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Interview Rimini Protokoll - Berliner Festspiele

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INTERVIEW mit Helgard Haug und Daniel Wetzel (<strong>Rimini</strong> <strong>Protokoll</strong>)<br />

Uwe Gössel: Kritiker haben schon viele Bezeichnungen für <strong>Rimini</strong> <strong>Protokoll</strong> gefunden<br />

„Wirklichkeitsverstärker“, „Heilsbringer“, „liebenswürdige Exoten“, „Fallenstellertruppe“,<br />

„neue Realisten“, „begnadete Rechercheure und Menschenfischer“. Oder<br />

seid ihr Forscher? Theaterpioniere? Als was seht ihr euch?<br />

Daniel Wetzel: Forscher wäre ich gern, Neuland ist für uns eine wichtige Richtung<br />

bei allen Arbeiten.<br />

Helgard Haug: Das ist schön – das ist jetzt wie beim Einchecken im Hotel! Da steht<br />

dann Profession und ein leeren Kästchen drunter, das einen anschreit... Das kann<br />

einen in eine große Sinnkrise führen – dieses leere Kästchen! Da stehe ich mit einem<br />

angeketteten Kuli in der Hand, habe brav die Nummer meines Persos abgemalt,<br />

mein Geburtsdatum, meine Adresse, meinen voraussichtlichen Abreisetag – also<br />

was bin ich heute? Eine unserer Protagonistinnen aus Wallenstein hat das neulich<br />

sehr galant gelöst, sie hatte als Leiterin einer Seitensprungagentur zwar kein Problem<br />

mit ihrem Berufsbild, um so stärker galt es aber das Geburtsdatum zu verschleiern<br />

– sie ist eine Frau ohne Alter – sie hat dann einfach in das Kästchen ihre Unterschrift<br />

gesetzt und bei Signatur gleich noch mal – in einer völlig anderen Weise! Als<br />

ich ihr gesagt habe, dass sie nun zwei Mal unterzeichnet hat (ich wollte auch endlich<br />

mal rauskriegen wie alt sie ist) sagte sie einfach: Ja und stiefelte los. Also: Ja.<br />

UG: Woher kanntet ihr den Beruf, den ihr ausübt? Welche Vorbilder hattet ihr?<br />

HH: Der Regisseur-Typ oder der Typ Bildender Künstler – das sind ja klassischerweise<br />

eher Schreckensbilder. Eine schwarz gekleidete, egozentrische, verlebte Person<br />

mit lauter Stimme, die immer mit der Abreise droht falls nicht alles nach seinem<br />

Willen geht – das kann man nicht ansteuern wollen... Ein Kind sagt ja auch nicht<br />

Mama, ich will Regisseur werden, wenn ich mal groß bin – nein, es will maximal<br />

Schauspieler werden aber am liebsten will es auf den Mond fliegen und Abenteuer<br />

erleben, Menschen retten, Feuer löschen oder Fee sein.<br />

Wir haben einfach versucht alle unsere Kindheitswünsche unter einen Hut zu bringen.<br />

Alles machen zu dürfen – überall ‚Tag der offenen Tür’ zu haben. Davon gab es<br />

keine vorgelebte Idee; außer, dass mich immer Menschen sehr fasziniert haben, die<br />

konsequent ihren eigenen Fragen und Ideen nachhängen konnten.<br />

Vor einigen Tagen haben wir in Zürich im Uni-Spital eine Herztransplantation für vier<br />

Kameras simuliert. Eine ganze professionelle Ärztecrew hat in ihrer Freizeit an dieser<br />

Simulation teilgenommen. Auf dem OP-Tisch stand ein Stativ darauf die vier Überwachungskamera,<br />

die den kleinen Hightech-OP-Raum rundum erfassen sollten. Eine<br />

Camera fiel aus, so dass wir selbst ganz nah an den OP-Tisch ran konnten. Imanuel<br />

Schipper, unser Dramaturg, stand mit uns 2 ½ Stunden wie gebannt vor dem Tisch<br />

und sah die Hände der OP-Schwester von Besteck zu Besteck fliegen. In Windeseile<br />

das vorbereiten und anreichen was gebraucht wird. Danach drehte er sich um und<br />

sagte unter dem grünen Mundschutz: „Das ist mein neuer Job!“ Es gibt so viele Jobs<br />

oder Tätigkeiten außerhalb des Theaters, die so stark faszinieren, dass man sich in<br />

sie hinein wünscht und doch ist – glaube ich – das tollste überhaupt das alles sehen<br />

und kennen lernen zu können und dann noch was anderes, Drittes daraus zu machen.<br />

Schipper hat seinen Job dann ja auch nicht gewechselt, sondern ist mit uns in<br />

einen Schweinestall gezogen, um herauszufinden wie die Zucht von zukünftigen Or-<br />

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ganspendern so aussieht!<br />

DW: Es gab eine Reihe von Nach-Bildern, die uns eher zur Auseinandersetzung mit<br />

Performance-Strategien geführt haben. Zugleich ging es in Gießen, wo wir Theaterwissenschaft<br />

studiert haben eher um Brecht und Wilson, als um Kortner und Stein.<br />

Unsere eigenen Projekte auf der Bühne entstanden in Abgrenzung zu den Erzählstrategien<br />

des Theaters und auf der Suche nach ‚echten’ Handlungen, die für sich<br />

und nicht etwas Abwesendes stehen, und nach Objekten, die für sich stehen und<br />

nicht auf anderes verweisen. Unser Theater kommt eher aus der Auseinandersetzung<br />

mit Performance und weniger aus der Auseinandersetzung mit Sprechtheater.<br />

Und wenn du nach Vorbildern fragst: Die finde ich die eher dort, wo es außerhalb des<br />

