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Gestaltung von Formularen

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Diplomarbeit<br />

Probleme der inhaltlichen und<br />

formalen <strong>Gestaltung</strong> <strong>von</strong> <strong>Formularen</strong><br />

Hochschule Wismar<br />

University of Applied Sciences Technology, Business<br />

and Design<br />

Betreuer:<br />

Prof. Hanka Polkehn<br />

Prof. Achim Trebeß<br />

vorgelegt <strong>von</strong>:<br />

Jan Schimmagk<br />

(105453)<br />

Januar 2010


Vorwort<br />

Der Kommunikationsdesigner hat Verantwortung. Die Verantwortung ergibt sich<br />

nichtnurausseinemWissen,denMittelnderUmsetzungundderArtihresEinsatzes,sondernauchausderThematik;„<strong>Gestaltung</strong>kannineinerundfüreineGesellschaftkeineseparate,unabhängigeThematiksein,keineirrelevanteundvernachlässigbareGröße,wenn<br />

sieinderKonsequenzfähigist,derenWertewirkungsvollzuverändern.“ 1<br />

Designer und ihre Arbeiten prägen wesentlich unsere Kultur und Gesellschaft –<br />

„kaum“etwasistnicht„irgendwie“schondesigntworden.Kaumundirgendwie–dassind<br />

dieentscheidenden,diegegensätzlichenPunkte.Dort,woVerkauf,Anpreisung,Werbung,<br />

positiveDarstellungdieAufgabebestimmt,wirdnichtsdemZufallüberlassen.Alleswird<br />

„durchdesignt“–strategischgehtmanandieAufgabenlösung.Oftnähertmansichallein<br />

durch formal-ästhetische Bedeutungen den Zielgruppen. Für den nicht-kommerziellen gesellschaftlichen<br />

Bereich der Beziehung zwischen Staat und seinen Einwohnern scheint es<br />

fast,istdas„irgendwie“vorbehalten.<br />

GeradedieInstitutionendesdemokratischenStaatessolltensichinihrerKommunikationalsverantwortungsbewusst,kompetent,verlässlichundtransparentdarstellen.Siesolltenzeigen,dasssiesichihrerAufgabeunddenBedürfnissenihrerBürgergegenüberbewusstsind.DieseAufgabe–zuderauchdie<strong>Gestaltung</strong>derFormularegehört–solltenicht<br />

alsLast,sondernalsChancebegriffenwerden.<br />

Eine „Gleichbehandlung“ aller Bürgerinnen und Bürger sowie aller KommunikationsmittelwärederwünschenswerteIdealzustand.DieKommunikationsmittelderBehörden<br />

undVerwaltungen–insbesonderederfürdiesozialenLeistungenzuständigenBehörden–<br />

solltendiegleicheBeachtungundBedeutungerfahren,wiebeispielsweisediederfürdie<br />

BundesschatzbriefezuständigenBundesfinanzagenturGmbH.EinAntragaufsozialeUnterstützungmussundsolltenichtunübersichtlich,ungeordnet,konzeptionsfernundfernderBeachtung<strong>von</strong>BedürfnissenderZielgruppesein.InvestitioneninstaatlicheFinanzinstitutionenoderdieInanspruchnahmegesetzlichverbrieftersozialerLeistungen–alsoderRückgriffaufdurchsozialeAbgabenebenfallsindenStaat„investierte“Leistungen–solltendie<br />

gleicheAufmerksamkeitundBedeutungerfahren.EingesetzlichverbrieftesRechtsolltemit<br />

derihmentsprechendenAchtungbehandeltwerden.<br />

„KommunikationsdesignistdieKonzeptionundPlanungsowiedie<strong>Gestaltung</strong>visuellerInformationen(…)mitdemZiel,dieseinihrerKomposition,VerarbeitungundVerbreitungwirkungsvollaufdieBedürfnisseeinerbestimmtenZielgruppeeinzustellen.“<br />

2 Aber<br />

geradeindennichtkommerziellen,sozialenpolitischenBeziehungenzwischenStaatund<br />

seinenEinwohnern–insbesondereinderBeziehungVerwaltungundBürger–soscheintes,<br />

werdendieseBedürfnisseallzuoftvergessen.<br />

EineGesellschaftlässtsichauchimmeramUmgangmitihrenMitgliedernmessen.<br />

Ein Sozialstaat verlangt zwingend nach der Gleichbehandlung aller – unabhängig da<strong>von</strong>,<br />

welcherBeitragfürdieGesellschaftgeleistetwerdenkannundwird.Deshalbistesm.M.<br />

umsowichtiger,verschuldetoderunverschuldetinNotgeratenenBürgernundBürgerinnen<br />

unterstützend zur Seite zu stehen – ihnen die Möglichkeit zu geben, mündig zu werden.<br />

SchwierigepersönlicheSituationen(sozial,finanziell,psychisch,physischusw.)dürfennicht<br />

nochdadurchverschlimmertwerden,dasskomplexeVerwaltungsvorgängedenBetroffenen<br />

„übergeholfen“werden,diedannmöglicherweisewiederzufalschenEinschätzungenoder<br />

Entscheidungenführen.EinkompliziertesSystemdarfnichtkompliziertvermitteltwerden.<br />

1 Koop 34<br />

2 Voss 148<br />




Dabei sind gerade den Gefühlen der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins Beachtung zu<br />

schenken.<br />

UnddasisteinederVerantwortungendesKommunikationsdesigners.InseinergesellschaftlichenVerantwortungmusseru.a.kritischnach-undhinterfragen,GrenzenaufzeigenundMöglichkeitenerweitern,KritikäußernundStellungbeziehen–ermussUnterstützerundAnwaltsein.ErhatsichselbstundebenanderengegenüberdieVerantwortung,<br />

Missstände–welcherArtauchimmer–mitseinenihmzurVerfügungstehendenMitteln<br />

zubeseitigen.<br />

NunkannmandenVorwurferheben,dassmitderNeugestaltungderFormularedes<br />

SGBII(HartzIV)dasinderMeinungvielerungerechteSystem,dasdenSozialmissbrauch<br />

verhindern,SozialausgabeneinsparenundeinenWiedereintrittindenArbeitsmarktermöglichensoll,„verschlimmbessert“oder„verschleiert“wird.DerAntraginseinerFormals<br />

Kontroll-undBestrafungsformulargarnocheffizientergemachtwird.<br />

Ich habe die Aufgabe aber aus einer anderen Richtung formuliert. In soziale Not<br />

GeratenesollensowohlallegesetzlichenMöglichkeitenalsauchalleNotwendigkeitenerkennenundnutzenkönnen.DennnursokönnendieBetroffenenihreRechteinvollemUmfangwahrnehmen.DerVerwaltungsolleinArbeitsmittelzurHandgegebenwerden,das<br />

esermöglicht,effizientundfehlerfreiinnerhalbderVerwaltungsprozesse,alsauchfürden<br />

Betroffenenzuagieren.DienachdenBedürfnissendesKundenundderVerwaltunggestaltetenFormularesollenu.a.durchKonzeption,ÜbersichtlichkeitundBenutzerfreundlichkeitdieAntragstellungsowiederenBearbeitungerleichtern.ÄnderungenandenSozialgesetzbüchern–insbesondereandemZweitenBuchSozialgesetzbuch(SGBII)–hinaufeinemenschenwürdigere,sozialere,existenzsicherndereunddieTeilhabeanderGesellschaftermöglichendeGesetzgebungkannnurdurchdiePolitikgeschehen.AlsKommunikationsdesignerkannichaberinmeinemmirmöglichenRahmenversuchen,dieerkennbarenUngerechtigkeitenzuverdeutlichen,zumindernodergarabzuschaffen.<br />

Der praktischen Arbeit ging eine theoretische Arbeit voran, die es ermöglichte,<br />

vorherungeahnteVerhältnisseundZusammenhängeinallerDeutlichkeithervortretenzu<br />

lassen.DasbeziehtsichsowohlaufdasersteKapitel„Arbeitsgesellschaft–KriseundDisziplinierung“alsauchaufdasdritteKapitel„Formulargestaltung“.BesondersaberdaszweiteKapitel,dassichmitderAgenda2010undalsdessenBestandteilmitSGBIIauseinandersetzt,rücktevieleunbekannteFaktenindasLichtderBetrachtungen.Dieslagandemzur<br />

Recherche herangezogenen Material, mit dem ich sehr viel tiefer gehender auf die Ursachen,WirkungenundKonsequenzenderSozialreformeneingehenkonnte.DiesesMaterial<br />

ist nicht nur <strong>von</strong> einigen der wichtigsten sozialen, wirtschaftspolitischen und philosophischenDenkernbeiderLager–sowohlBefürworternalsauchKritikern–verfasstworden,esenthältdarüberhinausnochdieaktuellstenundunumstößlicheFakten,mitdeneneinerepräsentativeunddurchBelegeabgesicherteDarstellungermöglichtwurde.<br />

BeiderRecherchewaresbesonderswichtig,nursolcheQuellenzuverwenden,die<br />

einerobjektivenBetrachtungderFaktenstandhaltenkonnten–geradebeieinerteilweise<br />

emotional sehr aufgeladenen Diskussion über die Agenda 2010. Die Anzahl der möglichenQuellenistimmens.DieBegründungdafürliegtüberwiegendindenwichtigenKonsequenzen,diesichfürdenbisherigenparitätischorganisiertenSozialstaatausdenSozialreformenergabenundergebenunddessenDiskursedarüber.SowohldieverfügbareundnotwendigeAnzahlderRecherchequellenalsauchdieBeachtungihrer„Herkunft“garantierendenfürdieBetrachtungnötigenUmfangund–imVergleichderAussagen–deren<br />

Korrektheit.<br />




Die theoretische Arbeit setzt sich aus drei großen Kapiteln zusammen. Das erste<br />

Kapitel setzt sich mit der Arbeitsgesellschaft und ihren Disziplinierungsmechanismen<br />

auseinander. Im ersten Teil soll versucht werden zu erklären, wie die Arbeit zum Leben<br />

bestimmendenInhaltwerdenkonnteundwelchegesellschaftlicheKrisesichdurchdieVerknappungderArbeitergibt.AlsGrundlagedientderText„GesteundRitualderArbeit“<br />

<strong>von</strong>ChristophWulf.DerzweiteTeildiesesKapitelsbeschäftigtsichmitMichelFoucaults<br />

AnalysendergesellschaftlichenMachtverhältnisseundseinemerweitertenMachtbegriffam<br />

Übergang bzw. bei der Entstehung und innerhalb der Industrie- und Arbeitsgesellschaft.<br />

FoucaultbeschreibtdenZusammenhangzwischenderEntstehungeinerneuenÖkonomie<br />

undderEntstehung<strong>von</strong>neuenFormenderMacht.GrundlageistderText„DieMachtund<br />

dieNorm“.<br />

DaszweiteKapitelbeschäftigtsichmitderReformierungdesArbeitsmarktesund<br />

derSozialsystemeDeutschlandsdurchdieAgenda2010.ImKerndieserErläuterungensteht<br />

dasZweitesBuchSozialgesetzbuch(SGBII)–auchbekanntalsHartzIV.Eswerdensowohl<br />

dieHintergründealsauchdieFolgenundAuswirkungenbeleuchtet.Statistikensinddabei<br />

einwichtigesMittel.Zubeachtenist,dasseszumTeilrechtunterschiedlicheZahlenaus<br />

Statistiken,ErhebungenundStudienzumgleichenSachverhaltgibt.SierührenwahrscheinlichausverschiedenenstatistischenMethoden,derAbsichtundEinstellungderAutorenher.TrotzdemlassensichTendenzenundVerallgemeinerungendarausableiten.MiteinemAusblickaufdiemöglichenweiterenEntwicklungenundmöglicheAlternativenschließtdieses<br />

Kapitel.<br />

Das dritte Kapitel behandelt das Formular. Grundsätzliche Informationen werden<br />

gegeben,aberauchdasVerhältnis<strong>von</strong>BürgerundBehördesollerörtertwerden.DerErläuterungderOrdnungsbeziehungenundElementeeinesFormularsfolgtdieEinschätzungdes<br />

Hartz-IV-HauptantragessowiederAusfüllhilfeunddieAuswertungmeinerUmfragen.Mit<br />

derRolledesFormulargestaltersunddemLösungsansatzfüroptimaleFormulareschließt<br />

dasletzteKapitel.<br />

MirwaresbeimSchreibendieserArbeitbesonderswichtig,dasssieauchfüreinen<br />

Laienverständlich ist.Dasunddienotwendige Betrachtung derFelder „Macht, Disziplinierung,Arbeit“,„Agenda2010undHartzIV–Entstehung,Auswirkung,Zukunft“sowie<br />

„Formulare–Aufgabenund<strong>Gestaltung</strong>“habenzudieserdochsehrumfangreichenArbeit<br />

beigetragen.DasnötigekomplexeHerangehenandieunterschiedlichenFelderderBetrachtunghabenimLaufedertheoretischenArbeitdazugeführt,dasssichimmermehrThemen<br />

undFragenaufwarfen,dieeinegleichberechtigteAntwortverlangthätten.Dieswaraber<br />

indemgesetztenRahmenunmöglich.AnmanchenStellenkönntemansicherkürzen,an<br />

anderenStellen–unddassicherhäufiger–nochInformationenausbauen.Esisttrotzder<br />

Beschränkungaufdie„nötigsten“Informationeneineauffundiertemundstandsicherem<br />

WissenbasierendetheoretischeArbeitentstanden.<br />

GeradedasErkennen,dasssichdieFelderdermöglichenBetrachtungenundAnalysen<br />

immer wieder erweiterten, führte einerseits zu Unsicherheit – zu der Unsicherheit,<br />

wichtige Dinge nicht gesehen bzw. betrachtet zu haben. Es führte aber auch zu der Erkenntnis,dasssichallesaufeinanderbeziehenlässtundsichimmerwiederneueParallelen<br />

undDenkrichtungenfindenlassen,dieeswertsind–wennesZeitundEnergiezulassen–,<br />

dassmansieergründet.<br />

ImJahr2000beschlossendieeuropäischenStaats-undRegierungschefsdieEUnach<br />

derLissabon-Agenda biszumJahr2010zum „wettbewerbsfähigsten unddynamischsten<br />

wissensbasiertenWirtschaftsraumderWelt“zumachen.ZehnJahrenachderUnterzeichnungunddemzwischenzeitlichenZutagetretenderpositivenundnegativenFolgen,istdas<br />

Jahr2010fürdieVorstellungüberarbeiteterAntragsformularefürdasSGBII–unabhängig<br />

<strong>von</strong>derabsolutenNotwendigkeit–aucheinzeitlichpassendesJahr.<br />




IchmöchtemichbeimeinenProfessoren,meinerFamilie,meinerFreundin,meinen<br />

FreundenundauchbeiderVerwaltunggleichermaßenfürdieLehre,dieHilfe,dieUnterstützung,dieGeduldunddasVerständnis–geradewennesstressigundauchchaotischzuging–bedanken.UnddasnichtnurwährenddesDiplomsemesters.<br />

Für die erwiesene Kooperationsbereitschaft möchte ich darüber hinaus allen Gesprächspartnerndanken.<br />

Erklärung:<br />

DievorliegendeArbeithabeichselbstständigundohnefremdeHilfeverfasst.<br />

AnderealsdieangegebenenHilfsmittelhabeichnichtbenutzt.<br />

DiewörtlichoderinhaltlichübernommenenStellenhabeichalssolche<br />

kenntlichgemacht.<br />




Inhaltsverzeichnis<br />

1.0 <br />

Arbeitsgesellschaft–KriseundDisziplinierung...................................................................... 1<br />

1.1 <br />

DieKrisederArbeitsgesellschaft........................................................................................................... 1<br />

1.2 <br />

DieMachtunddieNorm........................................................................................................................... 11<br />

1.3 <br />

Zusammenfassung...........................................................................................................................................19<br />

2.0 <br />

Agenda2010undHartzIV......................................................................................................................23<br />

2.1 <br />

GlobalisierungundNeoliberalismus..............................................................................................23<br />

2.2 <br />

DieAgenda2010...............................................................................................................................................28<br />

2.3 <br />

DieHartz-GesetzeIbisIV.......................................................................................................................33<br />

2.4 <br />

HauptargumentederBefürworter....................................................................................................37<br />

2.5 <br />

HauptargumentederKritiker................................................................................................................ 41<br />

2.6 <br />

BilanzfünfJahreHartzIV.......................................................................................................................45<br />

2.7 <br />

Zusammenfassung...........................................................................................................................................50<br />

3.0 <br />

Agenda2010undHartzIV:FolgenundAuswirkungen............................................... 51<br />

3.1 <br />

VielschichtigkeitderFolgenundAuswirkungen.................................................................. 51<br />

3.2 <br />

RechtsverlustundZwangzurArbeit..............................................................................................52<br />

3.3 <br />

ALGII–rechtlicher,sozialerundmateriellerVerlust......................................................53


3.4 <br />

DerEin-Euro-Job..............................................................................................................................................56<br />

3.5 <br />

SanktionenverschärfenZwangzurArbeit................................................................................57<br />

3.6 <br />

HartzIVmachtkrank..................................................................................................................................59<br />

3.7 <br />

HartzIVmachtKinderarm....................................................................................................................62<br />

3.7.1 <br />

Dialektik<strong>von</strong>ReichtumundArmut................................................................................................62<br />

3.7.2 <br />

QuantitativeIndikatorenderKinderarmut..............................................................................66<br />

3.7.3 <br />

QualitativeIndikatorenderKinderarmut..................................................................................68<br />

3.7.4 <br />

VerfassungsrichterüberprüfenRegelsätzefürKinder.....................................................69<br />

3.8 <br />

Zusammenfassung...........................................................................................................................................72<br />

4.0 <br />

Zukunft<strong>von</strong>HartzIV..................................................................................................................................73<br />

4.1 <br />

PolitikderRegierungsparteien.............................................................................................................73<br />

4.2 <br />

AlternativeVorstellungen..........................................................................................................................76<br />

4.3 <br />

WiderstandundProtest.............................................................................................................................. 80<br />

4.4 <br />

Zusammenfassung...........................................................................................................................................82<br />

5.0 <br />

Formulargestaltung........................................................................................................................................83<br />

5.1 <br />

DefinitionundFunktion<strong>von</strong><strong>Formularen</strong>..................................................................................83


5.2 <br />

GeschichtederFormulare.........................................................................................................................86<br />

5.3 <br />

Typen<strong>von</strong><strong>Formularen</strong>................................................................................................................................ 90<br />

5.4 <br />

VerständlichkeitundVerarbeitung<strong>von</strong>Informationen.................................................92<br />

5.4.1 <br />

Verständlichkeit<strong>von</strong>Informationen................................................................................................92<br />

5.4.2 <br />

Verarbeitung<strong>von</strong>Informationen........................................................................................................94<br />

5.4.3 <br />

Schlussfolgerungen..........................................................................................................................................97<br />

5.5 <br />

DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde..............................................................98<br />

5.6 <br />

Bürgernähe.......................................................................................................................................................... 104<br />

5.7 <br />

ImageundFormular...................................................................................................................................107<br />

5.8 <br />

OrdnungsbeziehungenineinemFormular............................................................................. 111<br />

5.9 <br />

ElementederMakroebene.....................................................................................................................113<br />

5.9.1 <br />

GrafischeVariablenundGestaltgesetze....................................................................................116<br />

5.9.2 <br />

TypografieundSchrift...............................................................................................................................118<br />

5.9.3 <br />

Zahlen.....................................................................................................................................................................120<br />

5.9.4 <br />

Raster,SpaltenundTektonik..............................................................................................................121<br />

5.9.5 <br />

Linien,TabellenundFarbe.................................................................................................................. 123


5.9.6 <br />

Papier,Druck,Weiterverarbeitung,Maschinenlesbarkeit...................................... 125<br />

5.10 <br />

ElementederMikroebene..................................................................................................................... 128<br />

5.10.1 <br />

SpracheundText...........................................................................................................................................130<br />

5.10.2 <br />

MarkierungderauszufüllendenStellen.....................................................................................135<br />

5.11 <br />

EinschätzungHartzIVHauptantrag..........................................................................................137<br />

5.11.1 <br />

Grafisch-visuelleEinschätzung.........................................................................................................138<br />

5.11.2 <br />

Semantisch-syntaktischeEinschätzung....................................................................................142<br />

5.11.3 <br />

PragmatischeEinschätzung..................................................................................................................146<br />

5.11.4 <br />

Fazit........................................................................................................................................................................... 150<br />

5.12 <br />

AuswertungFragebögen..........................................................................................................................152<br />

5.13 <br />

DieRolledesFormulargestalters.....................................................................................................160<br />

5.14 <br />

ZusammenfassungundmöglicherLösungsansatz.........................................................162<br />

6.0 <br />

Literaturliste(alphabetischnachAutorensortiert)................................................................ I<br />

6.1 <br />

ElektronischeMedien(nachletztemZugriffgeordnet).................................................VI


2.0<br />

Agenda 2010 und Hartz IV<br />

2.1<br />

Globalisierung und Neoliberalismus<br />

2.0 Agenda2010undHartzIV<br />

„Geld, Technologien, Waren, Informationen, Gifte ‚überschreiten‘ die Grenzen, als gäbe<br />

es diese nicht. Sogar Dinge, Personen und Ideen, die Regierungen gerne außer Landes<br />

halten würden (Drogen, illegale Einwanderer, Kritik an Menschenrechtsverletzungen),<br />

finden ihren Weg. So verstanden meint Globalisierung: das Töten der Entfernung; das<br />

Hineingeworfensein in oft ungewollte, unbegriffene transnationale Lebensformen;“ 153<br />

SowohlBefürworteralsKritiker,natürlichdieMacher,aberauchdiedirektBetroffenenderAgenda2010und<strong>von</strong>HartzIVführeninihrenÄußerungenimmerwiederGlobalisierungundNeoliberalismusan.DieSchlagwortebetreffensowohlUrsache,Wirkungund<br />

BegründungfürdenWandelderGesellschaft.Deshalbscheintesmirwichtig,einenkurzen<br />

AbrissüberdieBegriffeundderenBedeutungzugeben.<br />

HierbeihandeltesumArbeitsdefinitionen,dienichtdieganzeDimension,dievielen<br />

Widersprüchebzw.Facettenenthaltenkönnen.HierwirdnureineimRahmenderArbeit<br />

nötigeBegriffserklärungunternommen.<br />

UnterderGlobalisierungkannmandenProzessderzunehmendenweltweitenVertiefungundVerflechtungallergesellschaftlichenBereicheverstehen.Füralledeutlicherlebbar<br />

findetdieseVerflechtunginderWirtschaft(Real-undFinanzwirtschaft,Handel),aberauch<br />

inPolitik,Kultur, Medien,Sicherheit, Recht, Umwelt etc. statt. Globalisierung geschieht<br />

auf den verschiedensten Ebenen. So auf der Ebene der Individuen, der gesellschaftlichen<br />

Gruppen,derGesellschaften,derInstitutionenundderStaaten.Globalisierungerfuhreine<br />

zunehmende Vertiefung, Erweiterung und Dynamik durch den technischen Fortschritt –<br />

beispielsweisedurchdieDigitalisierung–sowiedurchdieLiberalisierungdesWelthandels.<br />

DaslässtsichanIndikatorenwiebeispielsweisedemAnwachsendesWelthandels,demAnsteigenderausländischenDirektinvestitionen,derZunahmeglobalerUnternehmenskooperationen,andersteigendenAnzahlderGlobalPlayer(TransnationaleKonzerne/TNK),anderGlobalisierungderFinanzmärkteundanderungleichenVerteilungderglobalenRessourcenfeststellen.<br />

DenwirtschaftspolitischenBegriffderGlobalisierungprägtederehemaligeProfessor<br />

anderHarvardBusinessSchool,TheodoreLevitt.Bereits1983veröffentlichteereinenArtikelinderHarvardBusinessReviewmitdemTitel„TheGlobalizationofMarkets“.<br />

154 InnerhalbdesdeutschsprachigenRaumesverbreitetesichderTerminusnach1990inderöffentlichenDebatte.<br />

Unterschiedliche Auffassungen darüber gibt es, ob die Globalisierung nicht schon<br />

immerstattfandodererstabdemMittelalterodererstnachdemZweitenWeltkrieg.Allgemeinanerkanntistjedoch,dassdieGlobalisierungeinenerstengroßenHöhepunktmit<br />

derIndustrialisierung–mitderAusprägungdesKapitalismus–Endedes19.Jahrhunderts,<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts hatte. Karl Marx kennzeichnete diesen Prozess bereits treffend,alser1848imManifestderKommunistischenParteifeststellte,dassdieBourgeoisie<br />

153 Beck 45<br />

154 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Theodore_Levitt, letzter Zugriff: 28.10.2009<br />

23


2.1 GlobalisierungundNeoliberalismus<br />

durchdieAusbeutungdesWeltmarktesdieProduktionundKonsumtionallerLänderglobalisierthabe.<br />

155 UndFriedrichEngelsschriebineiner1847verfasstenSchrift:„DiegroßeIndustriehatschondadurch,daßsiedenWeltmarktgeschaffenhat,alleVölkerderErde,undnamentlichdiezivilisierten,ineinesolcheVerbindungmiteinandergebracht,daßjedeseinzelneVolkda<strong>von</strong>abhängigist,wasbeieinemanderngeschieht.“<br />

156<br />

Globalisierungs-Kritiker wenden sich weniger gegen die objektive Entwicklung an<br />

sich.HauptaugenmerkihrerKritikgiltvielmehrder„neoliberalen“AusprägungderGlobalisierung.<br />

157<br />

Eine differenzierte Begriffsdefinition <strong>von</strong> Globalisierung legt Ulrich Beck vor. Zunächst<br />

unterscheidet er zwischen Globalisierung und Globalität. Globalität ist für Beck<br />

durchdasZerbrechenderEinheit<strong>von</strong>NationalstaatundNationalgesellschaftunddieHerausbildung<br />

<strong>von</strong> neuartigen Macht- und Konkurrenzverhältnissen, Konflikten und Überschneidungen<br />

„zwischen nationalstaatlichen Einheiten und Akteuren einerseits, transnationalen<br />

Akteuren, Identitäten, sozialen Räumen, Lagen und Prozessen andererseits“<br />

gekennzeichnet. 158<br />

FürBeckstelltdieGlobalisierung–mitallihrenunterschiedlichenDimensionen–<br />

dieAnnahme,dassdieKonturenderGesellschaftdeckungsgleichmitdenKonturendesNationalstaatesgedachtwerdenkönnen,inFrage.GlobalisierungsorgtfüreineneueVielfalt<br />

<strong>von</strong>VerbindungenundQuerverbindungenzwischenStaatenundGesellschaften. 159<br />

Das bisherige Gefüge der Grundannahmen, dass Gesellschaften und Staaten als<br />

„territoriale, gegeneinander abgrenzte Einheit vorgestellt, organisiert und gelebt wurden“,<br />

brichtsomitzusammen. 160 <br />

Beck beschreibt Globalisierung als erfahrbares „Grenzenloswerden alltäglichen<br />

HandelnsindenverschiedenenDimensionenderWirtschaft,derInformation,derÖkologie,<br />

derTechnik,dertranskulturellenKonflikteundZivilgesellschaft,unddamitimGrundegenommenetwaszugleichVertrautesundUnbegriffenes,schwerBegreifbares,dasabermiterfahrbarerGewaltdenAlltagelementarverändertundallezuAnpassungenundAntworten<br />

zwingt.“ 161 UnterscheidungenderGlobalisierungsindfürdenAutorunbedingtnötig,denn<br />

Globalisierungistfürihn„dasammeistengebrauchte–mißbrauchte–undamseltensten<br />

definierte, wahrscheinlich mißverständlichste, nebulöseste und politisch wirkungsvollste<br />

(Schlag- und Streit-)Wort der letzten, aber auch der kommenden Jahre.“ 162  Beck erhebt<br />

dabeiaberwederdenAnspruchaufVollständigkeitnochTrennschärfe. 163 Wennmannur<br />

dieimZentrumderöffentlichenDebattestehendewirtschaftlicheGlobalisierungbetrachtet,<br />

so„lichtetsichderNebelnicht“. 164 <br />

Für Beck muss die Globalisierung in verschiedene Dimensionen unterschieden<br />

werden„diekommunikationstechnische,dieökologische,dieökonomische,diearbeitsorganisatorische,diekulturelle,diezivilgesellschaftlicheDimensionusw.“<br />

165 <br />

Die informatorische, kommunikationstechnische Globalisierung sorgt dafür, dass<br />

„nationalstaatliche Informations-Souveränität als Teil der politischen Souveränität (…)<br />

155 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistisches_Manifest, letzter Zugriff: 28.10.2009<br />

156 http://de.wikipedia.org/wiki/Globalisierung, letzter Zugriff: 28.10.2009<br />

157 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Globalisierung, letzter Zugriff: 28.10.2009<br />

158 Beck 47<br />

159 vgl. Beck 46<br />

160 Beck 47<br />

161 Beck 44<br />

162 Beck 42<br />

163 vgl. Beck 42<br />

164 Beck 42<br />

165 Beck 42<br />

24


2.1 GlobalisierungundNeoliberalismus<br />

außerKraftgesetzt“wird. 166 ModerneMedienstellen„virtuell“eineGleichzeitigkeit<strong>von</strong><br />

EreignissenverschiedenerWeltgegendenundBedeutungenherundverortendieseaufeiner<br />

Zeitachseundnichtmehraufvielenverschiedenen.„Der‚zeitkompakteGlobus‘“entsteht. 167<br />

DieökologischeGlobalisierungverweistdarauf,dass„dasTunundLassenallergesellschaftlichenAkteureüberallinderWeltinfastallengesellschaftlichenThemenfeldern<br />

(…)gemessenundkritisiertwerdenkann.“ 168 HandelnundTunhabenAuswirkungen,die<br />

sichüberallaufderWeltnachweisenlassenbzw.ihreWirkung–obnunpositivoderim<br />

überwiegendenFallnegativ–entfalten.<br />

DieDimensionderökonomischenGlobalisierungkannu.a.durchihreneuenvirtuellenÖkonomientransnationalerGeldströmedefiniertwerden.<br />

169<br />

DieverschwundeneNotwendigkeit,aneinembestimmtenOrtzusammenzuarbeiten,<br />

um Güter und Dienstleistungen herzustellen, verweist auf die Dimension der Globalisierung<br />

<strong>von</strong> Arbeitskooperation bzw. Produktion. 170  Trotz des Exports <strong>von</strong> Arbeitsplätzen<br />

könnendieBeschäftigten„transnationalodersogartranskontinental‚kooperieren‘oderin<br />

‚direktem‘KontaktmitdemEmpfängerundKonsumentenbestimmteDienstleistungenerbringen.“<br />

171 <br />

DieDimensionderkulturellenGlobalisierungzeigtfürBeck,dass„Globalisierung<br />

keineEinbahnstraßeseinmuß,sondernimGegenteil(u.a.,d.V.)regionalenMusik-Kulturen<br />

weltweiteBühnenundBedeutungenverschaffenkann.“ 172 <br />

BecksiehtdieWeltgesellschaft,diesichim„Gefolge<strong>von</strong>Globalisierung“invielen<br />

Dimensionen–alsonichtnurinderökonomischenDimension–herausgebildethat,alseine,<br />

diedenNationalstaatunterläuftbzw.relativiert,weilsich„einemultiple,nichtortsgebundene<br />

Vielheit <strong>von</strong> sozialen Kreisen, Kommunikationsnetzwerken, Marktbeziehungen, Lebensweisen(…)quervernetzt“haben.<br />

173<br />

DieDiskussiondarüber,obdiedeutscheWirtschaftdurchdieMöglichkeiteinerbilligeren<br />

Produktion an anderen Standorten unter Druck gerät, sieht Beck als überschätzt.<br />

„DaßGlobalisierungimSinne<strong>von</strong>Arbeitsplatz-AbbauinDeutschlandundArbeitsplatz-ExportinLändermitniedrigenArbeitskostenineinemnennenswertenAusmaßbereitsstattgefundenhat,wird<strong>von</strong>denTatsachenrelativiert.“<br />

174 <br />

Für Beck stechen die politischen Folgen, die durch die Inszenierung des ökonomischenGlobalisierungsrisikosinGanggesetztwerden,hervor.Vorherderpolitischen<strong>Gestaltung</strong>verschlosseneindustriegesellschaftlicheInstitutionenkönnen„geknackt“unddempolitischenZugriffgeöffnetwerden.<br />

175<br />

SosiehtBeckdieEntwicklung,dass„diePrämissendesSozialstaatesunddesRentensystems,<br />

der Sozialhilfe und der Kommunalpolitik, der Infrastrukturpolitik, die organisierte<br />

Macht der Gewerkschaften, das überbetriebliche Verhandlungssystem der<br />

TarifautonomieebensowiedieStaatsausgaben,dasSystemderSteuernunddie‚Steuergerechtigkeit‘–allesschmilztunterderneuenWüstensonnederGlobalisierungindiepolitischeGestaltbarkeit(szumutung)hinein.“<br />

176<br />

166 Beck 39<br />

167 Beck 46<br />

168 Beck 40<br />

169 vgl. Beck 40<br />

170 vgl. Beck 41<br />

171 Beck 41<br />

172 Beck 42<br />

173 Beck 18<br />

174 Beck 43<br />

175 vgl. Beck 13<br />

176 Beck 13 f<br />

25


2.1 GlobalisierungundNeoliberalismus<br />

DieInszenierungderGlobalisierungerlaubtesdenUnternehmen,„diepolitischund<br />

sozialstaatlich gezähmte Handlungsmacht des demokratisch organisierten Kapitalismus<br />

aufzuschnürenundzurückzuerobern.“ 177<br />

Unternehmen–insbesonderedieglobalagierenden–bekommendurchdieGlobalisierungnichtnureineSchlüsselrolleinder<strong>Gestaltung</strong>derWirtschaft,sondernauchbeider<br />

<strong>Gestaltung</strong>derGesellschaftinsgesamt.DieseRolle–dieesimKapitalismuslatentimmer<br />

gab,abersozialstaatlich-demokratischgebändigtwerdenkonnte–bekommtgrößereWirkungalleindadurch,dass„siederGesellschaftdiemateriellenRessourcen(Kapital,Steuern,<br />

Arbeitsplätze)entziehenkönnen.“ 178<br />

FürdenSoziologenBeckuntergräbtdieglobalagierendeWirtschaftdieGrundlagen<br />

derNationalökonomieundderNationalstaaten–ihrgehtesdarum,sichvomStaatundaus<br />

denKlammern<strong>von</strong>ArbeitundStaatzubefreien. 179 DieInszenierung<strong>von</strong>Globalisierungals<br />

Drohfaktorzieltnichtnurdarauf,diegewerkschaftlichenunddienationalstaatlichen„Fesseln“abzustreifen.DarüberhinausbetreibtsieeineEntmächtigungnationalstaatlicherPolitik.<br />

180 <br />

DurchArbeitsplatzexport,weltweitverteiltearbeitsteiligeProzesse,dieMöglichkeit,<br />

NationalstaatenodereinzelneProduktionsortegegeneinanderumdiebilligstenSteuer-und<br />

günstigstenInfrastrukturleistungenausspielenzukönnenunddiefehlendeVerbindlichkeit<br />

<strong>von</strong>Investitions-,Produktions-,Steuer-,undWohnortermöglichtdenUnternehmenzusätzlicheHandlungs-undMachtchancenzuerhalten,diejenseitsdespolitischenSystemsliegen.<br />

BeckformuliertdafürdenBegriff„Subpolitik“ 181<br />

BeckhältesfüreinenTreppenwitzderGeschichte,dass„ausgerechnetdieGlobalisierungsverliererinZukunftalles,SozialstaatwiefunktionierendeDemokratie,bezahlen<br />

sollen, während die Globalisierungsgewinner Traumgewinne erzielen und sich aus ihrer<br />

VerantwortungfürdieDemokratiederZukunftstehlen.“ 182 DeshalbmüssefürBeckdie<br />

übergreifendeFragenachsozialerGerechtigkeitimZeitalterderGlobalisierungnichtnur<br />

theoretisch,sondernauchpolitischneuverhandeltwerden. 183 <br />

EngverbundenmitderGlobalisierungistderNeoliberalismus.Neoliberalismussteht<br />

fürdieabsoluteFreiheitdesMarktes.DerBegriffNeoliberalismussetztsichausdemaltgriechischenneos(neu)undLiberalismuszusammen.WiederklassischeLiberalismuswendetsichauchderNeoliberalismusgegendasaktiveEingreifendesStaatesindieWirtschaftsprozesse.DerStaatsolllediglicheinenRahmenstellen,derdenWettbewerbfördert.Betont<br />

wirdderZusammenhang<strong>von</strong>politischer,wirtschaftlicherFreiheit. 184<br />

Das Wirtschaftslexikon (Gabler) erweitert den Begriff Neoliberalismus noch. Der<br />

klassischeLiberalismuswürdezwaraufgegriffen,jedochnachdenErfahrungendesLaissez-<br />

Faire-Liberalismus, der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften und dem konzeptionslosen<br />

Interventionismus – dem konzeptionslosen Eingreifen des Staates in den Wirtschaftsablauf–korrigiert.<br />

185 AuchimNeoliberalismuswirddieOrdnungsunabhängigkeit<br />

177 Beck 14<br />

178 Beck 14<br />

179 vgl. Beck 14 f<br />

180 vgl. Beck 16<br />

181 vgl. Beck 16 f<br />

182 Beck 21<br />

183 vgl. Beck 21<br />

184 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Neoliberalismus, letzter Zugriff: 28.10.2009<br />

185 Laissez-Faire-Liberalismus (Manchester-Liberalismus) wird eine Denkrichtung bezeichnet, durch die<br />

die im 19. Jh. praktizierte Wirtschaftspolitik geprägt war. Charakteristisch war eine ausgesprochen starke<br />

Zurückhaltung des Staates und der Verzicht auf die Beeinflussung des Wirtschaftsprozesses entsprechend einer<br />

staatlichen Ordnungskonzeption. Als Folge war damit zugleich soziale Not der Arbeiter verbunden. (vgl. http://<br />

wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/1886/laissez-faire-liberalismus-v6.html, letzter Zugriff: 28.10.2009)<br />

26


2.1 GlobalisierungundNeoliberalismus<br />

desWirtschaftensunddieBedeutungprivatwirtschaftlicherInitiativebetont.Dahersolle<br />

der Staat den freien Wettbewerb aktiv vor dem Entstehen privatwirtschaftlicher Marktmacht(Monopole,Kartelleusw.,d.V.)wieauchvorstaatlichverursachterMarktvermachtung(etwadurchStaatskonzerne,d.V.)schützen.<br />

186<br />

DerNeoliberalismusinderGegenwartzieltm.E.nachnurineineRichtung:Privatisierung<strong>von</strong>vormaligenstaatlichenKernbereichen–wiebeispielsweisemedizinischeVersorgung,Energie,Wasser,Transportu.a.–dazudieDeregulierungderMärkte(beispielsweise<br />

der Finanzmärkte), verbunden mit einem rigorosen Sozialabbau. Einzig die privatwirtschaftlicheMarktmachtdergrößtenUnternehmenwirdnichtberührt.GanzimSinnedes<br />

Neoliberalismusentwickeltedierot-grüneBundesregierungunterSchröderundFischereine<br />

Reform–dieAgenda2010–,diediesallesermöglichte.DieseReformsollte–sowurdesie<br />

öffentlichbegründet–DeutschlandfitmachenfürdieAnforderungenderGlobalisierung<br />

undfürdieAnforderungendes21.Jahrhunderts.<br />

186 vgl. http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/10396/<br />

neoliberalismus-v4.html, letzter Zugriff: 28.10.2009<br />

27


2.2<br />

Die Agenda 2010<br />

2.2 DieAgenda2010<br />

„Entweder wir modernisieren unser Land, und zwar als eine soziale Marktwirtschaft.<br />

Oder wir werden modernisiert, und zwar <strong>von</strong> den ungebremsten Kräften des Marktes, für<br />

die Freiheit immer nur die Freiheit <strong>von</strong> wenigen ist und die das Soziale beiseite drängen<br />

würden.“ 187<br />

„WirwerdenLeistungendesStaateskürzen,EigenverantwortungfördernundmehrEigenleistung<strong>von</strong>denEinzelnenfordernmüssen.(…)Niemandwirdsichentziehendürfen.“<br />

188 <br />

MitdiesenWortenstellteimFrühjahr2003derdamaligeBundeskanzlerGerhardSchröder<br />

(SPD)dieunterdemNamen„Agenda2010“bekanntgewordenen„VorschlägezurReform<br />

dersozialenSicherungssysteme,desArbeitsmarktesundderFinanzen“vor.<br />

Die Vorarbeiten für die Agenda 2010 waren bereits im Schröder-Blair-Papier aus<br />

demJahre1999geleistetworden. 189 <br />

Erklärte Ziele bis zum Jahr 2010 waren die Kürzung <strong>von</strong> Leistungen des Staates,<br />

dieFörderungderEigenverantwortungunddieEigenleistungdeseinzelnen–formuliertin<br />

insgesamt30Vorhaben.AußerdemsolltedieArbeitslosigkeitdrastischabgebautunddas<br />

WachstumderWirtschaftbeschleunigtwerden. 190 <br />

HinterderBezeichnung„Agenda2010“standeinganzesBündel<strong>von</strong>Maßnahmen.<br />

NichtnurdieSozialsystemesolltensaniertwerden.AuchdieLohnnebenkostensolltendrastischgesenktsowiederArbeitsmarktflexiblergestaltetunddieöffentlichenFinanzengefestigtwerden.<br />

191 FürdiebeidenAutorendesArtikels„DieAgenda2010:EinewirtschaftspolitischeBilanz“,BenjaminScharnagelundMichaelHüthervomInstitutderdeutschen<br />

Wirtschaft(IW)inKöln,warendieseReformenunbedingtnötig.SiegebenalsGründean:<br />

ZuhoheSteuernundAbgaben,lähmendeBürokratie,zuhoheArbeitskostenundzuviele<br />

Arbeitslose, teure soziale Sicherungssysteme und neue Herausforderungen durch die Globalisierung.<br />

Deshalb müssten die Strukturreformen den Standort Deutschland da<strong>von</strong> befreien.<br />

192<br />

Die„Agenda2010“–dieReformdesSozial-undWirtschaftssystems–wurdezwischen2003und2005<strong>von</strong>derBundesregierung–bestehendausSPDundBündnis90/Die<br />

187 Gerhard Schröder, ehem. Bundeskanzler, http://www.b-republik.de/archiv/inder-tradition-<strong>von</strong>-freiheit-und-gerechtigkeit,<br />

letzter Zugriff: 28.10.2010<br />

188 http://www.martin-doermann.de/hp_alt/pdf%20Dokumente/<br />

regierungserklaerung.pdf letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

189 Das Schröder-Blair-Papier ist ein Vorschlag <strong>von</strong> Gerhard Schröder und Tony Blair – unter dem<br />

Titel „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“ – den sie in London am 8. Juni 1999<br />

veröffentlichten. Darin legten sie einen Entwurf für ein Modernisierungskonzept für die europäische<br />

Sozialdemokratie vor. In ihm wurden unter dem Schlagwort „Neue Mitte“, vor dem Hintergrund des<br />

Thatcherismus und der „Ära Kohl“ und unter Bezugnahme auf die Strukturationstheorie <strong>von</strong> Anthony<br />

Giddens, neue sozialdemokratische Positionen und Leitbilder eines „dritten Weges“ – zwischen dem<br />

neoliberalen beziehungsweise wirtschaftsliberalen Kapitalismus und der klassischen Sozialdemokratie –<br />

formuliert. Mit diesen Vorschlägen wollte man die grundlegende Modernisierung der sozialdemokratischen<br />

