Gestaltung von Formularen
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Diplomarbeit<br />
Probleme der inhaltlichen und<br />
formalen <strong>Gestaltung</strong> <strong>von</strong> <strong>Formularen</strong><br />
Hochschule Wismar<br />
University of Applied Sciences Technology, Business<br />
and Design<br />
Betreuer:<br />
Prof. Hanka Polkehn<br />
Prof. Achim Trebeß<br />
vorgelegt <strong>von</strong>:<br />
Jan Schimmagk<br />
(105453)<br />
Januar 2010
Vorwort<br />
Der Kommunikationsdesigner hat Verantwortung. Die Verantwortung ergibt sich<br />
nichtnurausseinemWissen,denMittelnderUmsetzungundderArtihresEinsatzes,sondernauchausderThematik;„<strong>Gestaltung</strong>kannineinerundfüreineGesellschaftkeineseparate,unabhängigeThematiksein,keineirrelevanteundvernachlässigbareGröße,wenn<br />
sieinderKonsequenzfähigist,derenWertewirkungsvollzuverändern.“ 1<br />
Designer und ihre Arbeiten prägen wesentlich unsere Kultur und Gesellschaft –<br />
„kaum“etwasistnicht„irgendwie“schondesigntworden.Kaumundirgendwie–dassind<br />
dieentscheidenden,diegegensätzlichenPunkte.Dort,woVerkauf,Anpreisung,Werbung,<br />
positiveDarstellungdieAufgabebestimmt,wirdnichtsdemZufallüberlassen.Alleswird<br />
„durchdesignt“–strategischgehtmanandieAufgabenlösung.Oftnähertmansichallein<br />
durch formal-ästhetische Bedeutungen den Zielgruppen. Für den nicht-kommerziellen gesellschaftlichen<br />
Bereich der Beziehung zwischen Staat und seinen Einwohnern scheint es<br />
fast,istdas„irgendwie“vorbehalten.<br />
GeradedieInstitutionendesdemokratischenStaatessolltensichinihrerKommunikationalsverantwortungsbewusst,kompetent,verlässlichundtransparentdarstellen.Siesolltenzeigen,dasssiesichihrerAufgabeunddenBedürfnissenihrerBürgergegenüberbewusstsind.DieseAufgabe–zuderauchdie<strong>Gestaltung</strong>derFormularegehört–solltenicht<br />
alsLast,sondernalsChancebegriffenwerden.<br />
Eine „Gleichbehandlung“ aller Bürgerinnen und Bürger sowie aller KommunikationsmittelwärederwünschenswerteIdealzustand.DieKommunikationsmittelderBehörden<br />
undVerwaltungen–insbesonderederfürdiesozialenLeistungenzuständigenBehörden–<br />
solltendiegleicheBeachtungundBedeutungerfahren,wiebeispielsweisediederfürdie<br />
BundesschatzbriefezuständigenBundesfinanzagenturGmbH.EinAntragaufsozialeUnterstützungmussundsolltenichtunübersichtlich,ungeordnet,konzeptionsfernundfernderBeachtung<strong>von</strong>BedürfnissenderZielgruppesein.InvestitioneninstaatlicheFinanzinstitutionenoderdieInanspruchnahmegesetzlichverbrieftersozialerLeistungen–alsoderRückgriffaufdurchsozialeAbgabenebenfallsindenStaat„investierte“Leistungen–solltendie<br />
gleicheAufmerksamkeitundBedeutungerfahren.EingesetzlichverbrieftesRechtsolltemit<br />
derihmentsprechendenAchtungbehandeltwerden.<br />
„KommunikationsdesignistdieKonzeptionundPlanungsowiedie<strong>Gestaltung</strong>visuellerInformationen(…)mitdemZiel,dieseinihrerKomposition,VerarbeitungundVerbreitungwirkungsvollaufdieBedürfnisseeinerbestimmtenZielgruppeeinzustellen.“<br />
2 Aber<br />
geradeindennichtkommerziellen,sozialenpolitischenBeziehungenzwischenStaatund<br />
seinenEinwohnern–insbesondereinderBeziehungVerwaltungundBürger–soscheintes,<br />
werdendieseBedürfnisseallzuoftvergessen.<br />
EineGesellschaftlässtsichauchimmeramUmgangmitihrenMitgliedernmessen.<br />
Ein Sozialstaat verlangt zwingend nach der Gleichbehandlung aller – unabhängig da<strong>von</strong>,<br />
welcherBeitragfürdieGesellschaftgeleistetwerdenkannundwird.Deshalbistesm.M.<br />
umsowichtiger,verschuldetoderunverschuldetinNotgeratenenBürgernundBürgerinnen<br />
unterstützend zur Seite zu stehen – ihnen die Möglichkeit zu geben, mündig zu werden.<br />
SchwierigepersönlicheSituationen(sozial,finanziell,psychisch,physischusw.)dürfennicht<br />
nochdadurchverschlimmertwerden,dasskomplexeVerwaltungsvorgängedenBetroffenen<br />
„übergeholfen“werden,diedannmöglicherweisewiederzufalschenEinschätzungenoder<br />
Entscheidungenführen.EinkompliziertesSystemdarfnichtkompliziertvermitteltwerden.<br />
1 Koop 34<br />
2 Voss 148<br />
Dabei sind gerade den Gefühlen der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins Beachtung zu<br />
schenken.<br />
UnddasisteinederVerantwortungendesKommunikationsdesigners.InseinergesellschaftlichenVerantwortungmusseru.a.kritischnach-undhinterfragen,GrenzenaufzeigenundMöglichkeitenerweitern,KritikäußernundStellungbeziehen–ermussUnterstützerundAnwaltsein.ErhatsichselbstundebenanderengegenüberdieVerantwortung,<br />
Missstände–welcherArtauchimmer–mitseinenihmzurVerfügungstehendenMitteln<br />
zubeseitigen.<br />
NunkannmandenVorwurferheben,dassmitderNeugestaltungderFormularedes<br />
SGBII(HartzIV)dasinderMeinungvielerungerechteSystem,dasdenSozialmissbrauch<br />
verhindern,SozialausgabeneinsparenundeinenWiedereintrittindenArbeitsmarktermöglichensoll,„verschlimmbessert“oder„verschleiert“wird.DerAntraginseinerFormals<br />
Kontroll-undBestrafungsformulargarnocheffizientergemachtwird.<br />
Ich habe die Aufgabe aber aus einer anderen Richtung formuliert. In soziale Not<br />
GeratenesollensowohlallegesetzlichenMöglichkeitenalsauchalleNotwendigkeitenerkennenundnutzenkönnen.DennnursokönnendieBetroffenenihreRechteinvollemUmfangwahrnehmen.DerVerwaltungsolleinArbeitsmittelzurHandgegebenwerden,das<br />
esermöglicht,effizientundfehlerfreiinnerhalbderVerwaltungsprozesse,alsauchfürden<br />
Betroffenenzuagieren.DienachdenBedürfnissendesKundenundderVerwaltunggestaltetenFormularesollenu.a.durchKonzeption,ÜbersichtlichkeitundBenutzerfreundlichkeitdieAntragstellungsowiederenBearbeitungerleichtern.ÄnderungenandenSozialgesetzbüchern–insbesondereandemZweitenBuchSozialgesetzbuch(SGBII)–hinaufeinemenschenwürdigere,sozialere,existenzsicherndereunddieTeilhabeanderGesellschaftermöglichendeGesetzgebungkannnurdurchdiePolitikgeschehen.AlsKommunikationsdesignerkannichaberinmeinemmirmöglichenRahmenversuchen,dieerkennbarenUngerechtigkeitenzuverdeutlichen,zumindernodergarabzuschaffen.<br />
Der praktischen Arbeit ging eine theoretische Arbeit voran, die es ermöglichte,<br />
vorherungeahnteVerhältnisseundZusammenhängeinallerDeutlichkeithervortretenzu<br />
lassen.DasbeziehtsichsowohlaufdasersteKapitel„Arbeitsgesellschaft–KriseundDisziplinierung“alsauchaufdasdritteKapitel„Formulargestaltung“.BesondersaberdaszweiteKapitel,dassichmitderAgenda2010undalsdessenBestandteilmitSGBIIauseinandersetzt,rücktevieleunbekannteFaktenindasLichtderBetrachtungen.Dieslagandemzur<br />
Recherche herangezogenen Material, mit dem ich sehr viel tiefer gehender auf die Ursachen,WirkungenundKonsequenzenderSozialreformeneingehenkonnte.DiesesMaterial<br />
ist nicht nur <strong>von</strong> einigen der wichtigsten sozialen, wirtschaftspolitischen und philosophischenDenkernbeiderLager–sowohlBefürworternalsauchKritikern–verfasstworden,esenthältdarüberhinausnochdieaktuellstenundunumstößlicheFakten,mitdeneneinerepräsentativeunddurchBelegeabgesicherteDarstellungermöglichtwurde.<br />
BeiderRecherchewaresbesonderswichtig,nursolcheQuellenzuverwenden,die<br />
einerobjektivenBetrachtungderFaktenstandhaltenkonnten–geradebeieinerteilweise<br />
emotional sehr aufgeladenen Diskussion über die Agenda 2010. Die Anzahl der möglichenQuellenistimmens.DieBegründungdafürliegtüberwiegendindenwichtigenKonsequenzen,diesichfürdenbisherigenparitätischorganisiertenSozialstaatausdenSozialreformenergabenundergebenunddessenDiskursedarüber.SowohldieverfügbareundnotwendigeAnzahlderRecherchequellenalsauchdieBeachtungihrer„Herkunft“garantierendenfürdieBetrachtungnötigenUmfangund–imVergleichderAussagen–deren<br />
Korrektheit.<br />
Die theoretische Arbeit setzt sich aus drei großen Kapiteln zusammen. Das erste<br />
Kapitel setzt sich mit der Arbeitsgesellschaft und ihren Disziplinierungsmechanismen<br />
auseinander. Im ersten Teil soll versucht werden zu erklären, wie die Arbeit zum Leben<br />
bestimmendenInhaltwerdenkonnteundwelchegesellschaftlicheKrisesichdurchdieVerknappungderArbeitergibt.AlsGrundlagedientderText„GesteundRitualderArbeit“<br />
<strong>von</strong>ChristophWulf.DerzweiteTeildiesesKapitelsbeschäftigtsichmitMichelFoucaults<br />
AnalysendergesellschaftlichenMachtverhältnisseundseinemerweitertenMachtbegriffam<br />
Übergang bzw. bei der Entstehung und innerhalb der Industrie- und Arbeitsgesellschaft.<br />
FoucaultbeschreibtdenZusammenhangzwischenderEntstehungeinerneuenÖkonomie<br />
undderEntstehung<strong>von</strong>neuenFormenderMacht.GrundlageistderText„DieMachtund<br />
dieNorm“.<br />
DaszweiteKapitelbeschäftigtsichmitderReformierungdesArbeitsmarktesund<br />
derSozialsystemeDeutschlandsdurchdieAgenda2010.ImKerndieserErläuterungensteht<br />
dasZweitesBuchSozialgesetzbuch(SGBII)–auchbekanntalsHartzIV.Eswerdensowohl<br />
dieHintergründealsauchdieFolgenundAuswirkungenbeleuchtet.Statistikensinddabei<br />
einwichtigesMittel.Zubeachtenist,dasseszumTeilrechtunterschiedlicheZahlenaus<br />
Statistiken,ErhebungenundStudienzumgleichenSachverhaltgibt.SierührenwahrscheinlichausverschiedenenstatistischenMethoden,derAbsichtundEinstellungderAutorenher.TrotzdemlassensichTendenzenundVerallgemeinerungendarausableiten.MiteinemAusblickaufdiemöglichenweiterenEntwicklungenundmöglicheAlternativenschließtdieses<br />
Kapitel.<br />
Das dritte Kapitel behandelt das Formular. Grundsätzliche Informationen werden<br />
gegeben,aberauchdasVerhältnis<strong>von</strong>BürgerundBehördesollerörtertwerden.DerErläuterungderOrdnungsbeziehungenundElementeeinesFormularsfolgtdieEinschätzungdes<br />
Hartz-IV-HauptantragessowiederAusfüllhilfeunddieAuswertungmeinerUmfragen.Mit<br />
derRolledesFormulargestaltersunddemLösungsansatzfüroptimaleFormulareschließt<br />
dasletzteKapitel.<br />
MirwaresbeimSchreibendieserArbeitbesonderswichtig,dasssieauchfüreinen<br />
Laienverständlich ist.Dasunddienotwendige Betrachtung derFelder „Macht, Disziplinierung,Arbeit“,„Agenda2010undHartzIV–Entstehung,Auswirkung,Zukunft“sowie<br />
„Formulare–Aufgabenund<strong>Gestaltung</strong>“habenzudieserdochsehrumfangreichenArbeit<br />
beigetragen.DasnötigekomplexeHerangehenandieunterschiedlichenFelderderBetrachtunghabenimLaufedertheoretischenArbeitdazugeführt,dasssichimmermehrThemen<br />
undFragenaufwarfen,dieeinegleichberechtigteAntwortverlangthätten.Dieswaraber<br />
indemgesetztenRahmenunmöglich.AnmanchenStellenkönntemansicherkürzen,an<br />
anderenStellen–unddassicherhäufiger–nochInformationenausbauen.Esisttrotzder<br />
Beschränkungaufdie„nötigsten“Informationeneineauffundiertemundstandsicherem<br />
WissenbasierendetheoretischeArbeitentstanden.<br />
GeradedasErkennen,dasssichdieFelderdermöglichenBetrachtungenundAnalysen<br />
immer wieder erweiterten, führte einerseits zu Unsicherheit – zu der Unsicherheit,<br />
wichtige Dinge nicht gesehen bzw. betrachtet zu haben. Es führte aber auch zu der Erkenntnis,dasssichallesaufeinanderbeziehenlässtundsichimmerwiederneueParallelen<br />
undDenkrichtungenfindenlassen,dieeswertsind–wennesZeitundEnergiezulassen–,<br />
dassmansieergründet.<br />
ImJahr2000beschlossendieeuropäischenStaats-undRegierungschefsdieEUnach<br />
derLissabon-Agenda biszumJahr2010zum „wettbewerbsfähigsten unddynamischsten<br />
wissensbasiertenWirtschaftsraumderWelt“zumachen.ZehnJahrenachderUnterzeichnungunddemzwischenzeitlichenZutagetretenderpositivenundnegativenFolgen,istdas<br />
Jahr2010fürdieVorstellungüberarbeiteterAntragsformularefürdasSGBII–unabhängig<br />
<strong>von</strong>derabsolutenNotwendigkeit–aucheinzeitlichpassendesJahr.<br />
IchmöchtemichbeimeinenProfessoren,meinerFamilie,meinerFreundin,meinen<br />
FreundenundauchbeiderVerwaltunggleichermaßenfürdieLehre,dieHilfe,dieUnterstützung,dieGeduldunddasVerständnis–geradewennesstressigundauchchaotischzuging–bedanken.UnddasnichtnurwährenddesDiplomsemesters.<br />
Für die erwiesene Kooperationsbereitschaft möchte ich darüber hinaus allen Gesprächspartnerndanken.<br />
Erklärung:<br />
DievorliegendeArbeithabeichselbstständigundohnefremdeHilfeverfasst.<br />
AnderealsdieangegebenenHilfsmittelhabeichnichtbenutzt.<br />
DiewörtlichoderinhaltlichübernommenenStellenhabeichalssolche<br />
kenntlichgemacht.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1.0 <br />
Arbeitsgesellschaft–KriseundDisziplinierung...................................................................... 1<br />
1.1 <br />
DieKrisederArbeitsgesellschaft........................................................................................................... 1<br />
1.2 <br />
DieMachtunddieNorm........................................................................................................................... 11<br />
1.3 <br />
Zusammenfassung...........................................................................................................................................19<br />
2.0 <br />
Agenda2010undHartzIV......................................................................................................................23<br />