Theaters Zuschauersituationen gibt. Zum Beispiel gibt es in vielen Ländern auf der<br />

Post oder bei der Bank Zuschauerreihen mit Blick auf den Schalter, auf den man<br />

wartet. Die Leute am Schalter arbeiten da völlig anders, eben vor Leuten. Neulich<br />

erklärte uns ein Eisverkäufer in Wolfenbüttel, er würde sehr bewusst seine Eistorten<br />

öffentlich am Eisstand herstellen, dort wo die Kunden ihn arbeiten sehen, und nicht in<br />

seiner Küche weiter hinten – denn vor den Passanten würde er selbst nicht schummeln<br />

und irgendwie hygienischer arbeiten und die Kunden würden das auch sehen.<br />

Da erfindet sich einer im Angesicht seiner Abnehmer auf eine Art, wie er es ohne<br />

Publikum nicht könnte – werktags in Wolfenbüttel. Mit solchen Leuten dann am Theater<br />

zu arbeiten ist eine beständige Quelle für Ansprüche, formale Notwendigkeiten,<br />

die an das Theater herangetragen werden.<br />

UG: Ihr geltet mittlerweile als Experten, die dem Publikum neue Sichtlinien sowohl<br />

auf das Theater als auch auf Themen und Stoffe außerhalb des Theater freilegen. In<br />

welcher Form denkt ihr an das Publikum?<br />

DW: Zunächst sind wir selbst eines, wir recherchieren eher, das heißt: wir besuchen<br />

Orte, schauen zu, fragen Leute, was sie tun und wissen. Dann, wenn wir an einem<br />

Stück arbeiten, ist das Publikum eine Größe, die sich sehr von uns unterscheidet. Wir<br />

können hören jemandem für Stunden zu und wissen, dass wir später an etwas daraus<br />

arbeiten werden, das sich innerhalb von Minuten abspielen wird, weil eine Aufführung<br />

anderen Gesetzen folgt. Deshalb finde ich die Debatte über Experten statt<br />

Schauspielern auf der Bühne sehr verkürzt. Es geht an einem Theaterabend ja dann<br />

um „gut“ oder „nicht gut“ nach Maßstäben des Theaters und nicht der persönlichen<br />

Begegnung mit einem Menschen.<br />

HH: Es gibt ja neben den rein Kulturinteressierten pro Projekt auch ein recht spezifisches<br />

Publikum, ein kenntnisreiches, das über das Thema oder Berührungspunkte<br />

bei der Recherche zu den Stücken kommt – erneut Experten. Wenn man ein Stück<br />

über das Gericht macht (wie bei „Zeugen! Ein Strafkammerspiel“ zum Beispiel), dann<br />

ist man ja auch zu bestimmten Haarspaltereien verpflichtet. Ich weiß dann einfach:<br />

das wird sich Richter x und Schöffe y anschauen und dem kann ich dann nicht mehr<br />

einen Hund als einen Elefanten vormachen, ohne das vorher zu klären – auch wenn<br />

der Elefant jetzt wirklich besser wäre. Die Protagonisten lassen einen das Publikum<br />

nicht vergessen, denn sie haben die ganze Zeit die Fragen im Kopf: Wer wird mich<br />

anschauen? – Was werden die denken? – Wie stehe ich da? Bei unserem Stück<br />

„Schwarzenbergplatz“ in Wien hat uns das ziemlich viele Nerven gekostet. Die Personen,<br />

die wir in das Projekt verwickelt hatten, kamen alle aus dem Bereich diplomatischer<br />

Dienst und wir müssten um jeden Halbsatz kämpfen, da die Protagonisten<br />

weltweite politische Konflikte befürchteten, wenn sie dies oder jenes sagen würden.<br />

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Botschafter Wolte sagte immer: „Das kann ich auf keinen Fall so sagen – die Nord-<br />

Koreaner werden kommen und sich das anschauen und das gibt dann ernsthaft Ärger.“<br />

Letztendlich ist auch ganz viel dran an der Sorge, dass das auf der Bühne Gesagte<br />

Konsequenzen für die Menschen in ihrer Realität haben kann. Bei „Wallenstein“ gab<br />

es immer wieder die Frage: ‚Hat der Vietnamveteran den Offizier denn nun umgebracht?’<br />

Im Stück erzählt er von dem Vorfall, er beschreibt, dass er sich in einer<br />

Gruppe engagiert hat, die darüber abgestimmt hatten und zu keinem eindeutigen<br />

Ergebnis kamen, der Offizier aber trotzdem wenig später durch eine entsicherte und<br />

gezielt deponierte Handgranate starb (so wie ca. 1.000 andere Offizieren der US Armee<br />

durch Anschläge aus ihren eigenen Reihen ums Leben kamen). Dave hat immer<br />

abgestritten was mit dem konkreten Anschlag zu tun zu haben aber das kann man<br />

auch anders verstehen. Und Kritiker haben das zum Teil anders verstanden... Insofern<br />

wirkt das, was auf der Bühne geschieht ins ‚normale Leben’ zurück – die Protagonisten<br />

müssen sich immer fragen wie sie den Menschen aus ihrer Realität nach<br />

dem Stück begegnen – ihnen geht es ja meist nicht um eine tolle Rezension und Lob<br />

aus der Theaterszene sondern um die Reaktionen aus ihrer direkten Nähe: Familie,<br />