Programmatik erreichen. Dies sollte durch eine wirtschaftsfreundlichere Ausrichtung, eine Reform<br />

der Sozialsysteme und die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte geschafft werden. Nach Auffassung der<br />

Verfasser muss eine pragmatische statt einer ideologischen Wirtschaftspolitik betrieben werden. Betont<br />

wurde hierbei der durch die Globalisierung entstehende Konkurrenzdruck zwischen Volkswirtschaften.<br />

(vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Schröder-Blair-Papier, letzter Zugriff: 02.01.2010)<br />

190 vgl. http://www.cecu.de/709+M5f983d34a12.html, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

191 vgl. http://www1.bpb.de/files/BN2YMD.pdf, S.24, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

192 vgl. http://www1.bpb.de/files/BN2YMD.pdf, S.23, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

28


2.2 DieAgenda2010<br />

Grünen–weitgehendumgesetztund<strong>von</strong>dennachfolgendenKoalitionenfortgeführt.Als<br />

konkreteGrundlagefürdieReformendienteu.a.der„WirtschaftspolitischerForderungskatalogfürdieersten100TagederRegierung“(gemeintwardie<strong>von</strong>G.Schröder).Dieser<br />

wurde<strong>von</strong>derBertelsmann-Stiftung2002inderZeitschrift„Capital“veröffentlicht.<br />

In dem „Wirtschaftspolitischen Forderungskatalog“ wurde unter anderem angemahnt,beiderSozialversicherungseiesnötig,binnen10JahrendieArbeitslosenversicherung<br />

abzuschaffen und die Sozialhilfe weiter einzuschränken. Die Kürzungen in der Sozialhilfe<br />

würden automatisch den damit verbundenen Mindestlohn mindern. Wenn der<br />

Mindestlohnsinkenwürde,sowürdediesauchderBekämpfungderArbeitslosigkeitdienen<br />

unddieSanierungderStaatsfinanzenfördern.EineSenkungderübrigenLöhneum15ProzentunddieReduzierungdesKündigungsschutzeserlaubeesUnternehmen,mehrArbeiterundAngestellteeinzustellenunddamitdieArbeitslosigkeitzuverringern.DieLohnnebenkosten(imwesentlichenalsodieSozialkosten,d.V.)solltenmittelfristigvomUnternehmer<br />

ganzaufdenArbeitnehmerübertragenwerden.DieBertelsmann-Stiftungbehauptet,dass<br />

Deutschland ab dem Jahre 2010 nicht mehr in der Lage sein werde, für die Kosten für<br />

Renten,KrankenkostenoderArbeitslosigkeitindembisdahingewährtenMaßeaufzukommen.<br />

193 <br />

VieledieserForderungenfandenEingangindieAgenda2010undschlugensichauch<br />

inHartzIVnieder.(Allgemeinbekanntistauch,dasssichGerhardSchrödersowieAngela<br />

MerkeldesÖfteren<strong>von</strong>derStiftungberatenließen.)<br />

DieAgendaumfasstimwesentlichensiebenBereiche.ImBereichWirtschaftgehtes<br />

u.a.umdenKündigungsschutzunddieSenkungderbetrieblichenLohnnebenkosten,aber<br />

auchumdieFörderungdesMittelstandes.ImBereichKrankenversicherungstehtdieGesundheitsreform.<br />

Dabei sollen u.a. der Zahnersatz und das Krankengeld nicht mehr wie<br />

bisherparitätisch,sondernalleindurchdieBeiträgedesVersichertenbestrittenwerden.Die<br />

SelbstbeteiligungderPatientenfürMedikamenteundHeilmittelsowiefürdenstationären<br />

AufenthaltimKrankenhauswurdeerhöht.DievierteljährlichzuentrichtendePraxisgebühr<br />

wurde ebenfalls eingeführt. Viele der bisher gewährten Leistungen wurden gestrichen. 194 <br />

Die Möglichkeit der Frühverrentung wurde weiter eingeschränkt. 195  Der Eintritt ins Rentenalterwurdespäterauf67Jahreerhöht.DiegesetzlicheRentenversicherungwurdereduziertundu.a.durchdieRiester-Rente–dieeinenhohenprivatenAnteilbeinhaltet–ergänzt.<br />

DiegravierendstenÄnderungenfandenaberimBereichArbeitsmarktstatt.<br />

AlsKernderReformendurchdieAgenda2010werdendieHartzGesetze–imbesonderenSGBII(ALGII,HartzIV)–angesehen.AufdieInhaltedieserGesetzewirdim<br />

nächstenKapitelnochnähereingegangen.<br />

GroßeTeiledesKonzepteswurden<strong>von</strong>derCDU/CSUaktivmitgestaltet.InderRegierungserklärungvom30.November2005äußertesichdieAmtsnachfolgerin<strong>von</strong>Gerhard<br />

Schröder,AngelaMerkel:„IchmöchteKanzlerSchröderganzpersönlichdanken,dasser<br />

mitderAgenda2010mutigundentschlosseneineTüraufgestoßenhat,unsereSozialsystemeandieneueZeitanzupassen.“<br />

196 <br />

EinenweiterenGrundfürdieEinführungderAgenda2010sehenverschiedeneAutorenimUntergangdes„realenSozialismus“.DerPolitikwissenschaftlerMichaelKlundt<br />

betont, dass die Umsetzung solcher Vorhaben vorher durch die Konkurrenz des KapitalismusmitdemSozialismuswährenddesKaltenKriegeserschwertwurde.Klundtsiehtauch<br />

dieEntwicklung,dassdieimWestenerkämpftenreformistischenSozialstaatskompromisse<br />

193 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Bertelsmann-Stiftung, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

194 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Agenda_2010, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

195 vgl. http://www1.bpb.de/files/BN2YMD.pdf, S.28, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

196 http://webarchiv.bundestag.de/archive/2005/1205/aktuell/<br />

reg_erkl/index.html#, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

29


2.2 DieAgenda2010<br />

derJahre1950-1975seitdenachtzigerJahrenmehrundmehr<strong>von</strong>denUnternehmeneinseitigaufgekündigtwerden.<br />

197<br />

Die Soziologen Christoph Butterwegge und Carolin Reißlandt schreiben in ihrer<br />

Studie„SozialstaatamScheideweg“,dassderSiegüberdenStaatssozialismusesermöglicht<br />

habe,dass„dasSozialeleichteralseindie(Arbeits-)Produktivität,WirtschaftskraftundExportfähigkeitschwächenderFaktorabqualifiziertwerden“konnte.<br />

198 NachdemWegfallder<br />

sogenanntenSystemalternativekonntediebisdahindominantesozialstaatlicheEntwicklungsvariantedesKapitalismus–diedieHärtenundSchwächendesKapitalismusfürdie<br />

Menschenerträglichergemachthaben–aufdenPrüfstandgestelltwerden. 199 <br />

AuchdiePolitikwissenschaftlerinGabrielleGillensiehtinihremBuch„HartzIV–<br />

Eine Abrechnung“ im Zusammenbruch des so genannten Ostblocks einen wichtigen AspektfürdieAbschaffungderkollektivenSicherungssysteme.Der„realeSozialismus“hätte<br />

dasKapitalzuZugeständnissengezwungen–erhabequasialszusätzlicherSozialpartner<br />

immermitamVerhandlungstischgesessen.DieimKaltenKriegdurchgesetztenStandards<br />

der Sozial- und Arbeitslosenversicherung hätten quasi wie ein Mindestlohn gewirkt. Seit<br />

denneunzigerJahrenhättendannaberdieUnternehmenmitHilfederPolitikSchrittfür<br />

SchrittihreDeregulierungundFlexibilisierungsreformendurchsetzenkönnen. 200 <br />

DasdiesaucheinwichtigesVorhabenderEuropäischenUniongewesensei,darauf<br />

machtdieAutorinundAktivistingegenErwerbslosigkeit,AngelaKlein,aufmerksam.Die<br />

Europäische Union wolle mit der „Strategie <strong>von</strong> Lissabon“ – die auf dem EU-Gipfel im<br />

Jahr 2000 beschlossen wurde – bis zum Jahre 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischstenwissensbasiertenWirtschaftsraumderWelt“werden.<br />

201 DerRivale–mitdem<br />

mansichvorallemmesse–seiendieUSA.DeshalbwürdeauchdieSozialpolitikderPrämisseuntergeordnet,denökonomischen„Krieg“umMärkteundTechnologievorsprünge<br />

gewinnenzuwollen.DeshalbwürdendiesozialenSicherungssystemeneugestaltetundan<br />

dieneoliberalenwirtschaftlichenVorgabenangepasst. 202 DiesengesamteuropäischenWeg<br />

geheSkandinavienjedochamvorsichtigsten.DortwurdenlediglichflexiblereArbeitszeiten<br />

eingeführtundfürdieAbsicherung<strong>von</strong>ZusatzleistungenprivateZusatzversicherungenverlangt.<br />

203<br />

Deutschland–vertretenu.a.durchpolitischeFührerwieGerhardSchröder–sieht<br />

sichhingegenalseinVorreiteran.DerSoziologeKlundtberuftsichinseinenAusführungen<br />

auf den Sozialethiker Wilfried Hengsbach. Hengsbach sieht einen Grund für die EinführungderAgenda2010durchGerhardSchröderineinemCharakterzugdesKanzlersverankert,dersichspätergernals„GenossederBosse“feiernließ.Schrödertretedeshalbsostark<br />

nachunten,weilerdenwirtschaftlichenElitengefallenwolle.DerSPD-Kanzlerverschärfe<br />

sogarnochdenSozialabbaudervorhergehendenRegierungunterHelmutKohl.Wasinder<br />

Agenda2010stehe,soäußertsichderPolitikwissenschaftlerMichaelKlundt,hätteman<br />

schonbeimEx-US-PräsidentenRonaldReaganundderbritischenPremierministerinMargaretThatchernachlesenkönnen.<br />

204 <br />

DiePolitökonominAnneAllexsiehtinderAgenda2010eineneoliberaleStrategie,<br />

diedurchvierProzessegekennzeichnetsei.SosollealserstesdasgesamteArbeits-undSo-<br />

197 Klundt 51<br />

198 http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/broschuere_<br />

sozialabbau.pdf, S.11 f, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

199 vgl. http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/<br />

broschuere_sozialabbau.pdf, S.11 f, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

200 vgl. Gillen 27<br />

201 http://www.eu2007.de/de/Policy_Areas/European_Council/Lissabon.html, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

202 vgl. Klein 175<br />

203 vgl. Klein 181<br />

204 vgl. Klundt 49<br />

30


2.2 DieAgenda2010<br />

zialrechtdereguliertwerden.AlszweiteswürdendiesozialenSicherungssystememitden<br />

bisher garantierten individuellen Rechten – beispielsweise bei Arbeitslosigkeit, d.V. – abgeschafft.Bisherige,fürdieExistenzerforderlicheLeistungenundEinkommen(beispielsweisegesetzlicheRenten,d.V.),werdennichtmehrimdemMaßegewährt.Darüberhinaus<br />

würdenalsDrittesdieöffentlicheInfrastruktur–z.B.Gas,Wasser,Energie,Krankenhäuser,<br />

Bildung,Kitausw.–privatisiertunddieGebühren–fürdieseDienstleistungfürdieBevölkerung–verteuert.UndalsViertesziehesichdersogenannteschlankeStaataussozialer,<br />

wirtschaftlicher,kulturellerundökologischerVerantwortungzurück. 205<br />

DieAutorinsetztsichmitderdurchdieAgenda2010eingeführten„Sachzwangideologie“auseinander.SchonimJahr2004schriebsieüberdieseZusammenhänge–siesind<br />

abernochbisheutegültig.SoseidiedamaligeBundesregierungunterSchröderundFischer<br />

inderSozialpolitikaufdieneoliberaleGrundliniezurBewältigungderökonomischenGlobalisierungsprozesseeingeschwenkt,soAllex.Dasbedeutete,dassdieSteuerngesenkt,die<br />

Staatsausgaben–vorallemaberdieSozialausgaben–gemindert,dieöffentlichenGüterund<br />

Risikenprivatisiert–alsokommerzialisiert–undderArbeitmarktdereguliertwurde.DarausentstehedanndiesogenannteangebotsorientierteArbeits-,Lohn-undSozialpolitik.AufderanderenSeitewürdendiestaatlicheVor-undFürsorgeverringertunddafürEigenverantwortungundEigenleistungdrastischerhöht.<br />

DieAutorinsetztsichauchmitGerhardSchröderauseinander,derseinePolitik–so<br />

wie die Wirtschaft auch – damit begründete, dass der internationale Wettbewerb härter<br />

wird.Schröderargumentiertedamals–sowieauchvieleÖkonomenundPolitikerheute<br />

immernoch,d.V.–,dasseingescheitertesMithaltenmitdenEntwicklungenzuwenigoder<br />

gar keinem Wachstum und damit zu hoher Arbeitslosigkeit führen würde. Dann würde<br />

auchderStaatwenigerSteuerneinnehmen,unddassozialeSystemdroheausdenFugenzu<br />

geraten,weilesnichtmehrfinanzierbarsei.DarüberhinauswürdedieArbeitdurchdieviel<br />

zuhohenLohnnebenkosten–mitdenendiesozialenSystememitfinanziertwerden–vielzu<br />

teuersein.DeshalbmüssesichdieSozialpolitiknachdemMöglichen,demDurchführbaren<br />

unddemTragbarenrichten.<br />

AllexbezeichnetdieseSachzwangargumentealspureDemagogie,um–wieschon<br />

<strong>von</strong> der Bertelsmann-Stiftung gefordert – den Weg in eine Arbeitswelt ohne Sozialversicherungzuebnen.Daskönnte,soAllex,auchdieBegründungdafürsein,dassdieUnternehmen<strong>von</strong>riesigenSteuerentlastungenprofitierenkönnen.DiePolitikunterstützedasZiel<br />

deutscherKonzerne,mitallenMittelnandieökonomischeWeltspitzezugelangen. 206 <br />

DassdieserWegimInteressederWirtschaftliegt,zeigtbeispielsweisedieGratulationdesPräsidentendesDeutschenIndustrie-undHandelskammertages(DIHK)Ludwig<br />

GeorgBraunzumfünftenJahrestagderAgenda2010.ErschriebineinerLaudatio:„Liebe<br />

Agenda2010,zuDeinem5.GeburtstagwünscheichDir,(…)dasssichdieErfolgeamArbeitsmarktindennächstenJahrenbis2010fortsetzenundwirbeiderArbeitslosigkeitendlichwiederaufdeutlichunterdreiMillionenimJahresdurchschnittkommen.“<br />

207  208 Weiter<br />

schriebBraun„dassDusobleibst,wieDubist,undDeineGegnermitihrenoffenenund<br />

versteckten Attacken auf die Reformfreude künftig kläglich scheitern. Die Verlängerung<br />

205 vgl. Allex 10<br />

206 vgl. Allex 29 ff<br />

207 http://www.dihk.de/inhalt/informationen/news/meldungen/<br />

meldung010481.main.html, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

208 Erstens wurde das <strong>von</strong> Ludwig Georg Braun erklärte Ziel bis dato noch immer nicht erreicht.<br />

Und zweitens hat sich zwar durch Hartz IV die Arbeitslosigkeit verringert, allerdings um den<br />

Preis, dass hunderttausende Betroffene schlechter bezahlte Jobs annehmen mussten.<br />

31


2.2 DieAgenda2010<br />

desArbeitslosengeldesIbleibthoffentlichdieeinzigeWunde,dieDuerleidenmusst.“ 209  210 <br />

Und,sohofftBraun,„dasszukunftsgewandtePolitikervorErreichenderAltergrenzeim<br />

Jahr2010DichzurAgenda2015weiterentwickeln,diesich–versehenmitneuerKraft–<br />

weitereReformenzurVerbesserungdesWirtschaftsstandortesDeutschlandaufdieFahne<br />

schreibt.“ 211<br />

BraunwünschtesichalsoschoneinJahrvordererneutenWiederwahl<strong>von</strong>Angela<br />

Merkel als Bundeskanzlerin der schwarz-gelben Koalition aus CDU/CSU und FDP, dass<br />

durchweitereReformendieIntentionenderWirtschafterfülltwerden.Wasernichtvoraussehenkonnte,war,dassdieFinanz-undWirtschaftskrisederschwarz-gelbenBundesregierungnurkleineSchrittezurVerschärfungderReformengestattenwürde.<br />

DieAgendaansichwirddennochfortgesetzt,denndieArbeitsollinsgesamtbilliger<br />

werden,umimweltweitenWettbewerbmithaltenzukönnen.DieAusrichtungderGesellschaftimInteressederWirtschaftwirdweitervorangetrieben,aufgeschobenistnichtaufgehoben.DiealteundneueBundeskanzlerinkündigtedasinihrerRegierungserklärung2009an:„WeltweitwerdendieKartenneugemischt.DagibtesebenkeineangestammtenMarktanteileundPositionen.WerwirdsichdenZugriffaufRohstoffeundEnergiequellensichern?<br />

Wer lockt Investitionen aus anderen Teilen der Welt an? Welches Land wird zum Anziehungspunkt<br />

für die klügsten und kreativsten Köpfe? (…) Ich will, dass wir Deutschland<br />

zuneuerStärkeführen.“ 212 Unddeshalb„mussSchlussseinmitdenreflexartigenReaktionen,etwawennüberdieEntkopplung<strong>von</strong>ArbeitskostenundKostendersozialenSicherheitgesprochenwird.EsmussSchlussseinmitdenreflexartigenReaktionen,etwawenn<br />

vomAufbaueinerKapitaldeckungbeiderPflegedieRedeist.“ 213 Esstehtjetztschonfest,<br />

dassdieneueBundesregierungamKernderReformenderAgenda2010unddenHartz-<br />

Gesetzennichtsändernwird.EswerdenneueLastenfürgroßeTeilederBevölkerunghinzukommen.DieGesellschaftwirdnachdenForderungenderWirtschaftweiterverändert.DieHartz-Gesetze–insbesondereHartz-IV–sollenimnächstenKapitelnähererläutertwerden.<br />

209 http://www.dihk.de/inhalt/informationen/news/meldungen/<br />

meldung010481.main.html, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

210 Braun moniert scheinbar die Regelung, dass ältere Arbeitslose<br />

ab 55 Jahre das ALG I länger als 12 Monate erhalten.<br />

211 http://www.dihk.de/inhalt/informationen/news/meldungen/<br />

meldung010481.main.html, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

212 http://www.angela-merkel.de/doc/091110-regierungserklaerungmerkel-stbericht.pdf,<br />

letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

213 http://www.angela-merkel.de/doc/091110-regierungserklaerungmerkel-stbericht.pdf,<br />

letzter Zugriff: 02.01.2010<br />

32


2.7<br />

Zusammenfassung<br />

2.7 Zusammenfassung<br />

DieAgenda2010mitihremKernstückHartz-Gesetzeläuftdaraufhinaus,dieGesellschaft<strong>von</strong>obenumzubauenundnachdenInteressenderWirtschaftauszurichten.Ich<br />

teiledieMeinungverschiedenerAutoren,dassderEinzelneGefahrgerät,zumsogenannten<br />

Homooeconomicus „erzogen“zuwerden. Die Globalisierung ist daher mehrein Scheinargument.InWirklichkeitsetzendieUnternehmennurdasGrundgesetzdesKapitalismus<br />

durch:ausGeldmehrGeldzumachen,Gewinnezumaximieren.Sobegrüßendieeinendie<br />

Agenda2010unddieHartz-GesetzealseinenDurchbruchinderReformblockade.Kritiker<br />

sehendarindenAnfangvomEndedesSozialstaates.<br />

2005 waren rund 5,4 Millionen Menschen arbeitslos. Von ihnen sollte die Hälfte<br />

durchHartzIVwiederinJobsgebrachtwerden.DasZielwurdeweitverfehlt.Esentstanden<br />

jedochHunderttausendeBilliglohn-Jobs.<br />

Da2009selbstnachErkenntnissenderhauseigenenForscherderBundesagenturfür<br />

ArbeitnurrundeinehalbeMillionHartz-IV-EmpfängerdenAusstiegschafften,darfman<br />

sichderMeinunganschließen,dassdieReform–zumindestbisdato–uneffektivbzw.teilweisegescheitertist.WeiterhinsindMillionenMenschenbzw.ganzeFamilienaufdiestaatlicheUnterstützungdurchALGIIangewiesen.DieLinke,derDGBundderParitätische<br />

WohlfahrtsverbandsehenHartzIValsgescheitertan.StattdasgesellschaftlicheProblem<br />

ArbeitslosigkeitundseinenegativenFolgenzulösen,hatessichverfestigt.Scheinbaristes<br />

objektivnichtmöglich,dasProblemaufdieseWeisezulösen.AberdieWirtschafthatauf<br />

jedenFallprofitiert.DiePolarisierung<strong>von</strong>ReichtumaufdereinenundArmutaufderanderenSeitenimmtzu.DieSpaltungderGesellschaftebenso.<br />

Trotzderoffensichtlichen Probleme bzw.der –imSinneder Senkungder Arbeitslosigkeit–nichtfunktionierendenMaßnahmen,istda<strong>von</strong>auszugehen,dassnurTeile<strong>von</strong><br />

Hartz IV verbessert werden, an der Grundkonstruktion aber nichts geändert wird. Die<br />

großeBewährungsprobefürdieReformstehtallerdingsnochbevor.DieArbeitslosenzahlen<br />

werdensichindenJahren2010und2011durchdiedurchschlagendeWirtschafts-undFinanzkrisedrastischerhöhen.VielederALG-I-EmpfängerwerdenindenBezug<strong>von</strong>ALGII<br />

abrutschen.UnddannkönntesichdieThesealszutreffenderweisen,dassdieArbeitslosen<br />

garnichtwiederinArbeitgebracht,sondernihrenLebensunterhaltaufniedrigemNiveau<br />

selbstbestreitensollen.Unabhängigda<strong>von</strong>wirdesimmerwenigerArbeit–gemeintistdie<br />

Lohnarbeit–geben.DieseTendenzwirdsichindennächstenJahrenweiterverstärken.<br />

50


3.0 Agenda2010undHartzIV:FolgenundAuswirkungen<br />

3.0<br />

Agenda 2010 und Hartz IV: Folgen und Auswirkungen<br />

3.1<br />

Vielschichtigkeit der Folgen und Auswirkungen<br />

„Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das<br />

Brot entziehen, einen <strong>von</strong> einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung<br />

stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg<br />

führen usw. Nur weniges da<strong>von</strong> ist in unserem Staat verboten.“ 319<br />

Der<strong>von</strong>derPolitikundderWirtschaftbetriebeneAbbaudesSozialstaatesistdie<br />

gravierendsteAuswirkungderAgenda2010und<strong>von</strong>HartzIV.IndiesertheoretischenArbeiterörtereichdiesenAspektundalskonkreteAuswirkungsolldieZunahmederKinderarmutbehandeltwerden.DarüberhinausgibtesauchgenerelleKritikandenEntwicklungen.DerSozialverbandDeutschlandunddieVolkssolidaritätlegtenunterdemNamen„Sozialabbaustoppen.<br />

Sozialstaat stärken.“ ein Grundsatzpapier vor, das Vorschläge zum Erhalt und zur StärkungdesSozialstaatesenthält.<br />

320 DerSozialstaatistdemnachkeinBallast,sondernunverzichtbarfürdenwirtschaftlichenErfolgdesLandesundzugleichäußerstwichtigfürden<br />

Zusammenhalt der Gesellschaft. Angeregt wird die Schaffung eines neuen gesellschaftlichenGrundkonsenses,derderStärkungdesSozialstaatesdienensoll.DerSozialstaatseibezahlbarundzukunftsfähig,wennalleBürgerihrenBeitragfürdieSozialversicherungssystemeleisten.(SieheauchKapitel4,indemesumdieKostenfürdieGrundversorgungbzw.<br />

Grundsicherunggeht.)DerSoVDunddieVolkssolidaritätfordern,dasssichUnternehmen<br />

sowieVerdiener<strong>von</strong>hohenEinkommenundVermögenwiederstärkeranderFinanzierung<br />

beteiligensollten.<br />

Grundlage der Vorschläge in „Sozialabbau stoppen. Sozialstaat stärken“ ist eine<br />

AnalysederSozialwissenschaftlerChristophButterweggeundCarolinReißlandt.DieAutorensehendenUm-undAbbaudesSozialstaateszueinemWettbewerbstaat,indemdasSozialezunehmenddenwirtschaftlichenInteressenuntergeordnetwird.ImbisherigenSozialversicherungsstaat–vorderAgenda2010undHartz-IV(d.V.)–führtendieBeitragszahlungen<br />

automatisch zu gesetzlich verankerten Leistungsansprüchen. Der jetzige, und<br />

vielmehrnochderzukünftige,FürsorgestaatbeschränkesichjedochnurnochaufeineBasisversorgung<br />

und die bloße Existenzsicherung. „Die zunehmende Privatisierung sozialer<br />

RisikenisteinIrrweg“,stelltSoVD-PräsidentAdolfBauerfest. 321 DieseneuegesellschaftspolitischeAusrichtunghatfürbeideAutoreneinehistorischeBedeutung.„Esgehtlängst<br />

nichtmehrumeinpaarEurooderCentmehrfürdieseoderjeneBetroffenengruppe,seien<br />

esArbeitslose,MenschenmitBehinderungenoderRentner,sondernumdieSchlüsselfrage,<br />

inwasfüreinerGesellschaftwirkünftiglebenwollen:SolleseinFürsorge-,Almosen-und<br />

SuppenküchenstaatmitnochmehrArmutundsozialenProblemenodereinesolidarische<br />

Bürgergesellschaft sein, in der das bald 60 Jahre gültige Sozialstaatsgebot des Grundgesetzesweiterhinbeherzigtwird.“<br />

322<br />

319 Bertolt Brecht, http://de.wikipedia.org/wiki/Strukturelle_Gewalt, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />

320 vgl. http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/<br />

broschuere_sozialabbau.pdf, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />

321 http://www.sozialabbau-stoppen.de/1289.0.html letzter Zugriff: 16.12.2009<br />

322 http://www.sozialabbau-stoppen.de/1289.0.html, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />

51


3.2<br />

Rechtsverlust und Zwang zur Arbeit<br />

3.2 RechtsverlustundZwangzurArbeit<br />

„Mit dem SGB-II-Optimierungsgesetz wird Hartz IV keinen Deut besser. Die<br />

Bundesregierung setzt auf verschärfte Kontrollen und Kürzungen, ohne die<br />

Arbeitsförderung zu verbessern. Damit wird das Prinzip Fördern und Fordern immer mehr<br />

zu einer Blaupause für Sozialabbau.“ 323<br />

Derneue„AktivierendeStaat“hatfürdieArbeitslosen–dieeigentlichErwerbslose<br />

genanntwerdenmüssten–weitreichendeKonsequenzen.DieErwerbslosenwerdeninihren<br />

Rechtenzunehmendbeschnittenund<strong>von</strong>ihnenwirdvorauseilenderGehorsamgefordert.<br />

Denn noch bevor der Staat den Bedürftigen die soziale Existenzgrundlage gewährt, verlangterZugeständnisseundEinverständniserklärungen.<br />

DerSoziologeFrankRentschler<br />

stelltinseinemEssay„VorauseilenderGehorsamgegenüberdemStaat“fest,dassselbstvorauseilenderGehorsamunddieUnterwürfigkeitkeineGarantiefürdieGewährleistungist.<br />

ObundwievielderBedürftigeerhält,liegtimErmessensspielraumdes„Fallmanagers“,der<br />

dem‚Kunden‘–wiederBedürftigeimoffiziellenSprachgebrauchderBehördegenanntwird<br />

–zugeteiltwird.DerStaatschafftsichdamiteineArmee<strong>von</strong>Untertanen,überdieerbedingungslosverfügenkann.<br />

324 DieAndrohung<strong>von</strong>SanktionenistdasneueMittel,umden<br />

BedürftigendieDienstleistungenderneugeschaffenenArbeitsgemeinschaften(ARGE)aus<br />

BundesagenturfürArbeitundKommuneaufzuzwingen. 325  326<br />

323 Ursula Engelen-Kefer, ehem. stellvertretende DGB-Vorsitzende, 2006, http://www.dgb.de/<br />

presse/pressemeldungen/pmdb/pressemeldung_single?pmid=2770, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />

324 vgl. Rentschler 94<br />

325 vgl. Rentschler 112<br />

326 Innerhalb des Aufgabenbereichs ist die Bundesagentur für die Bundesmittel, wie Gelder zur Vermittlung<br />

in Arbeit und Regelleistung, zuständig. Die Kommune ist für die Kosten der Unterkunft und Heizung nach<br />

§ 22 SGB II zuständig. In der Vergangenheit haben sich aus diesem Zusammenschluss zwei Arten der<br />

Aufgabenerledigung ergeben. Arbeiten die Kommunen und die Agenturen für Arbeit kooperativ miteinander<br />

zusammen – was überwiegend passiert -, wurden dafür meist so genannte Arbeitsgemeinschaften (ARGEn)<br />

eingerichtet. Diese ARGEn richteten dann wiederum Jobcenter ein, um die übertragenen Aufgaben<br />

erfüllen zu können. Konnten sich die Agenturen für Arbeit und die Kommunen nicht auf die Bildung<br />

einer Gemeinschaft einigen, so arbeiten sie additiv und erbringen ihre Leistungen nebeneinander in einer<br />

„Getrennten Trägerschaft“. Kommune und Agentur für Arbeit sind organisatorisch <strong>von</strong>einander getrennt.<br />

Im Dezember 2007 entschied das Bundesverfassungsgericht(BVG)nach einer Verfassungsbeschwerde<br />

<strong>von</strong> elf Landkreisen, dass innerhalb einer Drei-Jahres-Frist die verfassungswidrige<br />

Bildung der Arbeitsgemeinschaften aus Agentur für Arbeit und Kommune neu gegliedert<br />

werden muss. Diese Frist läuft Ende 2010 ab. Nicht betroffen <strong>von</strong> dieser Aufforderung<br />

sind die „Getrennten Trägerschaften“ aus Kommune und Agenturen für Arbeit.<br />

Daneben gibt es 69 so genannte Optionskommunen – auch als Optionsmodell bezeichnet –<br />

als Versuch, die Arbeitslosen direkt vor Ort zu betreuen, das heißt, dort wieder in Arbeit zu<br />

bringen. Die Optionskommunen sind ein Feldversuch für die Betreuung <strong>von</strong> Arbeitslosen in<br />

Deutschland. Zur Zeit sind deutschlandweit 69 Kommunen – also ausschließlich Städte oder<br />

Landkreise – für die Bezieher des ALG II statt der Bundesagentur für Arbeit und der Kommunen<br />

zuständig. (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Optionsmodell, letzter Zugriff: 03.01.2010)<br />

52


3.3 ALGII–rechtlicher,sozialerundmateriellerVerlust<br />

3.3<br />

ALG II – rechtlicher, sozialer und materieller Verlust<br />

„Wenn uns Ungereimtheiten auffallen, gleichen wir die Daten mit anderen Ämtern ab.<br />

Im Extremfall behalten wir uns auch Hausbesuche vor. Wir haben den Ehrgeiz, den<br />

Missbrauch <strong>von</strong> Sozialleistungen so gering wie möglich zu halten – aber eine gewisse Quote<br />

wird es immer geben.“ 327<br />

DieALG-II-EmpfängerwerdensostarkwieniezuvorinihremsozialenUmfeldkontrolliert–füralleALG-II-EmpfängerbestehteinZwangzurArbeit.ImoffiziellenSprachgebrauchwirdderZwangzurArbeitmitderFormel„FördernundFordern“umschriebenund<br />

diePflichtarbeitwird„HilfezurArbeit“.<br />

SelbsthoheBundesrichtersehenim„ViertenGesetzfürmoderneDienstleistungen<br />

amArbeitsmarkt“(HartzIV)einenvollständigenBruch<strong>von</strong>Rechtsauffassungen,diedazu<br />

führen, dass sich der liberale Rechtsstaat grundsätzlich verändert. Der Soziologe Frank<br />

RentschlerberuftsichaufProfessorUweBerlit,RichteramBundesverwaltungsgericht.Der<br />

hattefestgestellt,dassdieformuliertenMaßnahmenweitüberdasSozialrechthinausgehen.<br />

ImKernderReformgesetzeentledigtsichderStaatgegenüberdenALG-II-Empfängern<strong>von</strong><br />

derVerpflichtung,ihnenihrepersönlichenRechteverbindlichzugewähren.SelbstdieMöglichkeit<br />

die Rechte gegenüber dem Staat einzuklagen, wird den ALG-II-Empfängern genommen.<br />

Denn Festlegungen der Fallmanager seien Ermessensentscheidungen und somit<br />

nichteinklagbar. 328 <br />

Alle„Kunden“SGBIIwerdendurchdas„Aktivieren“unddas„FördernundFordern“rechtlichdegradiert.EineStudiederUniversitätBielefelduntersuchte2008dieEinstellung<strong>von</strong>107FallmanagerngegenüberderenKunden.<br />

329 Ausführlichbeschäftigtesich<br />

derSoziologeOlafBehrendinseinemEssay„AktivierenalsFormsozialerKontrolle“mit<br />

derEinstellungderFallmanager.DasFazit:DurchdasSGBIIwirdderUmgangderARGEn<br />

mit ihren Kunden zu einer Form der sozialen Kontrolle. Wurden bisher schon Verstöße<br />

gegengesetzlicheRegelungenbestraft,sokönnenmitdenReformenunddensichdarausergebendenMöglichkeitenjetztauchdieinnerenHaltungenundMeinungenbestraftwerden.<br />

NichtdieHilfe,wiederArbeitzufinden,sonderndieBildungderrichtigen„Gesinnung“für<br />

dieArbeitstehtimVordergrund. 330<br />

DieAusrichtungaufdieBildungderrichtigenGesinnungzeigtsichvoralleminRegionenmithoherArbeitslosigkeit.IndiesenRegionenistdiezentraleAufgabederArbeitsvermittlunglängstindenHintergrundgetreten.Dort,wokeineArbeitsplätzevermitteltwerden<br />

können,müssendieErwerbslosentrotzdemihrenWillenzurArbeitzeigen–ihnenwirddie<br />

Kooperationabverlangt,unbedingtwiederinArbeitkommenzuwollen.Die„Aktivierung“<br />

–dieSchaffungderBereitschaftdesEinzelnenzujeglicherArbeit–istderKern<strong>von</strong>„FördernundFordern“.DieobjektiveSituationaufdemArbeitsmarktspieltdabeilängstkeine<br />

Rolle mehr. Die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse <strong>von</strong> Arbeit und Beschäftigung<br />

werdenzusubjektiven–vomWillenundderBereitschaftdesEinzelnenabhängige–Leistungen.DieSchuld,keineArbeitzubekommen,hatalleinderBetroffene.Alleinseinfeh-<br />

327 Heinrich Alt, Mitglied des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit, 2004, http://www.<br />

labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/hilfe/zitate.html, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />

328 vgl. Rentschler 94 f<br />

329 vgl. http://www.bpb.de/publikationen/BZTN0Z,0,0Arbeitslosigkeit%3A_<br />

Psychosoziale_Folgen.html, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />

330 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,4,0,Akti<br />

vieren_als_Form_sozialer_Kontrolle.html#art4<br />

53


3.3 ALGII–rechtlicher,sozialerundmateriellerVerlust<br />

lenderWilleundseinefehlendeEinsichtverhinderneinneuesArbeitsverhältnis,wirdihm<br />

eingeredet. Dass die Arbeitsvermittler diese Haltung in der überwiegenden Mehrzahl gegenüberihrenKundenhaben,undnureineMinderheitderVermittlerdieseSubjektivierungablehntundrichtigerweisederMeinungist,dassnichtdereigeneWille,sonderndieobjektiveLageamArbeitsmarktentscheidendist,bestätigtedieStudiederUniversitätBielefeld.<br />

331 <br />

EinesüddeutscheArbeitsvermittlerin,diesichdemPrinzipderSubjektivierungentzieht,<br />

wird zitiert: „Langzeitarbeitslose härteres Regiment? Greift man ‚nem nackigen<br />

MannindenSack.(…)Aberessindsehrviele,dasliegtganzeinfachamMarkt,ja?Jetzt,<br />

wassollichdenndafüreinhärteresRegimentführen,wenndieLeut‘nichtsfinden?Was<br />

sollichdenndamachen,sollichsieerschießen?“ 332<br />

DassüberwiegendaberdieMeinungdersubjektivenSchuldvorherrscheunddiese<br />

imBehördenalltagauchgefördertwird,bewieseineUntersuchungdesBerlinerArbeitslosenzentrums(BALZ),diedieMeinungenundErfahrungenmitBerlinerJobcenternuntersuchte.20Prozenterklärten,dassbeiihremletztenKontaktzumArbeitsvermittlerkeinefreundlicheGesprächsatmosphäregeherrschthabe.KnappeinDrittelfühltsichmitdemeigenenAnliegennichternstgenommenunddieHälftezumindestteilweiseabgewimmelt.80Prozent(!)derbefragtenJobcenter-KundensehenihreWünscheinderEingliederungsvereinbarungnichtberücksichtigt–fürdieüberwiegendenVereinbarungenwurdendemnachstandardisierteTextezugrundegelegt,diedieBesonderheitendesEinzelfallsnichtberücksichtigen.<br />

333  Darüber hinaus wurden häufig Eingliederungsvereinbarungen ohne ausreichendeBeratungundunterDruckabgeschlossen.<br />

334<br />

FürdiePolitikwissenschaftlerinGabrieleGillenwirktbeizweistelligenArbeitslosenquotenundeinemVerhältnis<strong>von</strong>30:1<strong>von</strong>ArbeitslosenzuoffenenStelleninRegionenim<br />

OstenDeutschlandsdieHartz-IV-FormelvomFordernundFördern„nochverlogenerals<br />

imWesten“. 335<br />

SchließlichkannnurdaArbeitgefundenwerden,woArbeitauchvorhandenist.In<br />

derjetzigenPraxishängtdieEntscheidungaufBewilligungdesALGIIbzw.derenHöhe<br />

nochzusehrvomErmessendesFallmanagersab,wodurchdieArbeitslosenimwesentlichen<br />

nichtgefördert,sonderngefordertwerden.InderStudiederUniversitätBielefeldwirdeine<br />

Vermittlerinzitiert:„UndjederKundesollaufseinenFüßenstehenundwennernurzuhundertEuroaufseineneigenenFüßenstehtundwirdenRestbezahlenmüssen.Aberertutwas<br />

underkannbeweisen,dassesihmernstist.“ 336<br />

DiesesZitatzeigtdenideologischenKernderneuenGesetzgebung.Arbeitumjeden<br />

Preis.DerBeweisfürdenWillenzurArbeitkannnurdurchdieAnnahmejeglicherArbeit<br />

erbracht werden. „Diese Fokussierung auf die Haltung entspricht nicht mehr der althergebrachtenDurchsetzungeinesGesetzes,gemäßderVerstößesanktioniertwurden.Diese<br />

NeuerungmachtimKerndieAktivierungderBürgergemäßderneuenSozialgesetzgebung<br />

aus“,soderSoziologeBehrend. 337<br />

331 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,4,0,Aktivieren_als_<br />

Form_sozialer_Kontrolle.html#art4, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />

332 http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,6,0,Aktivieren_als_<br />

Form_sozialer_Kontrolle.html#art6, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />

333 Die Eingliederungsvereinbarung wird zwischen der Behörde und dem Erwerbsfähigen<br />

geschlossen. In ihr wird schriftlich festgehalten, welche Leistungen der Betroffene zur<br />

Eingliederung in Arbeit <strong>von</strong> der Behörde erhält, und welche Bemühungen er <strong>von</strong> seiner Seite aus<br />

vorzunehmen hat. Ziel ist, möglichst schnell den Bezug der staatlichen Hilfe zu beenden. Die<br />

Eingliederungsvereinbarung bildet damit die Philosophie vom „Fördern und Fordern“ ab.<br />

334 vgl. http://www.beratung-kann-helfen.de/die-aktion/umfrage-ergebnisse.pdf, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />

335 Gillen 231<br />

336 http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,4,0,Aktivieren_als_<br />

Form_sozialer_Kontrolle.html#art4, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />

337 http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,4,0,Aktivieren_als_<br />

Form_sozialer_Kontrolle.html#art4, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />

54


3.3 ALGII–rechtlicher,sozialerundmateriellerVerlust<br />

DieAgenturenfürArbeitmutiertenmitdemSGBII(HartzIV)zueinerKontroll-<br />

und Bestrafungsbehörde des Handelns und Denkens, der Einstellungen und der Gesinnungen,resümiertderPublizistRudolfStumbergerdieStudiederUniversitätBielefeld.<br />

338<br />

In einer vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) – einer ForschungseinrichtungderBundesagenturfürArbeit–anlässlichdesfünfjährigenBestehens<br />

<strong>von</strong>HartzIVvorgelegtenStudie,wirdausderWirkungsforschungzumSGBII„diebisher<br />

grundsätzlichpositiveEinschätzungdereinschneidendenNeuordnungderGrundsicherung<br />

fürErwerbsfähige“bestätigt. 339 DieumfassendeAktivierung–alsKernstückdesSGBII–<br />

dieaufeineStärkungderEigenverantwortungundAutonomiederBetroffenenzielt,konnte<br />

zwar„nichtvollzumTragen“kommen,abermitihrkonnteschondiestrukturelleArbeitslosigkeitverringertwerden.FürdasIABstehtfest,dassdasSGBIIeinerVerfestigungderLangzeitarbeitslosigkeitinKrisenzeitenentgegenwirkenkannundsomitwirdsichderkünftigeWirtschaftsaufschwungbeschäftigungsfreundlichergestaltenals„esinderAltenWelt<br />

derFallgewesenwäre“. 340 UnddeshalbsollteauchinderKrisenzeitanderaktivierenden<br />

Arbeitsmarktpolitik festgehalten werden, damit „bereits erreichte Erfolge nicht verspielt<br />

werden.“ 341 DerArbeitsmarktdürftealso<strong>von</strong>denReformenmittelfristigprofitieren. 342 <br />

DermaterielleKernderHartz-Reformenist:dievorherstatuserhaltendeArbeitslosenhilfewirddurchdasALGIIersetzt,dasnundenLebensunterhaltsichernsoll.ZumVerständnis:seit1969standdemBetroffenenzuerstdasArbeitslosengeld–alsLeistungaus<br />

einereingezahltenVersicherung–unddanachalsAnschlussleistung,dieArbeitslosenhilfe–<br />

eineMischungausVersicherungundstaatlicherFürsorge–oderdieoriginäreArbeitslosenhilfe–gesetzlichzu.<br />

343<br />

ErstnachdemAblaufderZahlungderArbeitslosenhilfefolgtedieZahlungderSozialhilfealsFürsorgeleistung,diesichnachderBedürftigkeiterrechnete.<br />

SeitdemJahr2005gibtesnochdasArbeitslosengeldI(ALGI).Unddasauchnur<br />

nochfüreinJahrbeziehungsweise18Monatefürüber55jährige.NachAblaufdieserFristen<br />

erhältderBedürftigedasArbeitslosengeldII(ALGII).ImALGIIwurdendieArbeitslosenhilfeunddieSozialhilfe„vereint“.<br />

344 <br />

Der Soziologe Frank Rentschler stuft das ALG II als Bewährungshilfe ein. 345  Die<br />

BezeichnungalsBewährungshilfeistsicherumstritten,abernichtganz<strong>von</strong>derHandzu<br />

weisen.DennderALG-II-Bezieheristverpflichtet,jedealszumutbardefinierteArbeitanzunehmen,damiterdieRegelleistungerhält.ErstwennderFallmanagerda<strong>von</strong>überzeugtist,<br />

dassderAntragstellereingliederungswilligbzw.eingliederungsfähigist,wirdeinVertrag<br />

für„LeistungenzurSicherungdesLebensunterhaltsnachdemZweitenBuchSozialgesetzbuch(SGBII)–ArbeitslosengeldII/Sozialgeld“abgeschlossen.<br />

