

nem «Romeo-und-Julia»-Fragment abgeschlossen. Es ist<br />

eine Auseinandersetzung mit der Stadt, in der er seit drei<br />

Jahren Theaterdirektor ist und das Komplementärstück<br />

zu seiner Auseinandersetzung mit «Medea» in Berlin, sei-<br />

ner ersten Regiearbeit in Deutschland (Uraufführung<br />

«Medea in der Stadt» am 16. November an der Volksbüh-<br />

ne am Rosa-Luxemburg-Platz).<br />

Zholdak inszeniert nicht die tragisch-paradigmatische<br />

Liebesgeschichte von Romeo und Julia. So weit kommt es<br />

gar nicht in dieser mit den alten Geistern der Vergangen-<br />

heit und den neuen Gespenstern der Gegenwart kämp-<br />

fenden Stadt. Für den ganzen ersten Teil reicht ihm der<br />

kurze Prolog des Chors als Zeitdiagnose vollkommen aus,<br />

er wird immer wieder skandiert: «Zwei Häuser, beide<br />

gleich an Würde, brechen aus altem Groll in neuen Streit<br />

aus, in dem Bürgerblut Bürgerhände unsauber macht.<br />

Aus den unheilvollen Lenden dieser beiden Feinde erhält<br />

ein Paar sterndurchkreuzter Liebender das Leben; deren<br />

unglücklicher trauriger Untergang begräbt mit ihrem Tod<br />

den Streit der Eltern …»<br />

Die 42 Akteure, darunter einige der berühmtesten Schau-<br />

spielerInnen der Ukraine, «verdiente Schauspieler des<br />

Volkes», und zwei Schauspielprofessoren begeben sich,<br />

anfangs streng nach Geschlechtern getrennt, in ein dyna-<br />

misches Ritual des Exzesses und der Reinigung. Sie ent-<br />

wickeln dabei eine Kraft, wie man sie vielleicht nur mit<br />

den frühen Chorarbeiten von Einar Schleef vergleichen<br />

kann. Das ist kein Theater mehr und geht weit über eine<br />

normale Bühnenpräsentation hinaus. Der Text wird zum<br />

Mantra, Schauspieler und Publikum nähern sich trance-<br />

haften Zuständen. Und trotzdem ist alles leicht und ir-<br />

gendwie selbstverständlich.<br />

Der zweite Teil steht unter einem vom neuen ukrainischen<br />

Präsidenten Juschtschenko jüngst ausgerufenen Motto<br />

ähnlich kulturkonservativen Inhalts wie neulich das des<br />

deutschen Bundespräsidenten: «Kunst muss volksver-<br />

bunden und erbaulich sein.» Dieser Teil zeigt auf tabui-<br />

sierte Fehlentwicklungen der postkommunistischen Ge-<br />

sellschaft: die tragische Verstrickung von alten und neuen<br />

Ausweglosigkeiten, wo jede Liebe zwischen Menschen,<br />

bereits bevor sie sich entwickeln kann, auf dem Müll lan-<br />

det, wie die Föten in den privaten Abtreibungspraxen, die<br />

in Charkiw neuerdings zu fi nden sind.<br />

Hier arbeitet Zholdak – ohne den Formenkanon seiner<br />

Traumsprache zu verlassen, aber mit Mut zum Eklekti-<br />

schen – die einzelnen Konfl iktzonen ab: Erstarrung und<br />

Wut, Ohnmacht und Anmut, Beziehungen zwischen den<br />

Geschlechtern und Generationen, Alltag und Traum, Cha-<br />

os und Ordnung. Eine intensive Totalität entsteht. Die<br />

Schauspieler verkörpern die ganze Bandbreite menschli-<br />

cher Möglichkeiten. Sie treten fast immer als Kollektiv<br />

auf, und trotzdem wirkt jeder einzigartig – eine Ansamm-<br />

lung sehr besonderer Individuen. Sie stürzen sich mit Be-<br />

geisterung in die Niederungen eines entgleitenden All-<br />

tags, nach einer vom Volk erkämpften «Revolution», die<br />

vielen offenbar schon nach wenigen Monaten nur noch<br />

als kosmetische Operation erscheint, als ein Austausch<br />

von Herrschaftstechniken.<br />

Und dann fi ndet man doch noch einiges Spezifi sche aus<br />

Shakespeares «Romeo und Julia» wieder, sogar an Texten.<br />

Wie der französische Theaterprofessor Georges Banu über<br />

Zholdak sagte, benutzt dieser Texte eher als «Werkzeug»<br />

zur Erzeugung von Explosionen. Die Liebe als Blitz aus<br />

heiterem Himmel. Das Risiko der Begegnung, das Miss-<br />

trauen, das jeder Liebe eigen ist, und auch eine Ahnung<br />

von der paradoxen Überfülle dieses Gefühls: «Ich wün-<br />

sche nur, was ich bereits besitze. So grenzenlos ist mei-<br />

ne Huld, die Liebe, so tief das Meer, je mehr ich gebe, je<br />

mehr auch hab ich: beides ist unendlich.»<br />

Das Skandalöse an dieser Inszenierung ist nicht ihr tabu-<br />

loser Blick in die Abgründe menschlichen Zusammenle-<br />

bens in einer zerfallenden Welt, sondern die Schönheit<br />

der Bilder, die dabei entstehen.<br />

Carl Hegemann, Dramaturg der Volksbühne am<br />

Rosa-Luxemburg-Platz<br />

… Medea in Berlin<br />

22. + 23. Oktober | 19:30<br />

Foto Sergej Sverdelov<br />

Zwei weitere Gastspiele und eine Neuinszenierung<br />

von Andriy Zholdak an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz<br />