2.1 <br />
GlobalisierungundNeoliberalismus..............................................................................................23<br />
2.2 <br />
DieAgenda2010...............................................................................................................................................28<br />
2.3 <br />
DieHartz-GesetzeIbisIV.......................................................................................................................33<br />
2.4 <br />
HauptargumentederBefürworter....................................................................................................37<br />
2.5 <br />
HauptargumentederKritiker................................................................................................................ 41<br />
2.6 <br />
BilanzfünfJahreHartzIV.......................................................................................................................45<br />
2.7 <br />
Zusammenfassung...........................................................................................................................................50<br />
3.0 <br />
Agenda2010undHartzIV:FolgenundAuswirkungen............................................... 51<br />
3.1 <br />
VielschichtigkeitderFolgenundAuswirkungen.................................................................. 51<br />
3.2 <br />
RechtsverlustundZwangzurArbeit..............................................................................................52<br />
3.3 <br />
ALGII–rechtlicher,sozialerundmateriellerVerlust......................................................53
3.4 <br />
DerEin-Euro-Job..............................................................................................................................................56<br />
3.5 <br />
SanktionenverschärfenZwangzurArbeit................................................................................57<br />
3.6 <br />
HartzIVmachtkrank..................................................................................................................................59<br />
3.7 <br />
HartzIVmachtKinderarm....................................................................................................................62<br />
3.7.1 <br />
Dialektik<strong>von</strong>ReichtumundArmut................................................................................................62<br />
3.7.2 <br />
QuantitativeIndikatorenderKinderarmut..............................................................................66<br />
3.7.3 <br />
QualitativeIndikatorenderKinderarmut..................................................................................68<br />
3.7.4 <br />
VerfassungsrichterüberprüfenRegelsätzefürKinder.....................................................69<br />
3.8 <br />
Zusammenfassung...........................................................................................................................................72<br />
4.0 <br />
Zukunft<strong>von</strong>HartzIV..................................................................................................................................73<br />
4.1 <br />
PolitikderRegierungsparteien.............................................................................................................73<br />
4.2 <br />
AlternativeVorstellungen..........................................................................................................................76<br />
4.3 <br />
WiderstandundProtest.............................................................................................................................. 80<br />
4.4 <br />
Zusammenfassung...........................................................................................................................................82<br />
5.0 <br />
Formulargestaltung........................................................................................................................................83<br />
5.1 <br />
DefinitionundFunktion<strong>von</strong><strong>Formularen</strong>..................................................................................83
5.2 <br />
GeschichtederFormulare.........................................................................................................................86<br />
5.3 <br />
Typen<strong>von</strong><strong>Formularen</strong>................................................................................................................................ 90<br />
5.4 <br />
VerständlichkeitundVerarbeitung<strong>von</strong>Informationen.................................................92<br />
5.4.1 <br />
Verständlichkeit<strong>von</strong>Informationen................................................................................................92<br />
5.4.2 <br />
Verarbeitung<strong>von</strong>Informationen........................................................................................................94<br />
5.4.3 <br />
Schlussfolgerungen..........................................................................................................................................97<br />
5.5 <br />
DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde..............................................................98<br />
5.6 <br />
Bürgernähe.......................................................................................................................................................... 104<br />
5.7 <br />
ImageundFormular...................................................................................................................................107<br />
5.8 <br />
OrdnungsbeziehungenineinemFormular............................................................................. 111<br />
5.9 <br />
ElementederMakroebene.....................................................................................................................113<br />
5.9.1 <br />
GrafischeVariablenundGestaltgesetze....................................................................................116<br />
5.9.2 <br />
TypografieundSchrift...............................................................................................................................118<br />
5.9.3 <br />
Zahlen.....................................................................................................................................................................120<br />
5.9.4 <br />
Raster,SpaltenundTektonik..............................................................................................................121<br />
5.9.5 <br />
Linien,TabellenundFarbe.................................................................................................................. 123
5.9.6 <br />
Papier,Druck,Weiterverarbeitung,Maschinenlesbarkeit...................................... 125<br />
5.10 <br />
ElementederMikroebene..................................................................................................................... 128<br />
5.10.1 <br />
SpracheundText...........................................................................................................................................130<br />
5.10.2 <br />
MarkierungderauszufüllendenStellen.....................................................................................135<br />
5.11 <br />
EinschätzungHartzIVHauptantrag..........................................................................................137<br />
5.11.1 <br />
Grafisch-visuelleEinschätzung.........................................................................................................138<br />
5.11.2 <br />
Semantisch-syntaktischeEinschätzung....................................................................................142<br />
5.11.3 <br />
PragmatischeEinschätzung..................................................................................................................146<br />
5.11.4 <br />
Fazit........................................................................................................................................................................... 150<br />
5.12 <br />
AuswertungFragebögen..........................................................................................................................152<br />
5.13 <br />
DieRolledesFormulargestalters.....................................................................................................160<br />
5.14 <br />
ZusammenfassungundmöglicherLösungsansatz.........................................................162<br />
6.0 <br />
Literaturliste(alphabetischnachAutorensortiert)................................................................ I<br />
6.1 <br />
ElektronischeMedien(nachletztemZugriffgeordnet).................................................VI
2.0<br />
Agenda 2010 und Hartz IV<br />
2.1<br />
Globalisierung und Neoliberalismus<br />
2.0 Agenda2010undHartzIV<br />
„Geld, Technologien, Waren, Informationen, Gifte ‚überschreiten‘ die Grenzen, als gäbe<br />
es diese nicht. Sogar Dinge, Personen und Ideen, die Regierungen gerne außer Landes<br />
halten würden (Drogen, illegale Einwanderer, Kritik an Menschenrechtsverletzungen),<br />
finden ihren Weg. So verstanden meint Globalisierung: das Töten der Entfernung; das<br />
Hineingeworfensein in oft ungewollte, unbegriffene transnationale Lebensformen;“ 153<br />
SowohlBefürworteralsKritiker,natürlichdieMacher,aberauchdiedirektBetroffenenderAgenda2010und<strong>von</strong>HartzIVführeninihrenÄußerungenimmerwiederGlobalisierungundNeoliberalismusan.DieSchlagwortebetreffensowohlUrsache,Wirkungund<br />
BegründungfürdenWandelderGesellschaft.Deshalbscheintesmirwichtig,einenkurzen<br />
AbrissüberdieBegriffeundderenBedeutungzugeben.<br />
HierbeihandeltesumArbeitsdefinitionen,dienichtdieganzeDimension,dievielen<br />
Widersprüchebzw.Facettenenthaltenkönnen.HierwirdnureineimRahmenderArbeit<br />
nötigeBegriffserklärungunternommen.<br />
UnterderGlobalisierungkannmandenProzessderzunehmendenweltweitenVertiefungundVerflechtungallergesellschaftlichenBereicheverstehen.Füralledeutlicherlebbar<br />
findetdieseVerflechtunginderWirtschaft(Real-undFinanzwirtschaft,Handel),aberauch<br />
inPolitik,Kultur, Medien,Sicherheit, Recht, Umwelt etc. statt. Globalisierung geschieht<br />
auf den verschiedensten Ebenen. So auf der Ebene der Individuen, der gesellschaftlichen<br />
Gruppen,derGesellschaften,derInstitutionenundderStaaten.Globalisierungerfuhreine<br />
zunehmende Vertiefung, Erweiterung und Dynamik durch den technischen Fortschritt –<br />
beispielsweisedurchdieDigitalisierung–sowiedurchdieLiberalisierungdesWelthandels.<br />
DaslässtsichanIndikatorenwiebeispielsweisedemAnwachsendesWelthandels,demAnsteigenderausländischenDirektinvestitionen,derZunahmeglobalerUnternehmenskooperationen,andersteigendenAnzahlderGlobalPlayer(TransnationaleKonzerne/TNK),anderGlobalisierungderFinanzmärkteundanderungleichenVerteilungderglobalenRessourcenfeststellen.<br />
DenwirtschaftspolitischenBegriffderGlobalisierungprägtederehemaligeProfessor<br />
anderHarvardBusinessSchool,TheodoreLevitt.Bereits1983veröffentlichteereinenArtikelinderHarvardBusinessReviewmitdemTitel„TheGlobalizationofMarkets“.<br />
154 InnerhalbdesdeutschsprachigenRaumesverbreitetesichderTerminusnach1990inderöffentlichenDebatte.<br />
Unterschiedliche Auffassungen darüber gibt es, ob die Globalisierung nicht schon<br />
immerstattfandodererstabdemMittelalterodererstnachdemZweitenWeltkrieg.Allgemeinanerkanntistjedoch,dassdieGlobalisierungeinenerstengroßenHöhepunktmit<br />
derIndustrialisierung–mitderAusprägungdesKapitalismus–Endedes19.Jahrhunderts,<br />
Anfang des 20. Jahrhunderts hatte. Karl Marx kennzeichnete diesen Prozess bereits treffend,alser1848imManifestderKommunistischenParteifeststellte,dassdieBourgeoisie<br />
153 Beck 45<br />
154 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Theodore_Levitt, letzter Zugriff: 28.10.2009<br />
23
2.1 GlobalisierungundNeoliberalismus<br />
durchdieAusbeutungdesWeltmarktesdieProduktionundKonsumtionallerLänderglobalisierthabe.<br />
155 UndFriedrichEngelsschriebineiner1847verfasstenSchrift:„DiegroßeIndustriehatschondadurch,daßsiedenWeltmarktgeschaffenhat,alleVölkerderErde,undnamentlichdiezivilisierten,ineinesolcheVerbindungmiteinandergebracht,daßjedeseinzelneVolkda<strong>von</strong>abhängigist,wasbeieinemanderngeschieht.“<br />
156<br />
Globalisierungs-Kritiker wenden sich weniger gegen die objektive Entwicklung an<br />
sich.HauptaugenmerkihrerKritikgiltvielmehrder„neoliberalen“AusprägungderGlobalisierung.<br />
157<br />
Eine differenzierte Begriffsdefinition <strong>von</strong> Globalisierung legt Ulrich Beck vor. Zunächst<br />
unterscheidet er zwischen Globalisierung und Globalität. Globalität ist für Beck<br />
durchdasZerbrechenderEinheit<strong>von</strong>NationalstaatundNationalgesellschaftunddieHerausbildung<br />