338 vgl. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30050/1.html, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />

339 vgl. http://doku.iab.de/kurzber/2009/kb2909.pdf, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />

340 http://www.iab.de/UserFiles/Media/Audio/ad/5jahrehartz4/<br />

iab_pk5j_02_low.mp3, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />

341 http://doku.iab.de/kurzber/2009/kb2909.pdf, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />

342 In einem Interview zu der Veröffentlichung der Studie, betonte der IAB-Vizedirektor Ulrich Walwei<br />

den geringen Anstieg der SGB-II-Empfänger um nur 2,8 Prozent zum Vorjahr. Die Zahl der ALG-<br />

I-Empfänger stieg aber in Folge der Wirtschaftskrise um 18,5 Prozent. Für Walwei zeigt sich daran,<br />

wie robust das Hartz-IV-System ist und dass die Wirtschaftskrise vor allem die ALG-I-Empfänger<br />

getroffen hat. Er sieht aber auch schon jetzt eine Verschlechterung der Lage der Hartz-IV-Empfänger;<br />

„Die Wirtschaftskrise und ihre Folgen werden somit doch nicht spurlos an der Grundsicherung<br />

vorübergehen.“ (http://www.iab.de/UserFiles/Media/Audio/ad/5jahrehartz4/iab_pk5j_02_low.<br />

mp3, letzter Zugriff: 16.12.2009) Er rechnet damit, dass es im Jahr 2010 mehr Übergänge aus der<br />

Arbeitslosenversicherung zu Hartz IV und weniger Abgänge <strong>von</strong> Hartz IV in die Beschäftigung geben wird.<br />

343 Im Jahr 2000 wurde die originäre Arbeitslosenhilfe abgeschafft. Das war eine<br />

Arbeitslosenhilfe ohne vorherigen Bezug <strong>von</strong> Arbeitslosengeld, die beispielsweise<br />

ein Facharbeiter erhielt, der nach der Lehre keinen Job fand.<br />

344 vgl. Rein 119<br />

345 vgl. Rentschler 97<br />

55


3.4<br />

Der Ein-Euro-Job<br />

3.4 DerEin-Euro-Job<br />

„Hier wird, und ich sage das wirklich so knallhart, der Reichsarbeitsdienst im neuen<br />

Gewand eingeführt…“ 346<br />

Erwerbslosemüssenseitdem1.1.2005jedealszumutbardefinierteArbeitannehmen,<br />

umALGIIohneEinschränkungzuerhalten.EinederamhäufigstenvomFallmanagereingesetzteMöglichkeitistdieVermittlungindiesogenanntenArbeitsgelegenheiten,besser<br />

bekannt auch als Ein-Euro-Jobs. Sie sind ein zentrales Element der Arbeitsmarktpolitik.<br />

DabeidarfderBetroffene0,70EurobismaximalzweiEuroproStundedazuverdienen.<br />

DerErwerbslosemuss–oberwillodernicht–seinenWillenzurArbeitdurchdie<br />

AnnahmeeinessolchenJobsunterBeweisstellen.Ein-Euro-JobssindüberwiegendgemeinnützigeTätigkeitenetwainderLandschaft-undDenkmalpflege,imUmweltschutz,inder<br />

Altenpflege oder in der Jugendarbeit. Die vorher durch den Bildungs- und Berufsweg angelernten<br />

Kompetenzen und Fähigkeiten werden bei der Zuteilung der Jobs nicht mit berücksichtigt.<br />

Selbst Akademiker müssenParks, Bürgersteige und Schwimmbäder säubern<br />

oderSeniorendieZeitungvorlesen.NochvielproblematischeristderUmstand,dassEin-<br />

Euro-JobskeineArbeitsverhältnisseimSinnedesArbeitsrechtssind–alleEin-Euro-Jobber<br />

arbeitenjuristischgesehennichtineinemBetrieb.DamitwirdwederderLohnimKrankheitsfall<br />

fortgezahlt, noch wird eine Unfallrente im Falle eines Unfalls ausgezahlt. Auch<br />

dieBestimmungendesKündigungsschutzgesetzesoderdesTarifvertragsgesetzessindnicht<br />

gültig.VonQualifizierungsmaßnahmenwerdendieBillig-JobberindenallermeistenFällen<br />

ausgeschlossen.Außer30TageUrlaubimJahrhabendieEin-Euro-Jobberkeineweiteren<br />

Arbeitsrechte.<br />

Allen Erwerbslosen, die einen Ein-Euro-Job ausüben – gewollt oder gezwungen –<br />

gehenvielewichtigeRechteverloren,dieBeschäftigte<strong>von</strong>sozialversicherungspflichtigenArbeitsplätzeneinklagenkönnen.<br />

347 Auchdasistpolitischgewollt:Ein-Euro-Jobbergeltenbei<br />

einerWochenarbeitszeit<strong>von</strong>15undmehrStundennichtalsarbeitslosundfallendamitaus<br />

derArbeitslosenstatistik. 348<br />

346 Frank Spieth, DGB-Chef Thüringen, 2004, http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/<br />

docpage.cfm?docpage_id=3465&language=german, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />

347 vgl. Gillen 56 f<br />

348 vgl. Gillen 57<br />

56


3.5<br />

Sanktionen verschärfen Zwang zur Arbeit<br />

3.5 SanktionenverschärfenZwangzurArbeit<br />

„Es gibt sicher auch Fälle, wo man die Härte sieht, aber wo man das Gesetz<br />

ausführen muß.“ 349<br />

DieErwerbslosen,diemitdeno.g.ZumutungenkeineProblemehabenundsozialen<br />

AbstiegundDeklassierunghinnehmen,werden<strong>von</strong>derBAnichtweiterbelangt. 350 <br />

Denjenigenaber,diesichunwilligzeigen,nahezujedeArbeitanzunehmen,drohen<br />

SanktionenundStrafen.WasjedemBetroffenenzugemutetwerdendarf,wurdemitderEinführungdesALGIInochverschärft.Unabhängig<strong>von</strong>derQualifizierungoderderNeigung,mussjederBetroffeneeinealslegaleingestufteArbeit–einenichtsittenwidrigeArbeit–annehmen.DabeidarfdenBetroffenenaucheineEntlohnungzugemutetwerden,diebiszu30<br />

ProzentunterdemTarifoderdersonstvorOrtüblichenBezahlungliegt.(SieheEin-Euro-<br />

Job)<br />

Wer sich den Zumutungen widersetzt oder sich nicht an die Vereinbarungen hält,<br />

demwirdderRegelsatzum10Prozentoder30ProzentgekürztoderimschlimmstenFall<br />

sogar ganz gestrichen. 351  Dabei genügt es schon, beispielsweise auf seiner Berufsidentität<br />

zubeharren.AlleRegelungen–alleSanktionenundStrafen–zieleneindeutigundnachweisbaraufdieDisziplinierungderArbeitslosen.„NichtnurdieZurückweisungeinerArbeitwirdsanktioniert,sondernalleinschondienichtHartzIV-kompatibleEinstellung,miteinemerlerntenBerufausreichendGeldzumeigenenUnterhaltzuverdienenundsoeinnormales<br />

Leben führen zu wollen. Die Arbeitsbehörden werden so praktisch zur Schule der<br />

ArmutundDemut–dieArmen-undArbeitshäuserdes19.Jahrhundertslassenideologisch<br />

grüßen.“ 352<br />

DerZwangzurArbeitbzw.Zwangsdienstegabesschonimmer–wiebereitsinden<br />

erstenKapitelngeschildert.Wenn„jemandnichtwillarbeiten,dersollauchnichtessen.“ 353 <br />

IneinemAufsatzsiehtderSoziologeHaraldReindiehistorischeKontinuitätsowohlbeiden<br />

FormenderArbeitslosenunterstützungen,derWohlfahrt,beidenerzwungenenArbeitseinsätzen<br />

als auch im Arbeitslosenrecht, dem Fürsorgerecht bzw. beim Sozialrecht. Ähnlich<br />

wieWulfundFoucaultbeschreibtReindieArbeit<strong>von</strong>altersheralsAllheilmittel–ganz<br />

gleichwelcherArtundwelchemZweckdieArbeitdabeidient.ArbeitdientderHeilung<br />

einesvermuteten,unterstelltenodereingeredetenMüßiggangesoderalsVoraussetzungfür<br />

Fürsorge-bzw.Sozialleistungen.GemeintistaberdabeinichtdieLohnarbeitzurExistenzsicherung,sonderndieArbeitumjedenPreis–dieArbeitalsMittelzurDisziplinierung.<br />

354 <br />

ReinerkenntindergeschichtlichenEntwicklunggroßeÄhnlichkeitensowohlbeimAusbau<br />

derZwangsinstrumentealsauchbeiderArtundWeiseder<strong>Gestaltung</strong>desSozialabbaus. 355 <br />

InseinerDarstellungderEntwicklungderWeimarerRepublikbisheutesiehterimSozialhilfe-wieimArbeitslosenrechtdurchgehendmittelalterlicheFormenderArbeitsbuße.<br />

349 Uwe Nebel, stellvertretender Leiter der Bochumer ARGE, 2005, http://www.labournet.<br />

de/diskussion/arbeit/realpolitik/hilfe/zitate.html, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />

350 Der FDP-Fraktionsvize im Berliner Abgeordnetenhaus Henner Schmidt schlug sogar vor, dass verarmte<br />

Berliner zukünftig Ratten jagen und töten könnten. Das Gesundheitsamt werde wegen mangelnder Mittel nicht<br />

allein mit der Berliner Rattenplage fertig. Pro toter Ratte soll es einen Euro geben. Henner Schmidt empfand<br />

diese Idee besser als das Sammeln <strong>von</strong> Flaschen und die Abgabe gegen Pfand. (vgl. http://www.morgenpost.<br />

de/berlin/article999249/Hartz_IV_Empfaenger_sollen_Ratten_jagen.html, letzter Zugriff: 17.12.2009)<br />

351 vgl. Gillen 18<br />

352 www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30050/1.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

353 Neues Testament, 2. Brief an die Thessalonicher, Kap. 3, V. 10<br />

354 vgl. Rein 109<br />

355 vgl. Rein 112 f<br />

57


3.5 SanktionenverschärfenZwangzurArbeit<br />

„Laborenutrior,laboreplector–DurchArbeitwerdeichgemacht,durchArbeitbüße<br />

ich“habeschonamZucht-undArbeitshausHamburggestanden–„unddieseAuffassung<br />

scheintinArbeitsagenturenundJobcenterEinzugzuhalten“,soderAutor. 356  357<br />

Allen Regelungen zur Unterstützung liegt das Prinzip zugrunde, dass der Arbeits-<br />

bzw. Erwerbslose bei sich das Verschulden der misslichen Situation gegenüber der Gesellschaftsiehtodersehenmuss.<br />

358 DiesemPrinzipfolgtauchdasALGII,indemesdem<br />

WunschdesBeziehendennachLeistungdieAufforderungnacheinerGegenleistungvoranstellt.BeiVerweigerungwirddieLeistunggekürztoderentzogen.LeistungenbedingenGegenleistungen.Oderandersausgedrückt:Wernichtarbeitet,dersollauchnichtessen.<br />

359 Für<br />

ReinsinddieerzwungenenArbeitseinsätzeverstärktBestandteildesaktivierendenautoritärenSozialstaates.ErsiehtdurchdieAgenda2010bzw.HartzIVsogardenVersuch,füralleALG-II-Beziehenden–insbesonderediejugendlichenErwerbslosen–„einennichtmilitarisiertenkommunalenArbeitsdienst“einzuführen.<br />

360<br />

FürReinsinddie„ArbeitsgelegenheitenmitMehraufwandsentschädigung“–heute<br />

werdensiealsEin-Euro-Jobsbezeichnet–nichtsNeues.BereitsinderWeimarerRepublik<br />

undzuBeginndesNationalsozialismushabeessiegegeben.DamalshießensieNotstandsarbeiten,Pflichtarbeiten,freiwilligerArbeitsdienstoderFürsorgearbeiten.<br />

361 Auchdamals<br />

hießes,allearbeitsfähigenWohlfahrtserwerbslosensindverpflichtet,dieihnenangebotene<br />

Pflichtarbeitaufzunehmen.Werdiesignoriert,„wirdwegenbeharrlicherArbeitsverweigerung<br />

entsprechend behandelt.“ Das ist ein Zitat aus der Frankfurter Pflichtarbeit-VerordnungvomOktober1933.Sinngemäß,soRein,„findetsichdieseVorschriftimHartzIV-<br />

Gesetzwieder.“ 362<br />

Gesetzlich festgeschrieben waren die „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“<br />

später als Bestandteil des Bundessozialhilfegesetzes in ihrer Bezeichnung<br />

als„HilfezurArbeit“oderimArbeitslosenrechtals„Gemeinschaftsarbeiten“.Neuistmit<br />

HartzIVdieZusammenfassungderBetroffenen–früherwurdensiealsArbeitslosenhilfe-<br />

undSozialhilfeempfängergetrenntbehandelt–zueinemPersonenpool. 363 Ausdiesemkönne<br />

dieBundesagenturfürArbeitbzw.diegebildetenArbeitsgemeinschaftenschöpfenundversuchen,<br />

flächendeckend Arbeitskräfte an die Anbieter <strong>von</strong> Arbeitsangelegenheiten zu vermitteln.<br />

364 ZumBeispielandieKommunen,diemitdemEinsatz<strong>von</strong>niedrigstbezahltenArbeitskräfteninverschiedenstenBereichenvielGeldsparen.<br />

DarüberhinausäussertReingrundrechtlicheBedenkengegenüberdererzwungenen<br />

Arbeit.InBerufungaufdenArtikel2desÜbereinkommensderInternationalenArbeitsorganisationILO–nachdemZwangs-undPflichtdienstedefiniertsindals„jedeArt<strong>von</strong>ArbeitoderDienstleistung,die<strong>von</strong>einerPersonunterAndrohungirgendeinerStrafeverlangtwirdundfürdiesiesichnichtfreiwilligzurVerfügunggestellthat“–istesausdrücklichverboten,MenschenzurArbeitzuzwingen.<br />

365 DieBundesregierunghatdieseVereinbarungmit<br />

unterschrieben.Daranhältsiesichabernicht. 366<br />

356 Rein 109<br />

357 Die Arbeitshäuser wurden in der BRD erst 1974 abgeschafft und stattdessen Hilfe<br />

zur Arbeit eingeführt. Das beinhaltete gemeinnützige Arbeit für Sozialhilfeempfänger, die<br />

„arbeitsentwöhnt“ sind oder deren „Arbeitsbereitschaft“ zu prüfen war. (vgl. Rein 119 ff)<br />

358 Für weitere Informationen bietet sich der Vergleich mit der Studie der Universität<br />

Bielefeld, die Olaf Behrend in seine Ausführungen einbezog, an. (vgl. http://www1.bpb.<br />

de/publikationen/1HAX2X,0,Aktivieren_als_Form_sozialer_Kontrolle.html)<br />

359 vgl. Rein 109<br />

360 Rein 111<br />

361 vgl. Rein 120 f<br />

362 Rein 112<br />

363 vgl. Rein 112<br />

364 vgl. ebd. 112<br />

365 http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/gc029.htm, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

366 vgl. Rein 114<br />

58


3.6<br />

Hartz IV macht krank<br />

3.6 HartzIVmachtkrank<br />

„Die Erhöhung <strong>von</strong> Hartz IV war ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie.“ 367<br />

Eine weitere wichtige Auswirkung des durch die Reformen entstandenen Rechteverlusts<br />

bzw. des Zwangs zur Arbeit soll noch erwähnt werden. Es ist umfangreich wissenschaftlichbewiesen,dassdieArbeitslosigkeitsowieerzwungeneArbeitkrankmachen<br />

können.DiePsychologenGiselaMohr<strong>von</strong>derUniversitätLeipzigundPeterRichter<strong>von</strong>der<br />

TUDresdenuntersuchtendiesinihrerStudie„PsychosozialeFolgen<strong>von</strong>Erwerbslosigkeit–<br />

Interventionsmöglichkeiten“. 368<br />

InnerhalbderStudiewirdbelegt,dassunterdenErwerbslosen–<strong>von</strong>denendieHälfte<br />

Langzeitarbeitslose sind – der Anteil der psychisch beeinträchtigten Personen doppelt so<br />

hochistwieinderGruppederErwerbstätigen.Erwerbslosesindhäufigerdepressivundaggressiv,ängstlichoderhabenpsychosomatischeBeschwerden.DieentscheidendenGründeliegeninderDauerderErwerbslosigkeitundinderschlechtenfinanziellenLage.DieWissenschaftlersehenandererseitseinendeutlichenRückgangderBeschwerdenbeieinerWiedereinstellung.VonsolcheinerpositivenRückbildungderBeschwerdenausgenommenseienaberjene,dieinsogenannten„bad-Jobs“–alsoingeringbezahltenundungesichertenArbeitsverhältnissenmitgeringemArbeitsvolumen–landeten.<br />

369<br />

Den Wissenschaftlern zufolge ist es falsch, wie bei Hartz IV „eine überhöhte Arbeitsorientierungzuforcieren,unrealistischeHoffnungenzuwecken,Erwerbslosezuvielen,<br />

nicht Erfolg versprechenden Bewerbungsaktivitäten zu zwingen und KonzessionsbereitschaftinBezugaufjedeArt<strong>von</strong>Arbeitzufordern.DasbereinigtzwardieStatistiken,reduziertjedochdiepsychischenRessourcenderErwerbslosen–sofernsolchenochvorhandensind–undführtzugesellschaftlichenKostenanandererStelle,insbesondereimGesundheitswesen.“<br />

370<br />

Stattdessen, so fordern die Wissenschaftler, muss die Langzeitarbeitslosigkeit vermiedenwerden.AuchdiealternativenFormenderArbeit–ZweiterArbeitsmarkt,freiwilligeArbeit–könnennichtalsAuswegfürdiefehlendeErwerbsarbeit<br />

betrachtet werden,<br />

wennsienichtmaterielldieTeilhabeamgesellschaftlichenLebenabsichernkönnen.Auch<br />

derAuffassung,dassjedeArbeitbesseristalskeineErwerbsarbeit,müssewidersprochen<br />

werden.Erwerbslosigkeitseikeinpsychologisches,sonderneingesellschaftlichesProblem,<br />

welches „seine Fortsetzung derzeit in der zunehmenden Zahl <strong>von</strong> prekär Beschäftigten<br />

findet.“ 371<br />

In den Jahren <strong>von</strong> 1995 bis 2007 haben sich die versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse<br />

um 1,33 Millionen verringert, die nicht sozialversicherungspflichtiger<br />

Minijobs aber um 2,78 Millionen erhöht. Die überwiegende Zahl der neu hinzugekom-<br />

367 Philipp Mißfelder, Bundesvorsitzende der Jungen Union, z.Z. Außenpolitischer<br />

Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2009, http://www.spiegel.de/politik/<br />

deutschland/0,1518,608940,00.html, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />

368 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,0,Psychosoziale_Folgen_<strong>von</strong>_<br />

Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

369 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,1,0,Psychosoziale_Folgen_<strong>von</strong>_<br />

Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html#art1, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

370 http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,6,0,Psychosoziale_Folgen_<strong>von</strong>_<br />

Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html#art6, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

371 http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,6,0,Psychosoziale_Folgen_<br />

<strong>von</strong>_Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html#art6<br />

59


3.6 HartzIVmachtkrank<br />

menen sozialversicherungspflichtigen Minijobs waren dabei Frauenarbeitsplätze. Für die<br />

AutorenistdieLösungdesProblemsnichtdiestaatlichgeförderteArbeit,sonderndieProblemekönnennurdurchsozialversicherungspflichtigeJobsgelöstwerden.StaatlichgeförderteArbeitkönnedabeinureineÜbergangsregelungsein.<br />

372<br />

PositiverdagegenistdieMeinungdesDirektorsdesInstitutsfürArbeitsmarkt-und<br />

Berufsforschung(IAB)zudenFolgen<strong>von</strong>ErwerbslosigkeitundMini-Jobs.DassPersonen<br />

glücklicher sind, also weniger Beschwerden haben, bestätigt Joachim Möller zwar auch,<br />

aberfürihnsindauchschondie„PersoneninEin-Euro-Jobs(…)signifikantzufriedenerals<br />

Personen,dieausschließlichUnterstützungsleistungenerhaltenundüberhauptnichtindas<br />

Erwerbslebenintegriertsind.“ 373 NochzufriedenerseienMenschennatürlichdann,wenn<br />

esdenHilfebedürftigengelingt,einenauskömmlichenJobzuerhalten,soderIAB-Direktor<br />

weiter.EinengutenBeitragzurpositivenEntwicklungstellenfürihnWeiterbildungenund<br />

betrieblicheTrainingsdar.Diese„InstrumentederArbeitsmarktpolitik“sinddenUntersuchungendesIABzufolge,geradeaufmittel-undlangfristigeSichtguteMittel,dieauchbei<br />

Hartz-IV-EmpfängernpositiveWirkungenentfalten.WichtigistfürihndierichtigeBalance<br />

<strong>von</strong>„FordernundFördern“zuerreichenunddieAktivierungdarfnichtinsLeerelaufen. 374<br />

DerSoziologeHeinzBudesiehtinderexistenzsicherndenArbeitnichtnurdenBroterwerb,sondernaucheinenSchlüsselfaktorfürdieArtundWeisederTeilhabeamgesellschaftlichenLeben.OhnesiebefindemansichzumeistaußerhalbderGesellschaft,gehöre<br />

zu den Ausgeschlossenen, den Exkludierten. 375  Er zählt dazu auch die „Minijobber und<br />

Hartz-IV-Aufstocker,deneneskaumzumLebenreicht,KundenderBundesagenturfürArbeit,dieineinerMaßnahmekarriereverlorengegangensind“.<br />

376 IhrStatusseidadurchgekennzeichnet:„Wassiekönnen,brauchtkeiner,wassiedenken,schätztkeinerundwassie<br />

fühlen,kümmertkeinen.“ 377<br />

FürMarkusPromberger–dersichaufdieStudiederPsychologenMohrundRichter<br />

bezieht–sindweitgehendbesitzloseMenschennichtnurweitgehend<strong>von</strong>sozialerundwirtschaftlicher<br />

Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen. Beschränkt sind sie darüber hinaussindauchinihrerpolitischenunddemokratischenMitwirkung.<br />

378<br />

DerAusspruch„Arbeitistnichtalles,aberohneArbeitistallesnichts“bringtfür<br />

PrombergerdieseUmständedeutlichzumAusdruck. 379<br />

DerArbeitsloseisttatsächlichundausderSichtweisederAgenturfürArbeitkeinautonomerBürgermehr.UndderStaatistnichtmehreinOrganderVolkssouveränität.Der<br />

StaatwirdzueinerformalenOrganisation,diemitdemArbeitsloseneineTauschbeziehung<br />

eingeht.UndüberallemstehtdasMotto,dassderjenige,derHartzIVbezieht,auchdafür<br />

arbeitensoll.UndwennesauchnureinpaarEurosind.DurchdieseEntwicklungwirddie<br />

politischeVerbindungzwischenBürger,demsouveränenTrägerderStaatsgewaltundden<br />

Herrschaftsinstitutionenaufgelöst.MitdieserAuflösungwirdauchdiedemokratischeVerfasstheitaufgelöst.<br />

380<br />

372 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,6,0,Psychosoziale_Folgen_<strong>von</strong>_<br />

Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html#art6, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

373 http://www.iab.de/UserFiles/Media/Audio/ad/5jahrehartz4/<br />

iab_pk5j_01_low.mp3, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

374 vgl. http://www.iab.de/UserFiles/Media/Audio/ad/5jahrehartz4/<br />

iab_pk5j_01_low.mp3, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

375 vgl. Bude 9 ff<br />

376 Bude 20<br />

377 Bude 15<br />

378 vgl. http://www.bpb.de/publikationen/AFXVT8,5,0,Arbeit_Arbeitslosigkeit_<br />

und_soziale_Integration.html#art5, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

379 vgl. http://www.bpb.de/publikationen/AFXVT8,5,0,Arbeit_Arbeitslosigkeit_<br />

und_soziale_Integration.html#art2, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

380 vgl. www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30050/1.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

60


3.6 HartzIVmachtkrank<br />

DerPolitikscheintdiesesDilemmaklarzusein.DennochwirdderWeginbisher<br />

gewohnterWeisefortgesetzt.DieBundeskanzlerinkündigteinihrerRegierungserklärung<br />

an:„WennwirdasVerhältnisdesBürgerszuseinemStaatwirklichverbessernwollen,dann<br />

istundbleibtesauchbeidieserAufgabedasWichtigste,Beschäftigungsbremsenzulösen<br />

undAnreizefürArbeitzuschaffen.Werfürsichselbervorsorgt,demmussderStaatdabei<br />

helfen.“ 381 DamitkündigtedieneueRegierungdasFortsetzenderPolitik<strong>von</strong>HartzIVan.<br />

WelcheanderenVorstellungenundAlternativenesgibt,wirdimKapitel4.0Zukunft<br />

<strong>von</strong>HartzIVbesprochen.<br />

381 http://www.angela-merkel.de/doc/091110-regierungserklaerungmerkel-stbericht.pdf,<br />

S.5, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

61


3.7<br />

Hartz IV macht Kinder arm<br />

3.7 HartzIVmachtKinderarm<br />

„Sozialhilfeempfänger werden keineswegs schöpferisch aktiv. Viele sehen ihren Lebenssinn<br />

darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hinein zu stopfen, vor dem Fernseher zu sitzen<br />

und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen. Die wachsen dann verdickt<br />

und verdummt auf.“ 382<br />

3.7.1<br />

Dialektik <strong>von</strong> Reichtum und Armut<br />

Bevor die Auswirkungen und Folgen <strong>von</strong> Hartz IV auf die Kinderarmut erörtert<br />

werden, sollen die grundsätzlichen Aspekte <strong>von</strong> arm und reich und ihr Verhältnis zueinanderdargestelltwerden.MögendieDatennichtimmerJahresaktuellsein,solassensich<br />

dennochausihnendasWesenunddieTrendsbzw.TendenzenbestimmterEntwicklungen<br />

ableiten.Schoninder„UnterrichtungdurchdieBundesregierung:LebenslageninDeutschland–ZweiterArmut-undReichtumsbericht“ausdemJahre2005stand:„HinterjederInterpretation<br />

des Armuts- und auch des Reichtumsbegriffs und hinter jedem darauf beruhendenMessverfahrenstehenWertüberzeugungen.DeshalbistauchdieAufgabe,Armut<br />

‚messbar‘zumachen,imstrengwissenschaftlichenSinnnichtlösbar.“ 383<br />

AlsmessbarerVergleichdientindieserArbeitdieeuropaweitanwendbareEU-Definition„EU-SILC“.DieseDefinitionvermeidetdenBegriff„arm“undbenutztstattdessenden<br />

Begriff„armutsbedroht“.Danachist<strong>von</strong>Armutbedroht,demwenigerals60Prozentdes<br />

mittlerenNettoeinkommensallerBürgerseinesLandeszurVerfügungstehen.<br />

AufdieBundesrepublikDeutschlandumgelegtheißtdas,dass13ProzentallerBundesbürgerschonimJahr2005ineinerSituationderArmutsbedrohungwaren–Tendenz<br />

steigend.DasistknappjederAchte.DamalsbeliefsichdierechnerischeRisikosummefür<br />

einenAlleinstehendenaufmonatlich781Euronetto.OhnezusätzlichesozialeTransferleistungenwärejedervierte(26Prozent)demRisikoderArmutausgesetztgewesen.<br />

384<br />

GrößterRisikofaktorfürArmutistdieArbeitslosigkeit,dannliegterbeimehrals<br />

42Prozent.EinhöheresBildungsniveauscheintdieGefahrderArmutzwarzusenken,ganz<br />

ausgeschlossenkanndieGefahrabernichtwerden.IndenJahren1997-2004stiegdieArmutsquotebeidenAbsolventen<strong>von</strong>FachhochschulenundUniversitätenummehralsdas<br />

Doppelte<strong>von</strong>2,3Prozentauf5,2Prozent. 385<br />

Darüberhinauslässtsicherkennen,dasssichdieEinkommenweiterauseinanderbewegen.Am„oberen“undam„unteren“RandderEinkommensverteilungfindensichimmer<br />

mehr Menschen. Es gibt also immer mehr Armutsgefährdete, weniger „Mittelschichtler“<br />

undmehrMenschenmithohemEinkommen.<br />

Alsreichgiltdemnachderjenige,demalsAlleinstehenderüber200ProzentdesmittlerenNettoeinkommensallerBürgerseinesLandeszurVerfügungstehen.FüreinenSingle<br />

382 Oswald Metzger, ehem. Mitglied der SPD und Bündnis 90/Die Grünen, z.Z. CDU, http://www.stern.<br />

de/politik/deutschland/oswald-metzger-ich-bin-auf-dem-sprung-603071.html, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />

383 http://www.tagessschau.de/inland/armut20.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

384 vgl. http://www.tagesschau.de/inland/armutsbericht4.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

385 vgl. http://www.tagesschau.de/inland/meldung92688.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

62


3.7.1 Dialektik<strong>von</strong>ReichtumundArmut<br />

wärendas2602EuroproMonat.UmgerechnetaufdieGesamtbevölkerungsinddemnach<br />

6,4 Prozent oder ist jeder 16. einkommensreich. Besonders die Unternehmer, SelbstständigenunddieBeamtenverfügenüberhohefinanzielleZuflüsse.<br />

386 <br />

Das Statistische Bundesamt bezieht sich auf eine EU-weite Befragung über EinkommenundLebensbedingungen(EU-SILC)unterdemTitel„ErgebnisseausLEBENIN<br />

EUROPA2008“.Etwa15ProzentderDeutschenwaren2007durchArmutgefährdet,also<br />

fast jeder Siebente. Ohne soziale Leistungen des Staates würde das sogar nahezu jeden<br />

Viertenbetreffen.DieArmutsgefährdungbeiAlleinerziehendenistbesondershoch,siestieg<br />

auf36Prozent.AberauchArbeitschütztnicht:2007waren7ProzentderErwerbstätigen<br />

<strong>von</strong>sogenannterArbeitsarmutbedroht.Dasbedeutet,dassjeder15.einEntgeltunterhalb<br />

derArmutsgrenze–alsoeinsogenanntesÄquivalenzeinkommen<strong>von</strong>wenigerals913Euro<br />

monatlich,2006:885Euromonatlich,2005:781Euro–erhielt.Besondersbetroffensind<br />

ArbeitslosevomAbrutschenindieArmut.56Prozentwarendadurchgefährdet,dasistein<br />

Plus<strong>von</strong>fünfProzentgegenüber2006. 387<br />

Der Soziologe Michael Klundt betont, dass die Betrachtung <strong>von</strong> Armut oder<br />

ReichtumalsobjektivesodersubjektivesPhänomenimwesentlichen<strong>von</strong>derjeweiligenpolitischen-normativenFestlegungabhängt.<br />

388 Gemeintistdamit,dasssichdieBetrachtung<br />

<strong>von</strong>ArmutundReichtumimmerdanachrichtet,mitwelchemInteresseundmitwelcherAbsichtdieUntersuchungvorgenommenwurde.Klundtverweistdarauf,dassimArmuts-und<br />

ReichtumsberichtdieInformationenüberdenReichtumnurbeschränktdargestelltwerden.<br />

DerBerichtgehtseinerMeinungnachbewusstverharmlosendmitdemBegriffReichtum<br />

umundlässtnichterkennen,wohererkommt,unddasszwischenArmutundReichtumein<br />

dialektischerZusammenhangbesteht. 389<br />

DerPräsidentdesifo-InstitutsMünchenHans-WernerSinnkritisiertdieErhebungen<br />

desArmut-undReichtumsberichtsnochauseinemanderenGrund.Zum3.Armut-und<br />

ReichtumsberichtausdemJahr2008sagtersinngemäß,dassdiedortaufgeführteThese,<br />

wonachjederAchteinArmutlebt,falschistunderbezeichnetdenArmutsberichtinsgesamt<br />

als„BedarfsgewichtetenKäse.“ 390 DennindemBerichtsei<strong>von</strong>Armutsrisikoundnicht<strong>von</strong><br />

derArmutdieRede.AuchHartz-IV-Empfängersindnichtarm,sieseienallerdingsArmut<br />

gefährdet,denndieentsprechendeGrenzezurArmutsgefährdungliegebei781Euro.Für<br />

Hans-WernerSinnist„Kaumjemand,dersichinDeutschlandlegalaufhält“arm,under<br />

beziffertdieZahlderArmennachamtlicherDefinitionaufetwa4Prozent,alsoaufjeden<br />

25.. 391 SozialhilfeundALGIIsichernbeinormalenWohnkosteneinEinkommen,dasbei<br />

etwa55ProzentdesmittlerenNettoeinkommensliegt.Deutschlandistfürihn–gemessen<br />

anderrelativenReduktionderArmutsgefährdung–einerdergroßzügigstenSozialstaaten<br />

EuropasundderganzenWelt. 392<br />

Der Soziologe Heinz Bude betont dagegen, dass die Bundesregierung mit der Armutsrisikoquote<br />

nur das Sein der Armut erfasse. Es bestimmt aber das Bewusstsein der<br />

Armen.MiteinersolchenErfassungwirdnichtdassubjektiveWohlbefindenoderdiesozialeAnerkennungbzw.dieAusgrenzungerfasst.„Armutisteinrelativer,mehrdimensio-<br />

386 vgl. http://www.tagessschau.de/inland/armut20.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

387 vgl. http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/<br />

Presse/pm/2009/11/PD09__457__634,templateId=renderPrint.psml<br />

388 vgl. Klundt 36<br />

389 vgl. Klundt 40 f<br />

390 vgl. www.wiwo.de/politik/armutsbericht-bedarfsgewichteterkaese-293842/print/,<br />

letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

391 http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/armutsberichtbedarfsgewichteter-kaese-293842/,<br />

letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

392 vgl. http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/armutsberichtbedarfsgewichteter-kaese-293842/,<br />

letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

63


3.7.1 Dialektik<strong>von</strong>ReichtumundArmut<br />

nalerunddynamischersozialerSachverhalt.“ 393 FürBudeistdieArmutsrisikoquotefürdie<br />

DarstellungdersozialenLagenichtaussagekräftiggenug.Darüberhinausließesiesichauch<br />

nurkomplizierterrechnen.Budeschlägtdeshalbvor,denBegriff„Armutsverläufe“alsKriteriumeinerErfassungeinzuführen.DankderArmutsverläufekönnedanngenauerermitteltwerden,fürwendieArmutvorübergehendist,wermitknappenMittelnzurechtkommt,werimmerwiederindieArmutrutschtundbeiwemsichdieserZustandderArmutdauerhaftverfestigthat.BudeunterscheidetzwischenWohlstand,Knappheit,PrekaritätundArmut.<br />

394 ErunterteiltdieGesellschaftinviersozialeZonen:40ProzentderMenschenleben<br />

ineinerZonederSicherheit,20ProzentlebenineinerZonedernichtsicheren,aberintegriertenKnappheit,25ProzentlebenininstabilerPrekaritätund10Prozentinverfestigter<br />

Armut.<br />

DarüberhinausstelltBudeeinenBereich<strong>von</strong>10ProzenteinerveränderbarenArmut<br />

zwischendenunterenBereichenfest.InnerhalbderBundesrepublikgibtesfürihneinenbemerkenswertenUnterschied.InWestdeutschlandbildetsichzunehmendeineGruppeaus,<br />

diesichzwischenprekäremWohlstandundmanifestierterArmutaufundabbewegt.In<br />

OstdeutschlandwirddieZonederPrekaritätzwarkleiner,dafürwächstaberdieZoneder<br />

Armut insgesamt. Aus diesen Entwicklungen leitet Bude ebenfalls das bekannte Bild der<br />

Zweidrittel-Gesellschaftab. 395<br />

IndenletztenJahrenundJahrzehntenhabensichnichtnurdiePhänomene<strong>von</strong>Arm<br />

undReichgeändert,auchdieScherezwischenArmundReichinnerhalbderGesellschaft<br />

hatsichständigvergrößert.DieseEntwicklungenlassensichanhanddesPrivatvermögens<br />

verdeutlichen.NacheinerStudiedesDeutschenInstitutsfürWirtschaftsforschung(DWI)<br />

besaß2007dasreichsteZehntelrund61ProzentdesgesamtenPrivatvermögensderBundesrepublik.ImJahr2002warenes58ProzentdesPrivatvermögens.Demgegenübersteht<br />

mehralseinViertelderDeutschen(27Prozent),dasgarkeinPrivatvermögenbesitztoder<br />

verschuldetist. 396 DieStudiedesDWIergabaußerdem,dasssichdieScherezwischenOst<br />

undWestimmerweiteröffnet.InWestdeutschlandstiegdasVermögenindenJahren2002-<br />

2007umgut11Prozent.IndenneuenBundesländernsankesdagegenumknapp10Prozent.EineBegründungistindervergleichsweisenhohenundverfestigtenArbeitslosigkeit,<br />

diesichimzweistelligenBereichbewegt,zufinden.<br />

NocheinandererTrendlässtsichanhand<strong>von</strong>belegtenZahlennachweisen.ImJahr<br />

2001gabes730.000Dollar-Millionäre(ohneImmobilienvermögen)inDeutschland.Nur<br />

einJahrspäterwarenesschon755.000Millionäre. 397 ImJahr2008sankzwardieZahlum<br />

2,7Prozentgegenüber2007auf809.700Millionäre–dasistrund1ProzentderGesamtbevölkerung.ImVergleichzumJahr2001warenesaberimmernochknapp80.000Millionäremehr.SelbstdurchdieWeltwirtschaftskrisebliebendieVermögendieserReichenweitestgehenderhalten.<br />

398<br />

393 Bude 37<br />

394 vgl. Bude 39<br />

395 vgl. Bude 40<br />

396 vgl. http://www.tagesschau.de/wirtschaft/armreich100.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

397 vgl. Klundt 40<br />

398 http://www.abendblatt.de/wirtschaft/article1069401/Weniger-Dollar-<br />

Millionaere-in-Deutschland.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

64


3.7.1 Dialektik<strong>von</strong>ReichtumundArmut<br />

Zusammenfassendkanngesagtwerden,dassdieAnhäufung<strong>von</strong>Reichtumaufder<br />

einen Seite auf verschiedenen Wegen Armut auf der anderen Seite erzeugt. Diese Ungerechtigkeit<br />

der Verteilung ist dem System des Kapitalismus immanent, denn der Kapitalismus<br />

produziere nach Karl Marx aus sich heraus Ungleichheit. Der Soziologe Michael<br />

Klundt beruft sich in seinem Text auf Werner Rügemer an. Rügemer kritisiert ebenfalls<br />

dievorherrschendeempirischeAnalyseüberUmfang,EntstehungundWirkung<strong>von</strong>Armut<br />

und Reichtum sowie deren Zusammenhänge als „unterbelichtet“. Für ihn bestimmt der<br />

ReichtumimmerdieArmutundinderenKerngeheesumdasdialektischeVerhältnis<strong>von</strong><br />

LohnarbeitundKapital. 399<br />

KlundtkritisiertauchdenUmgangmitdemThemaArmundReichinderÖffentlichkeit.SowirdvielfachdieBedürftigkeitundAbhängigkeit<strong>von</strong>staatlichenTransferleistungen<br />

mit dem individuellen Versagen des Betroffenen begründet. Dagegen sind Wohlstand<br />

und Reichtum eineBelohnung für erbrachte außerordentliche Leistungen. Vielfach<br />

werdedaseinfacheBildvermittelt,dassallediegleichenChancenhabenund„eskommt<br />

nurdaraufan,etwasdarauszumachen.“ 400 DiePolitikunddieMedienwürdendieSuperreichengegenderenDämonisierungundgegenNeiddiskussioneninSchutznehmen.AnderswirddagegenmitErwerbslosenundSozialhilfebeziehernumgegangen.SiewerdenzuSündenböckeneinerverfehltenArbeitsmarkt-undSozialpolitikgemacht.Darausließensichdie<br />

Kampagnengegen„Sozialschmarotzer“und„Faulenzer“erklären. 401  402<br />

399 Rügemer, in Klundt 41<br />

400 Klundt 36<br />

401 vgl. Klundt 48<br />

402 Der Begriff „hartzen“ ist im Dezember 2009 zum Jugendwort des Jahres gewählt worden. Das Werk<br />

wurde in der jugendlichen Sprache vom Begriff Hartz IV abgeleitet. Das Verb bedeute „arbeitslos sein“ oder<br />

„rumhängen“ wie der Langenscheidt Verlag in München mitteilte. Damit liegt selbst die Langenscheidt-Jury<br />

ganz auf der Linie der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit zu Hartz IV. Aber alle seriösen Studien und<br />

Untersuchungen und meine Gespräche im Arbeitsamt und den Hilfsorganisationen haben ergeben, dass nur ein<br />

ganz kleiner Teil Erwerbslosigkeit und „Rumhängen“ einer den Lebensunterhalt sichernden Arbeit vorzieht.<br />

65


3.7.2<br />

Quantitative Indikatoren der Kinderarmut<br />

3.7.2 QuantitativeIndikatorenderKinderarmut<br />

FürdieSozialwissenschaftlerChristophButterweggeundCarolinReißlandtisteines<br />

klar:„NichtsschadetFamilienmehralsderUm-bzw.AbbaudesSozialstaatesunddieVermarktung<br />

der zwischenmenschlichen Beziehungen, die mit Schlagworten wie ‚Globalisierung‘<br />

und ‚Standortsicherung‘ begründet werden. Die zunehmende Kinderarmut ist eine<br />

zwangsläufigeFolgederdarausabgeleitetenRegierungspolitik.“ 403<br />

WievieleKinderarmsind,istschwerzusagen.DieZahlenschwanken,jenachdem<br />

wie Armut definiert wird. In der Statistik als auch in den Medien wird zudem oft nicht<br />

unterschiedenzwischenarm,armutsgefährdetodersozialleistungsabhängig.Armutsollte<br />

nicht nur nach monetären Aspekten definiert werden. Auch Bildungschancen, GesundheitsversorgungunddieMöglichkeitamkulturellenundsportlichenLebenteilzunehmen,<br />

müssen bei einer Einordnung mit bedacht werden. Armut muss unbedingt mit dem AspektderTeilhabeamgesellschaftlichenLebeninVerbindunggebrachtwerden.Wiebereits<br />

im vorherigen Kapitel erwähnt, wird im Armuts- und Reichtumsbericht der BundesregierungdiematerielleSituationinderRegeldurchdieArmutsrisikosquotebeschrieben.DieserQuotezufolgewarenimJahre2006<strong>von</strong>deninsgesamt13,6MillionenKindern2,4Millionen(17,3Prozent)Armutgefährdet.UmgerechnetistdasjedessechsteKind.<br />

404 ImJahr<br />

2006wardieArmutsrisikoquotebeidenKindernzwargeringer,abersielagdennochschon<br />

bei16Prozent.<br />

DerArmutsforscherChristophButterwegemachtinseinemBuch„Armutineinem<br />

reichenLand–WiedasProblemverharmlostundverdrängtwird“nocheineandereRechnungauf.SeinAusgangspunktsinddieimMärz2007offiziellangegebenen1,929Millionen<br />

Kinder unter 15 Jahren in Hartz-IV-Haushalten. Man müsse aber noch diejenigen<br />

Kinderdazuzählen,dieinSozialhilfehaushalten,Flüchtlingsfamilienundbeisogenannten<br />