17. Oktober | 19:30<br />

Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch<br />

nach Alexander Solschenizyn<br />

Regie, Bühne, Kostüme | Andriy Zholdak<br />

Gastspiel des Shevchenko-Theaters, Charkiw/Ukraine<br />

19. Oktober | 19:30<br />

Monat der Liebe<br />

nach Iwan Turgenjew<br />

Regie, Bühne, Kostüme | Andriy Zholdak<br />

Gastspiel des Shevchenko-Theaters, Charkiw/Ukraine<br />

16. November | 19:30 Premiere<br />

Uraufführung<br />

Medea in der Stadt<br />

Regie, Kostüme | Andriy Zholdak<br />

Bühne | Andriy Zholdak, Susanne Münzner<br />

Koproduktion der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz<br />

und dem Shevchenko-Theater, Charkiw/Ukraine<br />

weitere Vorstellungen 17. + 18. November<br />

weitere Informationen www.volksbuehne-berlin.de<br />

Spielort: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz<br />

Uraufführung | Koproduktion<br />

Romeo und Julia. Das Fragment<br />

nach William Shakespeare<br />

Idee, Regie | Andriy Zholdak<br />

Bühne | Andriy Zholdak, Tatjana Dimowa<br />

Kostüme | Tatjana Dimowa<br />

Musik, Toninstallation | Alexander Schetynsky<br />

mit Darstellern des Shevchenko-Theaters, Charkiw/Ukraine<br />

Dauer ca. 3h 30 | eine Pause<br />

In ukrainischer Sprache mit deutschen Übertiteln<br />

Karten 10,- / 15,- / 20,- / 25,- / 30,-<br />

Eine Koproduktion von<br />

State Academic Drama Theatre «T. Shevchenko», Charkiw<br />

«Agency Culture-Europe»<br />

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin<br />

spielzeiteuropa | <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong>


Guy Cassiers, neben Luk Perceval und Johan Simons einer<br />

der führenden Regisseure der niederländisch-fl ämischen<br />

Theaterszene, wurde 1960 in Antwerpen geboren und stu-<br />

dierte Grafi kdesign an der dortigen Kunstakademie. Erste<br />

Theaterprojekte ab 1982, u. a. «The Cement Garden» nach<br />

Ian McEwan (1984). Von 1988 bis 1992 war er künstleri-<br />

scher Leiter der Oud Huis Stekelbees Company, ab 1992<br />

freier Regisseur u. a. für das Kaaitheater in Brüssel und<br />

das ro theater in Rotterdam, dessen künstlerischer Leiter<br />

er 1998 wird. Im Frühjahr 2003 beginnt Guy Cassiers, der<br />

in der Verbindung von literarischen Texten mit multimedia-<br />

len Formen eine ganz eigene Theatersprache entwickelte,<br />

die Arbeit an seinem vierteiligen Zyklus nach Marcel<br />

Prousts «Á la recherche du temps perdu». «Proust 1-4»<br />

wird nun erstmals vollständig im deutschsprachigen Raum<br />

vorgestellt (der dritte Teil war bereits bei der vergangenen<br />

spielzeiteuropa zu sehen). Im kommenden Jahr wird<br />

Guy Cassiers als Intendant Nachfolger von Luk Perceval<br />

am Het Toneelhuis Antwerpen.<br />

spielzeiteuropa<br />

Die Frage, ob man Romane für die Bühne bearbeiten soll<br />

bzw. überhaupt kann, wird zurzeit wieder einmal heftig<br />

diskutiert. Prousts «Recherche» ist allein ihres Umfangs –<br />

mehr als 4000 Seiten –, aber auch ihrer Erzählweise we-<br />

gen ein Sonderfall. Warum haben Sie gerade dieses Werk<br />

gewählt?<br />

Guy Cassiers<br />

Der eigentliche Anlass für mich war ein Drehbuch von Ha-<br />

rold Pinter, das nie verfi lmt wurde. Ich glaube nicht, dass<br />

es sich dabei um eine gute Adaption des Buches handelt,<br />

aber es regte mich trotzdem dazu an, mich eingehender<br />

mit Proust zu beschäftigen. Paradox an Pinters Entwurf<br />

ist, dass er das Ganze in Bilder aufzulösen versucht, wäh-<br />

rend es doch hauptsächlich um Sprache und die Schön-<br />

heit der Sprache geht. Pinter hat praktisch keine Zeile<br />

von Proust übernommen und auch die Dialoge der Figu-<br />

ren neu erfunden. Trotzdem hat er die Essenz des Bu-<br />

ches voll erfasst, allerdings so, dass man den Film nur<br />

mit guter Kenntnis des Romans verstehen würde. Woran<br />

das Filmprojekt dann wahrscheinlich gescheitert ist.<br />

spielzeiteuropa<br />

Ihre Version ist also nicht nur für Proust-Kenner?<br />

Guy Cassiers<br />

Unsere Inszenierung kann man verstehen, ohne den Ro-<br />

manzyklus zu kennen. Das schönste Kompliment für mich<br />

ist, wenn die Leute hinterher sagen: Jetzt will ich auch<br />

den Roman lesen. Die «Recherche» gehört ja offensicht-<br />

lich zu den Werken der Weltliteratur, die ungelesen zu<br />

Hause im Regal stehen. Prousts Roman ist faszinierend,<br />

und doch muss ich zugeben, dass ich mich an einigen<br />

Stellen richtig gelangweilt habe. Wenn ich mir aber die<br />

Komposition dieses Riesenwerks vor Augen halte, dann<br />

haben selbst solche Stellen natürlich ihre erkennbare<br />

Funktion, und man staunt, wie weit Proust gegangen ist.<br />

Sein ganzes Leben in einem Roman festzuhalten, das nö-<br />

tigt mir den höchsten Respekt ab. Proust versucht bis ins<br />

kl<strong>eins</strong>te Detail zu ergründen, wie seine Sinne funktionie-<br />

ren. Für mich war die größte Herausforderung, das auf die<br />

Bühne zu bringen, was den Sinnesreiz auslöst, wie die in<br />

Tee getunkte Madeleine. Dieses Theater hat für mich vor<br />

allem damit zu tun, eine verlorene Vergangenheit aufzu-<br />

spüren und ihre Geschichte zu erzählen.<br />

spielzeiteuropa<br />

Welche Erfahrungen haben Sie mit eingeschworenen<br />

Proust-Lesern gemacht?<br />

Guy Cassiers<br />

Merkwürdigerweise verhalten sich die Proust-Leser bei-<br />

nahe, als würden sie zu einer Sekte gehören. In jedem<br />

Land gibt es eine Proust-<br />

Gesellschaft. Meist geht<br />

es da gar nicht so litera-<br />

turwissenschaftlich zu.<br />

Man trifft sich, um sich<br />

über die «Recherche»<br />

auszutauschen, weil sie<br />

nach der langen Lektü-<br />

re unweigerlich zu ei-<br />

nem Teil des Lebens geworden ist. Von diesen Experten<br />

haben natürlich viele unsere Aufführungen besucht. Sie<br />

freuen sich einerseits, dass das Buch diese Aufmerksam-<br />

keit durch das Theater erhält, andererseits ist hinterher<br />

die häufi gste Frage: Warum fehlt denn diese wichtige<br />

Passage oder jenes Motiv? Insgesamt haben wir von Sei-<br />