<strong>von</strong> neuartigen Macht- und Konkurrenzverhältnissen, Konflikten und Überschneidungen<br />
„zwischen nationalstaatlichen Einheiten und Akteuren einerseits, transnationalen<br />
Akteuren, Identitäten, sozialen Räumen, Lagen und Prozessen andererseits“<br />
gekennzeichnet. 158<br />
FürBeckstelltdieGlobalisierung–mitallihrenunterschiedlichenDimensionen–<br />
dieAnnahme,dassdieKonturenderGesellschaftdeckungsgleichmitdenKonturendesNationalstaatesgedachtwerdenkönnen,inFrage.GlobalisierungsorgtfüreineneueVielfalt<br />
<strong>von</strong>VerbindungenundQuerverbindungenzwischenStaatenundGesellschaften. 159<br />
Das bisherige Gefüge der Grundannahmen, dass Gesellschaften und Staaten als<br />
„territoriale, gegeneinander abgrenzte Einheit vorgestellt, organisiert und gelebt wurden“,<br />
brichtsomitzusammen. 160 <br />
Beck beschreibt Globalisierung als erfahrbares „Grenzenloswerden alltäglichen<br />
HandelnsindenverschiedenenDimensionenderWirtschaft,derInformation,derÖkologie,<br />
derTechnik,dertranskulturellenKonflikteundZivilgesellschaft,unddamitimGrundegenommenetwaszugleichVertrautesundUnbegriffenes,schwerBegreifbares,dasabermiterfahrbarerGewaltdenAlltagelementarverändertundallezuAnpassungenundAntworten<br />
zwingt.“ 161 UnterscheidungenderGlobalisierungsindfürdenAutorunbedingtnötig,denn<br />
Globalisierungistfürihn„dasammeistengebrauchte–mißbrauchte–undamseltensten<br />
definierte, wahrscheinlich mißverständlichste, nebulöseste und politisch wirkungsvollste<br />
(Schlag- und Streit-)Wort der letzten, aber auch der kommenden Jahre.“ 162 Beck erhebt<br />
dabeiaberwederdenAnspruchaufVollständigkeitnochTrennschärfe. 163 Wennmannur<br />
dieimZentrumderöffentlichenDebattestehendewirtschaftlicheGlobalisierungbetrachtet,<br />
so„lichtetsichderNebelnicht“. 164 <br />
Für Beck muss die Globalisierung in verschiedene Dimensionen unterschieden<br />
werden„diekommunikationstechnische,dieökologische,dieökonomische,diearbeitsorganisatorische,diekulturelle,diezivilgesellschaftlicheDimensionusw.“<br />
165 <br />
Die informatorische, kommunikationstechnische Globalisierung sorgt dafür, dass<br />
„nationalstaatliche Informations-Souveränität als Teil der politischen Souveränität (…)<br />
155 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistisches_Manifest, letzter Zugriff: 28.10.2009<br />
156 http://de.wikipedia.org/wiki/Globalisierung, letzter Zugriff: 28.10.2009<br />
157 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Globalisierung, letzter Zugriff: 28.10.2009<br />
158 Beck 47<br />
159 vgl. Beck 46<br />
160 Beck 47<br />
161 Beck 44<br />
162 Beck 42<br />
163 vgl. Beck 42<br />
164 Beck 42<br />
165 Beck 42<br />
24
2.1 GlobalisierungundNeoliberalismus<br />
außerKraftgesetzt“wird. 166 ModerneMedienstellen„virtuell“eineGleichzeitigkeit<strong>von</strong><br />
EreignissenverschiedenerWeltgegendenundBedeutungenherundverortendieseaufeiner<br />
Zeitachseundnichtmehraufvielenverschiedenen.„Der‚zeitkompakteGlobus‘“entsteht. 167<br />
DieökologischeGlobalisierungverweistdarauf,dass„dasTunundLassenallergesellschaftlichenAkteureüberallinderWeltinfastallengesellschaftlichenThemenfeldern<br />
(…)gemessenundkritisiertwerdenkann.“ 168 HandelnundTunhabenAuswirkungen,die<br />
sichüberallaufderWeltnachweisenlassenbzw.ihreWirkung–obnunpositivoderim<br />
überwiegendenFallnegativ–entfalten.<br />
DieDimensionderökonomischenGlobalisierungkannu.a.durchihreneuenvirtuellenÖkonomientransnationalerGeldströmedefiniertwerden.<br />
169<br />
DieverschwundeneNotwendigkeit,aneinembestimmtenOrtzusammenzuarbeiten,<br />
um Güter und Dienstleistungen herzustellen, verweist auf die Dimension der Globalisierung<br />
<strong>von</strong> Arbeitskooperation bzw. Produktion. 170 Trotz des Exports <strong>von</strong> Arbeitsplätzen<br />
könnendieBeschäftigten„transnationalodersogartranskontinental‚kooperieren‘oderin<br />
‚direktem‘KontaktmitdemEmpfängerundKonsumentenbestimmteDienstleistungenerbringen.“<br />
171 <br />
DieDimensionderkulturellenGlobalisierungzeigtfürBeck,dass„Globalisierung<br />
keineEinbahnstraßeseinmuß,sondernimGegenteil(u.a.,d.V.)regionalenMusik-Kulturen<br />
weltweiteBühnenundBedeutungenverschaffenkann.“ 172 <br />
BecksiehtdieWeltgesellschaft,diesichim„Gefolge<strong>von</strong>Globalisierung“invielen<br />
Dimensionen–alsonichtnurinderökonomischenDimension–herausgebildethat,alseine,<br />
diedenNationalstaatunterläuftbzw.relativiert,weilsich„einemultiple,nichtortsgebundene<br />
Vielheit <strong>von</strong> sozialen Kreisen, Kommunikationsnetzwerken, Marktbeziehungen, Lebensweisen(…)quervernetzt“haben.<br />
173<br />
DieDiskussiondarüber,obdiedeutscheWirtschaftdurchdieMöglichkeiteinerbilligeren<br />
Produktion an anderen Standorten unter Druck gerät, sieht Beck als überschätzt.<br />
„DaßGlobalisierungimSinne<strong>von</strong>Arbeitsplatz-AbbauinDeutschlandundArbeitsplatz-ExportinLändermitniedrigenArbeitskostenineinemnennenswertenAusmaßbereitsstattgefundenhat,wird<strong>von</strong>denTatsachenrelativiert.“<br />
174 <br />
Für Beck stechen die politischen Folgen, die durch die Inszenierung des ökonomischenGlobalisierungsrisikosinGanggesetztwerden,hervor.Vorherderpolitischen<strong>Gestaltung</strong>verschlosseneindustriegesellschaftlicheInstitutionenkönnen„geknackt“unddempolitischenZugriffgeöffnetwerden.<br />
175<br />
SosiehtBeckdieEntwicklung,dass„diePrämissendesSozialstaatesunddesRentensystems,<br />
der Sozialhilfe und der Kommunalpolitik, der Infrastrukturpolitik, die organisierte<br />
Macht der Gewerkschaften, das überbetriebliche Verhandlungssystem der<br />
TarifautonomieebensowiedieStaatsausgaben,dasSystemderSteuernunddie‚Steuergerechtigkeit‘–allesschmilztunterderneuenWüstensonnederGlobalisierungindiepolitischeGestaltbarkeit(szumutung)hinein.“<br />
176<br />
166 Beck 39<br />
167 Beck 46<br />
168 Beck 40<br />
169 vgl. Beck 40<br />
170 vgl. Beck 41<br />
171 Beck 41<br />
172 Beck 42<br />
173 Beck 18<br />
174 Beck 43<br />
175 vgl. Beck 13<br />
176 Beck 13 f<br />
25
2.1 GlobalisierungundNeoliberalismus<br />
DieInszenierungderGlobalisierungerlaubtesdenUnternehmen,„diepolitischund<br />
sozialstaatlich gezähmte Handlungsmacht des demokratisch organisierten Kapitalismus<br />
aufzuschnürenundzurückzuerobern.“ 177<br />
Unternehmen–insbesonderedieglobalagierenden–bekommendurchdieGlobalisierungnichtnureineSchlüsselrolleinder<strong>Gestaltung</strong>derWirtschaft,sondernauchbeider<br />
<strong>Gestaltung</strong>derGesellschaftinsgesamt.DieseRolle–dieesimKapitalismuslatentimmer<br />
gab,abersozialstaatlich-demokratischgebändigtwerdenkonnte–bekommtgrößereWirkungalleindadurch,dass„siederGesellschaftdiemateriellenRessourcen(Kapital,Steuern,<br />
Arbeitsplätze)entziehenkönnen.“ 178<br />
FürdenSoziologenBeckuntergräbtdieglobalagierendeWirtschaftdieGrundlagen<br />
derNationalökonomieundderNationalstaaten–ihrgehtesdarum,sichvomStaatundaus<br />
denKlammern<strong>von</strong>ArbeitundStaatzubefreien. 179 DieInszenierung<strong>von</strong>Globalisierungals<br />
Drohfaktorzieltnichtnurdarauf,diegewerkschaftlichenunddienationalstaatlichen„Fesseln“abzustreifen.DarüberhinausbetreibtsieeineEntmächtigungnationalstaatlicherPolitik.<br />
180 <br />
DurchArbeitsplatzexport,weltweitverteiltearbeitsteiligeProzesse,dieMöglichkeit,<br />
NationalstaatenodereinzelneProduktionsortegegeneinanderumdiebilligstenSteuer-und<br />
günstigstenInfrastrukturleistungenausspielenzukönnenunddiefehlendeVerbindlichkeit<br />
<strong>von</strong>Investitions-,Produktions-,Steuer-,undWohnortermöglichtdenUnternehmenzusätzlicheHandlungs-undMachtchancenzuerhalten,diejenseitsdespolitischenSystemsliegen.<br />
BeckformuliertdafürdenBegriff„Subpolitik“ 181<br />
BeckhältesfüreinenTreppenwitzderGeschichte,dass„ausgerechnetdieGlobalisierungsverliererinZukunftalles,SozialstaatwiefunktionierendeDemokratie,bezahlen<br />
sollen, während die Globalisierungsgewinner Traumgewinne erzielen und sich aus ihrer<br />
VerantwortungfürdieDemokratiederZukunftstehlen.“ 182 DeshalbmüssefürBeckdie<br />
übergreifendeFragenachsozialerGerechtigkeitimZeitalterderGlobalisierungnichtnur<br />
theoretisch,sondernauchpolitischneuverhandeltwerden. 183 <br />
EngverbundenmitderGlobalisierungistderNeoliberalismus.Neoliberalismussteht<br />
fürdieabsoluteFreiheitdesMarktes.DerBegriffNeoliberalismussetztsichausdemaltgriechischenneos(neu)undLiberalismuszusammen.WiederklassischeLiberalismuswendetsichauchderNeoliberalismusgegendasaktiveEingreifendesStaatesindieWirtschaftsprozesse.DerStaatsolllediglicheinenRahmenstellen,derdenWettbewerbfördert.Betont<br />
wirdderZusammenhang<strong>von</strong>politischer,wirtschaftlicherFreiheit. 184<br />
Das Wirtschaftslexikon (Gabler) erweitert den Begriff Neoliberalismus noch. Der<br />
klassischeLiberalismuswürdezwaraufgegriffen,jedochnachdenErfahrungendesLaissez-<br />
Faire-Liberalismus, der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften und dem konzeptionslosen<br />
Interventionismus – dem konzeptionslosen Eingreifen des Staates in den Wirtschaftsablauf–korrigiert.<br />
185 AuchimNeoliberalismuswirddieOrdnungsunabhängigkeit<br />
177 Beck 14<br />
178 Beck 14<br />
179 vgl. Beck 14 f<br />
180 vgl. Beck 16<br />
181 vgl. Beck 16 f<br />
182 Beck 21<br />
183 vgl. Beck 21<br />
184 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Neoliberalismus, letzter Zugriff: 28.10.2009<br />
185 Laissez-Faire-Liberalismus (Manchester-Liberalismus) wird eine Denkrichtung bezeichnet, durch die<br />
die im 19. Jh. praktizierte Wirtschaftspolitik geprägt war. Charakteristisch war eine ausgesprochen starke<br />
Zurückhaltung des Staates und der Verzicht auf die Beeinflussung des Wirtschaftsprozesses entsprechend einer<br />
staatlichen Ordnungskonzeption. Als Folge war damit zugleich soziale Not der Arbeiter verbunden. (vgl. http://<br />
wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/1886/laissez-faire-liberalismus-v6.html, letzter Zugriff: 28.10.2009)<br />
26
2.1 GlobalisierungundNeoliberalismus<br />
desWirtschaftensunddieBedeutungprivatwirtschaftlicherInitiativebetont.Dahersolle<br />
der Staat den freien Wettbewerb aktiv vor dem Entstehen privatwirtschaftlicher Marktmacht(Monopole,Kartelleusw.,d.V.)wieauchvorstaatlichverursachterMarktvermachtung(etwadurchStaatskonzerne,d.V.)schützen.<br />
186<br />
DerNeoliberalismusinderGegenwartzieltm.E.nachnurineineRichtung:Privatisierung<strong>von</strong>vormaligenstaatlichenKernbereichen–wiebeispielsweisemedizinischeVersorgung,Energie,Wasser,Transportu.a.–dazudieDeregulierungderMärkte(beispielsweise<br />
der Finanzmärkte), verbunden mit einem rigorosen Sozialabbau. Einzig die privatwirtschaftlicheMarktmachtdergrößtenUnternehmenwirdnichtberührt.GanzimSinnedes<br />
Neoliberalismusentwickeltedierot-grüneBundesregierungunterSchröderundFischereine<br />
Reform–dieAgenda2010–,diediesallesermöglichte.DieseReformsollte–sowurdesie<br />
öffentlichbegründet–DeutschlandfitmachenfürdieAnforderungenderGlobalisierung<br />
undfürdieAnforderungendes21.Jahrhunderts.<br />
186 vgl. http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/10396/<br />
neoliberalismus-v4.html, letzter Zugriff: 28.10.2009<br />
27
2.2<br />
Die Agenda 2010<br />
2.2 DieAgenda2010<br />
„Entweder wir modernisieren unser Land, und zwar als eine soziale Marktwirtschaft.<br />
Oder wir werden modernisiert, und zwar <strong>von</strong> den ungebremsten Kräften des Marktes, für<br />
die Freiheit immer nur die Freiheit <strong>von</strong> wenigen ist und die das Soziale beiseite drängen<br />
würden.“ 187<br />
„WirwerdenLeistungendesStaateskürzen,EigenverantwortungfördernundmehrEigenleistung<strong>von</strong>denEinzelnenfordernmüssen.(…)Niemandwirdsichentziehendürfen.“<br />
188 <br />
MitdiesenWortenstellteimFrühjahr2003derdamaligeBundeskanzlerGerhardSchröder<br />
(SPD)dieunterdemNamen„Agenda2010“bekanntgewordenen„VorschlägezurReform<br />
dersozialenSicherungssysteme,desArbeitsmarktesundderFinanzen“vor.<br />
Die Vorarbeiten für die Agenda 2010 waren bereits im Schröder-Blair-Papier aus<br />
demJahre1999geleistetworden. 189 <br />
Erklärte Ziele bis zum Jahr 2010 waren die Kürzung <strong>von</strong> Leistungen des Staates,<br />
dieFörderungderEigenverantwortungunddieEigenleistungdeseinzelnen–formuliertin<br />
insgesamt30Vorhaben.AußerdemsolltedieArbeitslosigkeitdrastischabgebautunddas<br />
WachstumderWirtschaftbeschleunigtwerden. 190 <br />
HinterderBezeichnung„Agenda2010“standeinganzesBündel<strong>von</strong>Maßnahmen.<br />
NichtnurdieSozialsystemesolltensaniertwerden.AuchdieLohnnebenkostensolltendrastischgesenktsowiederArbeitsmarktflexiblergestaltetunddieöffentlichenFinanzengefestigtwerden.<br />
191 FürdiebeidenAutorendesArtikels„DieAgenda2010:EinewirtschaftspolitischeBilanz“,BenjaminScharnagelundMichaelHüthervomInstitutderdeutschen<br />
Wirtschaft(IW)inKöln,warendieseReformenunbedingtnötig.SiegebenalsGründean:<br />