Illegalenleben.DazukämediesogenannteDunkelziffer.Dannlebten2,8MillionenJungen<br />

undMädchen,dasheißtmindestensjedesfünfteKinddiesesAlters,aufoderunterdemSozialhilfeniveau.<br />

405<br />

BesondersdiejungenMenscheninFamilien,dieALGIIbeziehen,sind<strong>von</strong>demArmutrisikobetroffen.DGB,derSozialwissenschaftlerundArmutsforscherChristophButterwegge,derSPD-PolitikerRudolfDreßlerundandereerklärendenAnstiegzugroßenTeilen<br />

alsFolge<strong>von</strong>HartzIV. 406 Studienhabenergeben,dassnachderEinführungderHartz-IV-<br />

ReformensichdieAnzahlderKinder,die<strong>von</strong>Sozialhilfeleben,auf2,5Millionenverdoppelthat.DieseTendenziststeigend.<br />

407<br />

DieRisikoquotefürArmutistindenneuenBundesländernnachwievorbesonders<br />

hoch.SvenjaStork–sieuntersuchtedenZusammenhang<strong>von</strong>KinderarmutundHartzIV–<br />

resümiert,dassdieRisikoquoteinWestdeutschland2006bei12,4Prozentlag,imOsten<br />

dagegenwardieRisikoquotemit23,7Prozentfastdoppeltsohoch. 408 DashöchsteRisiko<br />

403 http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/broschuere_<br />

sozialabbau.pdf, S.22, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

404 vgl. www.tagesschau.de/inland/kinderarmut50.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

405 vgl. Butterwegge 91<br />

406 http://www.welt.de/politik/article1109778/Kinderarmut_in_<br />

Deutschland_auf_Hoechststand.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

407 vgl. www.tagesschau.de/inland/kinderarmut50.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

408 vgl. Stork 15 ff<br />

66


3.7.2 QuantitativeIndikatorenderKinderarmut<br />

zur Armut haben die Kinder <strong>von</strong> Hartz-IV-Beziehern. Es liegt bei 65 Prozent. Auch die<br />

Kinder<strong>von</strong>Alleinerziehendensindbesondersgefährdet.HierliegtdieQuotebeifast40Prozent.DieGefahrkennenKinder,dessenElternbeideinVollzeitjobsstanden,kaum.Hierlag<br />

dieQuotebeinur4,1Prozent.Oderanders,nurjedem25.Kindkonnte–wennseinebeiden<br />

ElternteileeinerVollbeschäftigung nachgingen–einAbrutschindieArmutwiderfahren.<br />

InsgesamtgesehenhatdasArmutsrisikobeiKindernundJugendlichenindenJahren1996-<br />

2006um4,6Prozentpunktezugenommen. 409<br />

409 vgl. www.tagesschau.de/inland/kinderarmut50.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

67


3.7.3<br />

Qualitative Indikatoren der Kinderarmut<br />

3.7.3 QualitativeIndikatorenderKinderarmut<br />

WissenschaftlerundSozialverbändehabenfestgestellt,dassKinderausarmenoder<br />

armutsgefährdeten Familien häufiger als ihre Altersgenossen schlecht bzw. ungesund ernährtsind.ChronischeKrankheiten,ÜbergewichtundVerhaltensauffälligkeitenhättenbeibenachteiligtenKindernstarkzugenommen.VielfachkönntendieKindernichtanKlassenfahrtenteilnehmen,bekämenkeinTaschengeldundsindgezwungen,schlechte,nichtderWitterungangepasstebzw.gebrauchteKleidungzutragen.Kinder<strong>von</strong>Hartz-IV-Empfängernfühltensichsozialausgegrenzt.Sieseienoftlangearmundchronischkrank.<br />

Unicefverwies2007inseinem„BerichtzurLagederKinderinDeutschland“auch<br />

auf die verstärkte emotionale Armut. Viele Kinder <strong>von</strong> Hartz IV beziehenden Familien<br />

fühlensichalleingelassenundhabenkeineBezugsperson,umspäterdieHerausforderungen<br />

desLebensmeisternzukönnen.DieseKinderhättenauchschlechtereBildungschancenund<br />

damitweitausgeringereMöglichkeiten,späterderArmutentkommenzukönnen.Insgesamt<br />

unterschätzemaninDeutschland,dassdasWohlergehenderKindersehrwichtigfürdie<br />

ZukunftderNationsei.Internationalgesehen,seimanbeidenAufwendungendafürnur<br />

Mittelmaß. 410<br />

Unterdenfast1MillionBedürftigen,dieimJahr2007<strong>von</strong>derWohltätigkeitsorganisation<br />

„Die Tafel“ regelmäßig kostenlose Essen und Lebensmittel versorgt wurden, befandensich25ProzentKinder.DerArbeitslosenverbandMecklenburg-Vorpommernmacht<br />

daraufaufmerksam,dassderzeitrund71.000KinderimLandunterArmutsbedingungen<br />

lebenmüssen.ImJahr2007seienesnur59.500gewesen.DieKinderbzw.derenElternsind<br />

meistsoarm,dasssieihnennochnichteinmaleinwarmesSchulessenermöglichenkönnen.<br />

410 vgl. http://www.tagesschau.de/inland/kinderarmut36.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />

68


3.8<br />

Zusammenfassung<br />

3.8 Zusammenfassung<br />

Abschließendlässtsichfeststellen,dassderEinkommens-undVermögensreichtum<br />

seitdenneunzigerJahrenstetigwächst.AberauchdasArmutsrisikobzw.dietatsächliche<br />

ArmuthatindenletztenzweiJahrzehntenzugenommen.Diesichimmerweitererhöhende<br />

ScherezwischenArmundReichpolarisiertgleichzeitigdieGesellschaft.DieAgenda2010<br />

unddieHartz-IV-GesetzgebunghabendieZuständebzw.dieEntwicklungennochweiter<br />

verschlimmert. Der <strong>von</strong> der Bundesregierung herausgegebene Armuts- und ReichtumsberichtbeschreibtumfangreichdieArmut,hältsichaberinBezugaufdenReichtum,seine<br />

EntstehungundseinendialektischenZusammenhangmitderArmutsehrzurück.Kritiker<br />

sehenindieserArtderBehandlungeinebewussteVorgehensweise.<br />

VonArmutsrisikobzw.<strong>von</strong>dertatsächlichen Armutsindbesonders Familienund<br />

derenMitgliederbetroffen,dieHartzIVbeziehen.BesondersdieschwächstenMitglieder–<br />

dieKinder–leidenunterdenAuswirkungen.DasBundesverfassungsgerichtüberprüftdeshalb–nachderEinreichung<strong>von</strong>dreiKlagen–obdieRegelsätzezumenschenwürdigem<br />

Daseinausreichen,undobsieaufeinerrechtmäßigenBasisermitteltwordensind.Mitdem<br />

Urteil des BVG verbindet sich für viele die Hoffnung, dass ein generelles Recht auf ein<br />

Existenzminimumfüralleformuliertwird.UmmassenhafteArmutbeziehungsweiseKinderarmut<br />

zu beseitigen, verlangen vor allem Soziologen einen ganzheitlichen Ansatz. Sie<br />

forderndieVerzahnung<strong>von</strong>Arbeitsmarkt-undBeschäftigungspolitikebensowiedieEinbeziehung<strong>von</strong>Bildungs-,Gesundheits-,WohnungsbauundStadtentwicklungs-Politikmitder<br />

Familien-undSozialpolitik. 421<br />

421 vgl. Butterwegge 281<br />

72


4.0<br />

Zukunft <strong>von</strong> Hartz IV<br />

4.1<br />

Politik der Regierungsparteien<br />

„Die beste Wohlfahrt ist ein Arbeitsplatz.“ 422<br />

4.0 Zukunft<strong>von</strong>HartzIV<br />

Am17.September2009wurdezum17.MalderDeutscheBundestaggewählt.Im<br />

VorfeldderWahlenäußertensichdieParteieninihrenWahlprogrammenauchzuderSozialreformHartzIV.<br />

Die amtierende Bundesvorsitzende der Union <strong>von</strong> CDU/CSU und wiedergewählte<br />

Bundeskanzlerin Angela Merkel schloss eine Kürzung der Hartz-IV-Leistungen (SGB II;<br />

ALGII)aus.DieSätzefürHartzIVsolltensichstattdessennachdemobjektivermittelten<br />

Bedarf richten und im Gleichklang mit den Renten erhöht werden. Dazu sollten die BerechnungsgrundlagenallevierJahreumfassendüberprüftwerden.DieParteienCDU/CSU<br />

verspracheninihrenWahlprogrammenaußerdemhöhereFreibeträgefürdassogenannte<br />

Schonvermögen–Vermögen,dasschonvorhandenistundnichtmitindieBezugsberechnungfürHartzIVeingerechnetwird.<br />

423<br />

DieliberaleParteiFDPkündigteinihremWahlprogrammdieAbschaffungdesALG<br />

IIan.StattdessensolleinBürgergeldinHöhe<strong>von</strong>662Euroeingeführtwerden,indembereitsdieKostenfürWohnungundHeizungeinberechnetsind.<br />

424  425<br />

 Im Wahlprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) „Sozial<br />

unddemokratisch“werdendieAgenda2010undHartzIVnichtausdrücklichkritisiertund<br />

nichtausdrücklichinFragegestellt.DafürwilldieSPDaberdieArbeitslosenversicherung<br />

zurArbeitsversicherungweiterentwickeln.Arbeitsversicherungheißtdabei,dassjedemein<br />

stärkererSchutzvorArbeitslosigkeitgarantiertwerdensoll.DasschließtdasRechtaufeine<br />

Weiterbildungsberatung ein. Die SPD kündigt außerdem eine verfassungskonforme NachfolgeregelungfürdieArbeitsgemeinschaften(ARGEn)an,undwilldas„Deutschlanddie<br />

weltweit bester Arbeitsvermittlung hat.“ 426  Die Regelsätze des ALG II sollen regelmäßig<br />

überprüftundgegebenenfallsbedarfsgerechterhöhtwerden. 427 <br />

Kritischer zeigen und äußern sich die Grünen zu Hartz IV. „Auch wer ohne ErwerbsarbeitistodersichausanderenGründenineinerNotlagebefindet,musseinLeben<br />

inWürdeundSelbstbestimmungführenundsichaufeinearmutsfesteExistenzsicherung<br />

verlassenkönnen.Wirmüsseneingestehen:DiesemAnspruchsinddie<strong>von</strong>Rot-Grünmit<br />

verantwortetenArbeitsmarktreformenunddasArbeitslosengeldIInichtgerechtgeworden.<br />

Mitderzeit351EuroisteineTeilhabeamsozio-kulturellenLebennichtmöglich.“ 428 Sie<br />

422 Rolf Seutemann, Präsident Landesarbeitsamt Brandenburg, 2003, https://www.<br />

neues-deutschland.de/artikel/40495.html, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />

423 vgl. CDU/CSU: „Wir haben die Kraft.“ 30 ff<br />

424 vgl. FDP: „Die Mitte stärken.“ 9 ff<br />

425 Dieser Betrag würde unter dem bisherigen Betrag <strong>von</strong> ALG II liegen. Alle<br />

Empfänger hätten somit weniger finanzielle Mittel zur Verfügung als vorher.<br />

426 Sozial und demokratisch. 15<br />

427 vgl. SPD: Sozial und demokratisch. 14 ff<br />

428 Bündnis 90/Die Grünen: Der grüne neue Gesellschaftsvertrag 85 ff<br />

73


4.1 PolitikderRegierungsparteien<br />

schlageninihremWahlprogrammeine„GrüneGrundsicherung“fürdiesozialenRisiken<br />

desLebensvor.Siesollu.a.„einaufLebenszeitabrufbaresZeitkontointegrieren,überdas<br />

imBedarfsfalleigenverantwortlichverfügtwerdenkann.“ 429 DieGrünenversprecheneine<br />

AnhebungdesHartzIV-Satzesauf420Euro.DieseGrundsicherungsollohneSanktionen<br />

oder Bestrafungen bezahlt werden und somit wieder mehr Menschen motivieren, in Arbeitzukommen.DieseLeistungalssolchemussregelmäßigandietatsächlichenLebenshaltungskostenangepasstwerden.DieZumutbarkeitsregelndesALGIIsollenentschärftund<br />

inbesonderenNot-oderLebenslagenzusätzlichwiederindividuelleLeistungenermöglicht<br />

werden.AuchdieAnrechnungdesPartnereinkommenssollabgeschafftunddieRegelsätze<br />

fürdieKinderunddieKindergrundsicherungerhöhtwerden.WieauchdieCDUsprechen<br />

sichdieGrünenfüreineErhöhungdesSchonvermögensaus. 430<br />

AlseinzigeParteiwillDieLinkelangfristigHartzIVabschaffenundzukünftigdurch<br />

einebedarfs-undsanktionsfreieMindestsicherungersetzen.AktuellfordertDieLinkeaber<br />

u.a.dieAnhebungdesALGIIauf500Euro,diedannnachdenLebenshaltungskostengesteigertwerdensollen.IneinemSofortprogrammnachderWahlwirdu.a.gefordert:Das<br />

demALGIIvorausgehendeALGIsollfüralleAnspruchsberechtigtenauf24MonateBezug<br />

erhöhtwerden,damitdasALGIInichtmehrschonnach12Monatenbeantragtwerden<br />

muss.DieZahlungsdauerdesALGIsollabhängiggemachtwerden<strong>von</strong>derDauerderEinzahlung.JedesJahrderEinzahlung–beginnendmitdem3.Jahr–sollmiteinemMonatderAuszahlungdesALGIverrechnetwerden.DieFreigrenzefürdasSchonvermögensolldeutlicherhöhtunddieEntgeltederFerienjobs<strong>von</strong>KindernderHartz-IV-Beziehendennicht<br />

mehr mit angerechnet werden. Der Kinderregelsatz soll an den Kindesbedarf angepasst<br />

werden.DabeisollderBedarfeigenständigermitteltwerden.EinSanktionsmoratoriumsoll<br />

die Drangsalierung <strong>von</strong> Hartz-IV-Beziehern sofort stoppen und solche Sanktionsparagraphenwie§31SGBII–derHausbesuchebeiHartz-IV-EmpfängernzuderenKontrolleermöglicht–abgeschafftwerden.AufgehobenwerdensollauchdasKonstruktderBedarfsgemeinschaft.Ein-Euro-JobssolleninsozialversicherungspflichtigetariflichbezahlteJobs<br />

umgewandeltwerden.SonderbedarfesollennachderenNachweiszusätzlichübernommen<br />

werden. 431<br />

NachderWahl,beidernurein72,2ProzentderWahlberechtigtenihreStimmeabgaben,bildetesicheineschwarz-gelbeKoalitionausCDU/CSUundFDP.CDU-GeneralsekretärRonaldPofallaverkündete:„WirwerdenalsbürgerlicheKoalitionfundamentaleUngerechtigkeitendesHartz-IV-Systemsbeseitigen.“<br />

432<br />

In dem nach der Wahl beschlossenen Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und<br />

FDPwurdebeschlossen,dasseskeinenkomplettenUmbauderstaatlichenLeistungengeben<br />

wird.Eswurdeabervereinbart,dassdierigidenAnrechnungsregelungenfürVermögenund<br />

Hinzuverdienstentschärftwerdensollen.Konkretwurdefestgelegt,dasseskeinBürgergeld<br />

nachdenFDP-Vorstellungengebenwird.EssollaberdasKonzepteinesbedarfsorientierten<br />

Bürgergeldesüberprüftwerden.DasSchonvermögenwirdauf750EuroproLebensjahrverdreifacht.<br />

433 Bisherwurdenur250EurofürdieVorsorgeimAlternichtaufdasArbeitslosengeldIIangerechnet.DieStaatskassewirddadurchmitderrelativgeringenSumme<strong>von</strong><br />

300Mio.Eurobelastet–HartzIVkostet36Mrd.EuroproJahr. 434 AucheineErhöhungder<br />

ZuverdienstgrenzewirdimKoalitionsvertragfestgehalten. 435<br />

429 Bündnis 90/Die Grünen: Der grüne neue Gesellschaftsvertrag 87<br />

430 Bündnis 90/Die Grünen: Der grüne neue Gesellschaftsvertrag 95<br />

431 vgl. http://www.linksfraktion.de/positionspapier_der_fraktion.<br />

php?artikel=7707238940, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />

432 http://www.neues-deutschland.de/artikel/157901.schwarz-gelbesozialkosmetik.html,<br />

letzter Zugriff: 28.10.2009<br />

433 vgl. http://www.alkv-loeb-zit.de/docu/Folien-SGB-II-10-12-09.pdf, letzter Zugriff: 14.12.2009<br />

434 vgl. http://www.n-tv.de/politik/Berlin-ist-Hartz-IV-Stadt-article618031.html, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />

435 vgl. http://www.cdu.de/doc/pdfc/091024-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />

74


4.1 PolitikderRegierungsparteien<br />

Bisher durften Langzeitarbeitslose <strong>von</strong> ihrem Hinzuverdienst 100 Euro abzugsfrei<br />

behalten.VonjedemweiterenEurodurftensienurnoch20Centbehalten.UndbeiHinzuverdienstsummen<strong>von</strong>über800Eurowarenesnurnoch10CentproverdientemEuro,densiebehaltendurften.DasselbstgenutzteWohneigentumbzw.dieeigeneImmobiliewirdumfassendergeschütztundsomitvordemZugriffderBehördenentzogen.<br />

Nach diesen Vereinbarungen gab es Kritik. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin<br />

schlussfolgerte, dass nur eine Minderheit der ALG-II-Bezieher nach diesen Beschlüssen<br />

besserdasteht.SowürdendieseVerbesserungenimJahr2009nur0,2ProzentderBetroffenen–dassind11000Leistungsbezieher–wirklichhelfen.„MitVerlaub:Wer<strong>von</strong>351EuroimMonatlebenmuss,derbrauchtkeinepsychologischeBotschaft,derbrauchteinfachmehrGeld.(…)DiewirklichArmenindieserGesellschaft,etwadiealleinerziehenden<br />

Mütter,werdenmitsolchenBeschlüssenverhöhnt.“ 436<br />

Die SPD erreichte bei den Bundestagswahlen mit 23,3 Prozent ihr bisher schlechtestes<br />

Ergebnis seitBestehender Bundesrepublik.Wurde vor der Wahl die Agenda 2010<br />

undHartzIVnichtausdrücklichkritisiert,sosetztenachdemWahldebakeleinUmdenken<br />

ein.AufdemimNovemberinDresdenstattgefundenenParteitagwurdeSigmarGabrielals<br />

neuer SPD Vorsitzender gewählt. Die SPD verabschiedete sich <strong>von</strong> ihrer alten Führungsriege<br />

und richtete sich in ihren Zielen auf die bürgerliche Mitte aus. Man beschloss die<br />

umstrittenenMaßnahmenderAgenda2010beidenArbeitsmarkt-undSozialreformenzu<br />

überprüfen.DieSPDbeschließtkonkret,dassdasSchonvermögenerhöhtwerdensollund<br />

dass es für die Kinder – deren Eltern ALG II beziehen – zukünftig einen eigenständigen<br />

undbedarfsgerechtenKinderregelsatzgebensoll.AlleVorschläge,dieeine„Kindergrundsicherung“betreffen,sollenbisEnde2010ausgearbeitetwerden.Darüberhinauswirdbeschlossen,dassdieRegelsätzefürALGIIregelmäßigüberprüftundgegebenenfallsbedarfsgerechterhöhtwerdensollen.<br />

437<br />

InteressantindiesemZusammenhangist,dassderWirtschaftswissenschaftlerPeter<br />

BofingerschonvorderWahleineunbürokratischeundnichtdiskriminierendeFormdersozialenAbsicherung<strong>von</strong>vollzeitbeschäftigtenAufstockernfürdieSPDentwickelthatte.Der„BonusfürArbeit“wurde<strong>von</strong>derehemaligenParteispitzeSteinmeierundMünteferingjedochadactagelegt.<br />

438 EinGrundfürdieseAblehnungistwohlauchdie<strong>von</strong>vielengeforderteUmwandlungallerMinijobsinJobs,diedervollenSozialversicherungspflichtunterliegenwürden.<br />

439 DerDGBunterstütztedenBonusvorschlag,mitdemdieAufstocker<strong>von</strong><br />

Sozialversicherungsbeiträgenentlastetwürden,umihreEinkommenExistenzsicherndzu<br />

machen. 440<br />

436 http://www.ad-hoc-news.de/fraktionschef-der-tagesspiegel-trittinschwarz-gelb--/de/Politik/20613506,<br />

letzter Zugriff: 07.12.09<br />

437 http://www.tagesschau.de/inland/spdbeschluss100.html, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />

438 vgl. Bofinger 130<br />

439 Das würde heißen, dass die Arbeitgeber Beiträge zu diesen Jobs leisten müssten.<br />

440 vgl. www.dgb.de/themen/themen_a_z/abisz_doks/b/bonus_arbeit.pdf, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />

75


4.2<br />

Alternative Vorstellungen<br />

4.2 AlternativeVorstellungen<br />

„Wenn die ökonomischen, sozialen und kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft<br />

nicht weiter erodieren sollen, dann brauchen wir in der Wirtschaftspolitik ein Neues<br />

Denken. Wir müssen der Internationalisierung der Wirtschaft eine neue politische<br />

Antwort entgegensetzen. Und diese neue politische Antwort heißt: Internationale<br />

Zusammenarbeit.“ 441<br />

Durch die teilweise rigiden Auswirkungen der Sozialreformen haben in der VergangenheitParteien,VerbändeundOrganisationenAlternativenentwickelt.DerDeutsche<br />

Gewerkschaftsbund DGB war Mitinitiator und Befürworter der Hartz-IV-Gesetzgebung.<br />

NachfünfJahrensetztesichaberinnerhalbdesDGBdieErkenntnisdurch,dassdurchdie<br />

Hartz-IV-ReformdiesozialeSicherungmehrum–undabgebautwurdealsjedeandereReformesvorherjemalsgetanhat.AnnelieBuntenbach–PolitikerinderGrünen,VorstandsmitgliedimDGBundMitgliedbeiattac–siehtinderHartz-IV-Gesetzgebungkeinemoderne,<br />

am Einzelfall ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik, sondern nach wie vor ein Gesetz<br />

dasfüreinhohesArmutsrisikosteht. 442 DeshalbsindernsthafteVerbesserungenunbedingt<br />

nötig.AlsomüsstederHartz-IV-Satzangehobenwerden.BuntenbachäußertdieHoffnung,<br />

dassdasNachfolgemodell–dasdurchdieNichtanerkennungderARGEnalsGmbHdurch<br />

das Bundesverfassungsgericht – bis Ende 2010 entwickelt werden muss, Verbesserungen<br />

bringt.MitderNeufassungderARGEnsolltenauchdie„unsinnigenundteuren1-Euro-<br />

JobsbishinzumRegelsatz“unddieverschärftenSanktionenabgeschafftwerden. 443 StattdessenmüsstenBeratung,VermittlungundBetreuungverbessertwerden,damitdieArbeitslosenwiederdauerhaftindenArbeitsmarktintegriertwerdenkönnten.DerDGBwillsichwiederaktivindieDiskussionenumdasALGIIeinschalten,dennseinerMeinungnachreichenpunktuelleVerbesserungennichtaus.ImInteressederBeschäftigtensowiederArbeitslosen<br />

fordert der Gewerkschaftsdachverband tarifvertraglich abgesicherte Löhne und ArbeitsbedingungensowieeinebessereAbsicherungundUnterstützungbeiArbeitslosigkeit.<br />

Der DGB regt keine bundesweiten gemeinsam organisierten Protestaktionen an. Er setzt<br />

vielmehraufdieAufklärungundkonkreteHilfefürdieBetroffenendurchbeispielsweiselokaleBeratungsstellenwiedeninderLandeshauptstadtansässigen„dau-wate.V.“.<br />

Der Sozialverband Deutschlands (SoVD) und die Volkssolidarität (VS) fordern gemeinsam,<br />

das Leistungsniveau <strong>von</strong> Hartz IV dringend zu verbessern. Der SoVD fordert,<br />

dass Ersparnisse zur Altersvorsorge grundsätzlich nicht mit dem Arbeitslosengeld II verrechnetwerdendürfen.<br />

AuchderParitätischeWohlfahrtsverbandtritt–sowieandereauch–dafürein,die<br />

ZuständigkeitfürdasSGBIIdenKommunenzuübertragen.DennnursokönnenSchnittstellenproblemeundReibungsverlustevermiedenwerden.AuchdasPrinzipder„HilfeauseinerHand“solltesichnachMeinungderVerbändedurchsetzen,damitdieArbeits-undSozialförderungdenörtlichenGegebenheitenbesserangepasstwerdenkann.Darüberhinaus<br />

istesnötig,dieRegelsätze<strong>von</strong>SGBIIundSGBXIIumgehendauf440Eurozuerhöhen,<br />

da mit dem aktuellen Regelsatz der tägliche Mindestbedarf des Menschen nicht gedeckt<br />

werdenkann.DiePrüfungaufeinebedarfsgerechteAnpassungderRegelsätzesollzukünftig<br />

eineunabhängigeKommissionübernehmen.DieErhöhungderRegelsätzesolltesichanden<br />

aktuellenLebenshaltungskostenundnichtanderRentenentwicklungorientieren.Dasgilt<br />

441 Oskar Lafontaine, 1997, http://www.spw.de/9702/lafontaine.html, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />

442 vgl. DGB: Hartz IV – Tipps und Hilfen des DGB 6<br />

443 ebd. 6<br />

76


4.2 AlternativeVorstellungen<br />

auchfürdenRegelsatzfürKinderundJugendliche.AuchermusssichamtatsächlichenBedarf<strong>von</strong>KindernundJugendlichenausrichtenundsollinseinerHöhedurcheineunabhängigeKommissionimmerwiederneuberechnetwerden.DieVerbändefordernweiterhindie<br />

AufnahmeeinerÖffnungsklauselindasSGBII,damitatypischeundeinmaligeBedürfnisse<br />

wiedieAnschaffung<strong>von</strong>notwendigemHausratundnichtverschreibungspflichtigenArzneimittelnbesserfinanziertwerdenkönnen.<br />

444<br />

EineAlternativezumBezug<strong>von</strong>HartzIVundseinemHintergrund„Fördernund<br />

Fordern“istdasKonzeptdessogenanntenExistenzgeldes.DasExistenzgeldsolleinebedarfsunabhängigeAbsicherungsein,beiderkeineBedürftigkeitzugrundeliegenmussundkeinZwangzurArbeitbesteht.DasExistenzgeldwirdanjedenBürgerausgezahltundersetztsoallebisherigensozialenSysteme.TomBingerforderteinExistenzgeldinHöhe<strong>von</strong><br />

mindestens800EuroplusdieÜbernahmeallerWohnkosten. 445<br />

Kritikkam<strong>von</strong>denArbeitslosenundSozialhilfebeziehernundderenOrganisationen,<br />

inderenReihendasKonzeptentstand.EinenichtrepräsentativeUmfrageunterihnenergab,<br />

dass17ProzentdieIdeekategorischablehnten. 446 Hauptargumentwardabei,dassdieArbeitslosenundSozialhilfeempfängerkeineAlmosenerhaltenwollen.SiewollenihrLeben<br />

stattdessenlieberdurchErwerbsarbeitbestreitenkönnen.SieforderneineArbeit,<strong>von</strong>der<br />

manlebenkann.ÄhnlicheAussagenundAuffassungenkonnteichauchinmeinerUmfrage<br />

undinmeinenInterviewsfeststellen.<br />

DerArbeitslosenverbandALVimBundundimLandsiehteinRechtderMenschen<br />

auf ein steuerfinanziertes Grundeinkommen. Er begründet ihn damit, dass der gesamte<br />

Reichtum der Gesellschaft – ob nun in Erwerbsarbeit, privater Erziehungs- und Sorgearbeit,<br />

im kulturellen, sozialen, ökologischen und politischen Engagement oder in der AneignungundWeitergabe<strong>von</strong>WissenundKompetenzen–<strong>von</strong>allenMenschengeschaffen<br />

wird.DarauserwächstderAnsprucheinesjedenaufeineangemesseneTeilhabeandiesem<br />

Reichtumundander<strong>Gestaltung</strong>derGesellschaft.DieserAnspruchseiabermitHartzIV,<br />

derSozialhilfeundderGrundsicherungimAlterundbeiErwerbsminderungnichtgewährleistet.DasgeforderteGrundeinkommenmüsseindividuellundbedürftigkeitsgeprüftsein.<br />

Es solle ohne eine Arbeitsverpflichtung oder einen Arbeitszwang ausgezahlt werden. Die<br />

HöhedesGrundeinkommenssolltesichdabeianderArmutsrisikogrenze–sieliegezurzeit<br />

inDeutschlandbeica.850Euro–orientieren,undsichdentatsächlichenLebenshaltungskostenanpassen.JedesKinderhältdieHälftedesfestgelegtenGrundeinkommens.SozialversicherungsbeiträgesindnichtimGrundeinkommenenthaltenundsollenstattdessengesellschaftlichabgesichertwerden.DerArbeitslosenverbandsprichtsichfüreineeuropaweite<br />

EinführungdesGrundeinkommensaus. 447<br />

Der Arbeitslosenverband Mecklenburg-Vorpommern ALV-MV sieht noch andere<br />

Lösungswege. Erschlägt vor,dass Langzeitarbeitslose u.a. bei der Existenzgründung als<br />

VereinoderGenossenschaftgefördertwerdensollten.DennochistauchfürdenALV-MV<br />

dieSchaffung<strong>von</strong>sozialversicherungspflichtigenArbeitsverhältnisseninBereichenwieUmwelt,Gesundheit,Kulturusw.dersichersteundlangfristigwirkungsvollsteSchrittgegenHartzIV,Armut,AltersarmutundAusgrenzungausdemgesellschaftlichenLeben.Erfordert,dassdieAufgabenderJobcenter,derARGEnundderKommunenineinerHandvereinigt<br />

werden müssen, denn 70 Prozent aller Arbeitslosen in Mecklenburg-Vorpommern<br />

fallenindenProblemkreis<strong>von</strong>SGBII. 448 Das„GarantierteGrundeinkommen“wirdneben<br />

denParteien„DieGrünen“und„DieLinke“<strong>von</strong>Sozialforen,Bürgerrechtsorganisationen<br />

wiedem„links-netz“unddemKomiteeGrundrechteundDemokratiefavorisiert.Siever-<br />

444 vgl. http://www.der-paritaetische.de/uploads/media/10-Punkte-Agenda.pdf, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />

445 vgl. Binger 175<br />

446 vgl. Wompel/Pandorf 82<br />

447 vgl. http://www.arbeitslosenverband.org/PDF/PositionProzent20zumProzent20Grundeinkommen.pdf<br />

448 vgl. ALV<br />

77


4.2 AlternativeVorstellungen<br />

langen, dass das garantierte Grundeinkommen alle Formen der bisherigen sozialen Absicherung<br />

– etwa Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Rente und Ausbildungsbeihilfen – bündeln<br />

soll.DamitwärederbisherigeKontroll-undVergabeapparatüberflüssig.Dasgarantierte<br />

GrundeinkommensolldabeiaberdeutlichhöherliegenalsdieSozialhilfeoderdasALG<br />

II.ZudemsolldiesozialeInfrastruktur,dieöffentlicheGüterfüralleMenschenbereitstellt,<br />

sogeöffnetwerden,dassauchLeistungsbezieherZugangbeispielsweisezuBildung,Kultur<br />

undSporthaben. 449 DiesesgarantierteGrundeinkommensolldurchSteuernaufalleEinkommensartenundwirtschaftlicheEinheiten–BetriebeundHaushalte–finanziertwerden.<br />

Darüber hinaus müssten Gewinn- und Körperschaftsteuern, Vermögens- und Erbschaftssteuern,MehrwertsteuernundökologischeVerbrauchs-undBelastungsabgabenmitzurFinanzierung<br />

herangezogen werden. Neben dem garantierten Grundeinkommen soll jedem<br />

Menschenermöglichtwerden,durchArbeitnochetwashinzuzuverdienen. 450<br />

AlseinenIrrwegbezeichnetderSoziologeButterweggeinseinemBuch„Armutin<br />

einemreichenLand“beziehungsweiseindem10-Punkte-ProgrammfürdenSozialverband<br />

Deutschland(SoVD)unddieVolkssolidarität(VS)dasKonzeptdesbedingungslosenGrundeinkommens–auchalsBürger-bzw.Existenzgeld,SozialdividendeodernegativeEinkommenssteuerbezeichnet.FürButterweggesehendiesebereitsbestehendenundinderrealen<br />

Politik diskutierten Modelle nicht vor, die Sozialversicherungen mit einzubinden. Damit<br />

wärendieMenschenimFallesozialerExistenzrisiken–etwaimFalle<strong>von</strong>(schwerer)Krankheit<br />

oder/und Erwerbsunfähigkeit – noch schlechter gestellt, da ihnen diese Absicherung<br />

fehlen würde. Darüber hinaus würden für Butterwegge die Grundeinkommen als „Kombilohn<br />

für alle“ wirken. Den Unternehmen stünden damit noch mehr preiswerte Arbeitnehmer<br />

zur Verfügung, denn das Existenzminimum wäre ja schon durch das Grundeinkommengesichert.DieGewinnederUnternehmenwürdendamitnochstärkersteigenund<br />

dieRegierungwerdenichtmehrunterdemselbenZugzwangstehen,dieArbeitslosigkeitzu<br />

bekämpfen.DiegrößteGefahrsiehtButterweggeaberinderdannzuTagetretendenÜberflüssigkeitderanderenSozialversicherungssysteme.Dennsiewürdendannwegfallen,wenn<br />

(fast)alleTransferleistungenimGrundeinkommenaufgehenwürden.Butterweggeplädiert<br />

daherfüreine„Bürgerversicherung“,indernebendemGrundeinkommenauchdieKrankenversicherungundPflegeversicherunggesetzlichverankertsind.DiegesetzlicheRentenversicherungmüssezurErwerbstätigenversicherungweiterentwickeltwerden.<br />

451 Erplädiert<br />

alsofürdenEinbau<strong>von</strong>ElementenderGrundsicherungindiebestehendenSozialsysteme. 452<br />

ErwähntseinochderPhilosophPeterSloterdijk,derineinemEssayinderFAZvom<br />

10.06.2009mitdemTitel„DieRevolutiondergebendenHand“eineandereUtopieentwirft<br />

unddamiteinebreiteDiskussionumdenSteuerstaatentfachthat.Mitihmsetztsichder<br />

JournalistMartinHatziusauseinander.NachSloterdijksMeinungsolltenallesteuerfinanziertensozialenAusgabendurchSpendenderWohlhabendenersetztwerden.Wohlhabende<br />

sind für ihn die so genannten Leistungsträger – etwa Unternehmer, Manager, Politiker<br />

usw.–,alsoalledie,diediemeistenSteuernzahlen.SloterdijksEssayzeigtdenUmgangder<br />

GesellschaftmitihrenschwächstenGliedern.DerVorschlag<strong>von</strong>Sloterdijkfördertweiter<br />

dieohnehinschonbestehendeZweiteilungderGesellschaftin„FlüssigeundÜberflüssige“<br />

undzeigtdenWunschnachdemvölligenRückzugdesStaatesausseinersozialenVerantwortung.AnstellederSolidaritätmitgesellschaftlichenRandgruppenunddieAnerkennung<br />

sozialerNormen–etwadieGarantiederMenschenwürde–würdeeinunterstellterStolz<br />

desSpendersdieFolgesein.DerBeschenkteverdankeseinÜberlebenderGnadedesSchenkenden.KritikerhaltendiesemKonzeptentgegen,dassdiekapitalistischeÖkonomienur<br />

449 vgl. Binger 174 ff<br />

450 vgl. Binger 179 f<br />

451 vgl. http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/<br />

broschuere_sozialabbau.pdf, S.25 ff, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />

452 Butterwegge 271 ff<br />

78


4.2 AlternativeVorstellungen<br />

ZinsdruckundProfitzwangkennt.AberkeineMoral,soHatzius.FürdieBedürftigenmuss<br />

vielmehreinstarker,demokratischlegitimierterStaatplanendeingreifenunddieGemeinschaftunddasIndividuumschützen.DerStaatmussdasRegulativderGesellschaftsein,<br />

nichtderMarkt. 453<br />

AllebishergenanntenProjekteundKonzeptionenbewegensichimnationalenund<br />

europäischenRahmen.DiemedizinischeHilfsorganisation„medicointernational“hatjedochdieVisioneinesglobalenProjektssozialerGerechtigkeitentwickelt.AusgangspunktderÜberlegungenistdiegegenläufigeDynamikderGlobalisierungunddieungerechteVerteilungdesReichtums.SostehederSchaffungeinesunvorstellbarenmateriellenundsymbolischenReichtumsdieungeheureVerarmung,EntrechtungundAusgrenzung<strong>von</strong>MilliardenMenschengegenüber.AllerReichtummüssedeshalbweltgesellschaftlichangeeignetwerden.„medicointernational“fordertalsVoraussetzungfürdiesenProzesseineWeltbürgerschaftmitderStaatsbürgerschaftzuverknüpfen.DieserforderedenBeginneinerGlobalisierung<strong>von</strong>unten.LetztendlichsorgtaberdiekapitalistischeWeltökonomieselbstdafür,dassneueFormendersolidarischenundmoralischenÖkonomie(FormendesfairenWelthandels,d.V.)entstehen.<br />

454<br />

Zusammenfassend lassen sich die Forderungen der Kritiker, die über die Zugeständnissederaktuellenschwarz-gelbenKoalitionhinausgehen,wiefolgtbeschreiben.Die<br />

Hartz-IV-RegelsätzeunddieRegelsätzefürKindermüssenerhöhtwerden.DieAnpassung<br />

derRegelsätzedarfnichtnachderRentenentwicklunggeschehen,sondernmusssichnach<br />

dentatsächlichenLebenshaltungskostenorientieren.DieZumutbarkeitsregelnbeimALGII<br />

müssenentschärftbzw.abgeschafftwerden.InbesonderenNotlagenmussdieMöglichkeit<br />

geschaffenwerden,zusätzlicheindividuelleLeistungenzuerhalten.Gefordert(außer<strong>von</strong><br />

derSPD)wirddieEinführungeinerGrundsicherungbzw.einesGrundeinkommens.Überwiegendwirdsichdabeidafürstarkgemacht,dassdieGrundsicherungbzw.dasGrundeinkommennichtmiteinerArbeitsverpflichtungbzw.einemZwangverbundenseindarfund<br />

dieanderensozialenSicherungssystemeeinschließt.<br />

453 vgl. Hatzius, Martin: Ein Mensch ohne Mehrwert ist nichts mehr wert – Die <strong>von</strong> Peter<br />

Sloterdijk angestoßene Debatte über den Steuerstaat rührt an das Selbstverständnis unserer<br />

Gesellschaft, in: Neues Deutschland, Berlin, Nr. 64/277, 28./29. November 2009, S.21<br />

454 vgl. Binger 185 ff<br />

79


4.3<br />

Widerstand und Protest<br />

4.3 WiderstandundProtest<br />

„Der soziale Frieden in Deutschland ist extrem gefährdet, da bundesweit rund drei<br />

Millionen Menschen keine finanzielle Unterstützung erhalten.“ 455<br />

Der Wirtschaftswissenschaftler Peter Bofinger schreibt in seinem 2009 erschienen<br />

Buch„IstderMarktnochzuretten?“,dass75ProzentderBürgerderMeinungsind,die<br />

wirtschaftlichen Verhältnisse sind nicht gerecht. Nur 13 Prozent halten sie für gerecht.<br />

EineUmfrageunterdergleichen Fragestellung imJahr2000ergab, dass nur 47Prozent<br />

derBefragtendiewirtschaftlichenVerhältnissealsungerechtansahen.33Prozenthielten<br />

damalsdiewirtschaftlichenVerhältnissefürgerecht.2008hattenrund50Prozentderin<br />

Ostdeutschland befragten Bürger keine gute Meinung mehr vom bundesdeutschen Wirtschaftssystem.Nur20Prozent<strong>von</strong>ihnenbefürwortetendieMarktwirtschaft.<br />

456<br />

DerMeinungsumschwungistauchinderDurchsetzungderAgenda2010undden<br />

Hartz-IV-Gesetzenbegründet.DieserWandelverwundertinsofernwenig,dadieArbeitslosigkeitsteigtundimOstensogarzweistelligist.ZweiDrittelallerALG-II-Anträgewerden<br />

im Osten gestellt. Ende 2008 bekamen bundesweit 6,6 Mio. Menschen Hartz-IV-Leistungen.Jeder10.Menschunter65Jahrenwaralso<strong>von</strong>HartzIVbetroffen.<br />

457<br />

Umsoverwunderlicheristesdeshalb,dasseskeine(bundesweiten)Massenproteste<br />

mitzehntausendenMenschen–wievorderEinführung<strong>von</strong>HartzIV–gibt.Vereinzelte<br />

AktionenfindennachderEinführung<strong>von</strong>HartzIVoftnurnochörtlichstatt.Umwirkliche<br />

Veränderungen gegen Hartz IV herbeiführen zu können, bedarf es jedoch einer gemeinsamenGegenwehr<strong>von</strong>lokalenBündnissenundorganisiertenVerbänden.Solchesozialen<br />

BündnissebenötigeneinepolitischebundesweiteBündelung,Koordinierung,Orientierung<br />

und Führung. Nur ein gefestigter Verband aus sozialen Bündnissen kann einen ernst zu<br />

nehmendenpolitischenWiderstandleisten.NachMeinungderPolitökonominAnneAllex<br />

isteinebundesweiteGegenwehrfaktischnichtmöglich,dadasFührungspersonal<strong>von</strong>Gewerkschaften,diezusehrandieRegierung<strong>von</strong>SPD/Grünengebundenseien,diediesnicht<br />

zulassen würden. 458  Selbst der DGB – als Mitinitiator <strong>von</strong> Agenda 2010 und Hartz IV –<br />

beschränktsichaufKritikundHilfefürdieBetroffenenvorOrt(sodurchdiegewerkschaftlicheArbeitslosenberatung„dauwate.V.“).<br />

Ein weiterer Grund für die relative Tatenlosigkeit der Gewerkschaften ist die verminderteEinflussnahmeindenBetrieben.DennnurnochinKernbelegschaften<strong>von</strong>gutorganisiertenBetriebenhättendieGewerkschaftennocheinenernstzunehmendenEinfluss.IndenmeistenUnternehmenagierendieGewerkschaftenalsCo-Manager,diedieArbeitsplätzeerhaltenwollen,unddafüreinenLohnabbauinKaufnehmen.DiesesDenkenfindet<br />

sichauchbeidenAngestelltenundBeschäftigten.WiegroßdieAngstvordemAbstiegin<br />

HartzIVistundwiesehrHartzIValsDrohungwahrgenommenwird,zeigteineUmfrage<br />

desInstitutsfürDemoskopieinAllensbach.ImHerbst2003,alsonochvorderEinführung<br />

<strong>von</strong>ALGII,waren71ProzentderBefragtenbereit,längerohneLohnausgleichzuarbeiten,<br />

wennihrArbeitsplatzgefährdetseinsollte.DieserTrenddürftesichnachderEinführung<br />

<strong>von</strong>HartzIVundderOffensichtlichkeitderFolgennochverstärkthaben. 459<br />

455 Gemeinsames Positionspapier <strong>von</strong> Beschäftigten aus Sozialämtern und Bundesagentur für Arbeit, 2004,<br />

http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/hilfe/verdinrw.pdf, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />

456 vgl. Bofinger 92<br />

457 vgl. Hartz IV, Tipps und Hilfen des DGB, 6 f<br />

458 vgl. Allex 32 ff<br />

459 Gillen 83<br />

80


4.3 WiderstandundProtest<br />

DiePolitikwissenschaftlerinGabrieleGillensiehtdarinauchdieBegründung,dass<br />

essoschwerist,eineSolidaritätzwischendenArbeitendenundArbeitslosenherzustellen.<br />