Kollegen, Vorgesetzte...<br />

UG: In „Call Cutta“ läuft das Publikum mit Handys durch die Stadt, in „Wallenstein“<br />

gibt es seine Meinung in einer Umfragen eines Ex-Oberbürgermeister-Kandidaten<br />

preis. Die Zuschauer spielen sich und den übrigen die Rolle des Publikums vor. Welche<br />

Rolle spielt das Publikum für euch?<br />

DW: Im Publikum sitzend bemerke ich häufig, dass ich selber über Qualitätsfragen<br />

nachdenke, als wäre da vorn ein Waschmittel in Aktion oder ein Matratzentest. Dann<br />

werde ich manchmal sehr müde. Denn häufig heißt das dann, auszusteigen, gegen<br />

die Intentionen der Arbeit zu gehen, der ich zusehe, und da mache ich mir doch lieber<br />

meinen eigenen Abend – da fällt dann die Seite des Abends weg, die von mir<br />

Eintrittsgeld wollte. Mir ist mal passiert, dass ich von einem Gespräch mit einem Junkie<br />

am U2-Bahnsteig vom Bahnhof Zoo erzählt habe und im Erzählen von dieser Begegnung<br />

fiel mir auf: Das war ja gar nicht am Bahnhof Zoo, das war ja auf der<br />

Schaubühne! Ostermeister! Der zweite Gedanke war: Verloren, alles ausgedacht,<br />

sein Name war Hase, ich konnte davon nicht weitererzählen, es war ja doch gar keine<br />

Begegnung gewesen. Ich hätte nur noch vom Theater weitererzählen können und<br />

einem gelungenen Theater-Effekt. Ich war einer Begegnung beraubt worden und eines<br />

vielleicht theaterwissenschaftlich relevanten Erlebnisses bereichert. Das ist ein<br />

unangenehmes Gefühl gewesen. Dann fiel mir auch gleich ein eher schlimmer Moment<br />

derselben Inszenierung wieder ein, in der plötzlich eine Schauspielerin inmitten<br />

all des verführerischsten Realismus zum Publikum sprach – irgendwie über das<br />

Schauspielern und warum wir jetzt alle beisammen sind und wie schlecht die Poesie-<br />

Karten stehen angesichts der Junkies am Bahnhof Zoo. Ich interessiere mich für<br />

Momente im Theater, in denen sich diese beiden Pole – Interesse an der Wirklichkeit<br />

und Bewusstsein dafür, dass man eigentlich in einer Anti-Wirklichkeits-Produktionsmaschine<br />

sitzt, der der Boden unter den Füßen zu wackelig geworden ist – anders<br />

miteinander reagieren. Es gibt Aha-Momente in einem Publikum, nach wie vor, die<br />

man spüren kann. In denen sind beide Realitäten beieinander, beide gespürt, beide<br />

mitgedacht, und man denkt sich selbst mit.<br />

HH: In „blaiberg und sweetheart19“ dem jüngsten Stück, das Ende März in Zürich<br />

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Premiere hatte, haben wir eine Arena-Bühne gebaut. Das Publikum sitzt ganz dicht<br />

um ein kleines Zentrum herum – die Basisentscheidung wollen wir großes ‚Distanztheater’<br />

oder eines auf maximaler Tuchfühlung machen - wollen wir die Vereinzelung<br />

oder genau die Frage an die Menge, ist extrem wichtig und eine die ganz früh gefällt<br />

wird. Das hat auch immer viel mit unseren eigenen Bedürfnissen zu tun – jedes<br />

Stück ist ja auch die Antwort auf ein vorangegangenes! Da wir auch die ersten Zuschauer<br />

unserer eigenen Stücke sind, muss es immer auch eine neue Konstellation,<br />

einen neuen Reiz geben. So viel zu Grundkonstellation und natürlich denken wir an<br />

die Menschen, die sich in das Projekt begeben, wir entwickeln die Projekte ja nicht zu<br />

Therapie- oder Sozialzwecken – wir entwickeln die Stücke für ein Publikum, das Gedanken<br />

mitgehen können muss oder Punkte gebaut bekommt um von dort abzufliegen.<br />

Vielleicht sind wir – zurück zur Ausgangsfrage – ja vor allem so was ähnliche<br />

wie Rita Mischereit und verkuppeln. Zuschauer mit Gedanken – Zuschauer mit Personen<br />

– Zuschauer mit Situationen bis zu dem Punkt an dem der Zuschauer selbst<br />

aktiv werden muss und seine angestammte Rolle verlässt.<br />

UG: Darüber hinaus, inwieweit spielt die öffentliche Reaktion für euch eine Rolle?<br />

HH: In dem Sinne, dass man gemeinsam an etwas herum denkt, eine große.<br />

DW: und in dem Sinne, in dem sie eine „Rolle“ spielt, ist sie auch interessant, aber<br />

wir sind keine Medien-Jongleure und schlingensiefern nicht mit Fax-Meldungen um<br />

das Inszenieren unserer Inszenierung herum. Nichts dagegen, im Gegenteil, aber so<br />

sind wir irgendwie nicht.<br />

UG: Ihr arbeitet mit Darstellern, die nicht aus der Rolle fallen können, weil sie nicht<br />

aus ihrer Haut können. Was darf ein Laiendarsteller nicht können dürfen wollen?<br />