ZuhoheSteuernundAbgaben,lähmendeBürokratie,zuhoheArbeitskostenundzuviele<br />
Arbeitslose, teure soziale Sicherungssysteme und neue Herausforderungen durch die Globalisierung.<br />
Deshalb müssten die Strukturreformen den Standort Deutschland da<strong>von</strong> befreien.<br />
192<br />
Die„Agenda2010“–dieReformdesSozial-undWirtschaftssystems–wurdezwischen2003und2005<strong>von</strong>derBundesregierung–bestehendausSPDundBündnis90/Die<br />
187 Gerhard Schröder, ehem. Bundeskanzler, http://www.b-republik.de/archiv/inder-tradition-<strong>von</strong>-freiheit-und-gerechtigkeit,<br />
letzter Zugriff: 28.10.2010<br />
188 http://www.martin-doermann.de/hp_alt/pdf%20Dokumente/<br />
regierungserklaerung.pdf letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
189 Das Schröder-Blair-Papier ist ein Vorschlag <strong>von</strong> Gerhard Schröder und Tony Blair – unter dem<br />
Titel „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“ – den sie in London am 8. Juni 1999<br />
veröffentlichten. Darin legten sie einen Entwurf für ein Modernisierungskonzept für die europäische<br />
Sozialdemokratie vor. In ihm wurden unter dem Schlagwort „Neue Mitte“, vor dem Hintergrund des<br />
Thatcherismus und der „Ära Kohl“ und unter Bezugnahme auf die Strukturationstheorie <strong>von</strong> Anthony<br />
Giddens, neue sozialdemokratische Positionen und Leitbilder eines „dritten Weges“ – zwischen dem<br />
neoliberalen beziehungsweise wirtschaftsliberalen Kapitalismus und der klassischen Sozialdemokratie –<br />
formuliert. Mit diesen Vorschlägen wollte man die grundlegende Modernisierung der sozialdemokratischen<br />
Programmatik erreichen. Dies sollte durch eine wirtschaftsfreundlichere Ausrichtung, eine Reform<br />
der Sozialsysteme und die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte geschafft werden. Nach Auffassung der<br />
Verfasser muss eine pragmatische statt einer ideologischen Wirtschaftspolitik betrieben werden. Betont<br />
wurde hierbei der durch die Globalisierung entstehende Konkurrenzdruck zwischen Volkswirtschaften.<br />
(vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Schröder-Blair-Papier, letzter Zugriff: 02.01.2010)<br />
190 vgl. http://www.cecu.de/709+M5f983d34a12.html, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
191 vgl. http://www1.bpb.de/files/BN2YMD.pdf, S.24, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
192 vgl. http://www1.bpb.de/files/BN2YMD.pdf, S.23, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
28
2.2 DieAgenda2010<br />
Grünen–weitgehendumgesetztund<strong>von</strong>dennachfolgendenKoalitionenfortgeführt.Als<br />
konkreteGrundlagefürdieReformendienteu.a.der„WirtschaftspolitischerForderungskatalogfürdieersten100TagederRegierung“(gemeintwardie<strong>von</strong>G.Schröder).Dieser<br />
wurde<strong>von</strong>derBertelsmann-Stiftung2002inderZeitschrift„Capital“veröffentlicht.<br />
In dem „Wirtschaftspolitischen Forderungskatalog“ wurde unter anderem angemahnt,beiderSozialversicherungseiesnötig,binnen10JahrendieArbeitslosenversicherung<br />
abzuschaffen und die Sozialhilfe weiter einzuschränken. Die Kürzungen in der Sozialhilfe<br />
würden automatisch den damit verbundenen Mindestlohn mindern. Wenn der<br />
Mindestlohnsinkenwürde,sowürdediesauchderBekämpfungderArbeitslosigkeitdienen<br />
unddieSanierungderStaatsfinanzenfördern.EineSenkungderübrigenLöhneum15ProzentunddieReduzierungdesKündigungsschutzeserlaubeesUnternehmen,mehrArbeiterundAngestellteeinzustellenunddamitdieArbeitslosigkeitzuverringern.DieLohnnebenkosten(imwesentlichenalsodieSozialkosten,d.V.)solltenmittelfristigvomUnternehmer<br />
ganzaufdenArbeitnehmerübertragenwerden.DieBertelsmann-Stiftungbehauptet,dass<br />
Deutschland ab dem Jahre 2010 nicht mehr in der Lage sein werde, für die Kosten für<br />
Renten,KrankenkostenoderArbeitslosigkeitindembisdahingewährtenMaßeaufzukommen.<br />
193 <br />
VieledieserForderungenfandenEingangindieAgenda2010undschlugensichauch<br />
inHartzIVnieder.(Allgemeinbekanntistauch,dasssichGerhardSchrödersowieAngela<br />
MerkeldesÖfteren<strong>von</strong>derStiftungberatenließen.)<br />
DieAgendaumfasstimwesentlichensiebenBereiche.ImBereichWirtschaftgehtes<br />
u.a.umdenKündigungsschutzunddieSenkungderbetrieblichenLohnnebenkosten,aber<br />
auchumdieFörderungdesMittelstandes.ImBereichKrankenversicherungstehtdieGesundheitsreform.<br />
Dabei sollen u.a. der Zahnersatz und das Krankengeld nicht mehr wie<br />
bisherparitätisch,sondernalleindurchdieBeiträgedesVersichertenbestrittenwerden.Die<br />
SelbstbeteiligungderPatientenfürMedikamenteundHeilmittelsowiefürdenstationären<br />
AufenthaltimKrankenhauswurdeerhöht.DievierteljährlichzuentrichtendePraxisgebühr<br />
wurde ebenfalls eingeführt. Viele der bisher gewährten Leistungen wurden gestrichen. 194 <br />
Die Möglichkeit der Frühverrentung wurde weiter eingeschränkt. 195 Der Eintritt ins Rentenalterwurdespäterauf67Jahreerhöht.DiegesetzlicheRentenversicherungwurdereduziertundu.a.durchdieRiester-Rente–dieeinenhohenprivatenAnteilbeinhaltet–ergänzt.<br />
DiegravierendstenÄnderungenfandenaberimBereichArbeitsmarktstatt.<br />
AlsKernderReformendurchdieAgenda2010werdendieHartzGesetze–imbesonderenSGBII(ALGII,HartzIV)–angesehen.AufdieInhaltedieserGesetzewirdim<br />
nächstenKapitelnochnähereingegangen.<br />
GroßeTeiledesKonzepteswurden<strong>von</strong>derCDU/CSUaktivmitgestaltet.InderRegierungserklärungvom30.November2005äußertesichdieAmtsnachfolgerin<strong>von</strong>Gerhard<br />
Schröder,AngelaMerkel:„IchmöchteKanzlerSchröderganzpersönlichdanken,dasser<br />
mitderAgenda2010mutigundentschlosseneineTüraufgestoßenhat,unsereSozialsystemeandieneueZeitanzupassen.“<br />
196 <br />
EinenweiterenGrundfürdieEinführungderAgenda2010sehenverschiedeneAutorenimUntergangdes„realenSozialismus“.DerPolitikwissenschaftlerMichaelKlundt<br />
betont, dass die Umsetzung solcher Vorhaben vorher durch die Konkurrenz des KapitalismusmitdemSozialismuswährenddesKaltenKriegeserschwertwurde.Klundtsiehtauch<br />
dieEntwicklung,dassdieimWestenerkämpftenreformistischenSozialstaatskompromisse<br />
193 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Bertelsmann-Stiftung, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
194 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Agenda_2010, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
195 vgl. http://www1.bpb.de/files/BN2YMD.pdf, S.28, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
196 http://webarchiv.bundestag.de/archive/2005/1205/aktuell/<br />
reg_erkl/index.html#, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
29
2.2 DieAgenda2010<br />
derJahre1950-1975seitdenachtzigerJahrenmehrundmehr<strong>von</strong>denUnternehmeneinseitigaufgekündigtwerden.<br />
197<br />
Die Soziologen Christoph Butterwegge und Carolin Reißlandt schreiben in ihrer<br />
Studie„SozialstaatamScheideweg“,dassderSiegüberdenStaatssozialismusesermöglicht<br />
habe,dass„dasSozialeleichteralseindie(Arbeits-)Produktivität,WirtschaftskraftundExportfähigkeitschwächenderFaktorabqualifiziertwerden“konnte.<br />
198 NachdemWegfallder<br />
sogenanntenSystemalternativekonntediebisdahindominantesozialstaatlicheEntwicklungsvariantedesKapitalismus–diedieHärtenundSchwächendesKapitalismusfürdie<br />
Menschenerträglichergemachthaben–aufdenPrüfstandgestelltwerden. 199 <br />
AuchdiePolitikwissenschaftlerinGabrielleGillensiehtinihremBuch„HartzIV–<br />
Eine Abrechnung“ im Zusammenbruch des so genannten Ostblocks einen wichtigen AspektfürdieAbschaffungderkollektivenSicherungssysteme.Der„realeSozialismus“hätte<br />
dasKapitalzuZugeständnissengezwungen–erhabequasialszusätzlicherSozialpartner<br />
immermitamVerhandlungstischgesessen.DieimKaltenKriegdurchgesetztenStandards<br />
der Sozial- und Arbeitslosenversicherung hätten quasi wie ein Mindestlohn gewirkt. Seit<br />
denneunzigerJahrenhättendannaberdieUnternehmenmitHilfederPolitikSchrittfür<br />
SchrittihreDeregulierungundFlexibilisierungsreformendurchsetzenkönnen. 200 <br />
DasdiesaucheinwichtigesVorhabenderEuropäischenUniongewesensei,darauf<br />
machtdieAutorinundAktivistingegenErwerbslosigkeit,AngelaKlein,aufmerksam.Die<br />
Europäische Union wolle mit der „Strategie <strong>von</strong> Lissabon“ – die auf dem EU-Gipfel im<br />
Jahr 2000 beschlossen wurde – bis zum Jahre 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischstenwissensbasiertenWirtschaftsraumderWelt“werden.<br />
201 DerRivale–mitdem<br />
mansichvorallemmesse–seiendieUSA.DeshalbwürdeauchdieSozialpolitikderPrämisseuntergeordnet,denökonomischen„Krieg“umMärkteundTechnologievorsprünge<br />
gewinnenzuwollen.DeshalbwürdendiesozialenSicherungssystemeneugestaltetundan<br />
dieneoliberalenwirtschaftlichenVorgabenangepasst. 202 DiesengesamteuropäischenWeg<br />
geheSkandinavienjedochamvorsichtigsten.DortwurdenlediglichflexiblereArbeitszeiten<br />
eingeführtundfürdieAbsicherung<strong>von</strong>ZusatzleistungenprivateZusatzversicherungenverlangt.<br />
203<br />
Deutschland–vertretenu.a.durchpolitischeFührerwieGerhardSchröder–sieht<br />
sichhingegenalseinVorreiteran.DerSoziologeKlundtberuftsichinseinenAusführungen<br />
auf den Sozialethiker Wilfried Hengsbach. Hengsbach sieht einen Grund für die EinführungderAgenda2010durchGerhardSchröderineinemCharakterzugdesKanzlersverankert,dersichspätergernals„GenossederBosse“feiernließ.Schrödertretedeshalbsostark<br />
nachunten,weilerdenwirtschaftlichenElitengefallenwolle.DerSPD-Kanzlerverschärfe<br />
sogarnochdenSozialabbaudervorhergehendenRegierungunterHelmutKohl.Wasinder<br />
Agenda2010stehe,soäußertsichderPolitikwissenschaftlerMichaelKlundt,hätteman<br />
schonbeimEx-US-PräsidentenRonaldReaganundderbritischenPremierministerinMargaretThatchernachlesenkönnen.<br />
204 <br />
DiePolitökonominAnneAllexsiehtinderAgenda2010eineneoliberaleStrategie,<br />
diedurchvierProzessegekennzeichnetsei.SosollealserstesdasgesamteArbeits-undSo-<br />
197 Klundt 51<br />
198 http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/broschuere_<br />
sozialabbau.pdf, S.11 f, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
199 vgl. http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/<br />
broschuere_sozialabbau.pdf, S.11 f, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
200 vgl. Gillen 27<br />
201 http://www.eu2007.de/de/Policy_Areas/European_Council/Lissabon.html, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
202 vgl. Klein 175<br />
203 vgl. Klein 181<br />
204 vgl. Klundt 49<br />
30
2.2 DieAgenda2010<br />
zialrechtdereguliertwerden.AlszweiteswürdendiesozialenSicherungssystememitden<br />
bisher garantierten individuellen Rechten – beispielsweise bei Arbeitslosigkeit, d.V. – abgeschafft.Bisherige,fürdieExistenzerforderlicheLeistungenundEinkommen(beispielsweisegesetzlicheRenten,d.V.),werdennichtmehrimdemMaßegewährt.Darüberhinaus<br />
würdenalsDrittesdieöffentlicheInfrastruktur–z.B.Gas,Wasser,Energie,Krankenhäuser,<br />
Bildung,Kitausw.–privatisiertunddieGebühren–fürdieseDienstleistungfürdieBevölkerung–verteuert.UndalsViertesziehesichdersogenannteschlankeStaataussozialer,<br />
wirtschaftlicher,kulturellerundökologischerVerantwortungzurück. 205<br />
DieAutorinsetztsichmitderdurchdieAgenda2010eingeführten„Sachzwangideologie“auseinander.SchonimJahr2004schriebsieüberdieseZusammenhänge–siesind<br />
abernochbisheutegültig.SoseidiedamaligeBundesregierungunterSchröderundFischer<br />
inderSozialpolitikaufdieneoliberaleGrundliniezurBewältigungderökonomischenGlobalisierungsprozesseeingeschwenkt,soAllex.Dasbedeutete,dassdieSteuerngesenkt,die<br />
Staatsausgaben–vorallemaberdieSozialausgaben–gemindert,dieöffentlichenGüterund<br />
Risikenprivatisiert–alsokommerzialisiert–undderArbeitmarktdereguliertwurde.DarausentstehedanndiesogenannteangebotsorientierteArbeits-,Lohn-undSozialpolitik.AufderanderenSeitewürdendiestaatlicheVor-undFürsorgeverringertunddafürEigenverantwortungundEigenleistungdrastischerhöht.<br />
DieAutorinsetztsichauchmitGerhardSchröderauseinander,derseinePolitik–so<br />
wie die Wirtschaft auch – damit begründete, dass der internationale Wettbewerb härter<br />
wird.Schröderargumentiertedamals–sowieauchvieleÖkonomenundPolitikerheute<br />
immernoch,d.V.–,dasseingescheitertesMithaltenmitdenEntwicklungenzuwenigoder<br />
gar keinem Wachstum und damit zu hoher Arbeitslosigkeit führen würde. Dann würde<br />
auchderStaatwenigerSteuerneinnehmen,unddassozialeSystemdroheausdenFugenzu<br />
geraten,weilesnichtmehrfinanzierbarsei.DarüberhinauswürdedieArbeitdurchdieviel<br />
zuhohenLohnnebenkosten–mitdenendiesozialenSystememitfinanziertwerden–vielzu<br />
teuersein.DeshalbmüssesichdieSozialpolitiknachdemMöglichen,demDurchführbaren<br />
unddemTragbarenrichten.<br />
AllexbezeichnetdieseSachzwangargumentealspureDemagogie,um–wieschon<br />