ÄhnlicheVersuche,siegemeinsamzuorganisieren,sindfürGillenschoninderVergangenheitgescheitert.<br />

460<br />

UmeinenmöglichstwirkungsvollenProtestzuorganisieren,müssensichdienochin<br />

festenArbeitsverhältnissenstehendenBeschäftigtenmitdenAusgegrenzten,denErwerbslosenunddenHartz-IV-Empfängernsolidarisierenundgemeinsamaktivwerden.Wichtig<br />

dabeiistdieEinsicht,dassbeide–sowohldieErwerbstätigenalsauchdieErwerbslosen–<br />

betroffensind,dennwerheutenochArbeithat,kannschonmorgenarbeitslosundübermorgen<strong>von</strong>HartzIVabhängigsein.DerPolitikwissenschaftlerMichaelKlundtistauchderAnsicht,dassdieseSolidarisierungkaumvorhandenist.<br />

461 SelbstdieBetroffenensindkaumzugrößerenAktionenzu<br />

motivieren.Denn,werwiesieimtäglichenÜberlebenskampfstehe,kämpfeschongenug.<br />

DieEntstehungeinerSolidarisierungwerdezusätzlichdadurchgeschwächt,dasssichviele<br />

Empfänger <strong>von</strong> Hartz IV mit der Situation abfinden oder sich darin wohl fühlen. Viele<br />

hättendenProtestaufgegebenbzw.seiendemoralisiert.<br />

ErnstzunehmendeAlternativendesProtesteswärenjedoch„bürgerschaftliche“Organisationsformen,<br />

in die alle Betroffenen mit einbezogen werden müssten. Anne Allex<br />

nenntbeispielsweiseden2004gesetzten„FrankfurterAppellgegenSozial-undLohnraub“.<br />

462 DieseOrganisationsformenkönnenaufdiePolitik<strong>von</strong>ParteienundGewerkschaftenvor<br />

OrtEinflussnehmenund<strong>von</strong>untenDruckaufdiepolitischenEbenenderLänderunddes<br />

Bundes machen. Erschwert wird die Arbeit dieser Organisationen durch die fehlende öffentliche<br />

Unterstützung. Alternativen wie „1 Million Arbeitsplätze durch öffentliche Daseinsvorsorge,Zukunftsinvestitionen,ArbeitszeitverkürzungundUmverteilung“oderdas<br />

„Memorandum2004“würdenauchmehrWirkungerzielenkönnen,hättensieeinegrößere<br />

öffentlicheundmedialeUnterstützung.DieseAlternativenbeinhaltetenverschiedeneAufrufe<strong>von</strong>Wissenschaftlern,denSozialstaatzureformieren,stattihnStückfürStückabzubauenunddieArbeitslosigkeitzubekämpfen,stattdieArbeitslosenzubestrafen.<br />

463<br />

Abzuwarten bleibt, inwieweit sich die neue Opposition im Bundestag aus SPD,<br />

Grünen und Linken mit Gewerkschaften, Sozialverbänden und Betroffenen zu gemeinsamenparlamentarischenbzw.öffentlichenAktionenzusammenfindenwerden.Einigkeit<br />

herrschtaberschonjetztdarüber,dasstarifvertraglichabgesicherteLöhneundeinebessere<br />

AbsicherungundUnterstützungbeiArbeitslosigkeitdurchgesetztwerdenmüssen.<br />

Momentan bleibt den Betroffenen <strong>von</strong> Hartz IV oft nur die Hilfe zur Selbsthilfe<br />

durchdieErwerbslosen-undSozialhilfeorganisationenundderindividuelleProtestgegen<br />

dierigidenFestlegungendurchWiderspruchundKlagenvorGericht.ImJahr2005gabes<br />

knapp57000VerfahrenbeidenSozialgerichteninderBundesrepublik,diesichmitHartz-<br />

IV-Widersprüchenbeschäftigenmussten.ImJahr2008warenesbereits175000.DiesesteigendeTendenzwurdemirauchaufRückfragebeimHanse-JobcenterRostockbestätigt.<br />

460 vgl. Gillen 117<br />

461 vgl. Klundt 51<br />

462 Allex 33<br />

463 Klundt 51 f<br />

81


4.4<br />

Zusammenfassung<br />

4.4 Zusammenfassung<br />

Die neue Bundesregierung verzichtet vorerst auf weitere radikale Änderungen bei<br />

denHartz-Gesetzen.DereingeschlageneWegwirdstattdesseninkleinenSchrittenfortgesetzt.Schwarz-GelbgibtsichsogaralsWohltäter.SieerhöhtdasSchonvermögenaufdas<br />

Dreifache, erlaubt die Nutzung der eigenen Immobilie ohne Anrechnung und erhöht die<br />

GrenzedesmöglichenZuverdienstesohneAnrechnung.Dennochdarfmannichtvergessen,<br />

dass<strong>von</strong>diesenVerbesserungen2009nurwenigeundvorallemerstdiezukünftigenBezieher<strong>von</strong>HartzIVbetroffensind.DieAusrichtungderVerbesserunglässtsichaberdeutlicherkennen.DurchdasZugeständniszuhöherenZuverdienstmöglichkeitenderHartz-IV-<br />

BezieherprofitierendieUnternehmen.Siekönnennunnochmehrstaatlichsubventionierte<br />

ArbeitsplätzeeinrichtenoderdiebisherigeninihrerArbeitszeitverlängern,ohneselbstfür<br />

die zusätzlichen Arbeitszeiten und Arbeitsstellen finanziell aufkommen zu müssen. Die<br />

schwarz-gelbeKoalitionkommtdenForderungenvielerKritiker<strong>von</strong>HartzIVunddenBetroffenennach.MöglichenProtestaktionenwirdsomitdieSpitzegenommenundgrößeresozialeSpannungenwerdenvermieden.BundeskanzlerinMerkelgreiftder2010zuerwartendenArbeitslosigkeitvor.AufgrundderkrisenhaftenEntwicklungistnämlichda<strong>von</strong>auszugehen,dassdannvielegutbezahlteFacharbeiterundAngestelltearbeitsloswerden,die<br />

überVermögenundImmobilienverfügen.VieleanderewichtigeProblemewerdenaber<strong>von</strong><br />

derneuenBundesregierungnichtangepackt.Bestehenbleibenweiterhindievielzuniedrigen<br />

Regelsätze,dasKonstruktderBedarfsgemeinschaft,dienichtsozialversicherungspflichtigen<br />

Ein-Euro-JobsunddieEntkoppelungderBezugsdauerdesALGI<strong>von</strong>derZahlderArbeitsjahre.SolltesichinZukunftnichtwirksamerProtesterheben,sowerdendieseProbleme<br />

vermutlichinverschärfterFormineinerAgenda2015oder2020angegangenwerden.<br />

AuchimfünftenJahrnachderEinführungderHartz-Gesetzesindsieeineeinzige<br />

großeBaustelle.SomoniertedasBundesverfassungsgericht(BVG)dienichtverfassungsgemäßeKonstruktionderARGEnalsGmbHundverlangt<strong>von</strong>derBundesregierungbisEnde<br />

2010 dieses Konstrukt aus Bundes- und kommunaler Einrichtung in eine verfassungsgemäßeFormzuverändern.SeitdemHerbst2009hatdasselbeGerichtauchüberdieRechtmäßigkeitundHöhedesKinderregelsatzeszuentscheiden.MitderÜberprüfungdesRegelsatzesfürKinderwirdauchderRegelsatzfürdieErwachsenenüberprüft.<br />

82


5.0<br />

Formulargestaltung<br />

5.1<br />

Definition und Funktion <strong>von</strong> <strong>Formularen</strong><br />

5.0 Formulargestaltung<br />

„Es mag einfacher sein, ein Land zu regieren, als eine Stromrechnung zu lesen.“ 464<br />

DieAusführungenaufdennächstenSeitenbeziehensichausschließlichaufdasFormular<br />

als papiernen Vordruck. Auch wenn für die digitalen Ausgaben ähnliche GesetzmäßigkeitenundForderungengelten,sobedürfensieeinergesondertenBetrachtung.DieUnterschiedezwischenbeidenMediensindvielfältigeralsnurdieFeststellung,dassPapiervordruckeohneweitereHilfsmittelgelesen,verbreitetundarchiviertwerdenkönnen.DigitaleFormularebesitzenaufgrundihrerProgrammierbarkeitVorteilewieGeschwindigkeit,<br />

Aktualität,ÜberprüfungaufRichtigkeitderAngabenundValidierungderEingaben,aber<br />

auchNachteileinBezugaufFlüchtigkeit,HandlichkeitundSicherheit.<br />

DaaufdenfolgendenSeitenausschließlichpapierneFormulareerörtertundbesprochenwerden,setzeichdieBegriffeFormularundVordruckgleich.Ichkönntediesnichttun,<br />

wennichinmeineAbhandlungauchdigitaleFormularemiteinbezogenhätte.<br />

FormulareoderauchVordruckeoderFormblättersindalleArtenschriftlicherMitteilungen,dieeinenwiederkehrendenundeinenvariablenBestandteilhaben.Siesindeine<br />

Darstellungsform für schriftliche Mitteilungen, um „eine oder mehrere Teilmengen aus<br />

einervorgegebenenGesamtheit<strong>von</strong>Informationensichtbarzumachen.Esistinsofernein<br />

ZeichensystemunddamiteinersemiotischenSystematisierungzugänglich.“ 465 DieGesamtheitderFormularinformationenistdurchWorte,Texte,ZahlenundgrafischeElementedefiniert.DasFormularnutztdiezweiDimensionenderFlächedesPapiersundist„einräumlichesundinseinemlinearensprachlichenAufbauaucheinzeitabhängigesZeichensystem.“<br />

466 <br />

FormularesindeineinJahrhundertenentwickelteFormschriftlicherMitteilungen,dieaufgrundihrervorgedrucktenBestandteileunddurchderen<strong>Gestaltung</strong>undWiederholungdokumentarischenCharakterbesitztundbeimEmpfängerSicherheitundVertrauenauslöst.<br />

467<br />

IhreStrukturundihre<strong>Gestaltung</strong>sollendafürsorgen,dassSchreib-,Lese-undBearbeitungszeiten<br />

und Bearbeitungsfehler verringert werden. Durch die Festlegung der Informationen<br />

und Informationswege sollen Arbeitsabläufe gestaltet und gesteuert werden<br />

können.SiedienensowohlderInformationsgewinnungalsauchderInformationsübermittlung.DiewiederkehrendenBestandteile,diemeisttypografischgestaltet,zweckmäßigangeordnetundvorgedrucktsind,richtensichanalleEmpfängerdieserMitteilungsart,wohingegen<br />

sich die variablen Bestandteile an den Einzelnen richten. Die wiederkehrenden<br />

BestandteiledesFormularssindVoraussetzungdafür,dassdasFormularüberhaupterstals<br />

Mustergestaltetwerdenkann. 468 DervariableBestandteilwirdmeistdurchdiehandschriftlichenEintragungendesAusfüllendenerzeugt.<br />

464 Helmut Schmidt, Bundeskanzler a.D., http://www.windpferd.de/shop/pix/a/<br />

media/978-3-89385-587-2/Leseprobe_978-3-89385-587-2.pdf, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />

465 Toebe-Albrecht 70<br />

466 ebd. 70<br />

467 vgl. Toebe-Albrecht 173<br />

468 vgl. Albrecht 17 ff<br />

83


5.1 DefinitionundFunktion<strong>von</strong><strong>Formularen</strong><br />

Ohne Formulare würden die Angaben für eine Bearbeitung unvollständig, ungeordnetundfüreineschnelleBearbeitungungeeignetsein.<br />

469 ZusätzlicherAufwandundVerzögerungendurchRückfragen,ÜberlegungenundSortierarbeitenwärendieFolge.<br />

Neben ihrer Funktion als Informationsmittel sind Formulare also auch Organisations-undArbeitsmittel.DasFormularkanninseinerFunktionalsArbeits-undInformationsmittelzeitlichund/oderräumlichgetrennteBearbeitungsschrittezueinemzusammengehörigenVerwaltungsprozessausPrüfung,EntscheidungundVollzugverbinden.FormularesindBestandteileinesstrukturiertenArbeitsablaufesausErfassung<strong>von</strong>Informationen,Ansicht,AufbereitungundVerknüpfung.Gefolgt<strong>von</strong>Auswertung,AusgabeundSpeicherung.<br />

Siebeschreiben,steuernundgestaltenorganisatorischeundkommunikativeVorgänge<strong>von</strong><br />

privatenwiestaatlichenInstitutionen,VerwaltungenundOrganisationen.<br />

Formulareermöglicheneineeindeutige,gleichmäßiggeordneteInformation,sieersparenSchreib-undDenkarbeit,siesteuerndenArbeitsablauf.<br />

470 SiehaltendasErgebnis<br />

einzelner Arbeitsschritte (Aktenmäßigkeit) fest und sorgen somit für eine Überprüfbarkeit<br />

der Verwaltungsprozesse. 471  Das Formular ist das Mittel der Mitteilung der Verwaltungen.EsvereinheitlichtVerwaltungsakteundorganisatorischeVorgängeundbegründet<br />

eine„HaltungderZweckmäßigkeitundRationalität.“ 472 DasMißtrauengegendieWillkür<br />

derVerwaltungkonntegemindertwerden,denn„Wasfürallebestimmtwar,konnteauch<br />

dereinzelnefürsichakzeptieren.“ 473<br />

AlsVervielfältigungenversuchensiemillionenfachdurchstandardisierteFragenaus<br />

IndividualitäteineübersichtlicheOrdnungzuschaffen.SiesindeinZeichen<strong>von</strong>Seriosität,<br />

weisenaufeinenstrukturiertenArbeitsablaufsowieNormenundRegelnhin.Seine–dem<br />

Formulareigenen–Elemente,wurdenvorherdefiniertundebenfallsRegeln,Normenund<br />

Bestimmungenunterworfen.EinFormularistkeineinmaliger,künstlerischerEntwurf,es<br />

isteinkonzipiertesWerk.<br />

Waserzähltwerdensollbzw.erzähltwerdenmuss,gibtdasFormularvor.Wasder<br />

Sender(derFragende,derFormulierende,derHerausgeber)mitHilfeseinesFormularsfragt,<br />

beantwortetderEmpfänger(derKlient,derAdressat)durchseinAusfüllen.WiederHerausgebermithilfeseinesFormularsfragt,kannderKlientnichtbeeinflussen.DerHerausgeber<br />

glaubtdieAntwortenzukennen,undsiehtdafürFreiräumevor.Kurzundknappwirdeine<br />

Fragegestellt,kurzundknappmussgeantwortetwerden.BeidenAntwortenistmanum<br />

Präzisionbemüht,aufeinekonkreteFragemusskonkretgeantwortetwerden.RaumfürInterpretationengibtesnicht,derRaumfürAntwortenistbewussteingeschränkt.DennjeengerderSpielraumfürdieAntworten,destoklarersinddieGrundlagenfüreineAuswertung.DieAntwortensinddasaufdasNotwendigstereduzierteSubstratindividuellerLebensentwicklungen.<br />

DasFormularfordertaufzuantworten.EsistdasGrundgerüsteinesDialogesdurch<br />

Mitteilungen.DerAblauf,dieReihenfolge,derInhaltunddieVollständigkeitdesDialoges<br />

sindvorgegeben.DerdurchdenHerausgebervorgegebenenFormderKommunikationkann<br />

sichnuruntergeordnetoderverweigertwerden.Schweigeich,sowirddennochetwasausgesagt.EinFormularsetztdieBereitschaftzurBeantwortungeinerFragevoraus–esverlangt<strong>von</strong>mirdieFragerichtigzuerfassenundmeineAngabenzutreffendundvollständig<br />

zumachen.DennerstwenndieweißenFreiräumegefülltwordensind,ergibtsicheinefür<br />

denweiterenVorgangsinnvolleundvorallemdienlicheMitteilung.KonnteeineMitteilung<br />

entstehen,konnteaucheinDialogentstehen.DasFreilasseneinesfürdieBeantwortungvorgesehenenFeldesgibtaberauchschonInformationen–esteiltetwasmit.<br />

469 vgl. Helbig 44<br />

470 vgl. Helbig 44<br />

471 vgl. Brinckmann 171<br />

472 Toebe-Albrecht 65<br />

473 ebd. 65<br />

84


5.1 DefinitionundFunktion<strong>von</strong><strong>Formularen</strong><br />

Die entstandene Dialogsituation ist allerdings eine asymmetrische, da der HerausgebermitdemKlienteneinaufeingenaufixiertesZielausgerichtetesformalisiertesInterview<br />

führt und sich damit die Einwirkungschancen ungleich verteilen. 474  Dabei wurden<br />

dieFragensoweitaufbereitet,dasssiedienötigenInformationenbewirken.Indessbleibt<br />

der Spielraum, der dem Befragten eingeräumt wird, möglichst eingeschränkt. Die Konsequenzen,diesichausderBeantwortungderFragenundderanschließendenAuswertungergeben,habennurFolgenfürdenAntwortenden,nichtaberfürdenFragenden.DerFragendeundderAntwortendekenneneinandernicht,siebefindensichaufunterschiedlichenEbenenundPositionen,vorallemimInformations-undZuständigkeitshorizont.DieAsymmetriedesDialogsmanifestiertsichnochineinemanderenPunkt.DerAdressatstehtden<br />

FragendesFormularszunächstalleingegenüber,meistohneKenntnisdarüberzuhaben,<br />

aus welchem Kontext (Gesetze, Erlässe) die Fragen formuliert worden sind. Für ihn bestehtnichtdieMöglichkeit,wieineinempersönlichenGespräch,beiUnklarheitenoderVerständnisfragendurchweiteresFragenKlarheitzuerlangen.DieeinseitigeBefragungerlaubtnurAntworten,Gegenfragenkönnennichtdirektundunmittelbargestelltwerden.AbweichungendesInhaltswerdennichtsowiebeieinemGesprächalsBereicherungerfahren,sondernalsfehlerhafteEingabe,diedenArbeitsablaufbelasten.<br />

475<br />

Die Funktion bestimmt die Form des Formulars – kein schmückendes Element –<br />

nichts ist ohne Grund vorhanden. Standardisierte Ordnung und Knappheit sind die bestimmenden<br />

Elemente – das Formular ist ein Ort der Klarheit, Orientierung und Sicherheit.DieserOrtenthält,typografischunterscheidbar,diebereitsvorgedruckten,konstanten,wiederkehrendenBestandteile.Insiesollendieunterschiedlichsten,aberniebeliebigeInformationeneingetragenwerden–jededieservariablenInformationenhatihrenihrzugewiesenenOrt.DiekonstantenInformationenversuchenmitHilfe<strong>von</strong>Normen,dieDifferenziertheitdervariablenInformationenzubändigen.DiejeweilsindividuellenAntwortenkönnen<br />

miteinanderdurchdiegenormtenFormulierungendesGesprächesverglichenwerden.Den<br />

konstanten wiederkehrenden Bestandteilen kommt noch eine weitere Bedeutung zu. Sie<br />

strukturierendievariablenBestandteileso,dassderüblichenKodierung<strong>von</strong>Informationen<br />

durchZeichennocheineweiterezurSeitegestelltwird–dieKodierungdurchdieAnordnungaufdemMedium.„DerTextwirdzumBild.“<br />

476<br />

DieZielstellungistklar.DieAnzahlderfürdieKommunikationnötigenInformationensollaufdasNötigstereduziert,standardisiert,vereinfachtundbeschleunigtwerden.<br />

NursokönnenalleProzesseundVorgängeinschriftlicherFormökonomischundeffizient<br />

festgehalten werden. Will man wirtschaftliche und organisatorische Prozesse optimieren<br />

und Lese-, Bearbeitungs- und Verwaltungsvorgänge vereinfachen, so muss man die an<br />

einemProzessBeteiligtenundderenHandelnzeitlichundräumlichtrennenkönnen,aber<br />

dennoch die einzelnen Schritte nachvollziehbar halten. 477  Für die Vereinheitlichung der<br />

VorgängeundInformationennachbestimmtenNormenbeiimmerwiederkehrendenVorgängenisteineStandardisierungdurcheinFormularnurlogisch.GeradeinderVerwaltung,woderGegenstandderKommunikationvielfachähnlichoderdergleicheist,kommenFormularezumEinsatz.<br />

478<br />

474 vgl. Brinckmann 133<br />

475 vgl. Grosse 13 ff<br />

476 Schwesinger 34<br />

477 vgl. Menne-Haritz 86<br />

478 vgl. Fotheringham 27<br />

85


5.2<br />

Geschichte der Formulare<br />

5.2 GeschichtederFormulare<br />

„Sie sind eine in Jahrhunderten entwickelte Form schriftlicher Mitteilung, die aufgrund<br />

ihrer vorgedruckten Bestandteile und durch deren <strong>Gestaltung</strong> und Wiederholung<br />

dokumentarischen Charakter besitzt und beim Empfänger Sicherheit und Vertrauen<br />

auslöst.“ 479<br />

Formulare sind in unserer Gesellschaft eines der häufigsten und seit Bestehen des<br />

BuchdrucksaucheinesderältestenInformationsmittel.Mangehtda<strong>von</strong>aus,dassinMesopotamienschonvorrund5000JahrenTontäfelchenbekritzeltwurden.DurchdieseMethodewolltemandasVerteilen<strong>von</strong>Tierenfesthalten–am„Anfangwaralsonichtnurdas<br />

Wort,sondernauchdasFormular.“ 480<br />

DerUrsprungdesBegriffsformularekommtausdemLateinischenundheißtFormel.<br />

ImRömischenReichbezeichnetemanbestimmteGerichtsprozesseals„litigareperformulars“.<br />

Diese Prozesse wurden anhand <strong>von</strong> so genannten Formeln geführt. Inhalt der FormelnwarenInstruktionenundAnweisungen,nachdenenderRichterimgegebenenFallzuentscheidenhatte.Siewareine<strong>von</strong>derObrigkeitvorformulierteund<strong>von</strong>denParteienangenommene<br />

Schriftformel, die die Streitsache auf einen kurzen normgebenden Ausdruck<br />

brachte. 481 ImMittelalterwurdenindensogenannten„formularien“TextefürUrkunden<br />

gesammelt, die einleitende und schließende Floskeln sowie immer wiederkehrende festgelegte<br />

Wortfolgen für Rechtsverhandlungen enthielten. Sie ermöglichten es, Reinschriften<br />

anzufertigen, ohne dass im Vorfeld immer wieder neue Urkundentexte erdacht werden<br />

mussten.IndenKlösternschriebendieMöncheBlanko-Urkundenvor,dieauchschonAnfangs-undSchlussfloskelnenthielten.Diese„Blankette“musstendannnurnochbeiBedarf<br />

indenKanzleienvervollständigtwerden. 482 DieArbeitwurdedadurchbedeutenderleichtert<br />

undauchdieQuotederRechtsfehlersank.Imfrühen13.Jahrhundertgingmanda<strong>von</strong>aus,<br />

dassBeamtewissen,wiemanrichtigschreibt,undbeschränktesichaufdie„Arsnotariae“,<br />

LehrbücherdesSchreibensundDiktierens. 483 InihnenwurdendiebeiderAbfassung<strong>von</strong><br />

UrkundenundBriefenzubeachtendenRegelnausführlichtheoretischdargestellt.Alldiesen<br />

Prozessenwareinsgemein–erstmaligeräumlicheundörtlicheProzesstrennung.Mehrere<br />

PersonenkonntendankderVorgabenzuverschiedenenZeitenundanverschiedenenOrten<br />

aneinemProzessarbeiten.<br />

Gutenbergs Erfindung des Buchdruckes mit beweglichen Metall-Lettern revolutionierteauchdasFormular.DasältesteerhalteneFormularisteinAblassbriefausdemJahre1454.Diesererste,durchdenkurzvorhererfundenenBuchdruckgedruckteVordruck,ersparte<br />

durch seine vorgedruckten (wiederkehrenden) und auszufüllenden (variablen) Bestandteile,<br />

95 Prozent der früheren Schreibarbeit. In die gedruckte Vorlage mussten nur<br />

nochwenigeDaten,wiederNamedesKäufers,dieBuße,dasDatumunddieUnterschrift<br />

eingesetztwerden,damitderAblassbriefseinesündenbefreiendeAufgabeerfüllenkonnte.<br />

479 Toebe-Albrecht 173<br />

480 http://www.welt.de/welt_print/article2465793/Von-der-Wiegebis-zur-Bahre.html,<br />

letzter Zugriff: 19.11.2009<br />

481 vgl. Fotheringham 26<br />

482 vgl. Schwesinger 56<br />

483 vgl. Fotheringham 26<br />

86


5.2 GeschichtederFormulare<br />

DieAuflagederAblassbriefelagzwischen2000und6000Stück. 484 Weilsichdurchdiese<br />

TechnikvielZeitundAufwandersparenließ,wurdenschonbaldweitereVerwaltungsvorgänge<br />

vorgedruckt: z.B. Einladungen zu gerichtlichen Verhandlungen oder, weit erfreulicher,zuFesten.DieEinflussmöglichkeitenderZentralverwaltungaufdieuntergeordnetenStrukturenerhöhtesichdurchdieerleichterteVervielfältigungderschriftlichenKommunikation.<br />

485<br />

Esdauerteaberweitere300Jahre,bissichnachdemerstengedrucktenAblassbrief<br />

dieFormulareauchtypografischweiterentwickelten.Mangingmehrundmehrdazuüber,<br />

dieTextbausteineauchaufdergedrucktenSeiteräumlichanzuordnen.SomusstendieVordruckenichtmehr<strong>von</strong>AnfangbisEndegelesenwerden.BeigeschultemBlickkonntenso<br />

dieInformationensehrvielschnelleraufgenommenwerden. 486 UnddurchdieStellungund<br />

PositionaufderSeiteerhieltdieInformationnocheinenBedeutungscharakter.DieDarstellungundWahrnehmungderInformationenändertesichalso<strong>von</strong>dereindimensionalen,linearenTextdarstellungzurzweidimensionalen,flächigenAnordnung.<br />

487<br />

SteuerbeamtebrachteneineweitereNeuerung.Bisins14.JahrhundertwurdenPosten<br />

undBeiträgeeinfachlinearhintereinanderweggeschrieben.Im15.Jahrhundertgingman<br />

dazuüber,dieAufgabeninSpaltenaufzuteilen.DienötigenLinienmusstenaufdemFormularallerdingsnoch<strong>von</strong>Handgezogenwerden.<br />

488 EineSoll-undeineHaben-SpalteergabeneineTabelle,inderselbsteineNichteintragungeineInformationwar.SäumigeZahlerkonntendankderStrukturierungleichterausgemachtwerden.DieArbeitmitTabellenbeschleunigtedieArbeit.DieFormularekonntenbalddaraufnochbessergegliedertwerden,alsmaninderLagewar,Linien,Klammern,arabischeZiffernundSchrifteninverschiedenenGradenundSchnittenvorzudrucken.DieTabelleistauchheutenocheinesderwichtigstenElementeeinesFormulars.<br />

Am Ende des 16. Jahrhunderts wurden verstärkt in Handel und Gewerbe Quittungen,ErfassungsblättersteuerpflichtigerGüterundGenehmigungenvorgedruckt.Im18.JahrhunderterscheinendieerstenBriefköpfe.FreilassungsurkundenfürBauernoderBestallungsbriefefürBeamtewerdenangefertigt.DankderEffizienzderTabellenbegannman<br />

auchdieBevölkerungzuzählenoderLandzuvermessen.DieskamdemrationellenDenken<br />

derAufklärungzugute.„DasWissenumdiewahrenVerhältnissestandfüreinerationalistische<br />

Geisteshaltung zugunsten der Aufklärung und Bürgerlichkeit.“ 489  Der 1796 entwickelteLithografiedruckermöglichteeserstmalig,vielfarbigeIllustrationenzuvervielfältigen.SpezielleSpaltennurfürdieEintragungenderBeamtenunddieFarbenprächtigkeit<br />

erhöhtendieWichtigkeitderSchriftstücke.<br />

DiezunehmendeBürokratisierungverlangtnacheinerimmerschnellerenErfassung<br />

undBearbeitungderInformationenüberdieBürger.RationalitätistdasbestimmendeElementim18.Jahrhundert,auchinderVerwaltung.ImmermehrAufgaben,wiez.B.Bildung<br />

und die öffentliche Sicherheit, wurden vom Staat übernommen, und das verlangte nach<br />

immermehr<strong>Formularen</strong>.„AndieStellederAristokratietratdieBürokratieundersetzte<br />

dasHerrschenderOberschichtendurchdieZirkulationderAkten.“ 490 Folglichwirddas<br />

einzelneIndividuumimmerstärkerindasbürokratischeSystemeingeordnet,esbeginntdie<br />

KategorisierungdesEinzelnen.<br />

484 vgl. Fuchs, Boris: „Der Formulardruck aus historischer Sicht – Die Jahrestagung<br />

2003 des IADM im Hamburger Museum der Arbeit“, 2003, http://www.vdd-net.de/<br />

Publikationen/Fuchs/Boris-Fuchs-18-11-2003.html, letzter Zugriff: 17.11.2009<br />

485 vgl. Wunder 29<br />

486 vgl. Menne-Haritz 86<br />

487 vgl. Schwesinger 58<br />

488 ebd. 58<br />

489 Schwesinger 58<br />

490 Schwesinger 60<br />

87


5.2 GeschichtederFormulare<br />

DochnichtnurinderVerwaltungsteigtderBedarfan<strong>Formularen</strong>. 491 AuchdieIndustrieundderHandel,unterdemEinflussderIndustrialisierungstehend,benötigenimmer<br />

mehr Formulare zur Bewältigung der Prozesse. Rechnungen und Schecks mussten ausgestelltundLöhneabgerechnetwerden.InderIndustriewieauchinderVerwaltungherrschtedasBestrebennacheinereffizienterenOrganisation.EinenerneutenSchubanEffizienzerhält<br />

die Verwaltung durch die Erfindung der Schreibmaschine (erfunden 1714, verkaufsreifeModelleerstab1865).DiegleichmäßigenAbständederZeichenundZeilenabständesorgtenfüreinebessereLesbarkeitundÜbersichtlichkeit,KohlepapierermöglichteeineSofort-Kopie.<br />

Dieindustrielle Revolutionsorgtdarüber hinausdafür,dassAnfang des20.JahrhundertsästhetischeKonzeptenichtmehrnurdurchdenGeschmack–alsodurcheinSinnenurteil–sondernauchdurcheinenvomLebensausdruckbestimmtenProblemhorizont<br />

beurteilt werden. Wie Gegenstände hergestellt und genutzt werden können, rückt in das<br />

Zentrum der Betrachtungen. Die Herrschaft des Dekorativen und der Verkunstung wird<br />

zunehmendkritisiert.HermannMuthesiusForderungnachmaterial-,zweck-undwerkgerechtemGestaltenführtzurGründungdesanderIndustrieorientiertenDeutschenWerkbundes.DasfunktionelleGestaltenwird<strong>von</strong>derArchitekturaufmobileObjektederSerienproduktionübertragen.<br />

Der Funktionalismus findet mit seinen Vorstellungen – dass sich die <strong>Gestaltung</strong>sweiseausdemZweckdeszugestaltendenGegenstandesableitenmuss–beiderFormulargestaltungeinidealesSpielfeld.DieFrage,wofüretwasgestaltetwerdensoll,istwichtigerals<br />

dieFrage,wieetwasgestaltetwerdensoll–dieFunktionwirdalsZielbestimmt.Dabeiwird<br />

derAdressatbzw.derNutzerindenVordergrundgestelltundnichtderAbsenderbzw.der<br />

Erschaffer.JedesWerkhatzweiSeiten.DerobjektivenSeitederFormdesObjektes–System,<br />

Struktur, Form und Formales – steht die subjektive Seite des Autors – Autonomie, Freiheit,Ungebundenheit–gegenüber.<br />

492 DasschmückendeBeiwerkbisherigerFormulareverschwindet.StrengeLinienstattZierleisten,GroteskstattHandschriften,funktionaleund<br />

sachlicheÜbersichtlichkeitdurchhorizontaleundvertikaleOrdnungstattwilderOpulenz.<br />

„DieDrucksachen,dieunsstündlichbegegnen,sindnurselteninangenehmenLetternund<br />

übersichtlichgedruckt.HäufigsindsielärmendeOrgienwildgewordenerBuchstabenund<br />

selbstbewusstauftretenderWurstigkeit.“ 493 VondenbisherigenGepflogenheitenwirdsich<br />

radikalabgegrenzt.Manwilleinerseitstypografischexperimentieren,aberandererseitsstandardisieren,vereinfachenundpraktischervorgehen.IndenzwanzigerJahrennimmtdieForderungnachhöherenOrganisations-undStandardisierungsgradensowielängererLebensdauerbeigleichzeitigerfinanziellerBeschränkungbeiderProduktionzu.DieGegenstände<br />

sollen funktionieren, dem Zweck dienen, ihre Funktion erfüllen, dabei aber gleichzeitig<br />

haltbarer,billiger,schönerundzeitlosersein.Die„FunktionaleTypografie“(„Elementare<br />

Typografie“) zeigtihrenEinflussbei den<strong>Formularen</strong> – Kurt Schwitters gestaltet z.B. für<br />

seineHeimatstadtHannoverFormulareneu.Ab1955bautdieSchweizerTypografieauf<br />

derElementarenTypografieauf.BezeichnendbleibtderVerzichtaufschmückendeElemente,<br />

die strenge Darstellung und die überwiegende Verwendung <strong>von</strong> Groteskschriften in wenigenSchriftgraden.DieserEinflusshältbisheutean.<br />

InhaltlicheNominierungenundStandardisierungenentscheidenindenJahren<strong>von</strong><br />

1933-45überLebenoderVernichtung.ÜbermenschlichesLebenwurdemitabstraktformulierten<br />

Vordrucken entschieden. Ein Ausbürgerungsschein mit der Notiz „Alterstransport“<br />

hieß nichts anderes als die Deportation in ein NS-Vernichtungslager. Formulare<br />

hattenwohlniewiedereinesolchlebensbedrohendeFunktionalszudieserZeit.Hattensie<br />

vorherdieFunktion,dassozialeLebenzuunterstützen,indemesdassozialeGefügever-<br />

491 vgl. Reindl 122<br />

492 vgl. Hirdina 588<br />

493 Tschichold 7<br />

88


5.2 GeschichtederFormulare<br />

suchtezuordnenundzuverwalten,sodienteesjetztdazu,TeiledessozialenGefügeszuvernichtenundeineneueOrdnungzuschaffen.<br />

494<br />

EineneueEffizienzmarke wirdindensiebziger Jahrengesetzt. Dieverstärkte VerbreitungderEDV-TechniksowiedieVerbesserungenimDruckundSatzermöglicheneinenochschnellereErstellungundBearbeitungderFormulare.DieZeitersparnisbeimschriftlichenErfassen,alseinederwichtigstenAufgabenderbisherigenFormulare,verliertanBedeutung.DieTechnikermöglichtes,dassdieFormulareschnellergeschriebenalsgelesen<br />

undbearbeitetwerdenkönnen.Deshalbwirdesauchimmerwichtiger,dasssichdieLese-<br />

und Bearbeitungszeit verringert. 495  Bearbeitungszeiten und Bearbeitungsfehler lassen eine<br />

Einschätzungzu,wieschnellundsichereinVordruckdieInformationenübermittelt.<br />

DieVorteiledigitalgespeicherterDatenwurdendamalszusehendsklarer.Siekonnten<br />

beliebigoftbearbeitet,weitergegeben,verknüpft,abgeglichen,abgerufenundwiederbearbeitetwerden.DerersteSchrittindieseRichtungwardiecomputergerechteVorstrukturierungderFormulare.Gänzlich<strong>von</strong>manuellerArbeitwarmanabernochnichtbefreit,die<br />

ausgefülltenFormularemusstennochimmermanuellerfasstwerden.Dasändertesicherst<br />

mitderEinführung<strong>von</strong>Belegelesern.SiemachtendiemanuelleÜbertragungüberflüssig,da<br />

sie die zwischen Kästchen und Kämme gezwungenen handschriftlichen Eintragungen erkennenkonnten.Sohattemaneszwargeschafft,dieArbeitsprozesseerneutzubeschleunigen,aberaufdenpapierenenZwischenschrittübereinFormular–daszwischenMensch<br />

undMaschinestand–konntedennochnichtverzichtetwerden.<br />

EinenVersuch,dasPapieralsZwischenschrittauszuschalten,unternimmtmanmit<br />

demsogenannten„e-government“.Kommunikative-undverwaltungstechnischeProzesse<br />

zwischen einer staatlichen/kommunalen Behörde und deren Bürgerinnen und Bürgern<br />

sollendurchdigitaleTechnikenvereinfacht,beschleunigtundgünstigerwerden.DerAustausch<br />

der Informationen soll vorwiegend über das Internet geschehen. Dieser Kern der<br />

Neuerung bringt auch gleichzeitig das Hauptproblem mit sich – es fehlt an der entsprechendenAkzeptanz.DieGründedafürsindverschieden.DasUnsicherheitsdenkenderAnwender,<br />

der fehlende Beweis der Rechtsfähigkeit, die fehlende Beweissicherung, der fehlendeUrkundscharakter,diefehlendenMöglichkeitenderAuthentifikation,Aktenführung<br />

undZeichnungsrechte–allesansichschonerheblicheProbleme.Nochschwerwiegenderist<br />

aberdieBehinderungdurchdieunterschiedlichenTechnikstandards(Medienbruch)innerhalbderBevölkerung.FastallejetzigenStufendes„e-government“habenabernochimmereinepapiereneStufe,meistumdenBereichderRechtsfähigkeitklarzustellen.EingutesBeispiel,sowohlfürdieBestrebungdese-governmentalsauchfürdieProblematikdesMedienbruches,findetsichunterdemFormularservicedesLandesThüringen.<br />

496 DerServicebietet<br />

einumfassendesAngebotanbehördlichen<strong>Formularen</strong>,wirklichnutzenkönnendenService<br />

abernurdieBenutzerdesWindowsInternetExplorers.<br />

Anders sieht es da schon beim „e-commerce“ aus. Schon jetzt laufen ganze Verkaufstransaktionendigitalab.Kauf,Bestätigung,Versand,Sendungsverfolgung,Rechnung,<br />

BewertungundRücksendeauftrag–allesdigitalvorbereitetundabrufbar.<br />

SeineDringlichkeitundAktualitätbrauchtdieIdeedes„e-government“nichtmehr<br />

zuerbringen.BeiderfortschreitendenBevölkerungswanderungundZentrierunginurbanen<br />

Lebensräumen muss die Verwaltung handlungsfähig bleiben. Anders als in den immer<br />

dünnerbesiedeltenGebieten.DorthatsieaufgrundderPersonalsituationdamitzukämpfen,<br />

überhaupthandlungsfähigunderreichbarzusein. 497<br />

494 vgl. Schwesinger 66 f<br />

495 vgl. Toebe-Albrecht 18 ff<br />

496 vgl. http://www.formularservice.thueringen.de/, letzter Zugriff: 20.11.2009<br />

497 vgl. Schwesinger 70<br />

89


5.3<br />

Typen <strong>von</strong> <strong>Formularen</strong><br />

5.3 Typen<strong>von</strong><strong>Formularen</strong><br />

„Die Vielfalt der sich im Umlauf befindenden Formulare scheint unüberschaubar. Für fast<br />

alles, das irgendwie mit Bürokratie zu tun hat, gibt es ein Formular.“ 498<br />

Nach der Sender-Empfänger-Beziehung werden zwei Arten <strong>von</strong> <strong>Formularen</strong> unterschieden.<br />

499 GrundsätzlichkannmannachMitteilungs-oderDialogformularen,bestimmt<br />

durch die Richtung des Informationsflusses, unterscheiden. Diese Unterscheidung kann<br />

nochmalspezifiziertwerden,indemmanzwischen<strong>Formularen</strong>fürdeninternenoderexternenGebrauchunterscheidet.<br />

Bei den Mitteilungsformularen geht die Information nur in eine Richtung, vom<br />

Sender/Herausgeber zum Empfänger/Klienten. Rechnungen, Quittungen, Auftragsbestätigungen,Darlehens-oderLebensversicherungsverträgesindsolcheFormulare.DerSender<br />

fülltdasFormularmitInformationen,informiertdamitdenEmpfängerunderwarteteine<br />

bestimmteReaktion.DerEmpfängerwiederumnimmtdieseInformationenzurKenntnis<br />

undhandelteventuelldanach.DasFormularverbleibtbeimEmpfänger.DasFormularhat<br />

mitderInformationsübermittlungseineAufgabegetan.<br />

Anderssiehtesbeiden<strong>Formularen</strong>fürdieInformationsgewinnungaus.Beidiesen<br />

<strong>Formularen</strong>gehtderInformationsflussinzweiRichtungen.DerSendererfragtmitHilfedes<br />

FormularsInformationenvomEmpfänger.DabeigibtderSender(Herausgeber)dieauszufüllendenAbschnittevorundüberstelltsieandenEmpfänger(Klienten).Diesersolldann<br />

dieAbschnittemitseinenInformationenfüllen.DieFormularekehrenvomEmpfänger–er<br />

wirdjetztzumSender–ausgefülltzumSender–erwirdzumEmpfänger–zurück.Durch<br />

denWechselbeimSender-Empfänger-Prinzip (Herausgeber undKlientwerdenjeweils zu<br />

SenderundauchzuEmpfänger)kann<strong>von</strong>einemDialoggesprochenwerden–Herausgeber<br />

undKlientinteragierenmiteinander.Mansprichthierauch<strong>von</strong>Dialogformularen.<br />

Eine besondere Bedeutung unter den informationsgewinnenden Dialogformularen<br />

hatdasAntragsformular.BeibehördlichenAntragsformularenbeziehtsichderAnspruch<br />

desKlientenmeistaufgesetzlichverbriefteRechte.DieUniformitätesAntragsblattesverfolgtmehrereZiele.SiebetontdieGleichheitdesBürgersvordemGesetz,siesammeltundgarantiertdiefürdieBearbeitungundEntscheidungerforderlicheDatenmenge,undsieermöglichteinerelativrascheundgutvergleichbareAuswertung.<br />

500 DeshalbmüssenAntragsformulareauchimmerbegründetwerden,unddieDarstellungderBerechtigungaufeine<br />

bestimmteLeistunghatimmeraufeinebestimmtefestgeschriebeneFormzuerfolgen.Der<br />

WegderAntragstellungistähnlichvorgeschrieben.DerAntragstellerhatseinenAnspruch<br />

meistimVorfeldschondemHerausgebermitgeteilt.DieserüberstelltdaraufhindemKlienteneinAntragsformular,umdiefürseineEntscheidungnötigenInformationenzusammeln.DerAntragsteller(Klient)istnun–nachderMitteilungdesAnspruchsaufeineLeistung<br />

– erneut gefragt und muss handeln. Er füllt an die vorgesehenen(wiederkehrenden,<br />

konstanten)seineindividuellen(variablen)Informationeneinundüberstelltdasausgefüllte<br />

FormularwiederzurückandenEmpfänger.DenAntragsformularensindmeistnochErklärungsformularezugeordnet.CharakteristischfürErklärungsformularesinddievorformuliertenErklärungen,diemeistdiefinanziellenLebensumständeerfragen.<br />