HH: Er darf einfach nicht Laienschauspieler sein wollen – der Aspekt des Schauspielerns<br />

kommt einfach gar nicht vor – wir arbeiten mit ihnen bei den Proben an Versuchsanordnungen<br />

– stellen sie vor Aufgaben in dem wir nicht nur wollen, dass sie<br />

einen bestimmten Text sprechen, sondern es auch mit der einen oder anderen Situation<br />

aufnehmen. Wir hatten es auch erst einmal, dass ein Protagonist, nach dem ein<br />

Stück abgespielt war, zu uns kam und sagte: „Macht doch bitte noch mal was mit mir<br />

– egal was, ich möchte so gern wieder auf der Bühne stehen.“ Das war dann prompt<br />

die Person, die in Wien nur über seine Verschwiegenheit sprechen wollte – also nicht<br />

erzählt hat, was er als Fahrer des Opec Vize so im Auto mitgehört hat. Der Schweiger<br />

also – der möchte noch mal im Rampenlicht schweigen. Die, die wirklich etwas<br />

zu erzählen wissen, dass das Theater an sie und ihre Inhalte gebunden ist und dort<br />

auch gut aufgehoben ist.<br />

Klar doch, dass jemand, der alles kann nicht so spannend ist wie jemand den man<br />

dabei beobachtet wie er etwas versucht. Die Betonung liegt auf: ALLES. Unsere<br />

Teilnehmer können ja ganz viel – meistens besser als ein Schauspieler, deshalb bezeichnen<br />

wir sie ja auch als Experten. Sie können Herzen transplantieren, Singles<br />

vermitteln usw usf. aber sie können das nicht spielen oder eben nur sich selbst – das<br />

ist dann das Gegenteil zum Handwerk.<br />

DW: Wir haben noch nie mit Laien gearbeitet, nur mit Profis – bei „Wallenstein“ sind<br />

das z.B. ein Politiker, der einen Wahlkampf à la Bill Clinton gefahren hat, eine Seitensprung-Vermittlerin,<br />

eine psychologische Astrologin, ein ehemaliger Flakhelfer –<br />

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lauter Leute, die eine professionelle Sicht auf Schillers Trilogie haben, die sich mit<br />

Germanistik und Dramaturgie nur punktuell trifft, aber sie sind auch Vertreter der Behauptung,<br />

dass Schillers Stück irgendwem etwas zu sagen habe. Wie in amerikanischen<br />

Filmen sind Profis vor allem dann interessant für Zuschauer, wenn sie an ihre<br />

Grenzen geraten oder sich auf fremdem Terrain bewegen. Das Theater kann ein solches<br />

Fremdgebiet sein. Aber uns interessiert nicht, was sie dort nicht können, sondern<br />

das, was sie dort können – sie können nicht toll jemand anderes spielen, sondern<br />

dass sie es nicht können gibt ihnen mit den Dingen, die sie selbst zu sagen haben<br />

eine direktere Tragweite, meist auch eine bescheidenere. Es gibt diesen Schiller-<br />

Fan in unserem „Wallenstein“, der einfach diese Liebe zum Schiller der Oden und<br />

Balladen verkörpert, er arbeitet in seiner Freizeit daran, soviel „schönen Schiller“ wie<br />

möglich auswendig zu können und wenn der sagt, Schiller sei einfach großartig, tut<br />

er das mit so viel Eigenart, dass es nicht so sehr darum geht, ob er das gut macht<br />

oder schlecht – er meint es sogar. Natürlich merkt man ihm auch an, dass die Theatersituation<br />

ihn unter Stress versetzt und er nicht einfach ‚er selber’ ist, sondern Regie-Vereinbarungen<br />

folgt. Wie man einfach ‚man selber’ sein könnte, was man da<br />

wäre, hab ich keine Ahnung. Aber er tut mehr oder weniger was wir geprobt haben<br />

mit der Körnung der Selbstbehauptung gegenüber der Bedrohung, die das Publikum<br />

erstmal für sein Selbstverständnis darstellt. Dann kommt auch eine eigenartige Form<br />

von Stolz auf sich hinzu, die Schauspielern ebenfalls eher im Wege stünde. Das<br />

Theater von Laien hat mit Atemübungen zu tun, unseres nicht. Wir hoffen, dass sich<br />

der vom Theatertreffen verkrampfte Atemapparat des Nicht-Schauspielers auf der<br />

Bühne nicht erholt, sondern dass man den ‚Apparat Repräsentation’ und seine Unwägbarkeiten<br />

mitspüren kann. Es sind die Verkrampfungen, die mich interessieren,<br />

wer Atemübungen macht „fliegt raus“.<br />

UG: Ihr achtet also bei der Auswahl der Teilnehmer darauf, dass sie ein Anliegen<br />

haben, ihre Lebenserfahrung ist wichtiger als ihre Bühnenerfahrung.<br />

DW: Unser Interesse an Profis im Gegensatz zu Schauspielern ist auch eines daran,<br />

was Bühne alles sein kann. Sie kann ein Ort für so viele tolle Sätze sein, die uns alle<br />

interessieren, wenn jemand sie sagt, von dem sie kommen. So oft denken genau<br />

diese Leute, dass ihre Sätze ja gar nicht interessant sein können für andere Leute in<br />

dieser Publikums-Anhäufung, und da täuschen sie sich eben, weil sie unser Theater<br />

nicht kennen, und weil sie dieses andere Theater im Kopf haben, in dem große<br />