<strong>von</strong> der Bertelsmann-Stiftung gefordert – den Weg in eine Arbeitswelt ohne Sozialversicherungzuebnen.Daskönnte,soAllex,auchdieBegründungdafürsein,dassdieUnternehmen<strong>von</strong>riesigenSteuerentlastungenprofitierenkönnen.DiePolitikunterstützedasZiel<br />
deutscherKonzerne,mitallenMittelnandieökonomischeWeltspitzezugelangen. 206 <br />
DassdieserWegimInteressederWirtschaftliegt,zeigtbeispielsweisedieGratulationdesPräsidentendesDeutschenIndustrie-undHandelskammertages(DIHK)Ludwig<br />
GeorgBraunzumfünftenJahrestagderAgenda2010.ErschriebineinerLaudatio:„Liebe<br />
Agenda2010,zuDeinem5.GeburtstagwünscheichDir,(…)dasssichdieErfolgeamArbeitsmarktindennächstenJahrenbis2010fortsetzenundwirbeiderArbeitslosigkeitendlichwiederaufdeutlichunterdreiMillionenimJahresdurchschnittkommen.“<br />
207 208 Weiter<br />
schriebBraun„dassDusobleibst,wieDubist,undDeineGegnermitihrenoffenenund<br />
versteckten Attacken auf die Reformfreude künftig kläglich scheitern. Die Verlängerung<br />
205 vgl. Allex 10<br />
206 vgl. Allex 29 ff<br />
207 http://www.dihk.de/inhalt/informationen/news/meldungen/<br />
meldung010481.main.html, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
208 Erstens wurde das <strong>von</strong> Ludwig Georg Braun erklärte Ziel bis dato noch immer nicht erreicht.<br />
Und zweitens hat sich zwar durch Hartz IV die Arbeitslosigkeit verringert, allerdings um den<br />
Preis, dass hunderttausende Betroffene schlechter bezahlte Jobs annehmen mussten.<br />
31
2.2 DieAgenda2010<br />
desArbeitslosengeldesIbleibthoffentlichdieeinzigeWunde,dieDuerleidenmusst.“ 209 210 <br />
Und,sohofftBraun,„dasszukunftsgewandtePolitikervorErreichenderAltergrenzeim<br />
Jahr2010DichzurAgenda2015weiterentwickeln,diesich–versehenmitneuerKraft–<br />
weitereReformenzurVerbesserungdesWirtschaftsstandortesDeutschlandaufdieFahne<br />
schreibt.“ 211<br />
BraunwünschtesichalsoschoneinJahrvordererneutenWiederwahl<strong>von</strong>Angela<br />
Merkel als Bundeskanzlerin der schwarz-gelben Koalition aus CDU/CSU und FDP, dass<br />
durchweitereReformendieIntentionenderWirtschafterfülltwerden.Wasernichtvoraussehenkonnte,war,dassdieFinanz-undWirtschaftskrisederschwarz-gelbenBundesregierungnurkleineSchrittezurVerschärfungderReformengestattenwürde.<br />
DieAgendaansichwirddennochfortgesetzt,denndieArbeitsollinsgesamtbilliger<br />
werden,umimweltweitenWettbewerbmithaltenzukönnen.DieAusrichtungderGesellschaftimInteressederWirtschaftwirdweitervorangetrieben,aufgeschobenistnichtaufgehoben.DiealteundneueBundeskanzlerinkündigtedasinihrerRegierungserklärung2009an:„WeltweitwerdendieKartenneugemischt.DagibtesebenkeineangestammtenMarktanteileundPositionen.WerwirdsichdenZugriffaufRohstoffeundEnergiequellensichern?<br />
Wer lockt Investitionen aus anderen Teilen der Welt an? Welches Land wird zum Anziehungspunkt<br />
für die klügsten und kreativsten Köpfe? (…) Ich will, dass wir Deutschland<br />
zuneuerStärkeführen.“ 212 Unddeshalb„mussSchlussseinmitdenreflexartigenReaktionen,etwawennüberdieEntkopplung<strong>von</strong>ArbeitskostenundKostendersozialenSicherheitgesprochenwird.EsmussSchlussseinmitdenreflexartigenReaktionen,etwawenn<br />
vomAufbaueinerKapitaldeckungbeiderPflegedieRedeist.“ 213 Esstehtjetztschonfest,<br />
dassdieneueBundesregierungamKernderReformenderAgenda2010unddenHartz-<br />
Gesetzennichtsändernwird.EswerdenneueLastenfürgroßeTeilederBevölkerunghinzukommen.DieGesellschaftwirdnachdenForderungenderWirtschaftweiterverändert.DieHartz-Gesetze–insbesondereHartz-IV–sollenimnächstenKapitelnähererläutertwerden.<br />
209 http://www.dihk.de/inhalt/informationen/news/meldungen/<br />
meldung010481.main.html, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
210 Braun moniert scheinbar die Regelung, dass ältere Arbeitslose<br />
ab 55 Jahre das ALG I länger als 12 Monate erhalten.<br />
211 http://www.dihk.de/inhalt/informationen/news/meldungen/<br />
meldung010481.main.html, letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
212 http://www.angela-merkel.de/doc/091110-regierungserklaerungmerkel-stbericht.pdf,<br />
letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
213 http://www.angela-merkel.de/doc/091110-regierungserklaerungmerkel-stbericht.pdf,<br />
letzter Zugriff: 02.01.2010<br />
32
2.7<br />
Zusammenfassung<br />
2.7 Zusammenfassung<br />
DieAgenda2010mitihremKernstückHartz-Gesetzeläuftdaraufhinaus,dieGesellschaft<strong>von</strong>obenumzubauenundnachdenInteressenderWirtschaftauszurichten.Ich<br />
teiledieMeinungverschiedenerAutoren,dassderEinzelneGefahrgerät,zumsogenannten<br />
Homooeconomicus „erzogen“zuwerden. Die Globalisierung ist daher mehrein Scheinargument.InWirklichkeitsetzendieUnternehmennurdasGrundgesetzdesKapitalismus<br />
durch:ausGeldmehrGeldzumachen,Gewinnezumaximieren.Sobegrüßendieeinendie<br />
Agenda2010unddieHartz-GesetzealseinenDurchbruchinderReformblockade.Kritiker<br />
sehendarindenAnfangvomEndedesSozialstaates.<br />
2005 waren rund 5,4 Millionen Menschen arbeitslos. Von ihnen sollte die Hälfte<br />
durchHartzIVwiederinJobsgebrachtwerden.DasZielwurdeweitverfehlt.Esentstanden<br />
jedochHunderttausendeBilliglohn-Jobs.<br />
Da2009selbstnachErkenntnissenderhauseigenenForscherderBundesagenturfür<br />
ArbeitnurrundeinehalbeMillionHartz-IV-EmpfängerdenAusstiegschafften,darfman<br />
sichderMeinunganschließen,dassdieReform–zumindestbisdato–uneffektivbzw.teilweisegescheitertist.WeiterhinsindMillionenMenschenbzw.ganzeFamilienaufdiestaatlicheUnterstützungdurchALGIIangewiesen.DieLinke,derDGBundderParitätische<br />
WohlfahrtsverbandsehenHartzIValsgescheitertan.StattdasgesellschaftlicheProblem<br />
ArbeitslosigkeitundseinenegativenFolgenzulösen,hatessichverfestigt.Scheinbaristes<br />
objektivnichtmöglich,dasProblemaufdieseWeisezulösen.AberdieWirtschafthatauf<br />
jedenFallprofitiert.DiePolarisierung<strong>von</strong>ReichtumaufdereinenundArmutaufderanderenSeitenimmtzu.DieSpaltungderGesellschaftebenso.<br />
Trotzderoffensichtlichen Probleme bzw.der –imSinneder Senkungder Arbeitslosigkeit–nichtfunktionierendenMaßnahmen,istda<strong>von</strong>auszugehen,dassnurTeile<strong>von</strong><br />
Hartz IV verbessert werden, an der Grundkonstruktion aber nichts geändert wird. Die<br />
großeBewährungsprobefürdieReformstehtallerdingsnochbevor.DieArbeitslosenzahlen<br />
werdensichindenJahren2010und2011durchdiedurchschlagendeWirtschafts-undFinanzkrisedrastischerhöhen.VielederALG-I-EmpfängerwerdenindenBezug<strong>von</strong>ALGII<br />
abrutschen.UnddannkönntesichdieThesealszutreffenderweisen,dassdieArbeitslosen<br />
garnichtwiederinArbeitgebracht,sondernihrenLebensunterhaltaufniedrigemNiveau<br />
selbstbestreitensollen.Unabhängigda<strong>von</strong>wirdesimmerwenigerArbeit–gemeintistdie<br />
Lohnarbeit–geben.DieseTendenzwirdsichindennächstenJahrenweiterverstärken.<br />
50
3.0 Agenda2010undHartzIV:FolgenundAuswirkungen<br />
3.0<br />
Agenda 2010 und Hartz IV: Folgen und Auswirkungen<br />
3.1<br />
Vielschichtigkeit der Folgen und Auswirkungen<br />
„Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das<br />
Brot entziehen, einen <strong>von</strong> einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung<br />
stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg<br />
führen usw. Nur weniges da<strong>von</strong> ist in unserem Staat verboten.“ 319<br />
Der<strong>von</strong>derPolitikundderWirtschaftbetriebeneAbbaudesSozialstaatesistdie<br />
gravierendsteAuswirkungderAgenda2010und<strong>von</strong>HartzIV.IndiesertheoretischenArbeiterörtereichdiesenAspektundalskonkreteAuswirkungsolldieZunahmederKinderarmutbehandeltwerden.DarüberhinausgibtesauchgenerelleKritikandenEntwicklungen.DerSozialverbandDeutschlandunddieVolkssolidaritätlegtenunterdemNamen„Sozialabbaustoppen.<br />
Sozialstaat stärken.“ ein Grundsatzpapier vor, das Vorschläge zum Erhalt und zur StärkungdesSozialstaatesenthält.<br />
320 DerSozialstaatistdemnachkeinBallast,sondernunverzichtbarfürdenwirtschaftlichenErfolgdesLandesundzugleichäußerstwichtigfürden<br />
Zusammenhalt der Gesellschaft. Angeregt wird die Schaffung eines neuen gesellschaftlichenGrundkonsenses,derderStärkungdesSozialstaatesdienensoll.DerSozialstaatseibezahlbarundzukunftsfähig,wennalleBürgerihrenBeitragfürdieSozialversicherungssystemeleisten.(SieheauchKapitel4,indemesumdieKostenfürdieGrundversorgungbzw.<br />
Grundsicherunggeht.)DerSoVDunddieVolkssolidaritätfordern,dasssichUnternehmen<br />
sowieVerdiener<strong>von</strong>hohenEinkommenundVermögenwiederstärkeranderFinanzierung<br />
beteiligensollten.<br />
Grundlage der Vorschläge in „Sozialabbau stoppen. Sozialstaat stärken“ ist eine<br />
AnalysederSozialwissenschaftlerChristophButterweggeundCarolinReißlandt.DieAutorensehendenUm-undAbbaudesSozialstaateszueinemWettbewerbstaat,indemdasSozialezunehmenddenwirtschaftlichenInteressenuntergeordnetwird.ImbisherigenSozialversicherungsstaat–vorderAgenda2010undHartz-IV(d.V.)–führtendieBeitragszahlungen<br />
automatisch zu gesetzlich verankerten Leistungsansprüchen. Der jetzige, und<br />
vielmehrnochderzukünftige,FürsorgestaatbeschränkesichjedochnurnochaufeineBasisversorgung<br />
und die bloße Existenzsicherung. „Die zunehmende Privatisierung sozialer<br />
RisikenisteinIrrweg“,stelltSoVD-PräsidentAdolfBauerfest. 321 DieseneuegesellschaftspolitischeAusrichtunghatfürbeideAutoreneinehistorischeBedeutung.„Esgehtlängst<br />
nichtmehrumeinpaarEurooderCentmehrfürdieseoderjeneBetroffenengruppe,seien<br />
esArbeitslose,MenschenmitBehinderungenoderRentner,sondernumdieSchlüsselfrage,<br />
inwasfüreinerGesellschaftwirkünftiglebenwollen:SolleseinFürsorge-,Almosen-und<br />
SuppenküchenstaatmitnochmehrArmutundsozialenProblemenodereinesolidarische<br />
Bürgergesellschaft sein, in der das bald 60 Jahre gültige Sozialstaatsgebot des Grundgesetzesweiterhinbeherzigtwird.“<br />
322<br />
319 Bertolt Brecht, http://de.wikipedia.org/wiki/Strukturelle_Gewalt, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />
320 vgl. http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/<br />
broschuere_sozialabbau.pdf, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />
321 http://www.sozialabbau-stoppen.de/1289.0.html letzter Zugriff: 16.12.2009<br />
322 http://www.sozialabbau-stoppen.de/1289.0.html, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />
51
3.2<br />
Rechtsverlust und Zwang zur Arbeit<br />
3.2 RechtsverlustundZwangzurArbeit<br />
„Mit dem SGB-II-Optimierungsgesetz wird Hartz IV keinen Deut besser. Die<br />
Bundesregierung setzt auf verschärfte Kontrollen und Kürzungen, ohne die<br />
Arbeitsförderung zu verbessern. Damit wird das Prinzip Fördern und Fordern immer mehr<br />
zu einer Blaupause für Sozialabbau.“ 323<br />
Derneue„AktivierendeStaat“hatfürdieArbeitslosen–dieeigentlichErwerbslose<br />
genanntwerdenmüssten–weitreichendeKonsequenzen.DieErwerbslosenwerdeninihren<br />
Rechtenzunehmendbeschnittenund<strong>von</strong>ihnenwirdvorauseilenderGehorsamgefordert.<br />
Denn noch bevor der Staat den Bedürftigen die soziale Existenzgrundlage gewährt, verlangterZugeständnisseundEinverständniserklärungen.<br />
DerSoziologeFrankRentschler<br />
stelltinseinemEssay„VorauseilenderGehorsamgegenüberdemStaat“fest,dassselbstvorauseilenderGehorsamunddieUnterwürfigkeitkeineGarantiefürdieGewährleistungist.<br />
ObundwievielderBedürftigeerhält,liegtimErmessensspielraumdes„Fallmanagers“,der<br />
dem‚Kunden‘–wiederBedürftigeimoffiziellenSprachgebrauchderBehördegenanntwird<br />
–zugeteiltwird.DerStaatschafftsichdamiteineArmee<strong>von</strong>Untertanen,überdieerbedingungslosverfügenkann.<br />
324 DieAndrohung<strong>von</strong>SanktionenistdasneueMittel,umden<br />
BedürftigendieDienstleistungenderneugeschaffenenArbeitsgemeinschaften(ARGE)aus<br />
BundesagenturfürArbeitundKommuneaufzuzwingen. 325 326<br />
323 Ursula Engelen-Kefer, ehem. stellvertretende DGB-Vorsitzende, 2006, http://www.dgb.de/<br />
presse/pressemeldungen/pmdb/pressemeldung_single?pmid=2770, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />
324 vgl. Rentschler 94<br />
325 vgl. Rentschler 112<br />
326 Innerhalb des Aufgabenbereichs ist die Bundesagentur für die Bundesmittel, wie Gelder zur Vermittlung<br />
in Arbeit und Regelleistung, zuständig. Die Kommune ist für die Kosten der Unterkunft und Heizung nach<br />
§ 22 SGB II zuständig. In der Vergangenheit haben sich aus diesem Zusammenschluss zwei Arten der<br />
Aufgabenerledigung ergeben. Arbeiten die Kommunen und die Agenturen für Arbeit kooperativ miteinander<br />
zusammen – was überwiegend passiert -, wurden dafür meist so genannte Arbeitsgemeinschaften (ARGEn)<br />
eingerichtet. Diese ARGEn richteten dann wiederum Jobcenter ein, um die übertragenen Aufgaben<br />
erfüllen zu können. Konnten sich die Agenturen für Arbeit und die Kommunen nicht auf die Bildung<br />
einer Gemeinschaft einigen, so arbeiten sie additiv und erbringen ihre Leistungen nebeneinander in einer<br />
„Getrennten Trägerschaft“. Kommune und Agentur für Arbeit sind organisatorisch <strong>von</strong>einander getrennt.<br />