498 Schwesinger 74<br />

499 vgl. Toebe-Albrecht 22 ff, 173 ff<br />

500 vgl. Grosse 16<br />

90


5.3 Typen<strong>von</strong><strong>Formularen</strong><br />

WeitereTypen<strong>von</strong><strong>Formularen</strong>sind:<br />

-Anmeldeformulare:sieübermittelndenWunschnachTeilnahmebzw.<br />

bestätigendieschonbestehendeTeilnahme<br />

-Auftrags-undVertragsformulare:dassindmeiststandardisierteVerträge,die<br />

denAnspruchaufeineLeistungodereinProduktfestschreiben<br />

-RechnungundQuittung:siedienenderAufforderungbeziehungsweise<br />

Dokumentation<strong>von</strong>ZahlungsvorgängenoderÜberstellungen<br />

-Bescheide:sindvorformulierteMitteilungüberdenAusgangeinerEntscheidung<br />

-Hinweisformular:siebezeichnenvorformulierteMitteilungüberEreignisseund<br />

Prozesse<br />

-Fragebögen:siedienenderErhebungvergleichbarerInformationnach<br />

standardisiertenVorgaben<br />

-Urkunden:bezeichnenautorisierteBekundungbzw.BeweiseinesEreignisses<br />

-Wertpapiere:sindeineUnterkategoriederUrkunde,mitihnensindRechte<br />

verknüpft,dieohnediesewedergeltendnochübertragenwerdenkönnen<br />

-Berichts-Protokollformular:siedienenderErfassungundSpeicherung<strong>von</strong><br />

InformationenüberVorgänge,Prozesse,ZuständezurNachvollziehbarkeit,<br />

Rechtfertigung,Archivierung<br />

EineweitereUnterscheidungsmöglichkeit,unabhängig<strong>von</strong>derRichtungdesInformationsflusses,bietetdieUnterscheidungnachdemGradderNähezumRechtstext.Unterschiedenwirddabei,obdieAngabenzueinembestimmtenVorgangeinerjuristischnicht<br />

gesteuertenBeschreibungoderehereiner„juristischgesteuertenBeschreibungunterfreier<br />

VerwendungodergebundenerVerwendung<strong>von</strong>BegriffenoderunterVerwendunggerade<br />

derundnurderBegriffedesGesetzes“zuzuordnensind. 501 Einfacher:Formularemitnicht<br />

juristischgesteuerterBeschreibungsindFormularewiez.B.„BeschreibungderverlorengegangenenGegenstände“.ImGegensatzdazuorientierensichjuristischgesteuerteFormulareenganden„imGesetz,derVerordnung,denVerwaltungsvorschriftenvorgegebenenGliederungendesTatbestandesineinzelneMerkmaleundfragendieseab.“<br />

502<br />

Für die weiteren Erörterungen scheint mir aber letztere Unterscheidung nicht <strong>von</strong><br />

Vorteilzusein.<br />

501 Brinckmann 215<br />

502 Brinckmann 216<br />

91


5.4.3<br />

Schlussfolgerungen<br />

5.4.3 Schlussfolgerungen<br />

Verstehen heißt, die Menge der Einzeldaten durch Ordnung, Darstellung <strong>von</strong> Zusammenhängen,VisualisierungderOrdnungsbeziehungenunddurchVerwendung<strong>von</strong>Gestaltmustern<br />

zu verringern. „Das, was der Empfänger aufgrund bekannter ZusammenhängeundOrdnungsmustererwarten,erratenodersonstwieineineNachricht<br />

einsetzen<br />

kann, stellt für ihn keine zusätzliche Information dar. Den Begriff ‚Verstehen‘ auf diese<br />

Weisezudefinieren,hängtmitderArbeitsweisedesmenschlichenGehirnszusammen.“ 520 <br />

WennInformationenschnellundsichervomSenderzumEmpfängerundzurückübertragen<br />

werdensollen,somüssenfürschriftlicheInformationsmitteldiemenschlicheInformationsaufnahmeund-verarbeitung,dieArbeitsweisedesAuges,desGedächtnissesunddieLernstrategiendesMenschenbeachtetwerden.<br />

DiemenschlicheVerarbeitung<strong>von</strong>Informationengeschiehtdaten-undkonzeptuell<br />

gesteuert.DeshalbmüssendieineinemFormulareingesetztenMitteldieMustererkennung<br />

beimEmpfängerermöglichen.WillsicheinSenderverständlichmachen,mussersichmöglichstbekannterMusterbedienenodersiesogestalten,dasssieerlernbarsind.DerSender<br />

mussversuchen,gezieltInformationenfürdenEmpfängerzuverringern.Möglichwirddies,<br />

indem er inhaltliche Ordnungsbeziehungen herstellt und visualisiert. Den Lese- und Bearbeitungsverlauf<br />

kann er beschleunigen, indem er die langsame sequenzielle InformationsverarbeitungdesLesensverkürzt.DarüberhinauskanndieAnzahlunddieDauerderFixationspunkteunddamitderRückläufereduziertwerden.WichtigeDatenkönnenauffälliggestaltetwerden,wennsiedemEmpfänger–unterstütztdurchdiekonzeptuelleInformationsverarbeitung<br />

– eine schnelle Identifikation <strong>von</strong> Sender und Vorgang und einer<br />

EinordnunginZusammenhängeermöglichen.AlswichtigeInformationensolltenauchnur<br />

diejenigenangesehenwerden,diedieReaktiondesEmpfängersimSinnedesSendersbeeinflussen.Eineauffällige<strong>Gestaltung</strong>darfabernichtzuLastenderInformationgehen–alleInformationenmüssenlesbarbleiben.<br />

Gerade das Formular ist durch seine wiederkehrenden Bestandteile prädestiniert,<br />

Musterzugestalten.DemEmpfängerwirddurchdieWiederholungderMusterdasErlernen<br />

unddamitdasschnellereErkennenderMusterermöglicht–diekonzeptuelleVerarbeitung<br />

wird angesprochen. Der Empfänger erkennt das Muster „es ist redundant und hat keine<br />

odernureinegeringeInformationfürihn.“ 521 DerEmpfängerkannaufgrundseinesWissensundseinerErwartungendieMitteilungschnellerundsicherereinordnen.DieFehlerquoteunddamitauchdieLese-undBearbeitungszeitwirddurchdie<strong>Gestaltung</strong>verringert.VerständlicheFormularemüssendeshalbdieInformationenfürdenEmpfängerverringern,ihnbeiderBearbeitungführen,eineschnelleIdentifikationermöglichenundfür<br />

ihnlesbarsein.DieskannnichtohnedieAuswahlundGliederungderVordruckdatenim<br />

Sinne der Informationsverringerung und Benutzerführung geschehen. Wiederkehrende<br />

Daten müssen <strong>von</strong> den variablen Daten eindeutig unterscheidbar und in ihrer WiederholungfürdenEmpfängererlernbarsein.DenwiederkehrendenDatenobliegtdieVisualisierungderinhaltlichenBeziehungen.VariableDatenmüssenalssolcheklarerkennbarundimSinnedesBenutzungsablaufsundderLeserichtungangeordnetsein.FüralleDaten–sowohlfürdievariablenalsauchfürdiewiederkehrendengilt,dasssielesbarseinmüssen;<br />

„eineForderung,diefüralleschriftlichenInformationsmittelgilt.“ 522<br />

520 Toebe-Albrecht 171<br />

521 Toebe-Albrecht 46<br />

522 Toebe-Albrecht 48<br />

97


5.5 DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde<br />

5.5<br />

Das Formular in der Beziehung Bürger – Behörde<br />

„Es dürfte kaum noch eine andere Textsorte geben, die vom Autor mit einem solchen Maß<br />

an Widerwillen produziert wird. Die fehlende Motivation zum Schreiben und zugleich der<br />

Zwang, es doch tun zu müssen, charakterisieren die im Vordruck enthaltenen Mitteilungen<br />

des Bürgers als Texte sui generis“ 523<br />

FormularesollenKommunikationzwischendemHerausgeberunddemAusfüllenden<br />

schaffen.DazusollendienötigenInformationengesammelt,gespeichertundausgewertet<br />

werdenkönnen.Weilvorhersehbarist,welcheInformationenfüreineVerwaltungsentscheidungnötigsind,kannmitVordrucken(die„vorgedruckte“Informationenenthalten)gearbeitetwerden.DerUmfangunddieVariationdereinzutragenden,variablenInformationen<br />

wirddurchInhalte,Reihenfolge,Darstellungsarten-,undumfangvorhergesehenunddamit<br />

vorgegeben. 524 Damitein„korrektes“Formularentsteht,müssenzudenwiederkehrenden<br />

InformationennurnochdievariablenInformationeneingetragenwerden.Undebendiese<br />

TeilungderschriftlichenInformationeninwiederkehrendeundvariableInformationen,machendasFormulargegenüberanderenschriftlichenMitteilungensobesonders.DiewiederkehrendenInformationensindfüralleEmpfängergültigeDatenundVoraussetzung<br />

dafür, dass das Formular als Muster gestaltet werden kann. Sie dienen der<br />

schnellen Identifikation des Senders und des Vorganges. Die wiederkehrenden Informationenerlaubenes,dassdieselbenBegriffeverwandtunddieselbenerlernbarenGestaltmuster<br />

visualisiertwerdenkönnen. 525 DemEmpfängerwirddieMöglichkeitgegeben,dasMuster<br />

zuerlernenundsofortzuerkennen.„ErkannaufdieseWeiseseinWissenundseineErwartungennutzen.“<br />

526 DiewiederkehrendenDatensindderkonzeptuellgesteuerteTeilder<br />

Informationsverarbeitung. DerEmpfängererkenntdurchdieWiederholungdenVorgang,<br />

durchdasredundanteMuster,daseinegeringereodergarkeineInformationfürihnhat.<br />

DieArtderAnordnungundVisualisierungderDatenverringerndieInformationen.<br />

DerBenutzerwirdschnellundsichergeführt,erkanndiewichtigenInformationenselektieren.Durchdie<strong>Gestaltung</strong>desFormularswirddemBenutzerermöglicht,Einzeldaten,DatenblöckeunddieGesamtinformationzusehen,seineLese-undBearbeitungswegewerden<br />

gelenkt.DasFormularermöglichtes,diebenötigtenInformationengezieltauszuwählen,es<br />

mussnichtdergesamteInhaltgelesenwerden,dielangsamesequenzielleInformationsverarbeitungdesLesenswirdverkürzt.EsmachtaufdieseWeiseInformationenverständlicher<br />

undkannsoschnellundsichervomSenderzumEmpfängerübertragenwerden.Weilder<br />

EmpfängernurnochdiefürihnbestimmtenvariablenDatenzulesenundzuinterpretieren<br />

braucht,verringertdasFormulardiezuverarbeitendeDatenmenge.<br />

TrotzodergeradewegendieserVorteilehabenFormularemitgroßenAkzeptanzproblemenzukämpfen.DaskönnenexterneProblemesein.SieberuhenmeistaufVoreingenommenheitenundErfahrungen.UndessindhausgemachteProbleme–durchForm,<strong>Gestaltung</strong><br />

undFormulierung.DieFormularewerdenoftalsnotwendigesÜbel,dasZeit,Nervenund<br />

Privatsphäreraubt,empfunden.MeistsinddieProblemedarinzusuchen,dasseinzigdie<br />

BedürfnissedesHerausgebersimVordergrundstehen.VielzuoftsinddieFormularenach<br />

derArbeitsorganisationstrukturiertundgeordnet.SostehensichdieInformationserhebung<br />

unddieInformationsübermittlungdesHerausgebersmitdenWünschendesInformations-<br />

523 Siegfried Grosse, ehem. Präsident des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim, 1979, Grosse 13<br />

524 vgl. Brinckmann 16<br />

525 vgl. Toebe-Albrecht 175<br />

526 Toebe-Albrecht 46<br />

98


5.5 DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde<br />

geberskonträrgegenüber.ZuwenigsinddieFormularelementeandieBelangeundWünschederBefragten,derKlienten,derKunden,derAusfüllendenangelehnt.Zuseltenwirdgefragt,wiedietechnischenVerfahrenandiemenschlichenLese-undSchreibmethodenangepasstwerdenkönnen.ZuoftwerdendieBedürfnissedesBürgersdentechnischenMachbarkeitenuntergeordnet.<br />

527<br />

EinejuristischeBesonderheitgibtesnochbeidenAntragsformularen.EinAntragsformulardarfnichtmiteinemAntraggleichgesetztwerden.FürVerwaltungensindAntragsformularelediglicheineArbeitshilfe.ImjuristischenSinneisteinAntrageineeinseitigeWillenserklärung.DiesemussnichtzwangsläufigmitHilfeeinesAntragsformularsgeschehen.<br />

FürdenAntragstellerwürdeauchschoneineschriftlicheÄußerung–beispielsweisedurch<br />

einenBrief–ausreichen. 528<br />

SchwierigeristdieArbeitandenexternenAkzeptanzproblemen.DerProzessderInformationsgewinnung,<br />

weniger der der Informationsübermittlung, wird erschwert, wenn<br />

derInformationsgebendenegativeAssoziationenmitdemFormularverbindet.GeradebehördlicheDialogformularehabenmitdiesemProblemzukämpfen.BehördlicheFormulare<br />

stehenvorderZuspracheoderAblehnungeinerimGesetzverbrieftenLeistungundwerden<br />

deshalbalszusätzlicheHürdeundBlockadeempfunden.DasfürdieKontrollederProzesse<br />

geschaffeneFormularwirdindieserSituationvomAusfüllendenoftalspersönlichesKontrollinstrumenterfahren.DieGründe,weshalbbehördlicheFormularebesondersmitAkzeptanzproblemenzukämpfenhaben,sindabernochvielumfangreicher.InVerwaltungsprozessenwerdenInformationenverarbeitet.DerTeilderInformationen,dervariablenbzw.individuellenInhaltsist,wirdextern,also<strong>von</strong>demAntragsteller<br />

oder einem informationspflichtigen Bürger über ein Formular (über einen formalisierten<br />

Weg)derVerwaltungüberstellt.DasFormularträgtdabeizweiBotschafteninzweiRichtungen:EsinstruiertdenKlientendarüber,welchesdiegewünschtenInformationensind,undwiesiezuübermittelnsind.UnddanntransportiertesdieseInformationenfürdieKlärungdesSachverhaltszurückandieVerwaltung.EssorgtfürdenTransportundgibtdarüberhinausInstruktionen.EsistmehralsnureinTransportmittel–esbesitzteineInteraktionsfunktion.Unddeshalbistessowichtigzuermitteln,obundwiedieInformationen<strong>von</strong><br />

beiden Kommunikationspartnern verstanden werden. Für beide am KommunikationsaustauschbeteiligtenSeitenmussein„zweckrationalesundanreziprokenInteraktionsnormen<br />

orientiertesHandeln“ermöglichtwerden. 529 DieVerwaltunggibtdabeiallerdingseinseitig<br />

dieNormenfürdie„reziprokeInteraktion“vor.<br />

DerEinsatz<strong>von</strong><strong>Formularen</strong>inVerwaltungsprozessenkenntsomitzweiSeiten.Auf<br />

dereinenSeitestehtdasFormularalsArbeits-undInformationsmittel.Esermöglichteine<br />

rationaleundeffizienteAufgabenerfüllung.Essorgtdafür,dassdieSpielräumederInteraktionbegrenztunddieInformationenunddasHandelnkalkulierbarundkontrollierbar<br />

werden.<br />

AufderanderenSeitesorgensie,dieFormulare,gleichzeitigfüreineSchaffung<strong>von</strong><br />

„HerrschaftspositionenundderenAbsicherung“. 530 Dennaufdie<strong>Gestaltung</strong>derStrukturen<br />

undNormenfürdieKommunikationhabendieKlienteninderRegelkeinenEinfluss.So<br />

kann das Formular in seiner Funktion als Arbeits- und Informationsmittel konträr den<br />

HerrschaftsansprüchenderVerwaltunggegenüberstehen.AnandererStelle(Kapitel:DefinitionundFunktion<strong>von</strong><strong>Formularen</strong>)habeichbereits<strong>von</strong>einerasymmetrischenDialogsituationgesprochen.WillmandieAsymmetrieinderInteraktionentschärfen,somussdafür<br />

gesorgtwerden,dasdieInteraktiondurchreziprokeInteraktionsnormenbestimmtwird.<br />

Alle per Gesetz garantierten Ansprüche sind „passiv institutionalisiert“, d.h. sie<br />

527 vgl. Grosse 12<br />

528 vgl. http://hartzkritik.bplaced.net/GoldeneRegeln.htm, letzter Zugriff: 04.01.2010<br />

529 Brinckmann 131<br />

530 Brinckmann 26<br />

99


5.5 DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde<br />

werden<strong>von</strong>einergesellschaftlichanerkanntenInstitutionverwaltet. 531 DieseAufgabewird<br />

<strong>von</strong>„organisatorischen Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung“, denBehörden,übernommen.BehördensindderRegierungnachgeordnetundführendieGesetzeausundüberwachenderenBefolgung.<br />

532 DieBundesrepublikDeutschlandistlautArtikel20Absatz1<br />

GrundgesetzundArtikel28Absatz1GrundgesetzeindemokratischerundsozialerRechtsstaat.DieVerwaltungmusssichbemühen,dassdieserVerfassungsauftragerfülltwerden<br />

kann,d.h.siesollhelfen„denSozialstaatinhaltlichauszugestalten“.Hauptaufgabensind<br />

dabei die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Daseinsvorsorge,<br />

dieOrganisationderBildungu.a.. 533<br />

DamitderBürgerseineihmzugesprocheneRechtsgleichheit,alsodieGleichheitvor<br />

demGesetzwahrnehmenundseinInteresseeinbringenunddurchsetzenkann,musserKontaktzuröffentlichenVerwaltungaufnehmen.<br />

534 DieVerwaltungistfürihndaswesentliche<br />

MittelzurRechtsdurchsetzung.DerKontaktmitöffentlichenVerwaltungenvollziehtsich<br />

überwiegendüberFormulare–mögensieauchasymmetrischzuUngunstenderBürgersein.<br />

„DerBürgerhatsichVerwaltungenüberAntragsformularezunähern,erhatInformationen<br />

undErklärungenandieVerwaltungeninFormularezuschreiben,unddieVerwaltunggibt<br />

ihmAuskunftodererteiltihmBescheidwiederummittels<strong>Formularen</strong>.“ 535 DerBürgerbegibtsichdamitineineArtAbhängigkeit<strong>von</strong>derBehörde,denndieBearbeitungderAnträge<br />

setztdasMitwirkenderAntragstellervoraus.„DieGewährungöffentlicherLeistungen(ist)<br />

inderRegel<strong>von</strong>derInitiativedesAnspruchsberechtigtenodereinesDrittenabhängig,so<br />

daßdieVerteilungstaatlicherLeistungeninerheblichemMaß<strong>von</strong>denHandlungschancen<br />

derBetroffenengegenüberderVerwaltungabhängt.“ 536 DerBürgerordnetsichebenfalls<br />

derGeschäftsordnungderBehördeunter,inderauchfestgeschriebensteht,dasseineEntscheidungsfindungaufschriftlicherKooperationzwischenBürgerundBehördebasiert.<br />

537 <br />

MitseinerUnterschriftbestätigternichtnurdieRichtigkeitundWahrheitseinerAngaben<br />

undschaffteinamtlichesDokument,sondernerakzeptiertauchdieGeschäftsordnungen<br />

und vorgegebenen Verfahrensregeln. Decken sich seine Angaben zum Lebenssachverhalt<br />

mitdengesetzlichenTatbestandsmerkmalen,ergibtsichausdemangewandtenGesetzeine<br />

RechtsfolgeandessenEndedieentsprechendeEntscheidungsteht.<br />

Damit die Behörde oder die öffentliche Verwaltung ihre gesetzlich geregelten Aufgabenerfüllenkann,versuchtsiedurchFragenundErläuterungeninFormulargestalt,die<br />

fürdieBearbeitungnotwendigenInformationenzuermitteln. 538 DieVerwaltunggehtdabei<br />

da<strong>von</strong>aus,dassderAntragstellerdieschriftlichenFragenverstehtundklarbeantworten<br />

kann. Die Gliederung des Formulars strukturiert gleichzeitig die Informationspflicht des<br />

Bürgers.„FormularestrukturierendieArtundWeisederBearbeitungdurchdieUmsetzung<br />

normativer und/oder technisch-organisatorischer Regeln im Sinne <strong>von</strong> Interviewleitfäden,<br />

Checklisten u.ä.“ 539  Die Gesetze enthalten, <strong>von</strong> einzelnen spezialgesetzlichen Regelungen<br />

wieetwademMeldegesetzabgesehen,keineAussagezurVerwendung<strong>von</strong><strong>Formularen</strong>und<br />

ihrerAusgestaltung.DieZweckmäßigkeiteinesFormularswirddortbefürwortet,woFormularealleerheblichenTatsachenenthaltenkönnen,welchedieVerwaltungsentscheidung<br />

fördern,aberderBürgerinderWahrnehmungseinerRechteundPflichtennichtunzumutbar<br />

531 vgl. Leibfried, in Albrecht 81<br />

532 vgl. Federwisch 10<br />

533 vgl. Federwisch 31<br />

534 vgl. Albrecht 82<br />

535 Brinckmann 9<br />

536 Kaufmann/Grunow/Hegner, in Federwisch 58<br />

537 vgl. Menne-Haritz 86<br />

538 vgl. Brinckmann 11<br />

539 Brinckmann 163<br />

100


5.5 DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde<br />

belastetwird. 540 DieVerwaltungerwartetvomBürger,dasserseineAntwortenebenfallsin<br />

dertypischensprachlichenForm,inderdesFormulars,ansierichtet.DasFormularkönnte<br />

demnacheinVordrucksein,deretwasindie„richtigesprachlicheForm“bringt–es„formuliert“.DiesesEtwaskönnenpersönlicheAngaben,AusschnitteausderLebenswelt,GesetzestexteoderVerwaltungsentscheidungensein.Dieseneue„sprachlicheForm“machtdie<br />

Inhalteinneuer,besondererWeisefürdenBearbeitungsprozessverwendbar–siesinddurch<br />

SelektionundFormalisierungsystematischbearbeitungsfähiggeworden.<br />

DaderüberwiegendeTeilderKommunikationüberFormularebewältigtwird,istdie<br />

Verwaltungalsogezwungen–oderzwingtsichselber–einimmensesAufkommenan<strong>Formularen</strong>zubearbeiten.DabeiistmanstetsumEffizienzbemüht.Daswirdmöglich,wenndieLese-undBearbeitungszeitsogeringwiemöglichgehaltenwird.EineeffizienteVerwaltung<br />

kann also nicht ohne effiziente Formulare entstehen. Denn dadurch kann die KomplexitätderInformations-undKommunikationsbeziehungenzwischenBürgerundVerwaltung,<br />

aber auch verwaltungsintern, reduziert und strukturiert werden. Dazu ist es nötig,<br />

durchStandardisierung,FormalisierungundProgrammierung(i.S.v.einenAblauffestlegen)<br />

denAblaufdesVerwaltungsprozesseszusteuern.Zielistes,relevanteInformationen<strong>von</strong><br />

nichtrelevantenInformationenzutrennen.Dabeidarfabernichtvergessenwerden,dasszur<br />

AuswertungundBearbeitungderFormulareBearbeitereingesetztwerden.Dasheißt,dass<br />

dieVorgabendesFormularsdurchausauchunterschiedlichinterpretiertwerdenkönnen,da<br />

eine„unpersönliche“BearbeitungaufgrundderVoraussetzungenundQualifikationendes<br />

Bearbeitersfastnichtmöglichist.<br />

GehenwirnäheraufdieVerwaltungsprozesseein.<br />

DieVerwaltungensindangesetzlicheWeisungengebunden.SiekönnennurmitHilfe<br />

<strong>von</strong> <strong>Formularen</strong> feststellen, ob und inwieweit Aspekte für eine Handlung oder eine EntscheidungnachdemGesetzgegebensind.Umdaszuerreichen,bildetdieVerwaltungdie<br />

gesetzlichen„Tatbestandsmerkmale“indenFragenundErklärungendesFormularsab.Die<br />

Verwaltung„veranlasstdenVerwaltungsklienten,solcheundnursolcheInformationenin<br />

dasFormulareinzutragen,dienachAuffassungderVerwaltungzurEntscheidungübereine<br />

LeistungsverpflichtungodereinenLeistungsansprucherforderlichsind.“ 541<br />

Gesetzestexte, die auf den <strong>Formularen</strong> wiedergegeben werden, sind „Texte der fachexternenKommunikation,diederBürgerlesen,verstehenundbearbeitenmuß,damiter<br />

seine Rechte wahren, seine existenziellen Bedürfnisse artikulieren und seine Pflichten erfüllenkann“.<br />

542 DieGesetzessprachewirdallerdingsalsetwasKünstlichesundFremdes,der<br />

„natürlichen“SpracheEntgegengesetztesvomBürgerwahrgenommen.Sieunterscheidetsich<br />

<strong>von</strong>derAlltagssprachedurchdierechtlichenundverwaltungsorientiertenBestimmungen.<br />

AberderBürgerhatjagarkeineandereWahl,alsdieWeltderRechts-undVerwaltungssprachezubetreten,dajaalleperGesetzgarantiertenAnsprüche„passivinstitutionalisiert“<br />

wordensind.<br />

DurchdiezunehmendeKomplexitätderGesetzeundderenWiedergabeaufdenVordrucken<br />

werden die Texte immer umfangreicher, denen der Antwortende, anders als in<br />

einemGespräch,alleinegegenübersteht.Eskannweder,wieineinemGespräch,beiUnklarheiten<br />

noch einmal nachgehakt werden, noch können die Besonderheiten des Einzelfallsberücksichtigtwerden.DieVerständlichkeitbleibtaufderStrecke,weilnichtklarist,auswelchemKontextdieFragenformuliertwordensind.„DerBürgerwirdalsFormularbenutzerandiesemgeneralisiertenSubsumtionsvorgangaktivbeteiligt,ohneallerdingsdie<br />

TragweiteunddieFolgenseinesHandelnsimmervollständigüberschauenzukönnen;denn<br />

erhatdabeieinedoppelteÜbersetzungsaufgabezubewältigen:ÜbersetzungenderFragen<br />

undErklärungendesFormularsindieUmgangsspracheundÜbersetzungseinesindividu-<br />

540 vgl. Brinckmann 24, 223<br />

541 Brinckmann 12<br />

542 Mentrup 112<br />

101


5.5 DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde<br />

ellenLebensweltausschnittesindieFachsprachedesFormulars.“ 543 Diesführtzumeinenzu<br />

häufigeremKontaktmitderVerwaltung.DieserhäufigereKontaktumProblemezuklären,<br />

führtabernichtzueinerpositivenVeränderungdesVerhältnisses,sonderneherzuUnverständnisundAblehnung.<br />

544 VielentscheidenderistallerdingsdieTatsache,dassderBürger<br />

handelt,ohnesichderTragweiteundderFolgenseinesHandelnsimmerimKlarenzusein.<br />

VorProblemenstehtaberauchdieBehörde.SiemussdafürSorgetragen,daseingegebenerText,z.B.einGesetzestext,sotransformiertwird,dasskeineinhaltlicheVeränderungauftritt.DenndaskönnteunterUmständendienstlicheBelangewiedieRechtssicherheitdesFormulars<br />

gefährden.EsgibtzweiMöglichkeiten.BildetmandeneineAufgabe<br />

definierendenGesetzestextmöglichstvollständigab,behindertdasdieInteraktionunddie<br />

VerständlichkeitdesFormulars.BildetmanandererseitsdiekomplexenGesetzestexteund<br />

Rechtstatbeständevereinfachtab,wirktsichdassicherpositivaufdieVerständlichkeitund<br />

dieInteraktionaus,aberauchgenausosicher,negativaufdieRechtssicherheit.Einweiteres<br />

Problemkommtnochhinzu.WirdallzuvereinfachtnachdenUmständenkomplexerRechtstatbeständegefragt,kannaufdiffizileindividuelleSachverhaltenichteingegangenwerden.Esentstehtder„CharaktereinergeneralisiertenSubsumtion“,alsoeineallzurigideUnterordnung<br />

unter gesetzliche Vorgaben. 545  Es kann sich also zwischen rechtlicher Präzision,<br />

aberUnverständlichkeitoderzwischenVerständlichkeit,abermangelnderrechtlicherPräzision,entschiedenwerden.DiegleichenEntscheidungsmöglichkeitenkannmanbeidenarbeitsorganisatorischenAnsprüchenundderkommunikativenInteraktivitätaufmachen.<br />

DieAufgabedesFormulars–dasSammeln,Selektieren,StrukturierenundOrdnen<br />

aller Informationen über Person und Sachverhalt, die für eine Verwaltungsentscheidung<br />

nötigsind–istalsoschwieriger,alsesaufdenerstenBlickscheinenmag.Soschwierigwird<br />

es, weil dem Formular diese Aufgabe <strong>von</strong> mehreren unterschiedlichen Seiten übertragen<br />

wird.DasFormularmussdieseAufgabefürdieInteraktionzwischenBehördeundBürger,<br />

fürdiearbeitsteiligeSachbearbeitung–damitbeispielsweiseunterschiedlicheVerwaltungsstellen<br />

arbeitsteilig an dem selben Verwaltungsprozess mitwirken können, sich also eine<br />

Entscheidungs-undHandlungseinheitbildenkann–undfürdieUnterordnungdesSachverhaltesuntereineRechtsnorm(Subsumtion)leisten.UnddannmüssennochalleentscheidungserheblichenDatengesammelt,selektiert,strukturiertundgeordnetwerden.DieRationalisierungdurchNormen,diespezifischeFormulierungenkomplexerVorschriftenaufSeitendesHerausgebers,dieKoordination<strong>von</strong>ArbeitsschrittenunddieindividuellenUmständedesKlientenerschwerendieKommunikationunddieangenehmeWahrnehmungdesFormulars.„DieabweichendenBezugssystemederKommunikationspartner‚Bürger–Behörde‘,dieunterschiedlicheSprachederVerwaltungunddesAlltags,dieAsymmetrie<br />

der Kommunikationssituation, allgemein: das Auseinanderklaffen <strong>von</strong> Alltagswelt<br />

und Verwaltungswelt sowie die durch die Formulare gegebene Überführung eines konkretenVorgangsineinendemgesetzlichenAuftraggemäßenFallalsRealitätdesBürgers<br />

<strong>von</strong>Amtswegen–alldiesführtzueinerinderFremdheitderVerwaltungssichtbegründeten<br />

negativenEinstellungderBürgergegenüberderVerwaltungüberhauptunddenVordrucken<br />

speziell.“ 546 Deshalbistfürdie<strong>Formularen</strong>twicklungund-gestaltungdieEinsichtwichtig,<br />

dassessichinersterLinieumeineOrganisationsarbeithandelt.DatenundInformationen<br />

müssensoaufgearbeitet,strukturiertundgeordnetwerden,dassbeidenSeiten,Herausgeber<br />

wieKlient,einfürseineAnsprücheoptimalesArbeitsmittelzurVerfügungsteht.„DieKoordinationverschiedenerArbeitsschritteeineskomplexenBearbeitungsvorgangesdurcheinFormularkannzuwidersprüchlichen<strong>Gestaltung</strong>sanforderungenführen,beiAntragsformularenentstehensolcheProblemehinsichtlichdesnachaußengerichtetenProzessesderInfor-<br />

543 Brinckmann 13<br />

544 vgl. Grosse 12<br />

545 Brinckmann 136<br />

546 Mentrup 121<br />

102


5.5 DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde<br />

mationssammlungundderinternenSachbearbeitung.“ 547 DieVorteileeinesoptimalarbeitendenFormularsliegendabeiklaraufderHand:ProblemeundMissverständnissekönnen<br />

verringert,ZeitundNervengeschontwerden.<br />

Auf die inhaltlichen, systemimmanenten Probleme kann der KommunikationsdesigneroftmalskeinenEinflussnehmen.InhaltlicheProblemlösungenkanneinzigderHerausgeberzufriedenstellendbieten.Eristesauch,dersichüberdieWahrnehmung,dieWichtigkeitunddasLeseinteresseimKlarenseinsollte.EsbestehtkeinHandlungsbedarf<br />

für<br />

denHerausgeber,wenneinVordruckalswichtigundverständlichempfundenwird,weil<br />

dannauchdasLeseinteressehochist.BefürchtetderHerausgeber,dassderVordruckfür<br />

unwichtiggehaltenwird,somussdieWichtigkeithervorgehobenundleichterkennbargemachtwerden.BefürchtetderHerausgeber,dassderVordruckzwarfürwichtig,aberals<br />

schwerverständlichwahrgenommenwird,somussdieVerständlichkeitgesteigertwerden.<br />

Helfenkanndarüberhinaus,wennderHerausgeberdemEmpfängerklarmacht,allesfür<br />

dieVerständlichkeitgetanzuhaben,indemerzumBeispielkurzeVorbemerkungenüber<br />

denZweckdesAntrages,derAusführungen,dernötigenAngabenvoranstellt. 548<br />

DasFormularistebeneinvielschichtigesMediumderInteraktion.Esvereinteinen<br />

kommunikativenDialogundsozialesHandeln–einsinnhaftesHandelndesEinen,dasauf<br />

dasVerhaltendesAnderenausgerichtetistoder„einesinnhafteOrientierungdeseigenen<br />

andemfremdenHandeln.“ 549 NachdieserAusrichtungwirdderHandlungsablaufgestaltet.<br />

WirdwährendeinesProzessesodereinerMaßnahmesozialgehandelt,kannalsErfolgskriteriumfürdasErreichtenurdasdurchgesetzteInteressedesBürgersgelten.Wederdierasche<br />

Anwendung einer Maßnahme, noch die Mitteleinsparung am Bürger durch die BehördedürfenfürdieBeurteilungeinesErfolgesherangezogenwerden.DieProblemeeines<br />

sovielschichtigenMediumslassensichauchnurdurchvielschichtigeHilfenlösen.Bessere<br />

ErgebnisselassensichnurdurchdieZusammenarbeit<strong>von</strong>Sprachwissenschaftlern,Verhaltenspsychologen,Didaktikern,DesignernundProduzentenerzielen.<br />

550 DenneinFormular<br />

sprichtalldieseDimensionenderWissenschaftundForschungan.Esist„sowohleinverwaltungsrechtliches<br />

und verwaltungswissenschaftliches als auch ein organisationssoziologisches,sozialpsychologischesundsprachsoziologischesThema.“<br />

551 Deshalbreichtesauch<br />

nichtaus,nurRegelnfüreineKommunikationzwischenBehördenpersonalundBürgeraufzustellen.Esgehtvielmehrauchdarum,dieBehörden-undFormularsprachealsFormeines<br />

handelndenVerhältnisseszwischenBürgerundBehördezubegreifenundRegelnfürdieses<br />

Verhältniszuschaffen 552 Esreichtnicht,nurdenTonzuändern.WillsicheineVerwaltung<br />

oderBehördeals„bürgernah“bezeichnen, somusssiebeispielsweise aucheineVerbesserungderräumlichenundörtlichenErreichbarkeitoderdieBeistandsanerkennungwährend<br />

einesGesprächsvornehmen.OhnedieAusweitungderfinanziellen,rechtlichen,politischen<br />

VorgabenundMachbarkeitenlässtsichdasabernichtumsetzen.<br />

547 Brinckmann 166<br />

548 vgl. Diederich 106<br />

549 Weber, in Albrecht 77<br />

550 vgl. Grosse 20<br />

551 Brinckmann 23<br />

552 vgl. Albrecht 77<br />

103


5.8<br />

Ordnungsbeziehungen in einem Formular<br />

„Formulare sind Informationsträger.“ 579<br />

5.8 OrdnungsbeziehungenineinemFormular<br />

FormularezurInformationsgewinnungmüssensowohldemEmpfängeralsauchdem<br />

SendersofortvisuelleAntwortendarübergeben,werderSenderist,welcherVorgangbearbeitetwird,welcheFrageninwelchemZusammenhangwoundwiebeantwortetwerden<br />

müssenundwelcheAntwortinwelchemZusammenhangwoundwiezubearbeitensind.<br />

EinedermenschlichenInformationsaufnahmeund-verarbeitungmöglichstadäquateAuswahl,Gliederung,Aufbauund<strong>Gestaltung</strong>derDatenermöglichteineschnelleundfehlerfreie<br />

Informationsaufnahme und -verarbeitung. Da sich die Visualisierung <strong>von</strong> Informationennicht<strong>von</strong>derenInhalttrennenlässt–geradedasFormularvisualisiertinhaltliche<br />

Beziehungen–müssenvorderVisualisierungdieInformationeninhaltlichgeordnetwerden.<br />

Ordnung verringert insofern die Information, als dass der Empfänger zunächst das Ordnungsprinzip<br />

lernt – die übergreifenden Zusammenhänge – in die er die einzelnen Informationen<br />

einordnen kann. Der Empfänger kann, wie bereits erwähnt, schneller den Zusammenhang<br />

lernen als die Einzelinformationen, die ihn verwirren und keine Ordnung<br />

erkennenlassen.Verstehenheißtimmer„dieVielfaltelementarerInformationenzuverringernunddiekonzeptuellgesteuerteVerarbeitungzunutzen.“<br />

580<br />

InBezugaufdieDatenreduzierunghatdasFormularbesondereEigenschaften.Zum<br />

einenerlaubendiewiederkehrendenDaten,dasswiederholtdieselbenBegriffeverwendet<br />

unddieselbenerlernbaren<strong>Gestaltung</strong>smustervisualisiertwerdenkönnen.Zumanderenist<br />

dasFormularmuster–alsodieVordruckform–unabhängig<strong>von</strong>derZahlderEinzelinformationen.DasFormularkanneinegroßeAnzahl<strong>von</strong>Einzeldatenenthalten,durchdiederBenutzerdurchdieAnordnungundVisualisierungderDatenundderenInformationsverringerungschnellundsichergeführtwerdensoll.DieVisualisierungderBeziehungenistnur<br />

dadurchbegrenzt,dassdiefür„TeilmengengewähltenZeichenundMusterunterscheidbar<br />

seinmüssen.“ 581 DerBenutzerkanninnerhalbderGesamtheitallerInformationenGruppen<br />

oderTeilmengenausmachen,miteinandervergleichen,ÄhnlichkeitenundUnterschiedeerkennenundbekannteMusteroderOrdnungsstrukturenentdecken.DerBenutzerwirdauf<br />

dieseArtundWeisegelenkt,undeswirdihmermöglicht,wichtigeInformationensoselbst<br />

zuselektieren.<br />

FürdieBestimmungderinhaltlichenOrdnungsbeziehungenimFormular,alsoauch<br />

fürdieAuswahlunddieGliederungderFormulardaten,könnendiegleichenKriterienzu<br />

Grundegelegtwerden,wiesiefürdieschnelleundsichereInformationsaufnahmeund-verarbeitunggelten.DassinddieInformationsverringerung,dieBenutzerführung,dieIdentifikation<strong>von</strong>SenderundVorgangunddieLesbarkeit.<br />

Die wichtigste Strategie zur Informationsverminderung der Vordruckdaten ist die<br />

fürdenEmpfängersichtbareTrennungderwiederkehrenden<strong>von</strong>denvariablenDaten.Die<br />

wiederkehrendenDatensindfüralleEmpfängerbestimmt.DievariablenDatensindnurfür<br />

deneinzelnenEmpfängervorgesehen.BeiihrerTrennungmussdurchdie<strong>Gestaltung</strong>ein<br />

fürdenEmpfängersichtbaresundwiedererkennbaresMustergeschaffenwerden,damitdas<br />

Formularfürihnsoinformationsarmwiemöglich,erbeimLesenundBearbeitenschnell<br />

undsichergeführtwird,undfürihndieOrdnungsbeziehungenklarwerdenkönnen.<br />

DieVordruckdatenkönnensowohlnachformalenalsauchnachinhaltlichenZusam-<br />

579 Toebe-Albrecht 66<br />

580 Toebe-Albrecht 54<br />

581 Toebe-Albrecht 72<br />

111


5.8 OrdnungsbeziehungenineinemFormular<br />

menhängen geordert werden. Formale Zusammenhänge sind beispielsweise eine Zusammenstellung<strong>von</strong>ZahlenineinerTabelle,inhaltlicheZusammenhängesindGliederungennachFunktioneninBezugzumorganisatorischenVorgangoderzudenGesetzen.DieOrdnung<br />

der Daten sollte immer in einem für den Empfänger erkennbaren Zusammenhang<br />

stehen.Wasinhaltlichund/oderformalzusammengehört,sollteauchzusammenstehen.<br />

InnerhalbdieserOrdnungenkönnensichdieeinzelnenFunktions-undFrageblöcke<br />

überschneiden, so dass eventuell die gleichen Daten für mehrere Funktionen gebraucht<br />

werden.Wichtigist,dassZusammenhängefürdenEmpfängereinsichtigsind,underdie<br />

benötigtenInformationenschnellerfindenundabrufenkann.Eingutes<strong>Gestaltung</strong>smittel,<br />

falls die einzelnen Funktionen und Frageblöcke nicht grafisch eindeutig <strong>von</strong>einander getrennt<br />

werden können, ist die Zwischenüberschrift. Zwischenüberschriften müssen aber<br />

in jedem Fall die Zusammenhänge anzeigen. Gibt es keine bekannten Zusammenhänge,<br />

müssensievomSendergeschaffenwerden–ineinerfürdenEmpfängererkennbarenLogik.<br />

HierbeikönnenAnleitungenundErläuterungeneinnützlichesHilfsmittelsein.<br />

BeiderFestlegungderOrdnungderFunktions-undFrageblöckeistzubeachten,dass<br />

möglicherweiseeinzelneBlöckeeinenbesondersgroßenDatenumfanghaben.DerBlockmit<br />

dergrößtenInformationsmengeerfordertsomitdenmeistenPlatzundistbesondersdominant.AuchdieGewohnheitenspieleneineentscheidendeRolle.FunktionsblöckezurIdentifikationsollten–denallgemeinenLesegewohnheitenentsprechend–anobererStellestehen.<br />

InnerhalbdereinzelnenFrage-undFunktionsblöckesinddieDatensozugliedern,<br />

dasssiedenBenutzungsablauf,denLesegewohnheitenundderLeselogikentsprechen.In<br />

BezugaufdieLeserichtung<strong>von</strong>linksnachrechts,<strong>von</strong>obennachunten,kanndasübersetzt<br />

„indiezeitlicheDimensionheißenlinksundobenfrüher,rechtsunduntenspäter.“ 582<br />

Eine Gliederung eines Formulars beinhaltet also die Gliederung nach ZusammenhängeninFunktion-undFrageblöcken,nachwiederkehrendenundvariablenDaten,nach<br />

Benutzungsabläufen(Leselogik,Datenumfang)undnachderWichtigkeitderDaten.Fürdie<br />

schnelleundsichereÜbertragungderInformationenvomSenderzumEmpfängersindfolgendeMitteldiewichtigsten:diezweiDimensionenderFlächedesPapiers,Typographie<br />

und Schrift mit ihren Schriftarten, -größen und -stärken, Farben, Linien, Rasterflächen,<br />

Symbole,Absendermarkierungen, TabellensowieSchreibfelder. DiesevisuellenVariablen<br />

habenimGesamtsystemordnende,trennendeundselektiveFunktionen,diemitderinhaltlichenOrdnungverbundensind.DiesevisuellenVariablen–diefürdasFormularsodefiniertseinmüssen,dasssieimmerdiegleichenBedeutungenhaben–ermöglicheneine„InformationsverringerungdurchTrennungderwiederkehrenden<strong>von</strong>denvariablenDatenunddurchZusammenfassungzuFunktions-undDatenblöcken,BenutzerführungdurchFestlegungderReihenfolgeundBestimmungderwichtigenDatenundIdentifikation<strong>von</strong>Sender<br />

undVorgang“. 583 DiegroßeVielfaltderFormulareergibtsichdadurch,dassdiezuvermittelnden<br />