Schauspieler diese Rollen spielen. Aber für uns sind sie Theater-Innovatoren, weil<br />

sie sich auf das Abenteuer letztlich einlassen, uns zu glauben, dass sie dem etwas<br />

entgegen zu setzen, oder hinzuzufügen haben. Sie bleiben möglichst bei ihrem Leisten<br />

und wir schustern damit die Bühne um, zu etwas, was Theater auch sein kann.<br />

Eine Probebühne funktioniert plötzlich wie ein Negativ: ich komme dort her und die<br />

Camera Theater findet das irgendwie der Aufnahme wert. Man denkt über eine Prägung<br />

nach, die man dort in dieser Black Box hinterlässt während sie schon geschieht.<br />

Das ist un-heimlich, dieses Theater der Selbst-Reflexion im Angesicht der<br />

anderen. Ich hab das Stück von Armin Petras nicht gesehen, aber der Satz, der es<br />

ankündigt knallt: „We are Camera“. Und gerade dort, wo wir obskur sind, an der<br />

Grenze zwischen öffentlicher Funktion und eigener Biografie, öffnet sich der Raum.<br />

Das Sich-im-eigenen-Film-Umschauen. Dieses Sich-Umschauen findet aber weniger<br />

bei der letzten Othello-Premiere statt und mehr dort, wo Leute, die nie ins Theater<br />

gehen sich in ihrer Rolle als „Glieder der Gesellschaft“ normalerweise inszenieren<br />

und dafür Abstriche machen, beziehungsweise Anstriche: Richter, die die Robe eigentlich<br />

albern finden haben wir einige getroffen, sie erfahren aber täglich, dass sie<br />

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dem performativen Verfahren der Rechtsprechung dienlich sei. Weil die Vermittlung<br />

eines Performativs wie „im Namen des Volkes ergeht jetzt folgendes Urteil“ sich<br />

auch über das Kostüm hinaus einer (eher barocken als antiken) Theatertradition bedient,<br />

um dieses Konstrukt über die Rampe zu kriegen. Am Strafgericht wird übrigens<br />

dauernd betont, dass keine Zuschauer zugelassen seien, sondern nur Zuhörer.<br />

UG: In euren Theaterproduktionen spielen Darsteller, die außerhalb des Theaters<br />

Experten für ein Thema sind, das ihr beleuchten wollt. Woran erkennt ihr, ob ein Experte<br />

als Darsteller funktioniert?<br />

HH: Auch hier: in dem er erst mal nicht funktioniert. Und uns mit Selbstbewusstsein<br />

seine Welt öffnet. Da gibt es kein richtiges Rezept – wir suchen thematisch gezielt<br />

aber nicht den Menschen, im Gegenteil, gut ist auch wer überrascht. Und dann kann<br />

es immer sein, dass uns jemand ganz toll gefällt und wir unbedingt mit ihm/ihr arbeiten<br />

wollen und das einfach vom Gruppengefüge nicht geht oder terminlich oder finanziell...<br />

DW: Kein Rezept in Sicht für mich. Und wenn, dann würden wir es nicht einlösen,<br />

sondern die Krankheit wechseln wollen. Bei der Suche spielt immer mit, dass wir<br />

nicht Darsteller suchen, sondern etwas wissen wollen und deshalb Leute treffen wollen,<br />

die dieses Wissen haben, verkörpern. Wir begegnen mit ihnen dann auch dem<br />

Text, aber wegen dem nehmen wir sie nicht, sondern, weil sie der Text bis zu einem<br />

gewissen Grad sind. Vielleicht arbeiten wir häufig mit Leuten, die diesen gesellschaftlich<br />

trainierten Text dann schon wieder brechen. Aber die Frage nach einem Strickmuster<br />

läuft diametral zu unserer Arbeitsweise, in der das interne Argument, dieses<br />

oder jenes hätten wir doch schon mal gehabt, ein echtes Killer-Argument ist. Dann ist<br />

die Idee oft automatisch vom Tisch. Weil wir was Neues probieren wollen, sowieso.<br />

UG: Im Mittelpunkt eurer Arbeiten stehen Experten, die von ihren Anliegen sprechen,<br />

aber keine Bühnenerfahrung haben. Insofern wärt auch ihr ideale Akteure einer Arbeit<br />

von <strong>Rimini</strong> <strong>Protokoll</strong>. Jetzt mal fiktiv gesprochen, welche Thematik würdet ihr mit<br />

euch inszenieren können?<br />

HH: Schöne Frage – ich denk mal drüber nach! Wir hatten mal vor öffentlich einen<br />

Schauspielkurs zu absolvieren.<br />

DW: Aber wir haben das auf eine Art auch hinter uns. Wir haben begonnen, mit Experten<br />

für andere Lebenssituationen zu arbeiten, nachdem wir gemerkt haben, dass<br />

sie besser sind als wir, weil sie einfach nicht so sehr die Kunst im Kopf haben. Ich<br />

glaube, wir sahen auf der Bühne häufig grimmig aus vor lauter Kunstkopf. Für Helgard<br />

und mich waren die ersten Experten auf der Bühne zwei Freiwillige von der<br />

Feuerwehr Gießen, die angetreten waren, weil wir mit Basstönen Kerzen auswummern<br />

wollten, die vor den Bass-Boxen standen, und dann die Kerzen wieder anzünden<br />

wollten und dann wieder auslöschen. Das war 1995, hatte für uns mit dem An-<br />

und Aus von Darstellung zu tun, mit dem An- und Aus von Licht, Nachdenken, Aufführung,<br />

eben diesem ganzen Performance-Zirkel, der letztlich zur Selbstreferentialität<br />

auf Marionettenaufsatz-Stufe-Zwei verdammt war. Wir fragten die Feuerwehrleute,<br />

ob sie ihre Anwesenheit nicht transparent machen könnten und ihrer Obrigkeitsfunktion<br />

vielleicht nicht einfach 20 Zentimeter weiter innen, im Sichtfeld nachgehen<br />

könnten. Das ging, weil wir wegen Foucault und dem ganzen Rest auf Scheinwerfer<br />

verzichtet hatten und die Bühne nur durch Projektionen erhellt wurde und kleine Ar-<br />