Im Dezember 2007 entschied das Bundesverfassungsgericht(BVG)nach einer Verfassungsbeschwerde<br />
<strong>von</strong> elf Landkreisen, dass innerhalb einer Drei-Jahres-Frist die verfassungswidrige<br />
Bildung der Arbeitsgemeinschaften aus Agentur für Arbeit und Kommune neu gegliedert<br />
werden muss. Diese Frist läuft Ende 2010 ab. Nicht betroffen <strong>von</strong> dieser Aufforderung<br />
sind die „Getrennten Trägerschaften“ aus Kommune und Agenturen für Arbeit.<br />
Daneben gibt es 69 so genannte Optionskommunen – auch als Optionsmodell bezeichnet –<br />
als Versuch, die Arbeitslosen direkt vor Ort zu betreuen, das heißt, dort wieder in Arbeit zu<br />
bringen. Die Optionskommunen sind ein Feldversuch für die Betreuung <strong>von</strong> Arbeitslosen in<br />
Deutschland. Zur Zeit sind deutschlandweit 69 Kommunen – also ausschließlich Städte oder<br />
Landkreise – für die Bezieher des ALG II statt der Bundesagentur für Arbeit und der Kommunen<br />
zuständig. (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Optionsmodell, letzter Zugriff: 03.01.2010)<br />
52
3.3 ALGII–rechtlicher,sozialerundmateriellerVerlust<br />
3.3<br />
ALG II – rechtlicher, sozialer und materieller Verlust<br />
„Wenn uns Ungereimtheiten auffallen, gleichen wir die Daten mit anderen Ämtern ab.<br />
Im Extremfall behalten wir uns auch Hausbesuche vor. Wir haben den Ehrgeiz, den<br />
Missbrauch <strong>von</strong> Sozialleistungen so gering wie möglich zu halten – aber eine gewisse Quote<br />
wird es immer geben.“ 327<br />
DieALG-II-EmpfängerwerdensostarkwieniezuvorinihremsozialenUmfeldkontrolliert–füralleALG-II-EmpfängerbestehteinZwangzurArbeit.ImoffiziellenSprachgebrauchwirdderZwangzurArbeitmitderFormel„FördernundFordern“umschriebenund<br />
diePflichtarbeitwird„HilfezurArbeit“.<br />
SelbsthoheBundesrichtersehenim„ViertenGesetzfürmoderneDienstleistungen<br />
amArbeitsmarkt“(HartzIV)einenvollständigenBruch<strong>von</strong>Rechtsauffassungen,diedazu<br />
führen, dass sich der liberale Rechtsstaat grundsätzlich verändert. Der Soziologe Frank<br />
RentschlerberuftsichaufProfessorUweBerlit,RichteramBundesverwaltungsgericht.Der<br />
hattefestgestellt,dassdieformuliertenMaßnahmenweitüberdasSozialrechthinausgehen.<br />
ImKernderReformgesetzeentledigtsichderStaatgegenüberdenALG-II-Empfängern<strong>von</strong><br />
derVerpflichtung,ihnenihrepersönlichenRechteverbindlichzugewähren.SelbstdieMöglichkeit<br />
die Rechte gegenüber dem Staat einzuklagen, wird den ALG-II-Empfängern genommen.<br />
Denn Festlegungen der Fallmanager seien Ermessensentscheidungen und somit<br />
nichteinklagbar. 328 <br />
Alle„Kunden“SGBIIwerdendurchdas„Aktivieren“unddas„FördernundFordern“rechtlichdegradiert.EineStudiederUniversitätBielefelduntersuchte2008dieEinstellung<strong>von</strong>107FallmanagerngegenüberderenKunden.<br />
329 Ausführlichbeschäftigtesich<br />
derSoziologeOlafBehrendinseinemEssay„AktivierenalsFormsozialerKontrolle“mit<br />
derEinstellungderFallmanager.DasFazit:DurchdasSGBIIwirdderUmgangderARGEn<br />
mit ihren Kunden zu einer Form der sozialen Kontrolle. Wurden bisher schon Verstöße<br />
gegengesetzlicheRegelungenbestraft,sokönnenmitdenReformenunddensichdarausergebendenMöglichkeitenjetztauchdieinnerenHaltungenundMeinungenbestraftwerden.<br />
NichtdieHilfe,wiederArbeitzufinden,sonderndieBildungderrichtigen„Gesinnung“für<br />
dieArbeitstehtimVordergrund. 330<br />
DieAusrichtungaufdieBildungderrichtigenGesinnungzeigtsichvoralleminRegionenmithoherArbeitslosigkeit.IndiesenRegionenistdiezentraleAufgabederArbeitsvermittlunglängstindenHintergrundgetreten.Dort,wokeineArbeitsplätzevermitteltwerden<br />
können,müssendieErwerbslosentrotzdemihrenWillenzurArbeitzeigen–ihnenwirddie<br />
Kooperationabverlangt,unbedingtwiederinArbeitkommenzuwollen.Die„Aktivierung“<br />
–dieSchaffungderBereitschaftdesEinzelnenzujeglicherArbeit–istderKern<strong>von</strong>„FördernundFordern“.DieobjektiveSituationaufdemArbeitsmarktspieltdabeilängstkeine<br />
Rolle mehr. Die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse <strong>von</strong> Arbeit und Beschäftigung<br />
werdenzusubjektiven–vomWillenundderBereitschaftdesEinzelnenabhängige–Leistungen.DieSchuld,keineArbeitzubekommen,hatalleinderBetroffene.Alleinseinfeh-<br />
327 Heinrich Alt, Mitglied des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit, 2004, http://www.<br />
labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/hilfe/zitate.html, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />
328 vgl. Rentschler 94 f<br />
329 vgl. http://www.bpb.de/publikationen/BZTN0Z,0,0Arbeitslosigkeit%3A_<br />
Psychosoziale_Folgen.html, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />
330 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,4,0,Akti<br />
vieren_als_Form_sozialer_Kontrolle.html#art4<br />
53
3.3 ALGII–rechtlicher,sozialerundmateriellerVerlust<br />
lenderWilleundseinefehlendeEinsichtverhinderneinneuesArbeitsverhältnis,wirdihm<br />
eingeredet. Dass die Arbeitsvermittler diese Haltung in der überwiegenden Mehrzahl gegenüberihrenKundenhaben,undnureineMinderheitderVermittlerdieseSubjektivierungablehntundrichtigerweisederMeinungist,dassnichtdereigeneWille,sonderndieobjektiveLageamArbeitsmarktentscheidendist,bestätigtedieStudiederUniversitätBielefeld.<br />
331 <br />
EinesüddeutscheArbeitsvermittlerin,diesichdemPrinzipderSubjektivierungentzieht,<br />
wird zitiert: „Langzeitarbeitslose härteres Regiment? Greift man ‚nem nackigen<br />
MannindenSack.(…)Aberessindsehrviele,dasliegtganzeinfachamMarkt,ja?Jetzt,<br />
wassollichdenndafüreinhärteresRegimentführen,wenndieLeut‘nichtsfinden?Was<br />
sollichdenndamachen,sollichsieerschießen?“ 332<br />
DassüberwiegendaberdieMeinungdersubjektivenSchuldvorherrscheunddiese<br />
imBehördenalltagauchgefördertwird,bewieseineUntersuchungdesBerlinerArbeitslosenzentrums(BALZ),diedieMeinungenundErfahrungenmitBerlinerJobcenternuntersuchte.20Prozenterklärten,dassbeiihremletztenKontaktzumArbeitsvermittlerkeinefreundlicheGesprächsatmosphäregeherrschthabe.KnappeinDrittelfühltsichmitdemeigenenAnliegennichternstgenommenunddieHälftezumindestteilweiseabgewimmelt.80Prozent(!)derbefragtenJobcenter-KundensehenihreWünscheinderEingliederungsvereinbarungnichtberücksichtigt–fürdieüberwiegendenVereinbarungenwurdendemnachstandardisierteTextezugrundegelegt,diedieBesonderheitendesEinzelfallsnichtberücksichtigen.<br />
333 Darüber hinaus wurden häufig Eingliederungsvereinbarungen ohne ausreichendeBeratungundunterDruckabgeschlossen.<br />
334<br />
FürdiePolitikwissenschaftlerinGabrieleGillenwirktbeizweistelligenArbeitslosenquotenundeinemVerhältnis<strong>von</strong>30:1<strong>von</strong>ArbeitslosenzuoffenenStelleninRegionenim<br />
OstenDeutschlandsdieHartz-IV-FormelvomFordernundFördern„nochverlogenerals<br />
imWesten“. 335<br />
SchließlichkannnurdaArbeitgefundenwerden,woArbeitauchvorhandenist.In<br />
derjetzigenPraxishängtdieEntscheidungaufBewilligungdesALGIIbzw.derenHöhe<br />
nochzusehrvomErmessendesFallmanagersab,wodurchdieArbeitslosenimwesentlichen<br />
nichtgefördert,sonderngefordertwerden.InderStudiederUniversitätBielefeldwirdeine<br />
Vermittlerinzitiert:„UndjederKundesollaufseinenFüßenstehenundwennernurzuhundertEuroaufseineneigenenFüßenstehtundwirdenRestbezahlenmüssen.Aberertutwas<br />
underkannbeweisen,dassesihmernstist.“ 336<br />
DiesesZitatzeigtdenideologischenKernderneuenGesetzgebung.Arbeitumjeden<br />
Preis.DerBeweisfürdenWillenzurArbeitkannnurdurchdieAnnahmejeglicherArbeit<br />
erbracht werden. „Diese Fokussierung auf die Haltung entspricht nicht mehr der althergebrachtenDurchsetzungeinesGesetzes,gemäßderVerstößesanktioniertwurden.Diese<br />
NeuerungmachtimKerndieAktivierungderBürgergemäßderneuenSozialgesetzgebung<br />
aus“,soderSoziologeBehrend. 337<br />
331 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,4,0,Aktivieren_als_<br />
Form_sozialer_Kontrolle.html#art4, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />
332 http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,6,0,Aktivieren_als_<br />
Form_sozialer_Kontrolle.html#art6, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />
333 Die Eingliederungsvereinbarung wird zwischen der Behörde und dem Erwerbsfähigen<br />
geschlossen. In ihr wird schriftlich festgehalten, welche Leistungen der Betroffene zur<br />
Eingliederung in Arbeit <strong>von</strong> der Behörde erhält, und welche Bemühungen er <strong>von</strong> seiner Seite aus<br />
vorzunehmen hat. Ziel ist, möglichst schnell den Bezug der staatlichen Hilfe zu beenden. Die<br />
Eingliederungsvereinbarung bildet damit die Philosophie vom „Fördern und Fordern“ ab.<br />
334 vgl. http://www.beratung-kann-helfen.de/die-aktion/umfrage-ergebnisse.pdf, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />
335 Gillen 231<br />
336 http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,4,0,Aktivieren_als_<br />
Form_sozialer_Kontrolle.html#art4, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />
337 http://www1.bpb.de/publikationen/1HAX2X,4,0,Aktivieren_als_<br />
Form_sozialer_Kontrolle.html#art4, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />
54
3.3 ALGII–rechtlicher,sozialerundmateriellerVerlust<br />
DieAgenturenfürArbeitmutiertenmitdemSGBII(HartzIV)zueinerKontroll-<br />
und Bestrafungsbehörde des Handelns und Denkens, der Einstellungen und der Gesinnungen,resümiertderPublizistRudolfStumbergerdieStudiederUniversitätBielefeld.<br />
338<br />
In einer vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) – einer ForschungseinrichtungderBundesagenturfürArbeit–anlässlichdesfünfjährigenBestehens<br />
<strong>von</strong>HartzIVvorgelegtenStudie,wirdausderWirkungsforschungzumSGBII„diebisher<br />
grundsätzlichpositiveEinschätzungdereinschneidendenNeuordnungderGrundsicherung<br />
fürErwerbsfähige“bestätigt. 339 DieumfassendeAktivierung–alsKernstückdesSGBII–<br />
dieaufeineStärkungderEigenverantwortungundAutonomiederBetroffenenzielt,konnte<br />
zwar„nichtvollzumTragen“kommen,abermitihrkonnteschondiestrukturelleArbeitslosigkeitverringertwerden.FürdasIABstehtfest,dassdasSGBIIeinerVerfestigungderLangzeitarbeitslosigkeitinKrisenzeitenentgegenwirkenkannundsomitwirdsichderkünftigeWirtschaftsaufschwungbeschäftigungsfreundlichergestaltenals„esinderAltenWelt<br />
derFallgewesenwäre“. 340 UnddeshalbsollteauchinderKrisenzeitanderaktivierenden<br />
Arbeitsmarktpolitik festgehalten werden, damit „bereits erreichte Erfolge nicht verspielt<br />
werden.“ 341 DerArbeitsmarktdürftealso<strong>von</strong>denReformenmittelfristigprofitieren. 342 <br />
DermaterielleKernderHartz-Reformenist:dievorherstatuserhaltendeArbeitslosenhilfewirddurchdasALGIIersetzt,dasnundenLebensunterhaltsichernsoll.ZumVerständnis:seit1969standdemBetroffenenzuerstdasArbeitslosengeld–alsLeistungaus<br />
einereingezahltenVersicherung–unddanachalsAnschlussleistung,dieArbeitslosenhilfe–<br />
eineMischungausVersicherungundstaatlicherFürsorge–oderdieoriginäreArbeitslosenhilfe–gesetzlichzu.<br />
343<br />
ErstnachdemAblaufderZahlungderArbeitslosenhilfefolgtedieZahlungderSozialhilfealsFürsorgeleistung,diesichnachderBedürftigkeiterrechnete.<br />
SeitdemJahr2005gibtesnochdasArbeitslosengeldI(ALGI).Unddasauchnur<br />
nochfüreinJahrbeziehungsweise18Monatefürüber55jährige.NachAblaufdieserFristen<br />
erhältderBedürftigedasArbeitslosengeldII(ALGII).ImALGIIwurdendieArbeitslosenhilfeunddieSozialhilfe„vereint“.<br />
344 <br />
Der Soziologe Frank Rentschler stuft das ALG II als Bewährungshilfe ein. 345 Die<br />
BezeichnungalsBewährungshilfeistsicherumstritten,abernichtganz<strong>von</strong>derHandzu<br />
weisen.DennderALG-II-Bezieheristverpflichtet,jedealszumutbardefinierteArbeitanzunehmen,damiterdieRegelleistungerhält.ErstwennderFallmanagerda<strong>von</strong>überzeugtist,<br />
dassderAntragstellereingliederungswilligbzw.eingliederungsfähigist,wirdeinVertrag<br />
für„LeistungenzurSicherungdesLebensunterhaltsnachdemZweitenBuchSozialgesetzbuch(SGBII)–ArbeitslosengeldII/Sozialgeld“abgeschlossen.<br />
338 vgl. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30050/1.html, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />
339 vgl. http://doku.iab.de/kurzber/2009/kb2909.pdf, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />
340 http://www.iab.de/UserFiles/Media/Audio/ad/5jahrehartz4/<br />
iab_pk5j_02_low.mp3, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />
341 http://doku.iab.de/kurzber/2009/kb2909.pdf, letzter Zugriff: 16.12.2009<br />
342 In einem Interview zu der Veröffentlichung der Studie, betonte der IAB-Vizedirektor Ulrich Walwei<br />
den geringen Anstieg der SGB-II-Empfänger um nur 2,8 Prozent zum Vorjahr. Die Zahl der ALG-<br />
I-Empfänger stieg aber in Folge der Wirtschaftskrise um 18,5 Prozent. Für Walwei zeigt sich daran,<br />
wie robust das Hartz-IV-System ist und dass die Wirtschaftskrise vor allem die ALG-I-Empfänger<br />