ten der Proust-Fans den größten Zuspruch erhalten. Wir<br />

haben ihre schlimmste Befürchtung, der Roman würde in<br />

kleine Anekdoten für die Bühne aufgelöst, widerlegt. Es<br />

geht auch bei uns um einen mentalen Zustand, die Be-<br />

deutung der sinnlichen Wahrnehmung. Womit wir bei der<br />

für Proust so wichtigen Behauptung sind, dass diese<br />

Wahrnehmung erst die Wirklichkeit erschafft.<br />

spielzeiteuropa<br />

Für die eigene Wirklichkeit des Theaters setzen Sie ver-<br />

schiedene Bilder auf unterschiedlichen Projektionsfl ä-<br />

chen ein, wodurch eine Art fi lmischer Raum der Erinne-<br />

rung entsteht. Hatten Sie dafür von vornherein einen<br />

fertigen Stücktext?<br />

Guy Cassiers<br />

Bei diesem Projekt – wie bei anderen übrigens auch – ha-<br />

ben wir nicht mit dem Text für die Bühne angefangen,<br />

nicht mit Dialogen, sondern mit Texten, die zunächst ein-<br />

mal die innere Welt der Figuren erforschen sollten, ihre<br />

Gedanken. Die andere Seite des Verfahrens war die Frage,<br />

wie sich das für die Zuschauer entwickeln würde. In die-<br />

sem Sinne verwende ich auch die Kamera: nicht um mehr<br />

zu zeigen, sondern eigentlich um weniger, aber dafür kon-<br />

zentrierter sehen zu lassen. Dabei erscheint mir wichtig,<br />

was der Bildausschnitt nicht zeigt, was man nicht sieht.<br />

Das ist für mich genauso wichtig wie das, was man sieht.<br />

In diesem Sinne kann man bei uns von Film sprechen und<br />

seinen spezifi schen Techniken wie Schnitt, Montage,<br />

Sound.<br />

spielzeiteuropa<br />

Wobei diese einzelnen Mittel auf der Bühne auseinander<br />

zu treten scheinen.<br />

Guy Cassiers<br />

Der große Unterschied zum Film ist, dass dort die Sin-<br />

neswahrnehmungen synchronisiert sind: Man sieht ein<br />

Auto vorbeifahren und hört es gleichzeitig. Im Theater<br />

kann ich die beiden Komponenten eines Ereignisses, Bild<br />

und Ton, asynchron benutzen, das macht für mich die<br />

Kraft des Theaters mit aus. Wenn wir ein Auto sehen, müs-<br />

sen wir es nicht auch noch hören. Dass das Auto schließ-<br />

lich vorbeigefahren ist, muss ich nicht noch zeigen, wenn<br />

ich es höre. Man kann also verschiedene Informationen<br />

an verschiedene Sinne weitergeben und dabei aufteilen.<br />

Dabei hoffe ich den Zuschauer zu aktivieren, der die Din-<br />

ge zusammenfügt und sich somit sein eigenes Kunstwerk<br />

schafft. Seinen eigenen Film, wenn Sie so wollen. Erinne-<br />

Das schönste Kompliment<br />

ist, wenn die Leute hinterher<br />

sagen: Jetzt will ich Proust<br />

auch lesen.<br />

rung ist also mit<br />

Proust der eigent-<br />

licheProjektions- raum, in dem der<br />

sich Erinnernde<br />

gleichsam Regie<br />

führt. Dann gibt<br />

es aber auch noch<br />

die unfreiwilligen<br />

oder unwillkürlichen Erinnerungen (Prousts souvenir invo-<br />

lontaire), die darin untergebracht werden müssen.<br />

spielzeiteuropa<br />

Setzen Sie da auch auf die unwillkürlichen Erinnerungen<br />

der Zuschauer?<br />

Guy Cassiers<br />

Ein Zoom beispielsweise kann für einen Moment, in dem<br />

es nur um diese eine Figur geht, dazu beitragen, dass<br />

sich der Zuschauer die Umgebung oder das, was er in<br />

diesem Moment nicht sieht, vorstellen will. Das ist viel-<br />

leicht der Punkt, wo die Erinnerungswelt Prousts und sei-<br />

ner Figuren mit der Erinnerungswelt des einzelnen Zu-<br />

schauers zusammentreffen kann. Das ist für mich das<br />

höchste Ziel als Regisseur: Was kann ich so kunstvoll aus-<br />

lassen, dass die Bühne mit der inneren Welt ihres Be-<br />

trachters verschmilzt.<br />

spielzeiteuropa<br />

Versuchen Sie eine kurze Einführung in die vier Abende,<br />

vom Porträt des Künstlers als junger Mann und seiner<br />

ersten Liebe bis zum Schriftsteller, der seine Geschichte<br />

erinnert und beginnt, sie aufzuschreiben.<br />

Guy Cassiers<br />

Sie beginnt mit dem allerschönsten Moment von Marcels<br />

Leben, dem Gute-Nacht-Kuss seiner Mutter. Dieser Mo-<br />

ment, bevor er den Kuss erhält, soll in der Erinnerung so<br />

lange wie möglich ausgedehnt werden. Der Kuss selbst ist<br />

ja nur kurz und schnell vorbei. Das ist die Grundbewe-<br />

gung, jeden Moment vor etwas Bedeutendem auszudeh-<br />

nen, damit man damit weiterleben kann. Alle vier Abende<br />

beginnen und enden wie in einer Art Vortraum zwischen<br />

Noch-Wachsein und Schlaf, es geht also immer um die<br />

langen Momente dazwischen. Eine Person erscheint auf<br />

der Bühne und scheint sich den Kopf abzuschneiden, wo-<br />

rauf ihr Gesicht auf der Projektionsfl äche erscheint: der<br />

Weg in den mentalen Zustand der Erinnerung – als Ouver-<br />

türe des Ganzen.<br />

Der erste Abend ist der Kindheit gewidmet und besteht<br />

aus zwei Teilen. Marcel und die drei Frauen um ihn her-<br />

um: seine Mutter, Gilberte, das erste Mädchen, in das er<br />

sich verliebt, und deren Mutter, in die er sich auch ver-


liebt. Und der große Konkurrent Swann, der Vater von<br />

Gilberte, der obendrein den Gute-Nacht-Kuss verhindert,<br />

wenn er zu Besuch ist, den Jungen aber in die Welt der<br />

Kunst einführt. In diesem Verhältnis steckt schon alles,<br />

was später von Bedeutung sein wird: die ästhetisierende<br />

Idealisierung des Körpers und parallel dazu ihre Bezie-<br />

hung zur Kunst.<br />

Im zweiten Teil dieses Abends springt die Handlung zwan-<br />

zig Jahre zurück, und wir erleben ein Paar, das sich tren-<br />

nen will, dann aber für immer zusammenbleibt: Swann<br />

und Odette. Im ersten Teil haben wir eine Gruppe von<br />

Personen durch die Augen eines schon erwachsen wir-<br />

kenden Kindes gesehen, im zweiten Teil zwei Erwachse-<br />

ne, die eher kindisch wirken. In diesem zweiten Teil, der<br />

zwanzig Jahre zurückliegt und in dem Proust also noch<br />

gar nicht existiert, gibt es keine (fi lmischen) Projektionen.<br />

Die Projektionen, d. h. die Erinnerungswelt setzt auf der<br />

Bühne ein, wenn Proust da ist – daher sehen wir in die-<br />

sem zweiten Teil des Abends nur Pixel auf den Figuren.<br />