Seite 6


eitslampen. Alle unsere Projekte in der zeit liefen auch unter dem Label „Ungunstraum“<br />

und ein solcher war die Bühne für uns, ein Raum, der – geosoziologisch gesprochen<br />

– eine weniger günstige Infrastruktur hat, und damit waren auch die Repräsentation<br />

und all ihre Sackgassen angesichts einer simplen Kerze gemeint. Aber so<br />

sehr die beiden Feuerbekämpfer auch im Halbdunkel saßen, direkt vor den Bassboxen,<br />

so sehr bekam der ganz Abend eine andere Dimension als die Kerzen zum ersten<br />

Mal ausgegangen waren und sie die Streichhölzer bedienten. Plötzlich sahen wir<br />

Performer, die zehnmal besser waren, weil sie „Feuer An“ und „Feuer Aus“ einfach<br />

seit Jahrzehnten leben, das konnte man einfach sehen, wie groß der Genuss für einen<br />

Feuerwehrmann war, ein wenn auch kleines Feuer zu legen. Und die Bühne<br />

machte plötzlich auch so viel Sinn, wo sonst sollte man denn Feuerwehrmänner sehen<br />

können, wie sie Feuer an machen.<br />

UG: Eure Arbeiten für das Theater sind sowohl thematisch als auch ästhetisch sehr<br />

unterschiedlich, was verbindet sie aus eurer Sicht? Worin besteht ein übergeordnetes<br />

Interesse?<br />

HH: Wir sind für das Stück, an dem wir augenblicklich arbeiten, einem Tipp von zwei<br />

Künstlerkollegen gefolgt und haben begonnen uns mit einer Internetplattform zu beschäftigen<br />

und dieses simulierte Leben zum festen Bestandteil des Stücks werden zu<br />

lassen. Unsere Protagonisten haben sich Avatare gebastelt und können dort lauter<br />

Dinge tun, die sie im realen Leben nicht mehr können oder dürfen. Heidi, zum Beispiel,<br />

die mit ihrem neuen, transplantierten Herzen Mühe hat, ein paar Treppen zu<br />

steigen kann hier Bergen hoch und runter rennen, sie kann fliegen und in der Sonne<br />

braten obwohl es draußen stürmt und schneit. An dieser Grätsche lokalisiert sich vielleicht<br />

das, was du ‚übergeordnetes Interesse’ nennst. Für das, was Menschen aus<br />

ihrem Leben machen und das, was sie sich wünschen, für das, in was sie hineingeraten,<br />

für ihre eigenen Simulationsverfahren.<br />

DW: Theater ist die älteste Form, online zu sein. Theater heißt, ich verbringe Zeit mit<br />

dem, was jemand anderes macht. Womit verbringen wir diese gemeinsame Zeit und<br />

wie dicht können wir aneinander geraten im Vollbesitz unseres Bewusstseins, dass<br />

wir unseren eigenen Kopf haben. Wir müssen immer wieder zusammen kommen, um<br />

uns unserer Unterschiede gewahr zu werden. Gelacht wird im Theater allerdings<br />

dann, wenn es Gemeinsamkeiten gibt.<br />

UG: Welches Thema, das euch interessiert, entzieht sich euch für eine Darstellung<br />

auf dem Theater? Anders gefragt: was interessiert euch weiterhin am Theater?<br />

DW: Im Moment ist das Theater von dem du sprichst immer noch ein Raum für uns,<br />

der durch den Kurzschluss mit theaterfernen Biografien noch einmal flackern kann.<br />

Aber wir denken eher in Projekten, die sich an inhaltlichen Fragestellungen entzünden<br />

und dann geraten diese Projekte manchmal ins Theater wie in einen Schutzraum<br />

dafür, aber häufig auch auf andere ‚Bühnen’ – wie zum Beispiel ins Mobiltelefon mit<br />

Tausenden von Kilometern zwischen den beiden Telefonierenden, oder die Zuschauer<br />

befinden sich auf einem Balkon und schauen einem Wochenmarkt dabei zu,<br />

wie er alltäglich abgebaut wird, bis seine letzten Spuren von der Kehrmaschine weggefegt<br />

werden, auf dass er am nächsten Morgen wieder aufgebaut werde – ein Puppenbühnen-artiges<br />

Warentheater voller Illusionsspiele und Tricks, jede Tomate ein<br />

Kasperle, und hinter jedem Stand ein wegen der wirtschaftlichen Lage und der Politik<br />

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mies gelaunter Gröhlhans, der jeden Euro, den er verdient persönlich entgegennimmt.<br />

HH: Es ist ja gar nicht so, dass wir alles hinbekommen, was wir wollen. Das wäre<br />

auch ziemlich ‚fad’. Eines unserer wichtigsten Projekte ‚Deutschland 2’ ist in seiner<br />

Umsetzung ja zum Beispiel komplett gescheitert. Da kann man dann sagen, das<br />