Informationen durch verschiedene Kombinationen der visuellen Variablen immer<br />

wiederreduziert,geordnet,gegliedertundselektiertwerdenmüssen.JedevisuelleKomponentemussdabeieineBedeutunghaben,dennohneBedeutungwürdedieLesbarkeitundBearbeitunggestörtwerden.JedeStörungdurchbedeutungsloseundundifferenzierteVisualisierungensolltevermiedenwerden.<br />

582 Toebe-Albrecht 62<br />

583 Toebe-Albrecht 73<br />

112


5.11<br />

Einschätzung Hartz IV Hauptantrag<br />

„Wer nicht zurecht kommt, soll mich anrufen!“ 624<br />

5.11 EinschätzungHartzIVHauptantrag<br />

UmVerbesserungenherbeiführenzukönnen,musssichmitdemvorhandenenFormularauseinandergesetztwerden.Diessollimfolgendengeschehen.<br />

BeiderEinschätzungnachgrafisch-visuellenAspektensollenalldieGegebenheiten<br />

betrachtetwerden,diezurÜberwindungdesäußerenLesewiderstandes–alsodieBereitschaftsichaufdasFormulareinzulassen–<strong>von</strong>Bedeutungsind.Näherbetrachtetwerden<br />

dabeiu.a.Formate,Satzspiegel,Typografie,grafischeElemente,Anordnungen,Abstände,<br />

Hervorhebungen, Farbgebungen und visuelle Gliederungen. Das Befragen des Formulars<br />

nachdiesenAspektensolldabeihelfen,erklärenzukönnen,auswelchenGründendasFormular<br />

besonders unstrukturiert, unübersichtlich, uneinheitlich und unhandlich ist oder<br />

auchnicht.<br />

Anschließend soll versucht werden, das Formular semantisch-syntaktisch einzuschätzen.<br />

Die Befragung der sprachlichen Einfachheit und Prägnanz des Formulartextes<br />

sowiedieGliederungundinhaltlicheZuordnungsollenhelfen,denGradderVerständlichkeitbestimmenzukönnen.BeidersprachlichenEinfachheitundPrägnanzmussderFormulartextaufSatzbauundWortwahlüberprüftwerden.Komplizierte,missverständlicheoder<br />

garunverständlicheSatz-undWortschöpfungenkönnendabeiherausgestelltwerden.Ob<br />

dasFormularinhaltlichüberschaubarist,kanndurchdieÜberprüfungderGliederungund<br />

Ordnungbestimmtwerden.Damitistabernichtdiegrafisch-visuelleOrdnunggemeint.Es<br />

gehtvielmehrdarum,dieSinnhaftigkeitderGliederungundZuordnungzubestimmen.Semantisch-syntaktischeFeststellungenwerdensichaberwohlauchmitdenpragmatischen<br />

Auffälligkeitenüberschneiden.<br />

BeiderBefragungnachderpragmatischenVerständlichkeitistesZielzuermitteln,<br />

inwieferndasFormulardenKundenbzw.denBürgerhandlungsfähiginderWahrnehmung<br />

undDurchsetzungseinerRechtsansprücheimVerwaltungsverfahrenmacht.Diesgeschieht<br />

dann,wenndemKlientendasnötigeKontextwissen,WissenüberAlternativenundKonsequenzenundHinweiseüberGrundundAbsichtderAbfragungenvermitteltwerden.DaskanndurchgegebeneNebeninformationenüberalternativeoderparallelbetroffeneVerfahrenswegeoderInformationenüberdenVerfahrensgangermöglichtwerden.<br />

624 Wolfgang Clement, Wirtschaftsminister, 20. Juli 2004, http://www.spiegel.<br />

de/wirtschaft/0,1518,309529,00.html, letzter Zugriff: 18.11.2009<br />

137


5.11.1<br />

Grafisch-visuelle Einschätzung<br />

5.11.1 Grafisch-visuelleEinschätzung<br />

DerHauptantrag(Stand04.2009)bestehtauseinemDINA3Bogen,derbeidseitig<br />

bedruckt,inderMittegefaltetundvorgelochtwurde.SomitergebensichvierSeiten.Das<br />

FlächengewichtdesBogensbeträgt80Gramm.EswurdeeingräulichgefärbtesRecyclingpapierverwendet.DieeinzelnenSeitensindschwarzbedruckt,lediglichdieersteSeiteweist<br />

einengrün-farbenenStreifeninderHöheauf.AufRegisterhaltigkeitwurdeverzichtet,die<br />

Rückseitenscheinenallerdingsauchnurschwachdurch.BeimerstenDurchblätterndesFormularswirktesunübersichtlich,unstrukturiert,kompliziertundüberladen.DieSeitenbestehenauseinerVielzahl<strong>von</strong>Schreibfeldernund<strong>Gestaltung</strong>selementenwiez.B.Linien.<br />

DieRandzonensindnichtbesondersgroßzügigeingerichtetworden.DerKopfsteg<br />

hateineHöhe<strong>von</strong>8,5mm,derFußstegschwanktinseinerHöhezwischen18mmund<br />

34mm.DerBundsteghateineBreite<strong>von</strong>17mmundderAußenstegist9mmbreit.Vom<br />

9mmbreitenAußenstegkannnocheinmaldergrüneStreifen,miteinerBreite<strong>von</strong>6mm,<br />

abgezogenwerden.UnterhalbdesletztenAbschnittes–aufdenFußsteg–werdendieweiterenHinweiseunddiePaginagesetzt.Siebefindensichnur7mmvomunterenBlattrandentfernt.OberhalbderPaginawirddurcheinenSterngekennzeichnet,dassnähereErläuterungenindenAusfüllhinweisenzufindensind.DieBlätterwirkendurchdiegeringenRandzoneninsgesamtsehrvoll.<br />

Innerhalb des Formulars lassen sich vier Schriftgrößen unterscheiden. Die HauptüberschrifthateineGröße<strong>von</strong>14pt.DerihruntergeordneteTexthateineSchriftgröße<br />

<strong>von</strong>11pt,derTextfürdieauszufüllendenStellenhateineGröße<strong>von</strong>9ptundderTextzur<br />

KennzeichnungderAnlagenhateineGröße<strong>von</strong>8,5pt.AlsSchriftfamiliewurdedieArial<br />

gewählt.SiewirdindenSchnittenBoldundRegularverwendet.AuszeichnungenundHervorhebungenwerdenmithilfedesBold-Schnittesgestaltet.FürdierestlichenTextewirdder<br />

Regular-Schnittverwendet.EslässtsichallerdingsaucheineAuszeichnungfeststellen,die<br />

eineUnterstreichungalsHervorhebungbenutzt.DieUnterstreichungscheintindiesemFall<br />

aberfüreineguteErkennbarkeitzugeringzusein.<br />

DieSchriftgrößefürdenFließtextscheintangemessenzusein.Sowirdauchälteren<br />

MenschendasEntziffernderSchriftbildererleichtert.AuchdieSchriftgrößefürdieHauptüberschriftscheintausreichendzusein.DieHauptüberschriftistallerdingszulang,undzu<br />

wenigdifferenziert.Sielautet:„AntragaufLeistungenzurSicherungdesLebensunterhalts<br />

nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) – Arbeitslosengeld II / Sozialgeld“. 625 <br />

AuchderihrzugeordneteErläuterungstextistinseinerLängeundDarstellungzuundifferenziert.Erlautet:„FüllenSiebittedenAntragsvordruck(ohnediegrauunterlegtenFelder)inDruckbuchstabenaus.BeachtenSiebitteauchdiebeigefügtenAusfüllhinweise.DieAntragsformularefindenSieauchimInternetunterwww.arbeitsagentur.deunterderRubrik<br />

„Formulare>FormularefürBürgerinnen&Bürger>ArbeitslosengeldII“. 626 Besondersauf<br />

derSeite4wirdklar,dassdergewählteZeilenabstandzugeringist.GeradebeiTextenmit<br />

vielenZeichenwurdeeinderartkleinerZeilenabstandgewählt,dassespassierenkann,dass<br />

das Schriftbild bei längerem Hinsehen vor den Augen zu verschwimmen droht, und die<br />

einzelnenZeilennichtmehr<strong>von</strong>einanderzutrennensind.Eswirdsehrschwierig,sichinnerhalbderzuengstehendenZeilenzuorientieren.WirdeinezusammenhängendeZeile,<br />

aufgrundihrerLänge,aufeinezweiteZeileumbrochen,sobesitztdieseeinengeringeren<br />

625 vgl. Hauptantrag, S.1<br />

626 vgl. Hauptantrag, S.1<br />

138


5.11.1 Grafisch-visuelleEinschätzung<br />

Zeilenabstandalsüblich(harterundweicherUmbruch).GeradeSeite4wirkthoffnungslos<br />

überfrachtet.<br />

DieeinzelnenTextelementesindmeistbündigzumlinkenRandgesetztworden.Auf<br />

derSeite4sinddieFormulierungen,diefürdieVersicherung,dassalleAngabenzutreffend<br />

sind(Ort,Datum,Unterschriftdes…),imMittelachsensatzgesetzt.Beilängeren,durchgehendenTextabschnittenwurdederlinksbündigeFlattersatzverwendet.ZeilenindiesenAbschnittenerstreckensichmeistüberdiegesamteSatzspiegelbreite.Sieenthaltenbiszu123<br />

Zeichen pro Zeile. Die für einen optimalen Lesefluss geeignete Zeichenanzahl liegt zwischen60und70ZeichenproZeile.DieZeilen,indenenEintragungengemachtwerdensollen,sindbündigmitdenKästchenzumAnkreuzengesetzt.DaaberscheinbarkeineSilbentrennungenzugelassenwurden–esgibtallerdingsauchimmerwiederAusnahmenauf<br />

denSeiten–,scheinenZeilennacheinemnichterkennbarenMusterzuenden.Beikurzen<br />

Zeilenwurdeversucht,dieLinienfürdieEintragungenimmerwiederandergleichenPositionbeginnenzulassen.Sieliegt82mmentferntvomBundsteg.DieLinienhabeneine<br />

Länge <strong>von</strong> 90 mm. Bei Eintragungen, die auf einer Linie innerhalb <strong>von</strong> Zeilen gemacht<br />

werdensollen,stehtdieLinienichtmehrineinemerkennbarenRaster.<br />

Die Anordnung der auszufüllenden Felder muss als unübersichtlich bezeichnet<br />

werden.MancheZeilenwerdendurchdieZeichenunddiedazugehörigeLinie,aufderdie<br />

Eintragungen vorgenommen werden sollen, auf die ganze Satzspiegelbreite getrieben. So<br />

kannespassieren,dassfürdenFamiliennamenoderdenWohnort135mmLiniezurVerfügungstehen.DieLiniefürdieEintragungenbefindetsichstets1mmunterhalbderSchriftlinie.DiesscheintunnötigundderZuordnunghinderlich.EbenfallsproblematischistdiefehlendeFestlegungdesAbstandeszwischenletztemZeichenderErläuterungunddemBeginnderLinie.BeiderFragenachderKundennummerderAntragstellerin/desAntragstellersbeginntdieLinie1,5mmhinterdemletztenZeichen.InderdarunterliegendenZeile,<br />

indernachderNummerfürdieBedarfsgemeinschaftgefragtwird,beginntdieLinie32<br />

mmhinterdemletztenZeichen.SostehenzwardieLiniengleicherLängebündiguntereinander,dieZuordnungzudereigentlichenFormulierungistabererschwert,dasichzwischen<br />

ihnen32mmAbstandbefinden.Diesscheintmirvölligunnötigzusein.Allzuleichtkann<br />

espassieren,dassmaninderZeileverrutscht.EsergibtsichderEindruck,dassversucht<br />

wurde,Ordnungzuerzwingen,indemmandieLinienuntereinanderstellt.Dadurchpassiert<br />

esauch,dassdieunterschiedlichenZeilenlängenderFormulierungenteilweiseriesigeAbständezwischenLinieundletztemZeichenreißen.Dasistnichtnurausgrafisch-visuellerSichtbedenklich,sondernauchaussemantisch-syntaktischerSicht.DurchdiefehlendeFestlegung<strong>von</strong>immergleichenEinzügenbzw.Abständen,sowohlhorizontalalsauchvertikal,<br />

wirddieBenutzerführungimmenserschwert.<br />

BeimehrerenuntereinanderliegendenLinien,diefürEintragungengenutztwerden<br />

sollen,erscheintderAbstandzugering.Gehtman<strong>von</strong>unterschiedlichenHandschriftenaus,<br />

soistdenkbar,dasseinzelneEintragungendurchausgeprägteOber-undUnterlängenmit<br />

inandereZeilenübergehenkönnen.UnübersichtlichkeitdurchdievorgenommenenEintragungenwäredieFolge.<br />

Ebenfalls problematisch ist der Abstand zwischen der letzten Eintragungslinie im<br />

AbschnittundderUmrandung.Siebeträgt1mm.WerdennunEintragungenvorgenommen,<br />

dieeineUnterlängebesitzen,sowürdensieüberdieAbschnittsbegrenzunghinausgehen.<br />

DadieAbschnitteuntereinanderauchnureinenAbstand<strong>von</strong>1mmaufweisen,istda<strong>von</strong><br />

auszugehen,dasssolcheEintragungensogarnochindennächstenAbschnitthineinragen<br />

würden.EsscheintkeinadäquatesvertikalesRasterzugeben,dassvieleProblemelösen<br />

könnte.<br />

InnerhalbdesFormularskommenzweiLinienstärkenzurAnwendung.Diestärkere<br />

Linie<strong>von</strong>1ptgrenztdieeinzelnenAbschnitte<strong>von</strong>einanderab.InnerhalbdereinzelnenAbschnittesollendieEintragungenauf0,5ptstarkenLinienvorgenommenwerden.Tabellenwerdenebenfallsmitder1ptstarkenLinieineinhorizontalesundvertikalesRasterunterteilt.DabeiwirddieTabelleimAbschnitt2linksundrechts<strong>von</strong>denendenAbschnittum-<br />

139


5.11.1 Grafisch-visuelleEinschätzung<br />

gebendenLinienbegrenzt.DieTabelleunterteiltsodenAbschnittnochmalsunnötiginsich<br />

selbst.DieTabelleimAbschnitt7scheintdagegenzu„schwimmen“.Sieistkürzerundhat<br />

nurvierSpalten.IhreletzteSpalteendet29mmvorderrechtenAbschnittslinie.Aufgrund<br />

der gleichen Linienstärken lässt sich keine Differenzierung ausmachen. Insgesamt ist die<br />

DifferenzierungderbeidenLinienstärkenfastausreichend.EskönnteabernocheinengrößerenUnterschiedgeben.DerAbstandzwischendeneinzelnenAbschnitten,diedurchLinien<strong>von</strong>einandergetrenntwerden,istzugering.DieentstehendeWeißflächereichtnicht<br />

aus.DieLinienverliereninihrerhorizontalenAusrichtunganFunktion.Innerhalbdesfür<br />

dieSachbearbeitungvorgesehenenFeldes,dasgrauhinterlegtist,wechselnsichschwarze<br />

undweißeLinienab.DieweißenLiniensindinderHorizontalendabeischmaler,alsdie<br />

derVertikalen.InnerhalbderweißenhorizontalenLinienlassensichaberauchStrichstärkenunterschiedefeststellen.SiescheinenaufgrundmangelnderDurcharbeitungentstanden<br />

zusein.DasFeldfürdieSachbearbeitungweistinseinerUmrandung–wienochimAntrag<br />

Stand04.2008–keineStrichstärkenunterschiedemehrauf.DieLinienfürdieEintragung<br />

derSachbearbeitungsindimUnterschiedzudenweiterenAbschnittenineinerLinienstärke<br />

<strong>von</strong>0,375ptangelegt.DieseVielgestaltigkeitanLinienscheintunnötig.<br />

DerAbschnitt8–derimUnterschiedzumAntrag<strong>von</strong>04.2008–umdenPunkt8e<br />

erweitertwurde,erstrecktsichüberdieSeiten3und4.AufderSeite3wirdderAbschnitt<br />

vollständigumrandetundzeigtsichsomitwieeinabgeschlossenerAbschnitt.AufderSeite<br />

4–aufdemsichderAbschnitt8mitdemPunkt8efortsetzt–isterebenfallsvollständig<br />

umrandet.ZusammengehörigePunkteeinesAbschnitteswurdenalsowiezweigetrennte<br />

Abschnittebehandelt.<br />

UnterschiedegibtesauchbeidenAnkreuzkästchen.DieKästchenimFeldfürdie<br />

SachbearbeitungweisenalsUmrandungsehrdünneHaarlinienauf.Siehebensichschwer<br />

<strong>von</strong>demgraugerastertenFondab.DieKästchenindeneinzelnenAbschnittensimulieren<br />

durch zwei unterschiedlich graue Flächen und eine hellgraue Umrandung eine optische<br />

Räumlichkeit. Die Kästchen in den Abschnitten befinden sich alle bündig untereinander<br />

und ermöglichen so eine schnelle Kontrolle der gemachten Kreuze. Zwischen dem KästchenunddendazugehörigenErläuterungenwurdestetsdergleicheAbstandverwandt.DaserleichtertdieZuordnung.BeimehrerenhintereinanderliegendenKästchenundderenErläuterungenpassiertesallerdings,dassderAbstanduntereinanderzugeringist.IstdiesergeringeralsderAbstandzwischeneinemKästchenundseinerErläuterung,wirdeineZuordnungerschwert.OderderAbstandist,wieaufSeite4beiderFragenacheinemBetreuer<br />

sogroß,dasseineZuordnungbeinaheunmöglichwird.<br />

DieeinzelnenAbschnittesindfortlaufendnummeriert.InnerhalbeinesAbschnittes<br />

wirdderZahleinBuchstabezugeordnet,beispielsweise2a,2b,2cusw.Manhataufdie<br />

WeiterführungderNummerierungenmitbeispielsweise2.1,2.2,2.3verzichtet.Diessorgt<br />

nichtnurfüreineoptischeUnruhe,daderZahleineGemeinezugeordnetwurde.Esistdarüberhinausauchlogischinkonsequent.FürUnruhesorgenauchmikrotypografischeUnzulänglichkeiten.SowirdbeispielsweisebeiZeichenfolgenwie§§67a,b,ceinstandardmäßigesLeerzeichenstatteinesflexiblenLeerzeichensverwendet.<br />

627 FürweitereRuhewürde<br />

auchdieAnpassungderGrößenwirkungderZahlenandieZeichenbringen.Dieserreicht<br />

man,indemmandieZahleninderSchriftgrößeleichtverkleinert.<br />

Der Abstand der Nummerierung und des dazugehörigen Textes ist überall gleich.<br />

SomitlässtsichfürdieeinzelnenFormulierungeneinegedachteLinieziehen,anderalle<br />

Formulierungenbeginnen.DiesevertikaleLiniewirdaberdurchTabellenundZusatzinformationendurchbrochen.SomithebtsichauchdergeordneteEindruckwiederaufundkehrt<br />

sichinsGegenteilum.DennplötzlichbekommendieZeilen,diekeinenEinzugbesitzen,<br />

besondere Gewichtung. Unterhalb der auf die gesamte Satzbreite ausgetriebenen Tabelle,<br />

lassensichdieZeilen,dieebenfallsohneEinzugüberdiegesamteSatzspiegelbreitegehen,<br />

627 vgl. Hauptantrag S.1, Fußsteg<br />

140


5.11.1 Grafisch-visuelleEinschätzung<br />

leichtübersehen. 628 Teilweiseerkennenlässtsich,dassversuchtwurde,HierarchienuntereinanderdurchEinzügezudefinieren.Dieswurdeabernichtkonsequentgenugfortgeführt<br />

undgehtsomitinderGesamtgestaltungunter.<br />

Das Formular hinterlässt nach dem ersten Eindruck bzw. einem ersten flüchtigen<br />

BlickdenEindruck<strong>von</strong>unruhigerÜberfüllungundUnübersichtlichkeit.Beider<strong>Gestaltung</strong><br />

desFormularswurdeaufdieordnendeHilfeeinesRastersverzichtet.EsfehlteindurchgängigesstrukturierendesPrinzip,dassdieTextteileundderenElementeanordnet.Manhat<br />

sichzusehraufdieeinfachengrafischenMittel,wieAbschnittsumrandung,Einzügeund<br />

linksbündigerFlattersatzbeschränkt.EinemöglicheHierarchiedurchdieVerwendung<strong>von</strong><br />

EinzügenwurdedurchInkonsequenzzerstört.SelbstinnerhalbderAbschnittelassensich<br />

Unzulänglichkeitenausmachen.MalwerdenZeilendurchSilbentrennungumbrochen,mal<br />

nicht.DieLinienstärkenunterscheidensichauchinnerhalbihrerAufgaben.SowerdenLinienunterschiedlicherStärkefürdieUmrandungeingesetzt.MikrotypografischeAspekte<br />

wurdenscheinbargänzlichaußerAchtgelassen.DurchgängigegrafischeRichtlinien(gleich<br />

bleibendeBündigkeiten,AchsenundLinien)lassensichseltenaufeinanderfolgendausmachen.DieFolgeistUnübersichtlichkeit,ChaosundfehlendeBenutzerführung.DerKundekannkeinenrotenFadenerkennen,derihndurchdasFormulargeleitet.DasvisuellunharmonischeFormularkannindieser<strong>Gestaltung</strong>keineneffektivenBeitragzurÜberwindung<br />

desäußerenLesewiderstandesleisten.<br />

628 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 2f<br />

141


5.11.2<br />

Semantisch-syntaktische Einschätzung<br />

5.11.2 Semantisch-syntaktischeEinschätzung<br />

Im folgenden wird das Formular auf semantisch-syntaktische Aspekte hin untersucht.<br />

Die Verständlichkeit des Formulartextes leidet in erster Linie an mangelnder GliederungundOrdnungundwenigeranMängelnindenFormulierungen.Esbestehtaus13<br />

AbschnittenfürdenKlientenundeinemAbschnittfürdieSachbearbeitung.Dieeinzelnen<br />

Abschnittelauten:<br />

1.PersönlicheDatenderAntragstellerin/desAntragstellers<br />

2.PersönlicheAngabenzurLeistungsgewährung<br />

3.AngabenfürdiePrüfungeinesMehrbedarfes<br />

4.AngabenzudenEinkommensverhältnissen<br />

5.AngabenzudenVermögensverhältnissen<br />

6.AngabenfürdiePrüfungeinesbefristetenZuschlags<br />

7.WeitereAngaben,diefürdieLeistungsgewährung<strong>von</strong>Bedeutungseinkönnen<br />

8.AngabenzurSozialversicherung<br />

9.sonstigeAnsprüchegegenüberDritten(z.B.Unterhaltsansprücheoder<br />

Schadensersatzansprüche)<br />

10.AngabenzudenKostenderUnterkunftundHeizung<br />

11.AnlagenübersichtundVersicherung,dassdieAngabenzutreffendsind<br />

Wieesscheint,wurdeversucht,dieMehrzahlderFormulierungmöglichsteinfach<br />

undprägnantzuhalten.Diesgelingtabernichtimmer.EinBeispiel:„EinePersoninder<br />

Haushaltsgemeinschaft hat einen Elternteil außerhalb der Bedarfsgemeinschaft und ist<br />

unter18Jahrenoderzwischen18und24JahrenundinSchul-oderBerufsausbildungoder<br />

willeinesolcheinKürzebeginnen.FüllenSiebitteAnlageUHAbschnitt4fürjedePerson<br />

undAbschnitt3fürjedenElternteilaußerhalbdesHaushaltesaus.“ 629 DieseFormulierung<br />

lässtsicheinfachergestalten.EineMöglichkeitwäre,sichüberFilterfragenzunähern.Dazu<br />

kanndieFormulierungaufgeteiltundpersönlichergestaltetwerden.DieersteFragewürde<br />

lauten:„LebtinderBedarfsgemeinschafteinKindodereinJugendlichergetrennt<strong>von</strong>einem<br />

seiner Elternteile?“ Würde die Frage mit Ja beantwortet werden, so könnten die darauf<br />

folgenden Fragen heißen: „Ist diese Person unter 18 Jahre?“ und „Ist diese Person zwischen18und24Jahre?“WeiterfilternwürdemannachderBeantwortungmitJadurchdie<br />

Frage:„HatdiesePersoneineSchul-oderBerufsausbildungbegonnenodermöchtesiediese<br />

inKürzebeginnen?“NachdererneutenBeantwortungmitJawürdederHinweisstehen,<br />

dassdieAnlageUHfürjedebetroffenePersonundjedengetrenntlebendenElternteilauszufüllensei.Dieskönnteinetwasoformuliertwerden:„IhreEintragungenbedingeneinenäherePrüfungaufUnterhaltsansprüche.BittefüllenSiedeshalbdieAbschnitte3und4der<br />

AnlageUnterhalt(UH)aus.DerAbschnitt3betrifftdengetrenntlebendenElternteil.Der<br />

Abschnitt4betrifftdasKindbzw.denJugendlichen.“ImUnterschiedzurursprünglichen<br />

Formulierung,werdenindererstenFragedieWörterKindundJugendlicherverwendet.DadurchwirddasVerstehenderFrageerleichtert.DennwürdedieFragelauten:„Lebtinder<br />

BedarfsgemeinschafteinePersongetrennt<strong>von</strong>einemElternteil?“,musserstnochfürden<br />

Leserdefiniertwerden,wasmitPersongemeintist.UmihmdieÜberlegungabzunehmen,an<br />

dessenEndesowiesodieErklärungderPersonalsKindoderJugendlichersteht,solltegleich<br />

<strong>von</strong>AnfanganKindoderJugendlicherverwendetwerden.Deshalbkannindendarauffol-<br />

629 vgl. Hauptantrag S.4, Abschnitt 9a<br />

142


5.11.2 Semantisch-syntaktischeEinschätzung<br />

gendenFragenauch„Person“verwendetwerden.Dennesistjaschongeklärtworden,dass<br />

essichbeiderPersonnurumdasKindbzw.denJugendlichenhandelnkann.<br />

DieEinfachheitundPrägnanzderFormulierungkannaberauchdazuführen,dass<br />

gewolltoderungewollteinunpersönlicherEindruckentstehenkann.Beidemvorliegenden<br />

Antrag wird dies durch die häufige Verwendung <strong>von</strong> Höflichkeitsformulierungen wieder<br />

aufgefangen.Sowird,wennesnötigist,immerumdenBeweisdurchentsprechendeNachweisegebeten.„Wennja,legenSiebitteentsprechendeNachweisevor.“<br />

630<br />

DaseinleitendeBeispieldesAbschnittesüberdenUnterhaltmachtabernocheinanderesProblemderFormulierungendeutlich.DasProblemderAbkürzungen.DenKlienten<br />

wirddasVerständnisderFormulierungenerleichtert,wennbeispielsweisedieAnlagennicht<br />

nurmitUHoderHGbetiteltwerden. 631 AuchwennderPlatzbedarfdadurchgrößerwerden<br />

würde,sosolltendieAnlageninihremvollständigenNamenaufgeführtwerden.SolltedennocheineAbkürzung<strong>von</strong>nötensein,sosolltesieinKlammerndahintergesetztwerden.SowirdausderAnlageHG,dieAnlageHaushaltsgemeinschaft(HG).DamitwirddemKlientenauchsofortklar,welcheAngabenindieserAnlageabgefragtwerdenundwofürdie<br />

Abkürzung steht. Will man die zur Zeit verwendeten Abkürzungen dekodieren, so muss<br />

mandieAusfüllhilfebemühen.AufdererstenSeitenunbefindetsicheineÜbersichtüberdie<br />

Vordrucke,derenBezeichnungunddieBeschreibungdesInhalts.<br />

Auf Formulierungen des allgemeinen Sprachgebrauchs wurde weitestgehend verzichtet.EinigewenigeAbkürzungen,wiebeispielsweisedieAbkürzungfürgegebenenfalls<br />

(ggf.) lassen sich finden. 632  Häufiger werden gesetzliche Festlegungen verkürzt formuliert.<br />

DasSozialgesetzbuchwirdbeispielsweisemitSGBabgekürzt.<br />

BessergelöstscheintmirdasProblemderAnsprache.Eswurdeweitestgehendvermieden,inunpersönlichenFormulierungennachpersönlichenAngabenzufragen.Ähnlich<br />

wieineinempersönlichenGespräch,wirdeineVielzahlderFrageninInterviewartgestellt.<br />

„SindSie–IhrerEinschätzungnach–gesundheitlichinderLage,eineTätigkeit<strong>von</strong>mindestensdreiStundentäglichauszuüben?“<br />

633 InsgesamtkönntenabervielederFormulierungen<br />

leicht–wieobengezeigt–nochpersönlichergestaltetwerden.EinewenigeBeispielefürpersönlichereFormulierungenfindensichaberschonjetztaufdemAntrag.Siesindaberauch<br />

nicht<strong>von</strong>Problemenfrei.InAbschnitt8findetsichdieFormulierung„ichbinzurzeitprivat<br />

krankenversichert.FüllenSiebitteAnlageSVAbschnitt2aus.“ 634 Innerhalbdiesereinen<br />

ZeilewechseltdieSprachperspektive.Siewechselt<strong>von</strong>derpersönlichenich-FormzurunpersönlichenAnrededurchdenHerausgeber.EineDifferenzierung,beispielsweisedurchgrafischvisuelleMittel,sollteangestrebtwerden.AnsonstenscheintdieserVersuchnurgewollt,<br />

abernichtgekonntzusein.DieseSchwierigkeitenimWechselderAnsprachenlassensich<br />

verteiltüberdasgesamteFormularweiternachweisen.<br />

Prinzipiell ist über eine persönlichere Umformulierung der Fragen nachzudenken.<br />

Die Sprachperspektive könnte dafür durchgehend in die persönliche ich-Form gewandelt<br />

werden.SowürdeausderunpersönlichenFormulierung„Familienname/ggf.Geburtsname“<br />

„MeinGeburtsname/meinFamiliennameist“werden.<br />

UngelöstistauchdieProblematikdermännlichenundweiblichenAnrede,getrennt<br />

durcheinenSchrägstrich.EsfindensichnachwievorFormulierungenwie„LebenSiezusammenmit…Ihrer/IhremnichtdauerndgetrenntlebendenEhegattin/Ehegatten,“.<br />

635 Eine<br />

bessere,unddamitauchpersönlichereFormulierungwäre:„Ichlebezusammenmit:“.Danach<br />

würde die Auswahl folgen, die aus zwei getrennten Formulierungen besteht. Zum<br />

630 vgl. Hauptantrag S.1, Abschnitt 2b<br />

631 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 2g, S.4, Abschnitt 9<br />

632 vgl. Hauptantrag S.3, Abschnitt 8c<br />

633 vgl. Hauptantrag S.1, Abschnitt 2c<br />

634 vgl. Hauptantrag S.3, Abschnitt 8a<br />

635 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 2f<br />

143


5.11.2 Semantisch-syntaktischeEinschätzung<br />

einen:„meinernichtdauerndgetrenntlebendenEhegattin“und„meinemnichtdauerndgetrenntlebendenEhegatten.“EineweiterepositiveVerbesserungwürdedieUmformulierung<strong>von</strong>„dauerndgetrennt“bringen.DieseFormulierungistabernichtnurindiesemVerwaltungsprozessmaßgeblich,sondernauchinanderen,wiezumBeispielinVerwaltungsprozessendesFinanzamtes.EineÄnderungwürdesomitweiterreichendeÄnderungennachsich<br />

ziehen.<br />

EinweiteresProblemergibtsichnichtwiesonstausderVerkürzung<strong>von</strong>Formulierungen,sondernausderErweiterung<strong>von</strong>Formulierungen.DieslässtsichamHinweisaufnähereErläuterungenzeigen.DieHinweiseaufnähereErläuterungenwerdenmit*)markiert.<br />

636 ImnormalenSchriftgebrauchimAlltagwirdeinZusatzdurchdieMarkierungmit<br />

einem * gekennzeichnet. Die Zuordnung der schließenden Klammer scheint aber keinen<br />

weiterenZweckzuerfüllen.VoralleminhaltlichistdieseVerwendungproblematisch.Denn<br />

derschließendenKlammeramEndeeinerZeilekannkeineeröffnendeKlammerzugeordnet<br />

werden.DerLeseflussdesRezipientenwirddurchRückläufegestört.EinbesondersproblematischerFallergibtsichausdieserKombinationaufderSeite4.Dortheißtes:„Wenneine<br />

odermehrereAussagenzutreffen,füllenSiebittedenentsprechendenAbschnittderAnlage<br />

UHaus(Mehrfachnennungenmöglich):*) 637 AusderKombinationderletztendreiZeichen<br />

lässtsichdas–ausdemSchreiben<strong>von</strong>SMS–bekannteZeichenfür„Betrunken“ableiten.<br />

EinsemantischerSuper-GAU.<br />

Ein eklatanter Fehler bei Gliederung und Ordnung findet sich im Abschnitt 1. In<br />

ihmgehtesumdiepersönlichenDatenderAntragstellerin/desAntragstellers.BeiderFrage<br />

nach dem Familienstand werden sieben Antwortmöglichkeiten vorgegeben. Die Antwortmöglichkeit„dauerndgetrenntlebend“und„geschieden“erfordernzusätzlicheineDatumsangabe,<br />

mit „Seit“ beginnend. Diese steht aber nicht den Formulierungen „dauernd getrenntlebend“und„geschieden“hintenangestellt.Sondernsiestehtdavor!HatderKlientseinKreuzineinemderKästchengemacht,wirdihmdieauszufüllendeFlächederDatumsangabeauffallen.ErkannaberkeinedirekteBeziehungzwischenderDatumsangabeundderFormulierung,aufdiesiesichbezieht,herstellen.DenndieStellungenderbeidenzueinanderistwidersprüchlichzuseinenbishergemachtenErfahrungen.ErkenntausseinerErfahrung<br />

aber, dass nähere Erläuterungen zu seinen Markierungen hinter diesen gemacht<br />

werdenmüssen.<br />

WieschonimvorangegangenenKapitelerwähnt,erweistsichdiestarreFestlegung<br />

der Linien für Eintragungen untereinander als problematisch. Ist die Zeile der Formulierungen,diederLinievorangeht,zukurz,entstehenLücken<strong>von</strong>biszu31mm.DerKlientmuss–wennauchunbewusst–zusätzlicheAufmerksamkeitaufbringen,umdenZeilenanschlussnichtzuverlieren.DiesesichergebendeProblematikausAbstand<strong>von</strong>letztemZeichenundLinielässtsichaufdemgesamtenAntragfeststellen.<br />

DerAbschnitt8,dersichüberzweiSeitenerstrecktunddessenzusammengehörige<br />

PunktewiezweigetrennteAbschnittedargestelltwerden,enthältkeinenHinweisdarauf,<br />

dassderAbschnittsichaufderfolgendenSeitefortsetzt.<br />

EindeutlichesZeichenfürdenarbeitsorganisatorischenAnspruchandasFormular,<br />

istdergrauhinterlegteAbschnittfürdieSachbearbeitung.ErbefindetsichaufderSeite1<br />

imoberenDrittel.DiesesFeldistüberalleMaßenauffällig.EsistabernichtfürdenKunden<br />

vorgesehen. Das an den Kunden gerichtete Formular zeigt gleich die Ansprüche der VerwaltunginallerDeutlichkeit.DiesmagvordemarbeitsorganisatorischenHintergrundsicherlichnachvollziehbarsein,zeigtaberauchdiefehlendeWahrnehmungdesBürgersals<br />

Kunden.„Seinem“Formular,dasihmdieWahrnehmungeinesgesetzlichverbrieftenRechts<br />

ermöglichensoll,werdengleichzuBeginnAngabenderSachbearbeitungvorgeschaltet.Der<br />

KundekannsichaufgrundderHervorhebungdemFeldnichtentziehen.Undnachdemer<br />

636 vgl. Hauptantrag S.1, Abschnitt 1<br />

637 vgl. Hauptantrag S.4, Abschnitt 9a<br />

144


5.11.2 Semantisch-syntaktischeEinschätzung<br />

esdanndurchgelesenhat,musserfeststellen,dassesgarnichtfürihnbestimmtist.Also<br />

nochbevorerseineAngabenmachenkann,wirdihmverboten,Eintragungenvorzunehmen.<br />

EinembürgernahenFormularstündedieAnordnungdiesesFeldesamRandeoderamEnde<br />

desDokumentsbesserzuGesicht.<br />

Ebenfallsbürgerfern,weilinseinerFunktionunklar,istderAbschnitt,dersichunterhalbdesAbschnittesfürdieSachbearbeitungbefindet.IndiesemumrandetenAbschnitt<br />

befinden sich zwei Zeilen. Es sind die schon erläuterten Zeilen, in denen die Bündigkeit<br />

derEintragungsliniendieLücke<strong>von</strong>31mmerzeugen.AberdieserAbschnittistnochaus<br />

einemanderenGrundproblematisch.DenndieErfahrungdesKlienten,dasAbschnittefür<br />

die Sachbearbeitung grau hinterlegt sind, wird hier scheinbar wieder revidiert. Die FormulierungenderzweiZeilen,„KundennummerderAntragstellerin/desAntragstellers“und„NummerderBedarfsgemeinschaft“,weiseneindeutigaufverwaltungsorganisatorischeGegebenheitenderSachbearbeitunghin.AberesfehltanderKennzeichnungdurchdiegraueHinterlegung.Reinvisuell-grafischentsprichtderAbschnittdenen,wiesiefürKlienteneintragungenvorgesehensind.Erbesitzteineeinfache<br />

UmrandungsowieLinien,aufdenen<br />

Eintragungenvorgenommenwerdenkönnenundistnichtgrauhinterlegt.DerKlientkann<br />

somitdenAbschnittwedersich,nochderVerwaltungeindeutigzuordnen.DieBedeutung<br />

desAbschnittesistalsounklar.VerwirrungundUnklarheitistdasErgebnis.Damitwird<br />

die Kommunikationssituation gleich zu Beginn das zweite Mal gestört. Diese Störungen<br />

wirkensichnachhaltigaufdieweitereBearbeitungdesFormularsaus. 638<br />

Viele der Probleme in semantisch-syntaktischer Hinsicht lassen sich aller WahrscheinlichkeitnachnichtohneeineErweiterungdesSeitenumfangsbewerkstelligen.VerbesserungeninderGliederungundAufbaudesTextes,diesowohldiesemantisch-syntaktische<br />

alsauchdiepragmatischeDimensionbetreffen,erfordernmehrPlatzundStruktur.<br />

638 Auf Nachfrage bei der Behörde bestätigte man mir die unklare Zuordnung, wies aber darauf hin, dass<br />

auch der Kunde seine Kundennummer und die Nummer der Bedarfsgemeinschaft eintragen könne, so er<br />

diese Nummer wisse. Dies scheint mir aber gerade bei einem Erstantrag unlogisch und nicht praktikabel. Eine<br />

eindeutige Zuordnung des Feldes und desjenigen, der dieses Feld auszufüllen hat, scheint mir unbedingt nötig.<br />

145


5.11.3<br />

Pragmatische Einschätzung<br />

5.11.3 PragmatischeEinschätzung<br />

Alsnächstessollermitteltwerden,obdasFormulardieHandlungsfähigkeitdesKlientenverbessert.Mankannauchdanachfragen,welcheHinweiseundHandlungsvorgaben<br />

derKlientfürdieDurchsetzungseinesAnliegens<strong>von</strong>derVerwaltungbekommt.<br />

Bei der Aushändigung des Antrages wird jedem Klienten eine Ausfüllhilfe mitgegeben.SieenthälterklärendeInformationenzudeneinzelnenAbschnittenundmachtaufBesonderheitenaufmerksam.DieAusfüllhilfeistdaswichtigsteHilfsmittelbeiderAntragstellung.LeiderfindensichkeineweiterenHinweisedarauf,woderKlientweitergehendere<br />

Auskunfts-undBeratungsangebotefindenkann.SowirdwedereineTelefonnummereines<br />

Ansprechpartners noch ein Hinweis auf ein Online-Hilfsangebot gegeben. Es wird lediglichderHinweisaufgeführt,dassdieAntragsformulareauchunterdemInternetauftrittder<br />

BundesagenturfürArbeitzufindensind.<br />

PragmatischeUnzulänglichkeiteninnerhalbdesAntragswerdendurchdieAusfüllhinweiseteilweisewiederaufgefangen.AufdemAntragselbstwerdenkeinenäherenErläuterungenüberdieGründefürdieAbfragengegeben.AufdemAntragselbsterhältderKlient<br />

größtenteils keine Hinweise, warum er bestimmte Fragen beantworten soll. Stattdessen<br />

wird beispielsweise gesondert mit der Zeichenkombinationen *) auf die Ausfüllhinweise<br />

hingewiesen.DerHinweisaufdienäherenErläuterungenderAusfüllhilfeistallerdingsmit<br />

Unzulänglichkeitenverbunden.ImAbschnitt1desAntragesfindetsicheineEintragungslücke,indernachderTelefonnummergefragtwird.DasWortTelefonnummerwirddurch<br />

die Zeichenkombinationen *) ergänzt. Am unteren Blattrand wird diese Zahlenkombination<br />

erneut aufgegriffen, und es wird erklärt, dass nähere Erläuterungen den Ausfüllhinweisenzuentnehmensind.IndenAusfüllhinweisenfindetsichunterdennäherenErläuterungenzuAbschnitt1dannerstdieErklärung,dassdieAngabenzurTelefonnummerundE-Mail-Adressefreiwilligsind.DerKlientmusstealsodreiStufendurchlaufen,umzuerfahren,dassdieAngabenfreiwilligsind.DieserWegistnichtnurunpraktikabel,sondern<br />

hinterlässt auch den Beigeschmack der Kontrolle. Denn freiwillige Angaben sollten auch<br />

eindeutiggekennzeichnetwerden.InihrervorliegendenArtundWeisevermittelnsieden<br />

EindruckeinerzwingendenAngabe.EsgibtaberkeinenZwangzurAngabeundschongar<br />

keinegesetzlicheGrundlagezurAngabe.BeidemKlientenkannderEindruckentstehen,<br />

dasserjederzeiterreichbarunddamitauchkontrollierbarseinmuss,unddassgesetzliche<br />

Freiräumeverschleiertwerdensollen.NebenderTelefonnummerundderE-mailAdresse<br />

sindauchdieAngaben überdieMitglieder imHaushaltfreiwillig. LautGesetzdarfnur<br />

nachMitgliedernderBedarfsgemeinschaft–Vater,Mutter,minderjährigeKinder–gefragt<br />

werden.DatenschützerempfehlendeshalbeineBeratungschonvordemAusfüllen. 639 <br />

PragmatischschwierigsindauchdieVerweiseaufParagrapheninnerhalb<strong>von</strong>Gesetzesgebungen.SolässtsichzumBeispielimAbschnitt7dieFormulierungfinden:„RuhtIhr<br />

AnspruchaufArbeitslosengeldwegendesEintrittseinerSperrzeitgemäߧ144SGBIII?“ 640 <br />

DieProblematik,diehinterdieserFormulierungsteht,istoffensichtlich.DieFormulierung<br />

beziehtsichaufeineneindeutigineinemGesetzvorgegebenenAbschnitt.Dennochistweder<br />

da<strong>von</strong>auszugehen,dassderKlientsichderFormulierungenderParagraphenimKlarenist,<br />

nochdasserHilfsmittelzurVerfügunghat,dieseParagraphennachzulesen.FürdenKlienten<br />

ist das lediglich ein Verweis auf einen Paragraphen, dessen Inhalt ihm absolut un-<br />