Im ersten Teil gibt es die Bilder von wunderbaren Blu-<br />

menbuketts.<br />

spielzeiteuropa<br />

Demnach haben die Projektionsfl ächen noch eine andere<br />

Funktion, nämlich die einzelnen Räume der Erzählung zu<br />

trennen und gleichzeitig psychologisch zu verbinden.<br />

Guy Cassiers<br />

Die Screens sind Vorhänge, die nicht nur den Projektio-<br />

nen dienen, sondern sie markieren auch die Grenze zu<br />

den Räumen, in denen Proust nicht ist. In den folgenden<br />

zwei Stücken bzw. Abenden wird er mehr und mehr von<br />

der Welt der aristokratischen Salons angezogen. Im zwei-<br />

ten Abend gibt es eine heimliche Beziehung des Helden<br />

zu Albertine. Der dritte ähnelt einem Stillleben der Sa-<br />

lons, die Proust besucht – eine Welt, von der er Teil sein<br />

möchte und in der sein Inneres zerfällt. In der dekaden-<br />

ten Welt der Salons nimmt niemand davon Notiz, dass<br />

sich draußen der Erste Weltkrieg ankündigt. Und wenn<br />

doch, nur um sich darüber zu freuen, dass man sich end-<br />

lich über etwas anderes unterhalten kann. Marcel erkennt,<br />

wohl zu spät, dass er zu viel Zeit in diesen Kreisen ver-<br />

bracht hat. Er verliert seine besten Freunde im Krieg.<br />

spielzeiteuropa<br />

Am Ende zeigt sich die «Recherche» mit der Figur ihres<br />

Schöpfers als Szene eines Einsamen, der eine Welt her-<br />

vorruft und gleichsam darin stirbt. Genau dieser Punkt,<br />

der in der biographischen Literatur oft überhöht wird, fi n-<br />

det hier eine konkrete theatrale Deutung. Gab es dafür<br />

Anregungen?<br />

Guy Cassiers<br />

Am vierten Abend, der mit dem<br />

Verlust dieser beiden Freunde<br />

<strong>eins</strong>etzt, wird Marcel zum<br />

Schriftsteller. Von den beiden<br />

Proust-Figuren, die wir schon<br />

aus den anderen Teilen kennen,<br />

bleibt der jüngere ein Medium<br />

der Refl exion, während der äl-<br />

tere zum Schriftsteller wird. Wir<br />

beziehen uns in diesem Teil auf<br />

die Erinnerungen Céleste Alba-<br />

rets («Monsieur Proust», erschienen 1973), seiner Haus-<br />

hälterin, die ihm in den letzten zehn Jahren seines Le-<br />

bens bei der Abfassung seines Werks geholfen hat. Sie<br />

war die perfekte Begleiterin in dieser Phase der Selbst-<br />

isolation, in der sein Buch über die Erinnerung entstand.<br />

Durch ihre Augen wird der Autor Proust selbst zur Fiktion,<br />

zu einer Figur. Hier wird sich also alles vermischen, die<br />

Personen der Vergangenheit mit der Realität des Autors,<br />

der über sie schreibt. Nach 4200 Seiten sagt er: Jetzt<br />

kann ich mit dem Schreiben beginnen – und stirbt. Für<br />

uns würde das bedeuten, jetzt könnten wir mit dem The-<br />

ater richtig anfangen.<br />

spielzeiteuropa<br />

Die vier Teile Ihrer Proust-Recherche wurden über mehre-<br />

re Jahre entwickelt. Konnten Sie eine Theatertruppe dar-<br />

auf <strong>eins</strong>chwören, bis zum ungewissen Ende durchzuhal-<br />

ten?<br />

Guy Cassiers<br />

Ja, das basiert auf einer ungewöhnlichen Langzeit-En-<br />

semblearbeit. In den Niederlanden ist das ja sonst nicht<br />

üblich; dort wird eine Produktion geprobt und dann zwei<br />

Monate gespielt. Im besten Fall gibt es noch eine Wieder-<br />

aufnahme. Mit Proust haben wir uns auf eine Reise bege-<br />

ben, zunächst mit den beteiligten Künstlern und dann zu-<br />

sammen mit dem Publikum. Wären die ersten beiden<br />

Teile nicht so erfolgreich gewesen, wäre es wahrscheinlich<br />

sehr schwer geworden, bis ans Ende zu kommen. Für das<br />

Ensemble war es auch ein hohes Risiko, aber eben auch<br />

eine große Erfahrung, diese Aufführungen Schritt für<br />

Schritt zu entwickeln und aus sich selbst entstehen zu<br />

lassen. Bestimmte Szenen, wie die Salons, haben wir am<br />

Anfang vor Publikum ausprobiert, um zu sehen, was die<br />

Leute davon halten. Das waren keine Proustianer, die da<br />

hinterher mit uns diskutierten, aber es war sehr spannend<br />

zu beobachten, wie die Leute mehr und mehr von dem<br />

Projekt angeregt wurden, so dass sie keinen der nächsten<br />

Schritte verpassen wollten. Die öffentlichen Proben der<br />

noch nicht fertigen Inszenierungen haben uns sehr gehol-<br />

fen. Ich fi nde, das sollte man viel öfter im Theater ma-<br />

chen. Trotzdem hat Prousts Welt auch viel mit Isolation<br />

zu tun, und das war für mich auch so.<br />

spielzeiteuropa<br />

Was bedeutet das für die Schauspieler?<br />

Guy Cassiers<br />

Wie eingangs gesagt, ich benutze oft die Situation des<br />

Films für die Arbeit auf der Bühne. Für die Schauspieler<br />

heißt das manchmal, dass sie mit ihrer Rolle, mit ihrem<br />

Text in eine Szene kommen, in der sie nicht das Zusam-<br />

menwirken aller Elemente kennen, obwohl ich sie natür-<br />

Für mich ist wichtig,<br />

dass Persönlichkeiten<br />

mit eigenen Handschriften<br />

ein Ensemble bilden.<br />

lich so gut wie<br />

möglich über<br />

das Ganze infor-<br />

miere. Vor einer<br />

Kamera wird der<br />

Schauspieler zu<br />

seinem eigenen<br />

Regisseur, was<br />

ihm neue Mög-<br />

lichkeiteneröff- net und ihn<br />

grundsätzlich stärker macht. Mein Prinzip bei der Arbeit<br />

mit neuen Technologien – Kamera, Videoscreen, Live-Ka-<br />

mera, Mikrofon – ist immer, dem Schauspieler die beste<br />

Möglichkeit zu geben, die Figur, den Text zum Ausdruck<br />

zu bringen. Während der Proben schaffen wir eine Art<br />

Spielplatz für die Schauspieler, um nicht nur den Auftritt<br />

zu proben, sondern alle schauspielerischen Mittel mit<br />

dieser Technik zu erforschen.<br />

spielzeiteuropa<br />

2006 übernehmen Sie als Nachfolger von Luk Perceval<br />

Het Toneelhuis in Antwerpen. Was haben Sie dort vor?<br />

Guy Cassiers<br />

In Rotterdam haben wir die merkwürdige Situation, dass<br />

kaum jemand weiß, wo sich das Theater befi ndet. In Ant-<br />

werpen, mit der historischen «Bourla», weiß nicht nur je-<br />

der genau, wo das Theater ist, sondern dazu auch, was<br />

dort gespielt werden sollte. Dort ist das Theater Teil der<br />

Identität der Stadt. In der ersten Spielzeit werden wir uns<br />