getroffen hat. Er sieht aber auch schon jetzt eine Verschlechterung der Lage der Hartz-IV-Empfänger;<br />
„Die Wirtschaftskrise und ihre Folgen werden somit doch nicht spurlos an der Grundsicherung<br />
vorübergehen.“ (http://www.iab.de/UserFiles/Media/Audio/ad/5jahrehartz4/iab_pk5j_02_low.<br />
mp3, letzter Zugriff: 16.12.2009) Er rechnet damit, dass es im Jahr 2010 mehr Übergänge aus der<br />
Arbeitslosenversicherung zu Hartz IV und weniger Abgänge <strong>von</strong> Hartz IV in die Beschäftigung geben wird.<br />
343 Im Jahr 2000 wurde die originäre Arbeitslosenhilfe abgeschafft. Das war eine<br />
Arbeitslosenhilfe ohne vorherigen Bezug <strong>von</strong> Arbeitslosengeld, die beispielsweise<br />
ein Facharbeiter erhielt, der nach der Lehre keinen Job fand.<br />
344 vgl. Rein 119<br />
345 vgl. Rentschler 97<br />
55
3.4<br />
Der Ein-Euro-Job<br />
3.4 DerEin-Euro-Job<br />
„Hier wird, und ich sage das wirklich so knallhart, der Reichsarbeitsdienst im neuen<br />
Gewand eingeführt…“ 346<br />
Erwerbslosemüssenseitdem1.1.2005jedealszumutbardefinierteArbeitannehmen,<br />
umALGIIohneEinschränkungzuerhalten.EinederamhäufigstenvomFallmanagereingesetzteMöglichkeitistdieVermittlungindiesogenanntenArbeitsgelegenheiten,besser<br />
bekannt auch als Ein-Euro-Jobs. Sie sind ein zentrales Element der Arbeitsmarktpolitik.<br />
DabeidarfderBetroffene0,70EurobismaximalzweiEuroproStundedazuverdienen.<br />
DerErwerbslosemuss–oberwillodernicht–seinenWillenzurArbeitdurchdie<br />
AnnahmeeinessolchenJobsunterBeweisstellen.Ein-Euro-JobssindüberwiegendgemeinnützigeTätigkeitenetwainderLandschaft-undDenkmalpflege,imUmweltschutz,inder<br />
Altenpflege oder in der Jugendarbeit. Die vorher durch den Bildungs- und Berufsweg angelernten<br />
Kompetenzen und Fähigkeiten werden bei der Zuteilung der Jobs nicht mit berücksichtigt.<br />
Selbst Akademiker müssenParks, Bürgersteige und Schwimmbäder säubern<br />
oderSeniorendieZeitungvorlesen.NochvielproblematischeristderUmstand,dassEin-<br />
Euro-JobskeineArbeitsverhältnisseimSinnedesArbeitsrechtssind–alleEin-Euro-Jobber<br />
arbeitenjuristischgesehennichtineinemBetrieb.DamitwirdwederderLohnimKrankheitsfall<br />
fortgezahlt, noch wird eine Unfallrente im Falle eines Unfalls ausgezahlt. Auch<br />
dieBestimmungendesKündigungsschutzgesetzesoderdesTarifvertragsgesetzessindnicht<br />
gültig.VonQualifizierungsmaßnahmenwerdendieBillig-JobberindenallermeistenFällen<br />
ausgeschlossen.Außer30TageUrlaubimJahrhabendieEin-Euro-Jobberkeineweiteren<br />
Arbeitsrechte.<br />
Allen Erwerbslosen, die einen Ein-Euro-Job ausüben – gewollt oder gezwungen –<br />
gehenvielewichtigeRechteverloren,dieBeschäftigte<strong>von</strong>sozialversicherungspflichtigenArbeitsplätzeneinklagenkönnen.<br />
347 Auchdasistpolitischgewollt:Ein-Euro-Jobbergeltenbei<br />
einerWochenarbeitszeit<strong>von</strong>15undmehrStundennichtalsarbeitslosundfallendamitaus<br />
derArbeitslosenstatistik. 348<br />
346 Frank Spieth, DGB-Chef Thüringen, 2004, http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/<br />
docpage.cfm?docpage_id=3465&language=german, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />
347 vgl. Gillen 56 f<br />
348 vgl. Gillen 57<br />
56
3.5<br />
Sanktionen verschärfen Zwang zur Arbeit<br />
3.5 SanktionenverschärfenZwangzurArbeit<br />
„Es gibt sicher auch Fälle, wo man die Härte sieht, aber wo man das Gesetz<br />
ausführen muß.“ 349<br />
DieErwerbslosen,diemitdeno.g.ZumutungenkeineProblemehabenundsozialen<br />
AbstiegundDeklassierunghinnehmen,werden<strong>von</strong>derBAnichtweiterbelangt. 350 <br />
Denjenigenaber,diesichunwilligzeigen,nahezujedeArbeitanzunehmen,drohen<br />
SanktionenundStrafen.WasjedemBetroffenenzugemutetwerdendarf,wurdemitderEinführungdesALGIInochverschärft.Unabhängig<strong>von</strong>derQualifizierungoderderNeigung,mussjederBetroffeneeinealslegaleingestufteArbeit–einenichtsittenwidrigeArbeit–annehmen.DabeidarfdenBetroffenenaucheineEntlohnungzugemutetwerden,diebiszu30<br />
ProzentunterdemTarifoderdersonstvorOrtüblichenBezahlungliegt.(SieheEin-Euro-<br />
Job)<br />
Wer sich den Zumutungen widersetzt oder sich nicht an die Vereinbarungen hält,<br />
demwirdderRegelsatzum10Prozentoder30ProzentgekürztoderimschlimmstenFall<br />
sogar ganz gestrichen. 351 Dabei genügt es schon, beispielsweise auf seiner Berufsidentität<br />
zubeharren.AlleRegelungen–alleSanktionenundStrafen–zieleneindeutigundnachweisbaraufdieDisziplinierungderArbeitslosen.„NichtnurdieZurückweisungeinerArbeitwirdsanktioniert,sondernalleinschondienichtHartzIV-kompatibleEinstellung,miteinemerlerntenBerufausreichendGeldzumeigenenUnterhaltzuverdienenundsoeinnormales<br />
Leben führen zu wollen. Die Arbeitsbehörden werden so praktisch zur Schule der<br />
ArmutundDemut–dieArmen-undArbeitshäuserdes19.Jahrhundertslassenideologisch<br />
grüßen.“ 352<br />
DerZwangzurArbeitbzw.Zwangsdienstegabesschonimmer–wiebereitsinden<br />
erstenKapitelngeschildert.Wenn„jemandnichtwillarbeiten,dersollauchnichtessen.“ 353 <br />
IneinemAufsatzsiehtderSoziologeHaraldReindiehistorischeKontinuitätsowohlbeiden<br />
FormenderArbeitslosenunterstützungen,derWohlfahrt,beidenerzwungenenArbeitseinsätzen<br />
als auch im Arbeitslosenrecht, dem Fürsorgerecht bzw. beim Sozialrecht. Ähnlich<br />
wieWulfundFoucaultbeschreibtReindieArbeit<strong>von</strong>altersheralsAllheilmittel–ganz<br />
gleichwelcherArtundwelchemZweckdieArbeitdabeidient.ArbeitdientderHeilung<br />
einesvermuteten,unterstelltenodereingeredetenMüßiggangesoderalsVoraussetzungfür<br />
Fürsorge-bzw.Sozialleistungen.GemeintistaberdabeinichtdieLohnarbeitzurExistenzsicherung,sonderndieArbeitumjedenPreis–dieArbeitalsMittelzurDisziplinierung.<br />
354 <br />
ReinerkenntindergeschichtlichenEntwicklunggroßeÄhnlichkeitensowohlbeimAusbau<br />
derZwangsinstrumentealsauchbeiderArtundWeiseder<strong>Gestaltung</strong>desSozialabbaus. 355 <br />
InseinerDarstellungderEntwicklungderWeimarerRepublikbisheutesiehterimSozialhilfe-wieimArbeitslosenrechtdurchgehendmittelalterlicheFormenderArbeitsbuße.<br />
349 Uwe Nebel, stellvertretender Leiter der Bochumer ARGE, 2005, http://www.labournet.<br />
de/diskussion/arbeit/realpolitik/hilfe/zitate.html, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />
350 Der FDP-Fraktionsvize im Berliner Abgeordnetenhaus Henner Schmidt schlug sogar vor, dass verarmte<br />
Berliner zukünftig Ratten jagen und töten könnten. Das Gesundheitsamt werde wegen mangelnder Mittel nicht<br />
allein mit der Berliner Rattenplage fertig. Pro toter Ratte soll es einen Euro geben. Henner Schmidt empfand<br />
diese Idee besser als das Sammeln <strong>von</strong> Flaschen und die Abgabe gegen Pfand. (vgl. http://www.morgenpost.<br />
de/berlin/article999249/Hartz_IV_Empfaenger_sollen_Ratten_jagen.html, letzter Zugriff: 17.12.2009)<br />
351 vgl. Gillen 18<br />
352 www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30050/1.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
353 Neues Testament, 2. Brief an die Thessalonicher, Kap. 3, V. 10<br />
354 vgl. Rein 109<br />
355 vgl. Rein 112 f<br />
57
3.5 SanktionenverschärfenZwangzurArbeit<br />
„Laborenutrior,laboreplector–DurchArbeitwerdeichgemacht,durchArbeitbüße<br />
ich“habeschonamZucht-undArbeitshausHamburggestanden–„unddieseAuffassung<br />
scheintinArbeitsagenturenundJobcenterEinzugzuhalten“,soderAutor. 356 357<br />
Allen Regelungen zur Unterstützung liegt das Prinzip zugrunde, dass der Arbeits-<br />
bzw. Erwerbslose bei sich das Verschulden der misslichen Situation gegenüber der Gesellschaftsiehtodersehenmuss.<br />
358 DiesemPrinzipfolgtauchdasALGII,indemesdem<br />
WunschdesBeziehendennachLeistungdieAufforderungnacheinerGegenleistungvoranstellt.BeiVerweigerungwirddieLeistunggekürztoderentzogen.LeistungenbedingenGegenleistungen.Oderandersausgedrückt:Wernichtarbeitet,dersollauchnichtessen.<br />
359 Für<br />
ReinsinddieerzwungenenArbeitseinsätzeverstärktBestandteildesaktivierendenautoritärenSozialstaates.ErsiehtdurchdieAgenda2010bzw.HartzIVsogardenVersuch,füralleALG-II-Beziehenden–insbesonderediejugendlichenErwerbslosen–„einennichtmilitarisiertenkommunalenArbeitsdienst“einzuführen.<br />
360<br />
FürReinsinddie„ArbeitsgelegenheitenmitMehraufwandsentschädigung“–heute<br />
werdensiealsEin-Euro-Jobsbezeichnet–nichtsNeues.BereitsinderWeimarerRepublik<br />
undzuBeginndesNationalsozialismushabeessiegegeben.DamalshießensieNotstandsarbeiten,Pflichtarbeiten,freiwilligerArbeitsdienstoderFürsorgearbeiten.<br />
361 Auchdamals<br />
hießes,allearbeitsfähigenWohlfahrtserwerbslosensindverpflichtet,dieihnenangebotene<br />
Pflichtarbeitaufzunehmen.Werdiesignoriert,„wirdwegenbeharrlicherArbeitsverweigerung<br />
entsprechend behandelt.“ Das ist ein Zitat aus der Frankfurter Pflichtarbeit-VerordnungvomOktober1933.Sinngemäß,soRein,„findetsichdieseVorschriftimHartzIV-<br />
Gesetzwieder.“ 362<br />
Gesetzlich festgeschrieben waren die „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“<br />
später als Bestandteil des Bundessozialhilfegesetzes in ihrer Bezeichnung<br />
als„HilfezurArbeit“oderimArbeitslosenrechtals„Gemeinschaftsarbeiten“.Neuistmit<br />
HartzIVdieZusammenfassungderBetroffenen–früherwurdensiealsArbeitslosenhilfe-<br />
undSozialhilfeempfängergetrenntbehandelt–zueinemPersonenpool. 363 Ausdiesemkönne<br />
dieBundesagenturfürArbeitbzw.diegebildetenArbeitsgemeinschaftenschöpfenundversuchen,<br />
flächendeckend Arbeitskräfte an die Anbieter <strong>von</strong> Arbeitsangelegenheiten zu vermitteln.<br />
364 ZumBeispielandieKommunen,diemitdemEinsatz<strong>von</strong>niedrigstbezahltenArbeitskräfteninverschiedenstenBereichenvielGeldsparen.<br />
DarüberhinausäussertReingrundrechtlicheBedenkengegenüberdererzwungenen<br />
Arbeit.InBerufungaufdenArtikel2desÜbereinkommensderInternationalenArbeitsorganisationILO–nachdemZwangs-undPflichtdienstedefiniertsindals„jedeArt<strong>von</strong>ArbeitoderDienstleistung,die<strong>von</strong>einerPersonunterAndrohungirgendeinerStrafeverlangtwirdundfürdiesiesichnichtfreiwilligzurVerfügunggestellthat“–istesausdrücklichverboten,MenschenzurArbeitzuzwingen.<br />
365 DieBundesregierunghatdieseVereinbarungmit<br />
unterschrieben.Daranhältsiesichabernicht. 366<br />
356 Rein 109<br />
357 Die Arbeitshäuser wurden in der BRD erst 1974 abgeschafft und stattdessen Hilfe<br />
zur Arbeit eingeführt. Das beinhaltete gemeinnützige Arbeit für Sozialhilfeempfänger, die<br />
„arbeitsentwöhnt“ sind oder deren „Arbeitsbereitschaft“ zu prüfen war. (vgl. Rein 119 ff)<br />
358 Für weitere Informationen bietet sich der Vergleich mit der Studie der Universität<br />
Bielefeld, die Olaf Behrend in seine Ausführungen einbezog, an. (vgl. http://www1.bpb.<br />
de/publikationen/1HAX2X,0,Aktivieren_als_Form_sozialer_Kontrolle.html)<br />
359 vgl. Rein 109<br />
360 Rein 111<br />
361 vgl. Rein 120 f<br />
362 Rein 112<br />
363 vgl. Rein 112<br />
364 vgl. ebd. 112<br />
365 http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/gc029.htm, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
366 vgl. Rein 114<br />
58
3.6<br />
Hartz IV macht krank<br />
3.6 HartzIVmachtkrank<br />
„Die Erhöhung <strong>von</strong> Hartz IV war ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie.“ 367<br />
Eine weitere wichtige Auswirkung des durch die Reformen entstandenen Rechteverlusts<br />
bzw. des Zwangs zur Arbeit soll noch erwähnt werden. Es ist umfangreich wissenschaftlichbewiesen,dassdieArbeitslosigkeitsowieerzwungeneArbeitkrankmachen<br />
können.DiePsychologenGiselaMohr<strong>von</strong>derUniversitätLeipzigundPeterRichter<strong>von</strong>der<br />
TUDresdenuntersuchtendiesinihrerStudie„PsychosozialeFolgen<strong>von</strong>Erwerbslosigkeit–<br />
Interventionsmöglichkeiten“. 368<br />
InnerhalbderStudiewirdbelegt,dassunterdenErwerbslosen–<strong>von</strong>denendieHälfte<br />
Langzeitarbeitslose sind – der Anteil der psychisch beeinträchtigten Personen doppelt so<br />
hochistwieinderGruppederErwerbstätigen.Erwerbslosesindhäufigerdepressivundaggressiv,ängstlichoderhabenpsychosomatischeBeschwerden.DieentscheidendenGründeliegeninderDauerderErwerbslosigkeitundinderschlechtenfinanziellenLage.DieWissenschaftlersehenandererseitseinendeutlichenRückgangderBeschwerdenbeieinerWiedereinstellung.VonsolcheinerpositivenRückbildungderBeschwerdenausgenommenseienaberjene,dieinsogenannten„bad-Jobs“–alsoingeringbezahltenundungesichertenArbeitsverhältnissenmitgeringemArbeitsvolumen–landeten.<br />
369<br />
Den Wissenschaftlern zufolge ist es falsch, wie bei Hartz IV „eine überhöhte Arbeitsorientierungzuforcieren,unrealistischeHoffnungenzuwecken,Erwerbslosezuvielen,<br />
nicht Erfolg versprechenden Bewerbungsaktivitäten zu zwingen und KonzessionsbereitschaftinBezugaufjedeArt<strong>von</strong>Arbeitzufordern.DasbereinigtzwardieStatistiken,reduziertjedochdiepsychischenRessourcenderErwerbslosen–sofernsolchenochvorhandensind–undführtzugesellschaftlichenKostenanandererStelle,insbesondereimGesundheitswesen.“<br />