639 vgl. Gieselmann 28<br />

640 vgl. Hauptantrag, S.3, Abschnitt 7b<br />

146


5.11.3 PragmatischeEinschätzung<br />

bekanntseindürfte.ErkannsichüberdieKonsequenzenseinesHandelnsnichtbewusst<br />

werden. Erst durch die Zuhilfenahme der Ausfüllhilfe wird das Unwissen teilweise abgebaut,indemerkanntwerdenkann,dassessichumdievorherigenBezug<strong>von</strong>Arbeitslosengeldhandelnmuss.DieAbkürzungSGBIII(Arbeitslosengeld)undeinevereinfachteErläuterungdesParagraphen114findetsichdennochnicht.DieReihederBeispielelässtsichnochbeliebigfortsetzen.SiebeginnenbeiFormulierungenwie:„LeistungenzurTeilhabeamArbeitslebennach§33NeuntesBuchSozialgesetzbuch(SGBIX)“undgipfelninFormulierungenwie„Eingliederungshilfennach§54Abs.1Satz1bis3ZwölftesBuchSozialgesetzbuch(SGBXII)“.<br />

641 DieAufgabeandasFormular,gesetzlicheGrundlagenzuvermitteln,<br />

steht hier leider über der Benutzerfreundlichkeit. Eine sinngemäße oder wörtliche AbbildungdesGesetzestexteskönntedemKlientenhelfen,dieVerweisenachzuvollziehen.<br />

InihrerpragmatischenVerständlichkeitbedenklichsindauchWörterwie„zurzeit“,<br />

„demnächst“ 642 oder„inKürze“. 643 FürdenKlientenistnichtklar,welcheZeiträume„zurzeit“,„demnächst“oder„inKürze“genaubezeichnen.SiesindinihrerFormulierungzu<br />

sehr individuell auslegbar. Auch in der Ausfüllhilfe lassen sich keine genaueren Bestimmungenfinden.EinegenauereBezeichnungderZeiträumewürdezumAbbau<strong>von</strong>Unklarheitenführen.<br />

EinweitererbesondersbedenklicherHinweisdarauf,dassderKlientsichüberdie<br />

FolgenseinesHandelnsdurchdasFormularnichtbewusstwerdenkann,findetsichimAbschnitt2c.DortstehtdieFrage:„SindSie–IhrerEinschätzungnach–gesundheitlichinder<br />

Lage,eineTätigkeit<strong>von</strong>mindestensdreiStundentäglichauszuüben?“ 644 AuchdieserFormulierungistdieZeichenkombinationen*)nachgestellt.WederindenAusfüllhinweisennoch<br />

aufdemAntragselbst,findetsicheinHinweisdarauf,dassmitVerneinungdieserFrageder<br />

AnspruchaufArbeitslosengeldIIhinfälligist.WirddieFragemitNeinbeantwortet,sogeht<br />

derKlientautomatischausdemBezug<strong>von</strong>HartzIVrausundrutschtindenBezugdesSGB<br />

XII.DieGesetzedesSGBXIIsindunterdemNamen“GrundsicherungimAlterundbeiErwerbsminderung”bekannt.SieistvergleichbarmitderklassischenSozialhilfe.LeistungsberechtigtnachSGBXIIsindhilfebedürftigeBürgerinnenundBürgerüber65Jahresowie<br />

aus medizinischen Gründen dauerhaft voll erwerbsgeminderte Personen ab 18 Jahre. Sie<br />

müssendafüraberihrengewöhnlichenAufenthaltinderBundesrepublikDeutschlandhaben.<br />

645 MitdemBezugnachSGBXIIwerdenauchalleMöglichkeitgenommenMini-oder<br />

Midijobs angeboten zu bekommen. Eine Frage die grundsätzlich über Bezug bzw. Nicht-<br />

BezugderexistenzsicherndenSozialleistung<strong>von</strong>HartzIVentscheidet,wirdohnebesondere<br />

HervorhebungoderAlleinstellungunterweitereFragenüberdenStatusalsSpätaussiedler<br />

oder als Asylbewerber gemischt. Die sich ergebenden Konsequenzen werden nicht aufgeführt.NichteinmalindenAusfüllhinweisenfindetsicheineEintragung,dieüberdieKonsequenzeneinerVerneinungAuskunftgibt.<br />

UnklarheitkannbeidemKlientenauchdarüberentstehen,welcheNachweiseerfür<br />

dieBearbeitungdesAntragesbeizubringenhat.WirdzumBeispielimAbschnitt2bdanach<br />

gefragt, ob die Person ein Berechtigter oder eine Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetzist,sosollenentsprechendeNachweisevorgelegtwerden.ImUnklarenbleibtderKlientdarüber,welcheArt<strong>von</strong>Nachweisenervorzulegenhat.EinegenauereNamensangabedesNachweiseswäreförderlich.<br />

Eine Vielzahl der Abschnitte beziehen entweder direkt oder durch eine BeantwortungderFragemitJa,dieAufforderungeineentsprechendeAnlageauszufüllen,nachsich.<br />

641 vgl. Hauptantrag, S.2, Abschnitt 3c<br />

642 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 2e<br />

643 vgl. Hauptantrag S.4, Abschnitt 9a<br />

644 Hauptantrag S.1, Abschnitt 2c<br />

645 vgl. http://www.bmas.de/portal/10676/grundsicherung__im__alter__<br />

und__bei__erwerbsminderung.html, letzter Zugriff: 18.11.2009<br />

147


5.11.3 PragmatischeEinschätzung<br />

DerAbschnitt4ziehtbeispielsweisedasAusfüllenderAnlageEKdirektnachsich,indem<br />

esheißt:„AngabenzudenEinkommensverhältnissen*);FüllenSiebittefürsichundggf.<br />

für jede weitere Person der Bedarfsgemeinschaft jeweils Anlage EK aus.“ 646  In den Anlagen<br />

werden bestimmte Informationen, die zur Antragsbearbeitung und Antragsbewilligungnötigsind,eingehenderhinterfragt.DieseAnlagenbeginnenmitdemverkürztenAnlagentitelundmiteinerkurzennachgestelltenErläuterung.DiesekurzeErläuterungkönnte<br />

durchausetwasausführlichergestaltetwerden,damitdemKlientenderZwecknochmehr<br />

verdeutlichtwerdenkann.NochnähererklärtwerdensollteauchdieNotwendigkeitdieser<br />

Anlage.EinBeispiel:VoralleminderAnlageEK(Einkommensverhältnisse)sehenDatenschützerpragmatischeProblemeinBezugaufArtderFragenundAuskünfte.SoseibesondersdasZusatzblatt2mitderEinkommenserklärungnichtmitdemSozialgeheimnisvereinbar.DenndurchdenVordruckerlangederArbeitgebereinesAngehörigenEinblickin<br />

geschützteDatendesMitarbeitersunddesAntragstellers.DieseDatensindabernichtfür<br />

ihnbestimmt.DeshalbwirdsogardieEmpfehlunggegeben,sichdenVerdienstanderweitig,<br />

beispielsweiseübereinenneutralenGehaltsnachweis,bescheinigenzulassen.DenneinegesetzlicheVerwendungspflichtfürdasFormulargibtesnicht.DieBehördemüsstealso,will<br />

siediesepragmatischeProblematikmindernunddemBürgerdasRechtaufinformationelle<br />

Selbstbestimmunggewähren,denHinweisaufneutraleGehaltsnachweisegebenoderdie<br />

AnlageEKüberarbeiten. 647 <br />

AlspositivherauszustellensinddieHinweiseaufdenAnspruch,beispielsweiseauf<br />

denAnspruchaufMehrbedarf.„SchwangerehabeneinenAnspruchaufMehrbedarf.“ 648 So<br />

wirddemKlientenbewusstgemacht,dassunterschiedlicheLebenssituationenunterschiedlicheAnsprüchenachsichziehenkönnen.DieseHinweisekönntenallerdingsnochetwas<br />

deutlicher herausgestellt werden. In diesem Abschnitt lässt sich noch eine andere Auffälligkeitfeststellen.UnterdergenauenBezeichnungdesAbschnittesfindetsichderHinweis,<br />

dassdieAngabenfreiwilligundnurerforderlichsind,wenneinMehrbedarfbeansprucht<br />

wird.DiesenäherenErläuterungenwürdeninhäufigererVerwendungzueinererheblichen<br />

AufwertungderHandlungsfähigkeitdesKlientenführen.<br />

EinweiterspositivesBeispielfüreineFormulierung,mitdersichderBürgerüberdie<br />

Konsequenzen seines Handelns bewusst werden kann, findet sich im Abschnitt 8c. Dort<br />

heißtes:„NachfolgendeAngabensinderforderlich,wennSiegetrenntlebendsind,daSie<br />

ggf.familienversichertwerdenkönnen.*)“HintergrundistsicherdasAnliegen,denJugendlichenüberdieElternundnichtzuLastendesHartz-IV-Budgetszuversichern.DennochisteseingutesBeispiel,wieFormulierungengestaltetwerdenkönnen,wennsiedieAufforderungzumHandelnunddieKonsequenzdesHandelnsineinemvereinen.<br />

DerAntragweistsomiteineVielzahl<strong>von</strong>pragmatischenUnzulänglichkeitenauf.In<br />

ihrerGewichtungsindsiedennochnichtsostarkwiediegrafisch-visuellenoderdiesyntaktisch-semantischenMängel.DenneinGroßteilderpragmatischenMängelkanndurch<br />

diebeigelegteAusfüllhilfeabgefedertwerden.Esmussabernochweiterdarangearbeitet<br />

werden,dassderKlienterfahrenkann,warumbestimmteInformationenerfragtwerden,<br />

worindieInformationenbestehen,woersiegegebenenfallsbeziehenkann.WennderKlient<br />

sich über Abfragen und deren anspruchsbegründende Bedeutung im Klaren sein kann,<br />

dannwirdesihmauchleichterfallen,dienötigenSachverhaltebeizusteuern.Esistalsozu<br />

überlegen,obnichtdieleistungsentscheidendenPassagenmitZusatzinformationversehen<br />

werdensollten.LetztendlichkommtdasdannauchderVerwaltungzuGute.<br />

GeradeabersolcheAbfragen,dieüberdenLeistungsbezugentscheiden,müssendeutlicherherausgestelltwerden.DerKlientkannsichnochinzuvielenSituationennichtdar-<br />

646 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 4<br />

647 vgl. http://www.bfdi.bund.de/DE/Oeffentlichkeitsarbeit/Pressemitteilungen/Archiv/28-<br />

04Alg_II_AntragsformulareTeilweiseUnzulaessig.html?nn=409394, letzter Zugriff: 19.11.2009<br />

648 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 3a<br />

148


5.11.3 PragmatischeEinschätzung<br />

überimKlarenwerden,welcheKonsequenzenseineEintragungenbzw.seinHandelnnach<br />

sichziehen.EineeindeutigeKennzeichnungfreiwilligerAngaben,nähereErläuterung,zu<br />

welchemZweckdieFragengestelltwerden,diesinngemäßeoderwortwörtlicheAbbildung<br />

<strong>von</strong> Gesetzestexten, auf die verwiesen wird, und die eindeutige Bezeichnung <strong>von</strong> zu erbringendenNachweisen,sindsehreinfacheMittel,pragmatischeMängelausdemWegzuräumen.AbergeradedasProblemderKennzeichnungderfreiwilligenAngabenmussunbedingtgelöstwerden.ObAngabenfreiwilligzumachensind,musssoforterkennbarsein!DerKlienthateinRechtaufgesetzlichabgesichertenSchutz<strong>von</strong>PrivatsphäreundDatenschutz!<br />

149


5.11.4<br />

Fazit<br />

5.11.4 Fazit<br />

Das Antragsformular muss, wenn es die asymmetrische Dialogsituation vermindernunddiereziprokeInteraktionfördernwill,inmehrerenPunktendringendüberarbeitet<br />

werden. In erster Linie sind grafisch-visuelle und syntaktisch-semantische Mängel abzubauen.DerAntragwirktinsgesamtvielzuüberladen.DieGliederungundStrukturdesAntragesinsichundauchdieStrukturundGliederungderAbschnitteinsich,weisenerheblicheMängelauf.EinklarerkennbaresordnendesRasteristebensowenigvorhanden,wie<br />

einestringenteFestlegungderMittel–sowohlderinhaltlichenalsauchdergrafischenMittel.<br />

GrundsätzlicheGesetzmäßigkeiten,diebeispielsweisedenLeseflussunddieInformationsaufnahmefördern,werdenmissachtet.DasVornehmenderEintragungenwirddurchdieUnordnung,denPlatzmangelunddiefehlendeStrukturerschwert.MikrotypografischeGesetzmäßigkeiten<br />

wurden ignoriert, genauso wie die Möglichkeiten, optische Ruhe in das<br />

Formular zu bringen. Fehler finden sich auch bei der falschen Interpunktion <strong>von</strong> Abkürzungen.DasFormularkannnichthelfen,denäußerenLesewiderstandabzubauen.<br />

Ebenso wie der optische Eindruck leidet auch die Verständlichkeit des FormulartextesdurchmangelndeGliederungundOrdnung.EintragungsfelderfürZeitraumangaben<br />

müssenimmerdiegleicheAnordnungzuihrerdazugehörigenFormulierunghaben.Beider<br />

Anordnung der Linien sollte in erster Linie die Benutzerführung entscheidend sein. Und<br />

nichteinerzwungenesRaster.DieMöglichkeitendesBenutzersunddessenoptimaleFührungmüssendieArtundWeisedereingesetztenMittelbestimmen.AuchwenninderüberwiegendenZahlderFormulierungenversuchtwurde,EinfachheitundPrägnanzzufördern,solassensichimmernochfürdieVerständlichkeitschwierige<br />

Formulierungenfinden.DieTeilung<strong>von</strong>kompliziertenundkomplexenFrageninmehrere<br />

kleineTeilfragenkönntehelfen,dieVerständlichkeitzuerhöhen.EingroßesProblem,sowohlinsemantisch-syntaktischerHinsichtalsauchinpragmatischerHinsicht,sinddieAbkürzungen.VorallemdieAbkürzungenderFormularnamenundderGesetzgebungensind<br />

sehrproblematisch.DerbloßeHinweisaufeinGesetzdurchdessenAbkürzung,reichtnicht<br />

ausbzw.wirktverwirrend.DeshalbsollteübereinenVerzichtodereinegenauereAusformulierungnachgedachtwerden.Genauerbezeichnetundgekennzeichnetmüsseninjedem<br />

FalldiezuerbringendenNachweiseundAnträgewerden.SprüngeinderAnsprachekönnen<br />

genausoleichtgelöstwerden,wieProblemeindermännlichenundweiblichenAnrede.Den<br />

sichauseinemsemantisch-syntaktischenKontextergebendenBedeutungen<strong>von</strong>bestimmten<br />

ZeichenfolgenmussunbedingteAufmerksamkeitgeschenktwerden.<br />

UnbedingtgelöstwerdenmussdasProblemderKennzeichnungderfreiwilligenAngabenunddasProblemderVerletzungdesSozialgeheimnissesdurchbestimmteAntragsanlagen.ObAngabenfreiwilligzumachensind,musssoforterkennbarsein!Informationen,<br />

diefüreinePrüfungaufgesetzlicherBasisunnötigsind,dürfennichtgenausobehandelt<br />

werdenwiedie,diezurPrüfungnotwendigsind.DerKlienthateinRechtaufPrivatsphäre<br />

undDatenschutz!DieFormulareundAnlagensowiedieVerwaltungsprozessemüssenso<br />

strukturiert werden, dass zu jedem Zeitpunkt kein einziges Persönlichkeitsrecht verletzt<br />

wird.Esdarfnichtpassieren,dassdatenschutzrechtlicheFragenbeiderpraktischenUmsetzungderSozialreformeninVergessenheitgeraten.<br />

649 GenausodarfauchnichtderEindruck<br />

entstehen,dassdasFormularinersterLinieeineverwaltungsorganisatorischenZwecker-<br />

649 vgl. http://www.bfdi.bund.de/DE/Oeffentlichkeitsarbeit/Pressemitteilungen/Archiv/28-<br />

04Alg_II_AntragsformulareTeilweiseUnzulaessig.html?nn=409394, letzter Zugriff: 19.11.2009<br />

150


5.11.4 Fazit<br />

füllt.DasFormularmussvielmehralsdasMittelzurRechtsdurchsetzungfürdenBürger<br />

angesehenwerden.DerBürgererhebtAnspruchaufseinegesetzlichverbriefteLeistung.Er<br />

gibt der Behörde den Auftrag, seine Ansprüche zu überprüfen und gegebenenfalls zu gewähren.EristderKunde.EsdarfbeiihmnichtderEindruckentstehen,dasserdieLeistung<br />

erbettelnmuss.IhmmussdieMöglichkeitgegebenwerden,injedemeinzelnenTeil„Herr<br />

derLage“zusein.DerVorgangmussfürihnüberschaubarundnachvollziehbargemacht<br />

werden.Erläuterungen,wozudieDatengebrauchtwerden,findensichnochzuwenige.EntscheidendevorzunehmendeAngabenmüsseninihrerKonsequenzerklärtwerden.InTeilendesAntragessindBestrebungenzuerkennen,denKlientendurcheinereziprokeInteraktionhandlungsfähigerzumachen.DennochistdieAnzahldererkennbarenBestrebungenzugeringunddieFortführunginnerhalbdesAntragesnichtkonsequentgenug.EineguteHilfebeiderAntragstellungistdiebeigelegteAusfüllhilfe.SieerhöhtzwardenArbeitsaufwanddurchdieparalleleBenutzung,abervieledererfragtenInformationenwerden<br />

klarer.SieisteinegroßeHilfe,wennesumdieNachvollziehbarkeitunddieNotwendigkeit<br />

derAngabengeht.DennochkönnenHinweise,dieerstinderAusfüllhilfegegebenwerden,<br />

schonaufdemAntragselbererscheinen.<br />

WeitereHilfestellungbekommtderKlientbeiderAbgabedesAntrages.DieMitarbeiterinderBehördesindangehalten,zusammenmitdemKlientendenausgefülltenAntragnocheinmaldurchzugehen.SosolleneventuelleUnklarheitenoderVersäumnisseherausgestelltwerdenkönnen.AuchdieseMaßnahmeförderteinereziprokeInteraktionundletztlichauchdenhandlungsfähigenBürger.<br />

151


5.13<br />

Die Rolle des Formulargestalters<br />

„Wer es mit Kommunikation zu tun hat, muss auf Kunst verzichten.“ 654<br />

5.13 DieRolledesFormulargestalters<br />

In seiner Rolle als Formulargestalter muss sich der Kommunikationsdesigner darüberimklarensein,dassesinersterLinieumdie<strong>Gestaltung</strong><strong>von</strong>Kommunikationgeht.<br />

Und diese <strong>Gestaltung</strong> der Kommunikation visualisiert sich in der <strong>Gestaltung</strong> des Formulars.DerGestaltermusssichalsoinseinerArbeitentscheiden,welcherFunktionerdurch<br />

seine<strong>Gestaltung</strong>enentsprechenwill.Undermussüberlegen,wieerdieseFunktiongestalten<br />

kann.<br />

Der<strong>Gestaltung</strong>desFormularsgehenabernochinhaltlicheundorganisatorischeEntscheidungenvoraus.EntscheidendistnämlichdieZielstellung–alsodieDinge,dieerreicht<br />

werdensollen–unddieFrage,obeinFormulardafürdasrichtigeMediumist.Erstdanach<br />

kannmandieÜberlegungenanstellen,wiedasFormularaussehensoll.<br />

DerInformationsträgerstehtinseinerFunktionenalsNachrichtenübermittlerzwischendemSenderunddemEmpfänger.DerGestalteristfürdieKonzeptionundPlanung<br />

sowie die <strong>Gestaltung</strong> der visuellen Informationen und Informationszusammenhänge verantwortlich.Erreichtwerdensoll,dassdiezuübermittelndenInformationendurchdie<strong>Gestaltung</strong>(Komposition),dieVerarbeitungunddieVerbreitungaufdieBedürfnisseeinerbestimmtenZielgruppeeingestelltwerden.<br />

655<br />

BeimFormulargibtderSenderseinerseitseineAuswahlderzuübermittelndenund<br />

derzuerfragendennotwendigenundnützlichenDatenvor.DieGliederungwirddurchinhaltliche<br />

Ordnungsbeziehungen und Zusammenhänge bestimmt. Dem Sender gegenüber<br />

stehtderEmpfänger.IhmsolldasSehenundErfassen<strong>von</strong>Zusammenhängenermöglicht<br />

werden. Er soll im Aufbau der wiederkehrenden, alle Empfänger betreffenden Formulardaten,Mustererkennenkönnen,dieihmdieInformationsaufnahmeund-verarbeitungerleichtern.DennnursokanndieschnelleundsichereWahrnehmung,VerarbeitungoderErmittlungdervariablenDatengesichertwerden.<br />

DemFormularinderMitte–zwischendemEmpfängerunddemSender–kommt<br />

dieAufgabezu,dieinhaltlichenOrdnungsbeziehungenmitHilfeeinesFormularzeichensystemsundbekanntenMusternzuvisualisieren.Essollu.a.füreinedeutlicheundgutlesbare<br />

BeschriftungdervariablenDatensorgen.Vonihmhängtesab,wieschnellundsicherder<br />

SenderseineInformationenzumEmpfängerübertragenkann.FürdenEmpfängerüberflüssige,aberfürdenSenderzweckmäßigeInformationenmüssendurchdenFormulargestalter<br />

so gestaltet werden, dass sie wenigstens für den Empfänger informationsarm dargestellt<br />

werden.DennderEmpfängerempfindetallefürdenorganisatorischenVorgangnötigenInformationenalsstörendundüberflüssig.DerEmpfängermussdieSicherheitunddasVertrauenhaben,dassdiewiederkehrendenDatenüberprüft,richtigundfürdieindividuellen<br />

AngabendasadäquateMittelsind.<br />

DerFormulargestaltermussdietypografischenMittelgezieltzurIdentifikation,Informationsverringerung,<br />

Benutzerführung und Lesbarkeit einsetzen. Alle Störungen und<br />

Verzögerungen in der Informationsübermittlung müssen durch die richtige Auswahl und<br />

Gliederung der Vordruckdaten, der entsprechenden Formulartypografie und der zweckdienlichenBeschriftungdervariablenDatenverhindertwerden.DasWissenumInformationsverringerung,Datenhervorhebungund<strong>Gestaltung</strong><strong>von</strong>Auffälligkeitenmussdabeivorhandensein.DerFormulargestalter„istnichtnurGestalterästhetischschönerFormulare,<br />

654 Otl Aicher, http://public.beuth-hochschule.de/~loopy/otl/, letzter Zugriff: 19.11.2009<br />

655 vgl. Voss 148 f<br />

160


5.13 DieRolledesFormulargestalters<br />

KünstleroderHandwerker,sondernvorallemNachrichtenübermittler.“ 656 Der<strong>Gestaltung</strong><br />

einesFormularswirddieAufgabeübertragen,dieinhaltlichenOrdnungsbeziehungenzuvisualisierenunddasErkennen<strong>von</strong>Gestaltmusternzuermöglichen.<br />

Für eine <strong>Gestaltung</strong> eines verständlichen Formulars müssen Kenntnisse über den<br />

Vorgang, den Organisationsablauf, die Informationswege, die Empfängergruppe, die AbsendergruppeunddieBearbeitungsartvorhandensein.DerFormulargestaltermussneben<br />

seinentypographischenWerkzeugenauchetwas<strong>von</strong>menschlicherInformationsaufnahme<br />

und-verarbeitungsowiedemmenschlichenLeseverhaltenverstehen.ErmussdieihmbekanntenMittelgezieltzurIdentifikation,Informationsverringerung,Benutzerführung,Hervorhebung,AuszeichnungundLesbarkeitfürdenEmpfängereinsetzen.<br />

657 MitHilfeeines<br />

fundiertenWissenskannderFormulargestalterdieDatenmengeentwederselbstreduzieren,<br />

odererkannsolcheDatenauswählen,diedemEmpfängerbekanntsind.DassinddieInformationen,diekeinebzw.einegeringeInformationfürdenEmpfängerbedeutenundsomit<br />

keineStörungdurchUnverständlichkeithervorrufen.<br />

Idealerweiseistdie<strong>Gestaltung</strong>einesFormularseineTeamarbeitzwischendenFach-<br />

undOrganisationsabteilungen,derEDVunddemFormulargestalter.DieZusammenarbeit<br />

aller genannten Gruppen sollte in einem möglichst frühen Stadium beginnen. Denn auf<br />

allenStufenderFormulargestaltung–derDatenauswahl,derGliederung,derAnordnung<br />

undBeschriftung–werdennunbesondereAnforderungenundTechnikenfürdieschnelle<br />

undsichereNachrichtenübermittlungbenötigt.<strong>Gestaltung</strong>bzw.Designistdas„Entwerfen<br />

eines integrierten Zusammenhangs <strong>von</strong> Funktion, Struktur und Gestalt eines Produkts<br />

und dessen Beziehung zu seinem Kontext“. 658  Gerade der Zusammenhang <strong>von</strong> Funktion,<br />

Struktur und Gestalt ist bei der Formulargestaltung besonders wichtig. Denn gerade bei<br />

einemFormularwirddieinhaltlicheOrdnungsbeziehungvisualisiert.EslässtsichdieVisualisierungderInformationaufkeinenFall<strong>von</strong>derenInhalttrennen.<br />

656 Toebe-Albrecht 50<br />

657 vgl. Toebe-Albrecht 50<br />

658 Suckow 81<br />

161


5.14 ZusammenfassungundmöglicherLösungsansatz<br />

5.14<br />

Zusammenfassung und möglicher Lösungsansatz<br />

„Kunden nicht ein Formular mehr, sondern ein Problem weniger verschaffen.“ 659<br />

EinenhauptsächlichenGrundfürdenproblematischenEinsatzdesFormularsinder<br />

BeziehungBürger–Behördezubenennenistunmöglich.DieGründesindzuverschieden.<br />

DemFormularwerdenzuvieleundzuunterschiedlicheAufgaben„aufgebürdet“–dasist<br />

auchdasDilemma.DenndiespezifischenAnforderungenbringenjedefürsichundinihrer<br />

GesamtheitverschiedeneProblememitsich.DasFormularalsVerwaltungsvorschriftsoll,<br />

indemesbeispielsweisediefüreinVerwaltungsverfahrengesetzlichfixiertenTatbestände<br />

vermittelt, das Verwaltungsverfahren und das Entscheidungsverhalten strukturieren. Es<br />

sollalsArbeits-undOrganisationsmitteldenEntscheidungsprozessderVerwaltungorganisieren,indemesz.B.diefüreineVerwaltungsentscheidungbenötigtenInformationensammelt.<br />

Es soll das Verwaltungsverfahren ökonomisch rationalisieren, indem es die spezifischenAnforderungenverwaltungsinternerArbeitsorganisationenbedient.Undessollden<br />

Verwaltungsklienteninformieren,nachMöglichkeitineinerreziprokenInteraktion.Doch<br />

alleindieVermittlungdergesetzlichfixiertenTatbeständeist,wiebereitsvorhererörtert,<br />

problematisch.DiebessereVerständlichkeitdurchwenigerFach-oderFremdsprachenführt<br />

zueinerhöherenRechtsunsicherheitundgeringererGesetzestreueundumgekehrt.Dassind<br />

abernichtdieeinzigenHürden.WillmanbeimBürgerdieSchwierigkeitenimUmgangmit<br />

demFormularabbauen,indemmanbeispielsweisedafürsorgt,dassernacheigenenKriteriengliedern,beschreibenundauswählendürfte,ziehtdaseventuellwiederProblemeim<br />

Persönlichkeitsschutznachsich.DennnurmiteinerengenOrientierunganrechtlicheund<br />

gesetzlicheMerkmaleistgewährleistet,dassnurdiefürdieEntscheidungnotwendigenInformationen<br />

und entscheidungserheblichen Sachverhalte erhoben werden. Der Bürger ist<br />

auchnichtinderLage,einenrealenSachverhaltjuristischqualifiziertzubetrachtenund<br />

einemgesetzlichenTatbestandunterzuordnen.DasobliegtderVerwaltung.Siemussalso<br />

allerelevantenInformationenfüreineSubsumtionsammeln.DieVerwaltunghataberkeine<br />

Möglichkeit,dieRichtigkeitderAngabeninderRealitätzuüberprüfen.Ihrbleibtalsonur,<br />

dieRichtigkeitüberZusatzinformationenzuermittelnundaufihrePlausibilitätzuuntersuchen.<br />

660 AllenAnforderungen,dieausderInteraktion<strong>von</strong>VerwaltungundBürger,derinternen<br />

Arbeitsorganisation und der Subsumtion unter gesetzlich fixierte Tatbestände entstehen,kanndasFormularnichtgleichermaßengerechtwerden.<br />

Wasmussgetanwerden,umdiesedemFormularimmanentenSchwierigkeitenund<br />

Problemezumindern?<br />

Will man also die Interaktion zwischen Bürger und Behörde verbessern, insbesondereüberdenWegderFormulare,mussderBürgerhandlungsfähiggemachtwerden.HandlungsfähigwirdderBürgerschondurchdieentsprechendevisuelleundsprachliche<strong>Gestaltung</strong>.Esmussdafürgesorgtwerden,dassdasFormularauchwirklichalsAntragaufein<br />

gesetzlichverbrieftesRechtwahrgenommenwird.DennderBürgererhebt„nur“Anspruch<br />

aufseinegesetzlichverbriefteLeistung.ErsollnichtdasGefühlvermitteltbekommen,die<br />

Leistungen„erbetteln“zumüssen.DerBürgerstecktmeistineinermisslichenLage.Verschuldetoderunverschuldet.DasFormularmussseinerpersönlichenSituationadäquatsein.<br />

ErmussdasFormularsowahrnehmenkönnen,wieessichfüreinenKundengehört.Fürihn<br />

darfeskeinenUnterschiedgeben,oberseinGeldbeispielsweiseinBundesschatzbriefenanlegtodervomStaatLeistungenfordert.ErdarfdasFormularnichtalsverwaltungsorgani-<br />

659 Schwesinger 29<br />

660 vgl. Brinckmann 257<br />

162


5.14 ZusammenfassungundmöglicherLösungsansatz<br />

satorischesMittelwahrnehmen.ZusätzlicheHandlungsfähigkeitbekommtderBürgermit<br />

demWissenumdieVoraussetzungen,diealternativenWegeunddieFolgenseinesHandelns.<br />

Mögendieseauchungewolltsein.EsmussfürdenBürgerklarsein,waserinGangsetzt,<br />

wennerdasFormularausgefülltderVerwaltungzukommenlässt.DieAsymmetrieinder<br />

DialogsituationzwischenBürgerundBehörde,mussinRichtungeinerwechselseitigenInteraktionaufgleicherAugenhöheverändertwerden.<br />

WieschonindenKapiteln„Verständlichkeit<strong>von</strong>Informationen“und„Verarbeitung<br />

<strong>von</strong>Informationen“angedeutet,solltedeshalbdasjeweiligeFormularinBezugaufdiegrafischvisuelle<strong>Gestaltung</strong>,dieVerständlichkeitinsyntaktisch-semantischerHinsichtundaufdieVerständlichkeitinpragmatischerHinsichtbefragtwerden.FormularesindInformationsträger–siemüssenverständlichformuliertsein,siemüssenklareZusammenhängeherstellenundvisualisierenkönnen,siemüssenErläuterungenundHilfestellungengeben.VerständlichkeitverlangtnachderReduktionaufdieelementarenInformationen.DieskanndurchdieHerstellung<strong>von</strong>ZusammenhängenunddurchdieGliederungderfürdenEmpfängerbestimmtenInformationengeschehen.DabeikannderSenderdemEmpfängerdie<br />

Verständlichkeit„nichteinfachverordnen.“ 661 WieverständlicheinFormularist,kannnur<br />

der Empfänger beurteilen, denn Verständlichkeit ist „immer eine Leistung des Empfängers.“<br />

662 <br />

InersterLiniesindesdieäußerenoptischenunddieinhaltlichen<strong>Gestaltung</strong>en,die<br />

einereziprokeInteraktionbestimmen.Soistbeidergrafischvisuellen<strong>Gestaltung</strong>danach<br />

zufragen,wasgetanwerdenmuss,damitderBürgerseinenLese-undBearbeitungswiderstandablegtundsichbereiterklärt,dasFormularalsAntragaufseinverbrieftesLeistungsrechtanzusehen.InHinsichtaufdiesyntaktisch-semantischeVerständlichkeitmussnach<br />

dersprachlichenEinfachheit,derPrägnanzdesFormulartextesundnachderGliederung<br />

undinhaltlichenZuordnungderEinzelteile(inhaltlicheÜberschaubarkeit)gefragtwerden.<br />

WennmandieVerständlichkeitnachpragmatischenAspektenermittelnwill,somussman<br />

fragen,wiewirksamdieempfangenenInformationendasVerhaltendesEmpfängersinder<br />

gewünschtenWeisebeeinflussen.Alsoistzufragen,obundwiegutdasFormularbzw.der<br />

FormulartextdenKlientenhandlungsfähigmacht.KannderBürgerseineRechtsansprüche<br />

wahrenunddurchsetzen?ErhälterdasnötigeKontext-undAlternativwissen?Kannersich<br />

überdieFolgenseinesHandelnsbewusstwerden?<br />

DerKommunikationsdesignerkannleichtaufdieäußere<strong>Gestaltung</strong>undteilweise<br />

auchaufdiesyntaktisch-semantischeVerständlichkeitEinflussnehmenundsieverbessern.<br />

Fehlende Attraktivität, mangelnde Aufmerksamkeit durch informelle Überfrachtung, unübersichtliche<br />

Strukturen, nicht ersichtliche Konzeption, fehlende Benutzerführung, unklareZuordnungderElemente(Linien,Kästchenusw.),erschwerteLesebedingungendurch<br />

fehlendeRücksichtnahmeaufeventuelleSchwächenusw.,lassensichdurchdachtbeheben.<br />

ZusätzlicherRaumfürdie<strong>von</strong>denvorformuliertenFragenabweichendenindividuellenAngabenlässtsichmöglicherweiseauchleichtbereitstellen.GenausowiederGestalterauch<br />

versuchen kann, die negative Wahrnehmung der Fragen und des Inhalts, bedingt durch<br />

schlechteErfahrungenmitdenbetreffenden<strong>Formularen</strong>oderInstitutionen,unddiealsnegativempfundeneKategorisierungdesEinzelnen,wenigstenszumindernunddenäußeren<br />

Lesewiderstandzubrechen.<br />

Fast nicht lösbar ist die Aufgabe der Pragmatik für ihn. Denn viele der pragmatischen<br />

Aspekte sind systemimmanent. Restriktionen entstehen durch die Rechtsförmigkeit<br />

<strong>von</strong> Verwaltungsverfahren oder durch arbeitsorganisatorische Erfordernisse der Verwaltung.<br />

Auf den Einsatz <strong>von</strong> widersprüchlichen, missverständlichen, abstrakten, nicht<br />

nachvollziehbarenFormulierungenundaufdiefehlendeTransformationderIdiomatikder<br />

Rechts-undVerwaltungsspracheineineAlltagssprache,kannerkeinenEinflusshaben.Das<br />

661 Toebe-Albrecht 181<br />

662 ebd. 181<br />

163


5.14 ZusammenfassungundmöglicherLösungsansatz<br />

gleichegiltfürdenEinsatzdesNominalstils,dieteilweisebevormundendeAnsprache,die<br />

schlechteNachvollziehbarkeitderNotwendigkeitunddenUmfangderzumachendenAngaben.Nichtausschließensolltemandeshalb,dassdieUnternehmens-bzw.Verwaltungsstrukturzubefragenundzuverändernist,willmansichdurchdasFormularunddessen<br />

Struktur und Systematik weiter den Kundenwünschen nähern oder bürgernäher werden.<br />

DieUntersuchungeinesFormularsaufEffizienzundErgonomieimVorfelddesEinsatzes<br />

istdazunötig.DasBefragenundVerändernderStrukturenundVoraussetzungensowieein<br />

entsprechendes Formular können, meiner Einschätzung nach, entscheidend zu einer VerbesserungderBeziehungBehörde–Bürgerbeitragen.DiereziprokeInteraktion,diebürgernaheKommunikationunddiebessereHandlungsfähigkeitdesBürgersmussdasformulierteZielsein.DasFormularmussversuchen,alleAspektederVerständlichkeit(Semantik,Syntaktik,Pragmatik)positivzuverändernoderzubeeinflussen.<br />

Dieses„Rezept“deseinenFormularsdarfaberdannnichteinfachaufalleanderen<br />

Formulareübertragenbzw.angewendetwerden.„JedesFormularistabhängig<strong>von</strong>demzugrundeliegendenOrganisationsvorgang,<strong>von</strong>derMengederDaten,derSender-Empfänger-<br />

Beziehung, vom Wissensstand der Empfänger, bevölkerungstypischen Verhaltensweisen,<br />

demInformationsträgerunddenMöglichkeitenderBeschriftung.“ 663 Klarist,dassdieFormulargestaltung<br />

deshalb <strong>von</strong> Formular zu Formular bzw. <strong>von</strong> Verwaltungsverfahren zu<br />

Verwaltungsverfahrenvariiertundangepasstwerdenmuss.Mitderzukünftigsteigenden<br />

Informationsmenge wird es immer wichtiger, dass der Empfänger die Informationen sogleichentsprechendihrerBedeutungerkennenkann.SolltesichderSendernichtdesFormularzeichensystemsbedienen,soläufterGefahr,dassderEmpfängerdiesewichtigenInformationen<br />

nicht erkennt oder nicht richtig zuordnet. Dies wiederum bringt die Gefahr<br />

mitsich,dassdieimmerkritischerwerdendenEmpfängergruppensichaufgrundunzureichenderoderunverständlicherInformationenverweigern.<br />

664<br />

DasFormularistTransportmittel<strong>von</strong>InformationmiteinereindeutigenInteraktionsfunktion.EineoptimaleInteraktionkannnurgeleistetwerden,wenndieInformationen<strong>von</strong>beidenKommunikationspartnernverstandenwerdenkönnen.ErstdannkanneineInteraktionundKommunikationauf„gleicherAugenhöhe“erreichtwerden.Beider<strong>Gestaltung</strong>müssenalsosowohldieBedürfnissederVerwaltungbzw.derBehördenalsauchdiederBürgerundBürgerinnenberücksichtigtwerden.UnddasaufdemGrundsatzderVerhältnismäßigkeitderMittelunddesZwecks.AmEndekanndanneinFormularentstehen,dassowohlförderlichimVerwaltungsprozessist,alsauchimUmgangmitdenBürgerndennötigen„Anstand“mitsichbringt.„DadieBehördenfürdieBürgerundnichtdieBürgerfürdieBehördendasind,mußnebenderfachlichenRichtigkeitdieBürgernähevorderRationalisierungeinzentralerGesichtspunktsein.“<br />

665 <br />

Deshalb müssen alle Aspekte der Verständlichkeit und der Interaktionsförderung<br />

neu befragt und bewertet werden. Dass diese Forderung nicht einfach umzusetzen sein<br />

wird,istverständlichundlässtsichnurdurchgemeinsameAnstrengungenbewältigen.Nur<br />

durch die Bereitschaft der Verwaltung zu Veränderung und die Zusammenarbeit mit anderenFachrichtungenundWissenschaften,kanndieMotivationaufbeidenSeitengesteigert<br />

werden.BeimHerausgeberundbeimKlienten.FormularundVerwaltungsprozessemüssen<br />

unabhängig<strong>von</strong>persönlichenArbeits-undLebensumständenbzw.Situationen–gemeint<br />

sindinersterLinieZeitdruckundexistenziellerDruck–fürbeideSeiten,fürdenHerausgeberunddenKlienten,alsChancegesehenwerden.<br />

ZumFormularwirdesaufgrunddergesellschaftlichenEntwicklung–dieZunahme<br />

derdifferenzierendenGesetzesvorgabenundAnspruchserhebungenwirdzueinerZunahme<br />

663 Toebe-Albrecht 51<br />

664 vgl. Toebe-Albrecht 126<br />

665 Mentrup 122<br />

164


5.14 ZusammenfassungundmöglicherLösungsansatz<br />

derzuerfragendenbzw.zuermittelndenDatenführen–keineechteAlternativegeben.Bei<br />

jeder dieser Vorgaben muss mit Hilfe der Erhebung der Personendaten dem Bürger und<br />

seiner Lebenssituation und dem Verwaltungsprozess entsprochen werden. Deshalb führt<br />

auchweiterhinkeinWeganEffizienzundRationalisierungvorbei.Unddamitmachtsich<br />

dasFormularauchweiterhinunentbehrlich.EineAlternativescheintauchinsofernunnötig,<br />

wennmanzukünftigbeider<strong>Gestaltung</strong>–sowohlinhaltlichalsauchvisuell–da<strong>von</strong>abgehenwürde,dasFormularausschließlichalseinArbeits-undOrganisationsmittelaufzufassen.DasFormularkönntesoinseinerpositivenWahrnehmunggestärktundgeradeauch<br />

inden<strong>Gestaltung</strong>sdisziplinenalsinteressantesWirkungsfeldwahrgenommenwerden.Das<br />

FormularhatseineVorteilealsArbeits-undOrganisationsmittellängstbewiesen–soargumentiertderKuratorderAusstellung„AmAnfangwar…DASFORMULAR“desMuseumsfürKommunikationinFrankfurtamMain:„WeramFormularherumkrittelt,zweifeltamSinnderBürokratie.“<br />

666 Ichmeine,wasjetztbewiesenwerdenmuss,ist,dassdas<br />

Formularauchbenutzerfreundlichundästhetischseinkann. 667<br />

666 vgl. http://www.welt.de/welt_print/article2465793/Von-der-<br />

Wiege-bis-zur-Bahre.html, letzter Zugriff: 09.12.2009<br />

667 Praktikabilität und Ästhetik dürfen und können sich m.E. nach einander nicht ausschließen.<br />

Der Linguist Jan Mukarovský bezieht seine Analysen zwar auf das literarische Werk, sie sollten m.M.<br />

bei der gestellten <strong>Gestaltung</strong>saufgabe beachtet werden. Mukarovský bezeichnet das literarische Werk<br />

als komplexes Werk-Zeichen und unterscheidet vier Grundfunktionen der Sprache: die darstellende,<br />

expressive, appellative und (insbesondere, d.V.) die „ästhetische“ Funktion. Er beschreibt die ästhetische<br />

Funktion als einen integralen Bestandteil menschlichen Handelns. Die Kunst sei zwar der Bereich, in dem<br />

die ästhetische Funktion dominiert – indem sie rein vorkommt – aber alle Gegenstände können ästhetische<br />

Funktionen haben oder nicht, sie erhalten oder verlieren.(vgl. Burg 20) „Auch die Breite und Intensität der<br />

Wirkung der ästh. F. erweist sich als historisch variabel.“ (Burg 20) Für Mukarovský hat Ästhetik mit dem<br />

existenziellen Leben zu tun und nicht nur mit dem künstlerischen – Ästhetik ist für ihn nicht gleich Kunst.<br />

(vgl. Burg 21) Die ästhetische Funktion ist merkmalslos, transparent, leer und verfolgt keinen äußeren<br />

Zweck – sie ist weder eine reale Eigenschaft der Dinge, noch eindeutig an bestimmte Eigenschaften der<br />

Dinge gebunden. (vgl. Burg 23, Mukarovský 29) Sie ist potentiell, universell und nicht an Handlungen,<br />

Objekte usw. geknüpft. (vgl. Burg 28) Die ästhetische Funktion hat keinen definierten Zweck, Schema und<br />

Ziel – „Diese Leere und Transparenz ist der Grund, weshalb sie sich jeder anderen Funktion zugesellen kann<br />

und diese verstärken kann, ohne deren Ziel und Zweck zu verändern.“ (Burg 28) „Bei der Grenzziehung<br />

zwischen dem ästhetischen und dem außerästhetischen Sektor muß man sich immer vergegenwärtigen,<br />

daß es sich nicht um streng getrennte <strong>von</strong>einander unabhängige Bereiche handelt.“ (Mukarovský 15)<br />

165

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