also auch sehr viel Zeit dafür nehmen, was das Publikum,<br />

was die Politiker wollen – in Diskussionen gem<strong>eins</strong>am mit<br />

unseren Künstlern. Das heißt, wir wollen zusammen her-<br />

ausfi nden, was die Zukunft dieses Theaters sein könnte.<br />

Außerdem strebe ich danach, dass der Betrieb mehr in<br />

kleinen Gruppen oder Zellen organisiert ist, die ihre Auto-<br />

nomie behalten. Es gibt also eine Gruppe, die sich mit<br />

den visuellen Künsten im Theater beschäftigt, oder die<br />

Gruppe der Schauspieler, und dabei geht es nicht darum,<br />

dass die nur ihr eigenes Ding machen, sondern dass ih-<br />

nen stärker bewusst wird, was ihr Beitrag zum Ganzen ist.<br />

Eine andere Gruppe wird eine kleine Bühne außerhalb<br />

des Theaters bespielen. Für mich ist wichtig, dass Per-<br />

sönlichkeiten mit sehr verschiedenem Hintergrund und<br />

eigenen Handschriften, die nicht aus dem Theater stam-<br />

men, diese beibehalten und ein Ensemble bilden können.<br />

Auch das wird eine Art Reise, wahrscheinlich eine noch<br />

viel größere als mit Proust.<br />

Gespräch Thomas Irmer und Markus Luchsinger<br />

Fotos Andrea Stappert<br />

6<br />

Proust 1: De kant van Swann – In Swanns Welt<br />

Der erste Teil erzählt von Marcels Kindheit und Jugend in Combray. Drei Frauen tauchen in seiner Erinnerung auf: sei-<br />

ne Mutter, seine Jugendliebe Gilberte und deren Mutter, die geheimnisvolle Odette Swann. Die Frauen repräsentieren<br />

die verschiedenen Stufen in Marcels aufkeimendem Gefühlsleben. Im Kontrast dazu folgt im zweiten Teil die Schilde-<br />

rung der «erwachsenen» Liebesbeziehung zwischen Charles Swann und Odette, die sich 20 Jahre zuvor in Madame Ver-<br />

durins Salon zum ersten Mal begegneten. Von Eifersucht geprägt, endet ihre leidenschaftliche Liebe in Gleichgültigkeit<br />

– ein Modell für viele andere Proust’sche Liebesgeschichten.<br />

11. November | 18:30 Proust 1: De kant van Swann – In Swanns Welt mit Jacqueline Blom, Marc De Corte, Herman Gilis,<br />

Marlies Heuer, Joop Keesmaat, Paul R. Kooij, Eelco Smits, Fania Sorel und dem Kryptos Kwartet Dauer 2h 35 | eine Pause<br />

Guy Cassiers Auf der Suche nach der verlorenen Zeit<br />

Theater-Recherche nach Marcel Proust in vier Teilen<br />

Proust 2: De kant van Albertine – In Albertines Welt<br />

Als junger Mann trifft Marcel Albertine wieder, die er zum ersten Mal inmitten einer Schar junger Mädchen am Strand<br />

von Balbec gesehen hat. Ihre Liebesgeschichte wird von Anfang an von Eifersucht, Lügen und Misstrauen begleitet.<br />

Gleich Swann ist Marcel von dem Gedanken besessen, seine Geliebte könnte lesbische Beziehungen haben. Albertines<br />

heimlicher Einzug bei ihm verschlechtert ihr Verhältnis zusehends, er beginnt sie wie eine Gefangene zu halten… «In<br />

Albertines Welt» spiegelt die intime Gefühlswelt zweier Liebender in all ihrer Komplexität und ihren Verwirrungen wider.<br />

11. November | 22:30 und 12. November | 16:30 Proust 2: De kant van Albertine – In Albertines Welt mit Marlies Heuer,<br />

Paul R. Kooij, Eelco Smits, Fania Sorel Dauer 1h 25 | keine Pause Proust 1 + 2 als Doppelvorstellung am 11. November<br />

Foto Jaap Ruurs Foto Pan Sok


Guy Cassiers / ro theater, Rotterdam<br />

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit<br />

nach Marcel Prousts Romanzyklus<br />

«Á la recherche du temps perdu»<br />

Proust 3: De kant van Charlus – In Charlus’ Welt<br />

Marcel fi ndet Einlass in die höchsten Kreise der Pariser Aristokratie. Zentrale Figuren sind der charismatische Militär<br />

Robert de Saint-Loup und der exzentrische homosexuelle Baron de Charlus. Der dritte Teil des Proust-Zyklus zeichnet<br />

das Panorama einer gesellschaftlichen Klasse, die geprägt ist von Heuchelei, hohler Etikette und Rassismus und die mit<br />

Beginn des Ersten Weltkrieges kollabiert. Der Einsatz visueller Mittel legt hier nicht nur den Blick auf die Gedankenwelt<br />

der Figuren frei, sondern funktioniert auch als Spiegelmetapher für die Dekadenz einer Gesellschaft, die von der Dyna-<br />

mik des sozialen Voyeurismus und Exhibitionismus lebt.<br />

12. November | 20:00 Proust 3: De kant van Charlus – In Charlus’ Welt mit Katelijne Damen, Marlies Heuer, Joop Keesmaat,<br />

Paul R. Kooij, Eelco Smits, Fania Sorel, Steven Van Watermeulen, Tom Van Bauwel und dem Rotterdams Jongenskoor,<br />

Leitung Geert van den Dungen Dauer 2h 45 | eine Pause Proust 2 + 3 als Doppelvorstellung am 12. November<br />

Textfassung | Guy Cassiers, Erwin Jans, Eric de Kuyper Übersetzung | Céline Linssen Regie | Guy Cassiers Dramaturgie | Erwin Jans Bühne | Marc Warning<br />

Kostüme | Valentine Kempynck (BELGAT) Lichtdesign | Enrico Bagnoli Video-Konzept | Marc Warning, Kantoor voor Bewegend Beeld (Eelko Ferwerda, Jasper Wessels)<br />

Video | Kantoor voor Bewegend Beeld Musikalische Leitung | Wim Selles (Proust 3) Sounddesign | Diederik De Cock (Proust 3 + 4) Einzelkarten 18,- (erm. 12,-)<br />

In niederländischer Sprache mit deutscher Simultanübersetzung Publikumsgespräch am 12. November 18:30 Proust-Abo (Proust 1 – 4) 54,- (erm. 36,-)<br />

In Koproduktion mit KunstenFESTIVALdesArts, Brüssel (Proust 2 + 3), Wiener Festwochen (Proust 3) und spielzeiteuropa | <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong> (Proust 4)<br />

Proust 4: De kant van Marcel – In Marcels Welt<br />

Im letzten Teil zieht sich Proust in sein Zimmer zurück, um an seinem Romanwerk zu arbeiten. Die einzige Vertraute<br />

dieser letzten Lebensjahre ist seine Haushälterin Céleste Albaret, zugleich seine Sekretärin und Krankenschwester. Kein<br />

anderer Mensch kannte die Person des Schriftstellers so gut wie sie, sie war auch die erste Leserin seines Romans. Ihre<br />

1973 mit über 80 Jahren niedergeschriebenen Erinnerungen sind eine wichtige Grundlage des vierten Teils. In den Ge-<br />

sprächen zwischen Proust und Céleste wechseln sich banale Alltagsprobleme ab mit tiefen Einsichten in das Erinnern<br />

und Vergessen und die Rolle der Kunst als Schöpferin einer Welt, die die Zeit transzendiert.<br />