Scheitern wurde zum eigentlichen Projekt aber das ist manchmal auch ein bisschen<br />

billig. Mit dem Verbot des Bundestags-Präsidiums die Live-Kopie der <strong>Berliner</strong> Bundestagsdebatte<br />

mit Bonner Bürgern im ehemaligen, verlassenen Plenarsaal durchzuführen,<br />

sind wir in die Räume des Theaters geschleudert worden. Wir haben uns<br />

plötzlich in einer Theaterhalle wieder gefunden, blaue Stühle aus dem Fundus aufgestellt,<br />

einen Adler drucken lassen... und waren neben dem Rausch, der an einem<br />

solchen Tag wirkt, wenn über 200 Teilnehmer von 9 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts<br />

einen Gedanken zu ihrem eigenen machen, ziemlich enttäuscht. Und auch bei den<br />

Bühnenproduktionen sind nicht nur viele Rechnungen noch offen sondern auch viele<br />

Fragen nicht gestellt.<br />

UG: Unverwechselbar sind nicht nur eure Arbeiten, auch die Arbeitsstrukturen in denen<br />

sie entstehen folgen wenig den überlieferten Rollenbildern. Wo stößt das Theatersystem<br />

an seine Grenzen?<br />

HH: Die Grenzen sind schnell spürbar – gefährlich ist nur, dass unser Befremden<br />

dem gegenüber mittlerweile ziemlich abgebaut ist. Bei unseren ersten Arbeiten im<br />

institutionellen Theater war alles fremd: die Feuerwehr, die über der Kerzenflamme<br />

wacht, die Bauprobe ein halbes Jahr vor Probenbeginn, die Frau von der Maske, die<br />

fragt, ob es schlimm sei, wenn sie zur nächsten Probe nicht kommen könne, der Ton<br />

mit der ein Schauspieler in der Kantine seinen Kaffee bestellt... Und natürlich war es<br />

auch für die Häuser neu mit zwei bzw. drei Regisseuren umzugehen, die gemeinsam<br />

inszenieren, ihre eigenen Bühne bauen, die nicht mit dem Ensemble arbeiten, die<br />

lauter Menschen auf die Probebühne und in die Kantine schleusen, die ihren Kaffee<br />

eben auf eine sehr andere Weise bestellen. Ich meine gar nicht, dass die Institution<br />

Theater was Schlechtes hat – wir sind nur nicht den Weg über Hospitanzen und Assistenzen<br />

gegangen und waren mit dem System nicht vertraut und warmgelaufen. In<br />

dem Sinne in dem die Produktionen größer und umfangreicher werden ist es ja auch<br />

sehr, sehr hilfreich den Schatten der Institution spürbar zu haben. Eine der größten<br />

‚Gewinne’ nicht im Off-Bereich zu arbeiten sondern an großen Häusern ist ja, dass<br />

die Menschen von außerhalb besser dorthin finden. Wenn jemand vom Burgtheater<br />

oder vom Schauspielhaus oder vom Nationaltheater anruft und sagt, wir würden sie<br />

gern zu einem Treffen – einem Casting – einladen, dann ist die erste Schwelle zwischen<br />

dieser Person und uns abgebaut. Egal ob das jemand aus der Chefetage einer<br />

Bank, ein Vietnamveteran oder die Leiterin einer Seitensprungagentur ist. Sie kennen<br />

die Institution und selbst wenn sie gar keine Theatergänger sind (was meistens der<br />

Fall ist) kommen sie mit einem Grundvertrauen.<br />

DW: Das Theatersystem stößt dort an seine Grenzen, wo es interessant werden<br />

kann. Im Theatersaal sitzen die Leute meist zurückgelehnt und bequem, obwohl viele<br />

an Momenten arbeiten, in denen sich die Zuschauer nach vorn beugen, nicht mehr<br />

merken, dass sie unbequem sitzen, weil sie beunruhigt-aufmerksam nach vorne starren,<br />

weil sie dort zu entdecken beginnen, weil da Gedanken sich entwickeln, die ihnen<br />

wie auch immer Spaß machen, weil sie ihnen neu sind. Aber die großen Möglichkeiten<br />

von Theater sind eben auch, dass es seinen Raum auch immer wieder neu<br />

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definieren kann.<br />

UG: Theatrale Projekte von <strong>Rimini</strong> <strong>Protokoll</strong> sind außerhalb Deutschlands u.a. in Athen,<br />

Kalkutta, Riga, Brüssel entstanden. Welche Erfahrungen dort haben eure Sicht<br />

auf die Theaterarbeit in Deutschland verändert?<br />

HH: Im nicht-deutschsprachigen Ausland arbeiten wir ja eigentlich hauptsächlich im<br />

Rahmen von internationalen Festivals oder mit dem Goethe Institut zusammen und<br />

bekommen meistens weniger was von der dortigen Theaterszene mit, als von der<br />

dortigen politischen oder gesellschaftlichen Situation. Das interessiert mich auch viel<br />

mehr. In Riga haben wir uns zwar das tolle Theater von Alvis Hermanis und auch die<br />

phänomenale Oper angeschaut, viel mehr hat uns aber beschäftigt warum der Großteil<br />

der Frauen so wahnsinnig aufgestellt ist: mit Schwindel erregenden High-heels<br />

usw., in Athen haben wir uns nicht so sehr die gegenwärtigen Produktionen angeschaut<br />

sondern sind in Dionysos Theater an nach Epidauros gefahren, um dort zu<br />

beobachten welches Theater die Touristen beim Begehen dieser Orte aufführen. In<br />

so fern ist das eine sehr generelle Haltung, dass es extrem wichtig ist im Ausland zu<br />

arbeiten, dort zu versuchen Ideen zu sammeln und umzusetzen – dort an andere<br />