13. November | 20:00 Proust 4: De kant van Marcel – In Marcels Welt zum Teil nach Céleste Albarets «Monsieur Proust»<br />

mit Marlies Heuer, Paul R. Kooij, Eelco Smits, Fania Sorel Dauer 1h 30 | keine Pause<br />

Foto Pan Sok Foto Pan Sok<br />

Aydin Teker aKabi<br />

Kreativität, so scheint es, war der türkischen Choreogra-<br />

fi n Aydin Teker von klein auf eigen. «Als Kind», so erinnert<br />

sie sich, «wenn meine Großmutter mir Haushaltsarbeiten<br />

auftrug, was ich hasste, machte ich immer etwas beson-<br />

deres daraus. Musste ich die Wäsche aufhängen, so häng-<br />

te ich sie nach einer bestimmten Ordnung auf, nach Far-<br />

be oder Größe – und die anderen standen um mich herum<br />

und sahen mir dabei zu. Ich machte immer aus allem ein<br />

Spiel.» Später fand Tekers Kreativität ein Ventil im Tanz.<br />

Ballett war damals in der Türkei wenig populär, und als<br />

sie sich, angespornt von der Großmutter, am Staatlichen<br />

Konservatorium bewarb, waren die Nachbarn in Yenima-<br />

halle, einem konservativen Vorort von Ankara, schockiert.<br />

«Sie konnten es kaum glauben, dass meine Eltern mich<br />

auf diese Schule ließen. Und sie sagten zu ihnen: Ihr<br />

habt eine einzige Tochter und die schickt ihr zu diesen<br />

köçek [männliche Unterhaltungstänzer zur Zeit des Os-<br />

manischen Reichs, als der öffentliche Tanz für Frauen als<br />

Tabu galt]. Für mich aber war Tanzen – wie Fliegen.»<br />

Die Ballettschule war jedoch nicht das, was sie erwartet<br />

hatte. «Die Ausbildung war sehr, sehr traditionell. Als ich<br />

mit zehn auf das Konservatorium kam, spielte meine ei-<br />

gene Persönlichkeit, meine Kreativität keinerlei Rolle. Es<br />

hieß: Das ist Position <strong>eins</strong>, das ist Position zwei! Es wur-<br />

den mir Dinge vorgemacht – und ich tat so, als würde ich<br />

sie nachmachen… Nach ein paar Jahren wusste ich: Das<br />

will ich nicht. Ich will keine Fee mehr sein. Ich will nicht<br />

mehr so tun als ob.»<br />

Nur wusste sie nicht, was sie wollte – bis sie den zeitge-<br />

nössischen Tanz entdeckte. Die erste Begegnung, die<br />

Aufführung einer deutschen Compagnie in Ankara, verän-<br />

derte ihr Leben. «Das war unglaublich wichtig für mich.<br />

Plötzlich gab es einen anderen Weg. Ich begriff: Ich will<br />

kein Ballett, sondern so etwas. Meine ganze Einstellung<br />

zum Tanz änderte sich, und ich wurde eine sehr gute Stu-<br />

dentin. Ich wollte nach Europa und Choreografi n werden.<br />

Ich wollte so etwas machen.»<br />

Nach Abschluss des Konservatoriums erhielt Teker ein<br />

Stipendium für die London School of Contemporary<br />

Dance. Anschließend war sie Meisterschülerin bei der be-<br />

kannten japanischen Choreografi n Kazuko Hirabayashi in<br />

New York. 1988 kehrte sie in die Türkei zurück, lehrte zu-<br />

nächst am Staatstheater in Istanbul, seit 1991 an der Mi-<br />

mar Sinan Universität, deren Modern Dance Department<br />

sie seit 1996 leitet. In den letzten fünfzehn Jahren wur-<br />

de sie zu zahlreichen internationalen Tanzprogrammen<br />

und -festivals eingeladen, wobei sie ihre Choreografi en<br />

auch häufi g für Räume abseits der herkömmlichen Bühne<br />

entwickelte. Ihr Stück «Aulos» beispielsweise führte sie<br />

zwischen 1990 und 1994 an den unterschiedlichsten Or-<br />

ten auf, neben einem Schrottplatz in Istanbul genauso<br />

wie unter der Brooklyn Bridge.<br />

Aydin Teker weiß, dass sich nicht jeder Tänzer auf ihren<br />

Perfektionismus einlassen will. «Jeder, der mit mir arbei-<br />

tet, muss sehr geduldig sein. Ich quäle sie – und mich<br />

selbst. … Ich möchte keine Barbiepuppen, keine perfek-<br />

ten Körper. Ich möchte etwas ausdrücken. … Nicht um<br />

die Bewegung geht es, sondern um die Idee, darum, et-<br />

was Wesentliches herauszufi nden.»<br />

The British Council Newsletter, September 2001 (gekürzt)<br />

18. + 19. November | 20:00<br />

Uraufführung | Koproduktion<br />

aKabi<br />

Idee, Choreografi e | Aydin Teker<br />

Musik | Manuel Mota, Margarida Garcia<br />

Kostüme | Aysegul Alev<br />

Schuhe | Punto<br />

Tänzer | Serap Meric, Ayse Orhon, Emre Olcay,<br />

Sebnem Yuksel, Aydan Turker<br />

Dauer ca. 1h | keine Pause<br />

Karten 16,- (erm. 12,-)<br />

Eine Koproduktion von<br />

Bimeras (Istanbul), Alkantara (Lissabon)<br />

und spielzeiteuropa | <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

Publikumsgespräch am 19. November<br />

im Anschluss an die Vorstellung<br />

Foto Elio Montanare


Claude Régy 4.48 Psychose<br />

«In dem neuen Text gibt es momentan noch nicht einmal<br />

Figuren, nur Sprache und Bilder, wobei auch die Bilder<br />

lediglich Sprache sind…» Sarah Kane, Februar 1998<br />

«4.48» – Theaterstück oder vielmehr ein Gedicht, da<br />

Sarah Kane, als sie diesen Text schrieb, erkunden wollte,<br />

wie ein Gedicht zugleich theatralisch sein könnte.<br />

«4.48» kann man verstehen als eine, in Kanes eigenen<br />

Worten, «chaotische Depression», als ein «offenbar ge-<br />

brochenes und schizophrenes Gebilde, das seinen Stoff<br />

ohne Kommentar präsentiert und das Publikum auffor-<br />

dert, selbst darauf zu reagieren».<br />

Wie schon bei «Gier» (Crave), ihrem vorangegangenen<br />

Stück, geht es um Verzweifl ung und Selbstmord. In Zu-<br />

sammenhang mit «Gier» sagte sie, der Grund dafür sei,<br />

dass sie dieses Stück geschrieben habe, als sie völlig ver-<br />

zweifelt war.<br />

Auch scheint es, dass seit «Gier» der Rhythmus wichtiger<br />

wird als der Inhalt. Es scheint, dass sie bei ihren beiden<br />

letzten Stücke, «Gier» und «4.48 Psychose», den Rhyth-<br />

mus des Werks bereits gespürt hat, bevor sie wusste, was<br />

sie schrieb. Dank des Rhythmus und der Komposition –<br />

die Wahl der Worte und demnach der Klang – entstehen<br />

gleichzeitig mit dem Sinn mehrere Bedeutungen auf ein-<br />

mal.<br />

In der Knappheit jeder Zeile verbirgt sich ein verdichteter<br />

Mechanismus, der Sprengstoff gleicht.<br />

Aus diesem Grund konnte Sarah Kane in «4.48» schrei-<br />

ben: «Ein Wort aufs Papier und wir haben das Drama.»<br />

Aus diesem Grund gibt es kein Theater.<br />

Nur Sprache. Arbeit an der Sprache.<br />

Zu schreiben, in sich selbst den Kern dieses unmittelba-<br />

ren Vorgangs zu fi nden, bedeutete für sie einfach «im<br />

Schreiben aufzugehen». Und wir, die wir zuhören oder le-<br />

sen, müssen uns erlauben, uns gehen zu lassen und in<br />

den Text einzutauchen, um diese Unmittelbarkeit in uns<br />

zu erfahren, um auch jenseits des Verstehens empfäng-<br />

lich zu werden, um uns zu öffnen für unausgesprochene<br />

Korrespondenzen zwischen scheinbar fremden Sphären.<br />

Denn, wie Sarah Kane sagte: «Viel wichtiger als der Inhalt<br />

eines Stücks ist seine Form. Jede bedeutende Kunst ist<br />

subversiv, entweder in ihrer Form oder ihrem Inhalt. Und<br />

die ganz große Kunst ist in beidem subversiv, in Form<br />

und Inhalt. Oft ist gerade die Form das Element, das die-<br />

jenigen am stärksten provoziert, die Zensur ausüben wol-<br />

len. Beckett, Barker, Pinter, Bond – sie alle wurden nicht<br />

so sehr wegen des Inhalts ihrer Werke kritisiert, sondern<br />

weil sie eine nicht-naturalistische Form benutzten, die<br />

eine allzu einfache Interpretation verhinderte. … Form<br />

und Inhalt streben danach, ein und dasselbe zu sein – die<br />

Form ist die Bedeutung.»<br />

Das ist eine Art Revolution, eine Rebellion gegen die<br />

Überbewertung von Bedeutung, gegen einen – falschen –<br />

Schmalspurbegriff von Bedeutung.<br />

Zweifellos ist das ein Hinweis, wie diese absolut neue Art<br />

des Schreibens, die uns das Echo der Schmerzensschreie<br />

dieser Welt zusammen mit der Verstörung in uns selbst<br />

zu Gehör bringt, gelesen, gehört und schließlich realisiert<br />

werden muss.<br />

Es ist ganz einfach, da es unmittelbar ist.<br />

In «Gier» schrieb Sarah Kane: «Gott, ich wünschte, ich<br />

hätte Musik, aber alles, was ich habe, sind Worte.»<br />

Sie muss sich keine Sorgen machen, ihre Musik und ihre<br />

Worte werden auf uns her<strong>eins</strong>türzen.<br />

Claude Régy<br />

23. – 26. November | 20:00<br />

27. November | 17:00<br />

4.48 Psychose<br />

von Sarah Kane<br />

Regie | Claude Régy<br />

Übersetzung | Evelyne Pieiller<br />

Bühne | Daniel Jeanneteau<br />

Lichtdesign | Dominique Bruguière<br />

Sounddesign | Philippe Cachia<br />

Video | Erwan Huon<br />

mit Isabelle Huppert und Gérard Watkins<br />

Dauer 1h 50 | keine Pause<br />

In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln<br />

Karten 24,- (erm. 16,-)<br />

Produktion | Les Ateliers Contemporains<br />

und Théâtre des Bouffes du Nord (CICT), Paris<br />

Mit freundlicher Unterstützung der<br />

Französischen Botschaft / Bureau du Théâtre et de la Danse,<br />

der Association Française d’Action Artistique (AFAA)<br />

und des französischen Kulturministeriums<br />

In Partnerschaft mit Air France | Spezieller Dank an Cartier<br />

Publikumsgespräch am 24. November im Anschluss<br />

an die Vorstellung<br />

10<br />

Foto Pascal Victor<br />

Foto Pascal Victor<br />

Claude Régy: Außenseiter und Vorbild von Barbara Engelhardt<br />

Das Dümmste überhaupt im Theater, sagt Claude Régy,<br />

ist der Naturalismus. Zu glauben, der Schauspieler auf<br />

der Bühne solle «natürlich» sein. Für Régy ist Theater ein<br />

Gegenraum zur Welt, einer der Stille, in dem Außenwelt-<br />

geräusche sich so verschieben lassen, dass man wieder<br />

bei sich selbst ankommt. Den Zuschauer bei seinem Un-<br />

terbewusstsein packen, das ist Régys Ziel: nicht durch<br />

die Kopie von Welt und deren Aktualität. Nicht durch kri-<br />

tische Refl exion und Moral. Sondern durch das Vordrin-<br />

gen in den Bereich aller reizbaren Sinne, die nicht Wie-<br />

dererkennung signalisieren, sondern Vorstellungswelten<br />

öffnen. Seit einem halben Jahrhundert erprobt der Regis-<br />

seur, wie sich das Schweigen im Hinterland der Sprache<br />

zum Klingen bringen lässt. Wie man den Blick für Dunkel-<br />

heit schärft. Claude Régy setzt seine Theaterfi guren we-<br />

der in Szene noch ins gleißende Licht. Er lässt sie noch<br />

im nachtschwarzen Abseits existieren. Auch dort also, wo<br />

das Theater den Schau-<br />

spieler gewöhnlich mund-<br />

tot und den Zuschauer<br />

nachtblind macht.<br />

Schon in den 60er Jahren<br />

– Régy hatte ein Jurastu-<br />

dium und erste Inszenie-<br />

rungen hinter sich – ver-<br />

abschiedete er sich von<br />

der konventionellen Hand-<br />

lungsdramaturgie.Mar- guerite Duras half ihm dabei, mit der er gem<strong>eins</strong>am auch<br />