Grenzen zu stoßen. Das gibt einem auch eine Ahnung davon mit wie vielen Privilegien<br />

hier im deutschsprachigen Raum gearbeitet werden kann. Dass man verhältnismäßig<br />

jung verhältnismäßig viel ausprobieren kann und staatliche Unterstützung<br />

und öffentliche Aufmerksamkeit dafür bekommt. Das sieht, so bald man den Kontinent<br />

verlässt, schnell deutlich anders aus.<br />

UG: Von außen betrachtet habt ihr seit Jahren die Möglichkeiten eure Projekte nach<br />

euren Vorstellungen zu verwirklichen, nicht alle Theatermacher können das von sich<br />

behaupten. Was würdet ihr ihnen empfehlen?<br />

HH: Aus meiner Perspektive war es – neben Projekten im Ausland - immer sehr<br />

wichtig und hilfreich nicht nur in einer ‚Sparte’ zu arbeiten. Neben Theater haben Projekte<br />

im Bereich der Bildenden Kunst, Hörspiele, filmische Arbeiten eine sehr gute<br />

‚Entspannung’ gebracht. Das ist nicht im Sinne von Wellness zu verstehen, sondern<br />

in dem Sinn, dass man dadurch ein gutes Stück unabhängig von der Laune eines<br />

‚Systems’, einer Sparte wird. Wenn wir nur von Theater zu Theater tingeln würden,<br />

würden wir, glaube ich, auch den Schwung ziemlich schnell verlieren. Ich finde es<br />

großartig parallel an einem Theaterstück, einem Hörspiel und einer Videoinstallation<br />

zu arbeiten und ein Konzept für ein neues orts-spezifisches Projekt zu entwickeln.<br />

Oder mich nach einer Premiere an meinen Computer verziehen zu können, den<br />

Kopfhörer überzuziehen und erst mal ein paar Tage Soundfiles zu bearbeiten...<br />

DW: Keiner sollte Projekte machen, die nicht seinen Vorstellungen entsprechen. Ich<br />

versuche, mich nicht in den Mittelpunkt zu stellen mit so einem Willen zur Kunst, und<br />

die Mittel, mit denen wir arbeiten nie als selbstverständlich zu nehmen, sondern als<br />

Punkte der Auseinandersetzung zu fixieren.<br />

UG: Im Rahmen des Internationalen Forums werdet ihr für zwei Wochen mit jungen<br />

Theatermachern aus allen Teilen der Welt arbeiten und ihnen Einblicke in eure Arbeit<br />

geben indem ihr ihnen Fragen stellt. Welche werden das sein?<br />

DW: Frage eins: Warum schaut Ihr gerade alle nach vorne?<br />

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HH: Und warum jetzt nicht mehr?<br />

Die erwähnten Projekte:<br />

„UNGUNSTRAUM – Alles zu seiner Zeit. 2. Etappe“ (1995)<br />

von/mit Helgard Haug, Marcus Droß und Daniel Wetzel.<br />

Theater im Löbershof (TIL), Gießen, festival „Teatermaschine“ des Instituts<br />

für Angewandte Theaterwissenschaft.<br />

„Markt der Märkte“ (Spielzeit 2003/2004)<br />

von Helgard Haug und Daniel Wetzel (<strong>Rimini</strong> <strong>Protokoll</strong>).<br />

Theater Bonn, immer mittwochs auf dem Balkon des Kinos Metropol<br />

mit Blick auf den Wochenmarkt.<br />

„Zeugen! Ein Strafkammerspiel“ (2004).<br />

Von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel (<strong>Rimini</strong> <strong>Protokoll</strong>).<br />

Mit Experten aus den Szenen rund um das Strafgericht Moabit.<br />

Produktion: Hebbel am Ufer, Berlin / schauspielhannover, 2004.<br />

„Schwarzenbergplatz“ (2004/2005)<br />

von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel (<strong>Rimini</strong> <strong>Protokoll</strong>).<br />

Mit Experten rund um die Internationalen Beziehungen und die Diplomatie.<br />

Burgtheater im Kasino, Wien.<br />

„Call Cutta. A Mobile Phone Theatre“ (2005)<br />

von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel.<br />

Kapitel Eins: Hatibagan / Kalkutta, Star Theatre,<br />

Kapitel Zwei: Hebbel am Ufer, Berlin.<br />

Telefongestüzter Dialog und Gang durch die Stadt zwischen jeweils einem Call-Center<br />

Agenten im Infinity Tower, Salt Lake / Kalkutta und einem Theatergänger in Kalkutta(Kapitel<br />

Eins) bzw. Berlin (Kapitel Zwei).<br />

Produktion: Goethe Institut Kalkutta / Max Mueller Bhavan, Hebbel am Ufer.<br />

Gefördert aus Mitteln der Kulturstiftung des Bundes.<br />

„Wallenstein. Eine dokumentarische Inszenierung“ (2005)<br />

von Helgard Haug und Daniel Wetzel (<strong>Rimini</strong> <strong>Protokoll</strong>).<br />

Mit Menschen aus der Gegend von Mannheim und Weimar.<br />

Produktion: 13. Internationale Schillertage /Nationaltheater Mannheim.<br />

Kooperation: Deutsches Nationaltheater Weimar, 2005.<br />

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