Prosa fürs Theater adaptierte («L’amante anglaise») oder<br />

Nathalie Sarraute, zwei der wenigen französischen Auto-<br />

ren seiner Laufbahn. Seither hat Régy vor allem interna-<br />

tionale Dramatiker in Frankreich erstaufgeführt und ein-<br />

geführt: Pinter, Bond, Harrower, Fosse unter anderen.<br />

Aber auch Peter Handke und Botho Strauß, die ihn ge-<br />

lehrt hätten, betont er, dass der Theaterdialog nie das<br />

sagt, was er zu sagen scheint: Wo keine Geschichten<br />

mehr erzählt werden, wird das Theater zum Resonanz-<br />

raum für all das, was hinter den Worten liegt oder ihnen<br />

vorhergedacht wurde.<br />

Régys streng abstrakte Inszenierungen heben jedes Zeit-<br />

empfi nden auf. Die Schauspieler schwitzen die Worte re-<br />

Veranstalter<br />

<strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

Ein Geschäftsbereich der<br />

Kulturveranstaltungen<br />

des Bundes in Berlin GmbH<br />

Intendant Prof. Dr. Joachim Sartorius<br />

Kfm. Geschäftsführer Dr. Thomas Köstlin<br />

Gefördert durch<br />

Kommunikation<br />

gelrecht aus, nehmen Geschwindigkeit aus den Dialogen,<br />

verlangsamen das Sprechen bis zur Verzerrung. Einzelne<br />

Silben, die sonst gern verschliffen werden, klingen so<br />

überexakt artikuliert, dass selbst vertraute Worte befrem-<br />

den. Die fast hypnotische Leere in den Stimmen verwei-<br />

gert den theatralen Ton, ein Timbre oder eine Intonation.<br />

Nichts soll in Régys Inszenierungen auf einen Sinn fest-<br />

genagelt werden: Den Sinn im Theater konkret erfahren<br />

zu lassen heißt, den Zuschauer auf sich selbst zurückzu-<br />

führen.<br />

Leitung Kerstin Schilling<br />

Presse Jagoda Engelbrecht<br />

Telefon (030) 254 89-262<br />

presse@berlinerfestspiele.de<br />

Kartenbüro I Protokoll<br />

Peter Böhme, Michael Grimm,<br />

Heinz Bernd Kleinpaß<br />

Lange übersprang Claude Régy den tiefen Graben, der<br />

die französische Bühnenlandschaft in Privattheater und<br />

öffentlich subventionierte Bühnen teilt, indem er hier wie<br />

dort seine Inszenierungen zeigte. Ebenso lange scheute<br />

Régy, der bis heute keine Leitungsfunktion in irgendeiner<br />

der französischen Theaterhäuser übernehmen will, nicht<br />

nur die Institution, sondern auch zu große, unpersönliche<br />

Räume. Immer wieder arbeitete er – wie im Privattheater<br />

üblich – mit den Größen des französischen Theaters und<br />

Films, mit Gérard Depardieu, Jeanne Moreau, Isabelle<br />

Huppert, Valérie Dréville und vielen mehr. Genauso zeig-<br />

te er ein Gespür für junge Talente: Schauspieler, die im<br />

Idealfall jene kompromisslose Ästhetik umzusetzen wis-<br />

sen, mit der Régy in all den Jahren nicht nur einhelligen<br />

Beifall eingeheimst hat. Zu sperrig blieben für manchen<br />

Zuschauer diese zeitlupenhaften Gesten und Bewegun-<br />

gen, zu monoton neutral das Sprechen, zu fi nster viel-<br />

leicht auch Régys obsessive Suche nach dem ewig Unbe-<br />

kannten, dem Tod im Leben des Menschen. Sich in die<br />

Stille hineinzuhören oder das Schwebende, Haltlose einer<br />

durch die Regie verweigerten Interpretation selbst zu er-<br />

den, empfanden viele andere aber als eine echte Alterna-<br />

tive zur französischen Schauspielpraxis.<br />

Zugleich Außenseiter bleiben und Vorbild sein – dieses<br />

Kunststück ist Régy im französischen Theater gelungen,<br />

indem er seine existenzielle Vorstellung von Kunst immer<br />

wieder in große Theatermomente überführt hat. Und<br />

nicht zuletzt, weil ihm, dem Theatermann, immer wieder<br />

fi lmische Bilder auf der Bühne gelingen: Gesichter, die<br />

wie Großaufnahmen, mal fl ächig, mal mehr mit Tiefen-<br />

schärfe aus dem Theaterhalbdunkel herausleuchten. Kör-<br />

perkonturen, hinter denen sich ein scheinbar unendlicher<br />

Impressum Nr. 6 > 2005 | 06<br />

Herausgeber | <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong><br />

Redaktion | Giselind Rinn, Thomas Irmer<br />

Produktion | Bernd Krüger<br />

Gestaltung | granma | berlin werbeagentur<br />

Art Direction | Dirk Lebahn<br />

Titelfoto | Andrea Stappert<br />

Herstellung | enka-druck, Berlin<br />

Redaktionsschluss 1. Oktober 2005<br />

© <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong>, 2005<br />

spielzeiteuropa Georg Bugiel (Technische Leitung) | Edda von Gerlach (Projektkoordination) | Albrecht Grüß (Spielstättenbetreuung)<br />

Thomas Irmer (Programmberatung) | Juliane Kaul (Redaktionsassistenz) | Eva Kiefer (Programm-Mitarbeit) | Markus Luchsinger (Künstleri-<br />

sche Leitung) | Stella Maxeiner (Projektassistenz) | Giselind Rinn (Redaktion) | Hanka Rörig (Finanzen) | Hartmut Schaffrin (jugendtour)<br />

Olaf Spaarmann (Projektassistenz)<br />

Raum auftut. Stimmen, deren Intimität auch ohne techni-<br />

sche Hilfsmittel den Theaterton verweigert. Wie so oft im<br />

französischen Theater spielt auch in Régys Arbeiten eine<br />

ausgetüftelte Lichtregie eine große Rolle. So lässt sich<br />

ein Fokus setzen, Bewegung durch wechselnde Schatten-<br />

fälle simulieren, die Figur mit aller Wucht aus dem Dun-<br />

kel holen. Ihr Spiel heißt für Régy nicht Zeichen setzen,<br />

sondern zunächst einmal gegenwärtig sein. Nicht «natür-<br />

lich» sind seine Figuren, aber auf eine paradoxe Weise<br />

authentisch, auch noch jenseits unseres Raum-Zeitemp-<br />

fi ndens.<br />

Mit «Les Ateliers contemporains» – mehr Produktions-<br />

struktur, denn Theatertruppe – hat Claude Régy in Frank-<br />

reich Uraufführungsgeschichte geschrieben. Dabei über-<br />

raschte der 1923 geborene Regisseur immer wieder mit<br />

internationalen Dramatikern oder Autoren, die wie Sarah<br />

Kane scheinbar einer ganz anderen Generation samt Le-<br />

bensgefühl angehörten. Wie kaum ein anderer französi-<br />

scher Regisseur hat Claude Régy auf den Schulterschluss<br />

mit Theaterautoren und -machern seiner eigenen Genera-<br />

tion verzichtet. Moden haben ihn nie verführt. Auch Auf-<br />

tragsarbeiten für die großen Häuser hat er in den aller-<br />

meisten Fällen ausgeschlagen.<br />

Régy nimmt sich Zeit, den Texten, egal ob Prosa oder<br />

Drama, wirklich auf die Spur zu kommen, und das in oft<br />

monatelangen Arbeitsphasen. Heute zeigt Régy seine Ar-<br />

beiten in den subventionierten Theaterhäusern Frank-<br />

reichs. Nur eines will er auch da partout verhindern: dass<br />

sein Theater von irgendjemandem, und sei’s die Politik,<br />

vereinnahmt wird. Als Trostpfl aster für eine Gesellschaft<br />

des Leerlaufs, als Krankenpfl eger für soziale Brennpunk-<br />

te missverstanden zu werden, sei das Ende von Kunst<br />

und das größte Missverständnis der aktuellen Kulturpoli-<br />

tik. Die Aufgabe des Theaters, so Régy, ist vielmehr, dem<br />

Chaos eine Chance zu geben.<br />

Barbara Engelhardt ist Frankreich-Korrespondentin für<br />

Theater der Zeit in Strasbourg.<br />

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