370<br />
Stattdessen, so fordern die Wissenschaftler, muss die Langzeitarbeitslosigkeit vermiedenwerden.AuchdiealternativenFormenderArbeit–ZweiterArbeitsmarkt,freiwilligeArbeit–könnennichtalsAuswegfürdiefehlendeErwerbsarbeit<br />
betrachtet werden,<br />
wennsienichtmaterielldieTeilhabeamgesellschaftlichenLebenabsichernkönnen.Auch<br />
derAuffassung,dassjedeArbeitbesseristalskeineErwerbsarbeit,müssewidersprochen<br />
werden.Erwerbslosigkeitseikeinpsychologisches,sonderneingesellschaftlichesProblem,<br />
welches „seine Fortsetzung derzeit in der zunehmenden Zahl <strong>von</strong> prekär Beschäftigten<br />
findet.“ 371<br />
In den Jahren <strong>von</strong> 1995 bis 2007 haben sich die versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse<br />
um 1,33 Millionen verringert, die nicht sozialversicherungspflichtiger<br />
Minijobs aber um 2,78 Millionen erhöht. Die überwiegende Zahl der neu hinzugekom-<br />
367 Philipp Mißfelder, Bundesvorsitzende der Jungen Union, z.Z. Außenpolitischer<br />
Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2009, http://www.spiegel.de/politik/<br />
deutschland/0,1518,608940,00.html, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />
368 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,0,Psychosoziale_Folgen_<strong>von</strong>_<br />
Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
369 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,1,0,Psychosoziale_Folgen_<strong>von</strong>_<br />
Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html#art1, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
370 http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,6,0,Psychosoziale_Folgen_<strong>von</strong>_<br />
Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html#art6, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
371 http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,6,0,Psychosoziale_Folgen_<br />
<strong>von</strong>_Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html#art6<br />
59
3.6 HartzIVmachtkrank<br />
menen sozialversicherungspflichtigen Minijobs waren dabei Frauenarbeitsplätze. Für die<br />
AutorenistdieLösungdesProblemsnichtdiestaatlichgeförderteArbeit,sonderndieProblemekönnennurdurchsozialversicherungspflichtigeJobsgelöstwerden.StaatlichgeförderteArbeitkönnedabeinureineÜbergangsregelungsein.<br />
372<br />
PositiverdagegenistdieMeinungdesDirektorsdesInstitutsfürArbeitsmarkt-und<br />
Berufsforschung(IAB)zudenFolgen<strong>von</strong>ErwerbslosigkeitundMini-Jobs.DassPersonen<br />
glücklicher sind, also weniger Beschwerden haben, bestätigt Joachim Möller zwar auch,<br />
aberfürihnsindauchschondie„PersoneninEin-Euro-Jobs(…)signifikantzufriedenerals<br />
Personen,dieausschließlichUnterstützungsleistungenerhaltenundüberhauptnichtindas<br />
Erwerbslebenintegriertsind.“ 373 NochzufriedenerseienMenschennatürlichdann,wenn<br />
esdenHilfebedürftigengelingt,einenauskömmlichenJobzuerhalten,soderIAB-Direktor<br />
weiter.EinengutenBeitragzurpositivenEntwicklungstellenfürihnWeiterbildungenund<br />
betrieblicheTrainingsdar.Diese„InstrumentederArbeitsmarktpolitik“sinddenUntersuchungendesIABzufolge,geradeaufmittel-undlangfristigeSichtguteMittel,dieauchbei<br />
Hartz-IV-EmpfängernpositiveWirkungenentfalten.WichtigistfürihndierichtigeBalance<br />
<strong>von</strong>„FordernundFördern“zuerreichenunddieAktivierungdarfnichtinsLeerelaufen. 374<br />
DerSoziologeHeinzBudesiehtinderexistenzsicherndenArbeitnichtnurdenBroterwerb,sondernaucheinenSchlüsselfaktorfürdieArtundWeisederTeilhabeamgesellschaftlichenLeben.OhnesiebefindemansichzumeistaußerhalbderGesellschaft,gehöre<br />
zu den Ausgeschlossenen, den Exkludierten. 375 Er zählt dazu auch die „Minijobber und<br />
Hartz-IV-Aufstocker,deneneskaumzumLebenreicht,KundenderBundesagenturfürArbeit,dieineinerMaßnahmekarriereverlorengegangensind“.<br />
376 IhrStatusseidadurchgekennzeichnet:„Wassiekönnen,brauchtkeiner,wassiedenken,schätztkeinerundwassie<br />
fühlen,kümmertkeinen.“ 377<br />
FürMarkusPromberger–dersichaufdieStudiederPsychologenMohrundRichter<br />
bezieht–sindweitgehendbesitzloseMenschennichtnurweitgehend<strong>von</strong>sozialerundwirtschaftlicher<br />
Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen. Beschränkt sind sie darüber hinaussindauchinihrerpolitischenunddemokratischenMitwirkung.<br />
378<br />
DerAusspruch„Arbeitistnichtalles,aberohneArbeitistallesnichts“bringtfür<br />
PrombergerdieseUmständedeutlichzumAusdruck. 379<br />
DerArbeitsloseisttatsächlichundausderSichtweisederAgenturfürArbeitkeinautonomerBürgermehr.UndderStaatistnichtmehreinOrganderVolkssouveränität.Der<br />
StaatwirdzueinerformalenOrganisation,diemitdemArbeitsloseneineTauschbeziehung<br />
eingeht.UndüberallemstehtdasMotto,dassderjenige,derHartzIVbezieht,auchdafür<br />
arbeitensoll.UndwennesauchnureinpaarEurosind.DurchdieseEntwicklungwirddie<br />
politischeVerbindungzwischenBürger,demsouveränenTrägerderStaatsgewaltundden<br />
Herrschaftsinstitutionenaufgelöst.MitdieserAuflösungwirdauchdiedemokratischeVerfasstheitaufgelöst.<br />
380<br />
372 vgl. http://www1.bpb.de/publikationen/X51ZT8,6,0,Psychosoziale_Folgen_<strong>von</strong>_<br />
Erwerbslosigkeit_Interventionsm%F6glichkeiten.html#art6, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
373 http://www.iab.de/UserFiles/Media/Audio/ad/5jahrehartz4/<br />
iab_pk5j_01_low.mp3, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
374 vgl. http://www.iab.de/UserFiles/Media/Audio/ad/5jahrehartz4/<br />
iab_pk5j_01_low.mp3, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
375 vgl. Bude 9 ff<br />
376 Bude 20<br />
377 Bude 15<br />
378 vgl. http://www.bpb.de/publikationen/AFXVT8,5,0,Arbeit_Arbeitslosigkeit_<br />
und_soziale_Integration.html#art5, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
379 vgl. http://www.bpb.de/publikationen/AFXVT8,5,0,Arbeit_Arbeitslosigkeit_<br />
und_soziale_Integration.html#art2, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
380 vgl. www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30050/1.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
60
3.6 HartzIVmachtkrank<br />
DerPolitikscheintdiesesDilemmaklarzusein.DennochwirdderWeginbisher<br />
gewohnterWeisefortgesetzt.DieBundeskanzlerinkündigteinihrerRegierungserklärung<br />
an:„WennwirdasVerhältnisdesBürgerszuseinemStaatwirklichverbessernwollen,dann<br />
istundbleibtesauchbeidieserAufgabedasWichtigste,Beschäftigungsbremsenzulösen<br />
undAnreizefürArbeitzuschaffen.Werfürsichselbervorsorgt,demmussderStaatdabei<br />
helfen.“ 381 DamitkündigtedieneueRegierungdasFortsetzenderPolitik<strong>von</strong>HartzIVan.<br />
WelcheanderenVorstellungenundAlternativenesgibt,wirdimKapitel4.0Zukunft<br />
<strong>von</strong>HartzIVbesprochen.<br />
381 http://www.angela-merkel.de/doc/091110-regierungserklaerungmerkel-stbericht.pdf,<br />
S.5, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
61
3.7<br />
Hartz IV macht Kinder arm<br />
3.7 HartzIVmachtKinderarm<br />
„Sozialhilfeempfänger werden keineswegs schöpferisch aktiv. Viele sehen ihren Lebenssinn<br />
darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hinein zu stopfen, vor dem Fernseher zu sitzen<br />
und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen. Die wachsen dann verdickt<br />
und verdummt auf.“ 382<br />
3.7.1<br />
Dialektik <strong>von</strong> Reichtum und Armut<br />
Bevor die Auswirkungen und Folgen <strong>von</strong> Hartz IV auf die Kinderarmut erörtert<br />
werden, sollen die grundsätzlichen Aspekte <strong>von</strong> arm und reich und ihr Verhältnis zueinanderdargestelltwerden.MögendieDatennichtimmerJahresaktuellsein,solassensich<br />
dennochausihnendasWesenunddieTrendsbzw.TendenzenbestimmterEntwicklungen<br />
ableiten.Schoninder„UnterrichtungdurchdieBundesregierung:LebenslageninDeutschland–ZweiterArmut-undReichtumsbericht“ausdemJahre2005stand:„HinterjederInterpretation<br />
des Armuts- und auch des Reichtumsbegriffs und hinter jedem darauf beruhendenMessverfahrenstehenWertüberzeugungen.DeshalbistauchdieAufgabe,Armut<br />
‚messbar‘zumachen,imstrengwissenschaftlichenSinnnichtlösbar.“ 383<br />
AlsmessbarerVergleichdientindieserArbeitdieeuropaweitanwendbareEU-Definition„EU-SILC“.DieseDefinitionvermeidetdenBegriff„arm“undbenutztstattdessenden<br />
Begriff„armutsbedroht“.Danachist<strong>von</strong>Armutbedroht,demwenigerals60Prozentdes<br />
mittlerenNettoeinkommensallerBürgerseinesLandeszurVerfügungstehen.<br />
AufdieBundesrepublikDeutschlandumgelegtheißtdas,dass13ProzentallerBundesbürgerschonimJahr2005ineinerSituationderArmutsbedrohungwaren–Tendenz<br />
steigend.DasistknappjederAchte.DamalsbeliefsichdierechnerischeRisikosummefür<br />
einenAlleinstehendenaufmonatlich781Euronetto.OhnezusätzlichesozialeTransferleistungenwärejedervierte(26Prozent)demRisikoderArmutausgesetztgewesen.<br />
384<br />
GrößterRisikofaktorfürArmutistdieArbeitslosigkeit,dannliegterbeimehrals<br />
42Prozent.EinhöheresBildungsniveauscheintdieGefahrderArmutzwarzusenken,ganz<br />
ausgeschlossenkanndieGefahrabernichtwerden.IndenJahren1997-2004stiegdieArmutsquotebeidenAbsolventen<strong>von</strong>FachhochschulenundUniversitätenummehralsdas<br />
Doppelte<strong>von</strong>2,3Prozentauf5,2Prozent. 385<br />
Darüberhinauslässtsicherkennen,dasssichdieEinkommenweiterauseinanderbewegen.Am„oberen“undam„unteren“RandderEinkommensverteilungfindensichimmer<br />
mehr Menschen. Es gibt also immer mehr Armutsgefährdete, weniger „Mittelschichtler“<br />
undmehrMenschenmithohemEinkommen.<br />
Alsreichgiltdemnachderjenige,demalsAlleinstehenderüber200ProzentdesmittlerenNettoeinkommensallerBürgerseinesLandeszurVerfügungstehen.FüreinenSingle<br />
382 Oswald Metzger, ehem. Mitglied der SPD und Bündnis 90/Die Grünen, z.Z. CDU, http://www.stern.<br />
de/politik/deutschland/oswald-metzger-ich-bin-auf-dem-sprung-603071.html, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />
383 http://www.tagessschau.de/inland/armut20.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
384 vgl. http://www.tagesschau.de/inland/armutsbericht4.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
385 vgl. http://www.tagesschau.de/inland/meldung92688.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
62
3.7.1 Dialektik<strong>von</strong>ReichtumundArmut<br />
wärendas2602EuroproMonat.UmgerechnetaufdieGesamtbevölkerungsinddemnach<br />
6,4 Prozent oder ist jeder 16. einkommensreich. Besonders die Unternehmer, SelbstständigenunddieBeamtenverfügenüberhohefinanzielleZuflüsse.<br />
386 <br />
Das Statistische Bundesamt bezieht sich auf eine EU-weite Befragung über EinkommenundLebensbedingungen(EU-SILC)unterdemTitel„ErgebnisseausLEBENIN<br />
EUROPA2008“.Etwa15ProzentderDeutschenwaren2007durchArmutgefährdet,also<br />
fast jeder Siebente. Ohne soziale Leistungen des Staates würde das sogar nahezu jeden<br />
Viertenbetreffen.DieArmutsgefährdungbeiAlleinerziehendenistbesondershoch,siestieg<br />
auf36Prozent.AberauchArbeitschütztnicht:2007waren7ProzentderErwerbstätigen<br />
<strong>von</strong>sogenannterArbeitsarmutbedroht.Dasbedeutet,dassjeder15.einEntgeltunterhalb<br />
derArmutsgrenze–alsoeinsogenanntesÄquivalenzeinkommen<strong>von</strong>wenigerals913Euro<br />
monatlich,2006:885Euromonatlich,2005:781Euro–erhielt.Besondersbetroffensind<br />
ArbeitslosevomAbrutschenindieArmut.56Prozentwarendadurchgefährdet,dasistein<br />
Plus<strong>von</strong>fünfProzentgegenüber2006. 387<br />
Der Soziologe Michael Klundt betont, dass die Betrachtung <strong>von</strong> Armut oder<br />
ReichtumalsobjektivesodersubjektivesPhänomenimwesentlichen<strong>von</strong>derjeweiligenpolitischen-normativenFestlegungabhängt.<br />
388 Gemeintistdamit,dasssichdieBetrachtung<br />
<strong>von</strong>ArmutundReichtumimmerdanachrichtet,mitwelchemInteresseundmitwelcherAbsichtdieUntersuchungvorgenommenwurde.Klundtverweistdarauf,dassimArmuts-und<br />
ReichtumsberichtdieInformationenüberdenReichtumnurbeschränktdargestelltwerden.<br />
DerBerichtgehtseinerMeinungnachbewusstverharmlosendmitdemBegriffReichtum<br />
umundlässtnichterkennen,wohererkommt,unddasszwischenArmutundReichtumein<br />
dialektischerZusammenhangbesteht. 389<br />
DerPräsidentdesifo-InstitutsMünchenHans-WernerSinnkritisiertdieErhebungen<br />
desArmut-undReichtumsberichtsnochauseinemanderenGrund.Zum3.Armut-und<br />
ReichtumsberichtausdemJahr2008sagtersinngemäß,dassdiedortaufgeführteThese,<br />
wonachjederAchteinArmutlebt,falschistunderbezeichnetdenArmutsberichtinsgesamt<br />
als„BedarfsgewichtetenKäse.“ 390 DennindemBerichtsei<strong>von</strong>Armutsrisikoundnicht<strong>von</strong><br />
derArmutdieRede.AuchHartz-IV-Empfängersindnichtarm,sieseienallerdingsArmut<br />
gefährdet,denndieentsprechendeGrenzezurArmutsgefährdungliegebei781Euro.Für<br />
Hans-WernerSinnist„Kaumjemand,dersichinDeutschlandlegalaufhält“arm,under<br />
beziffertdieZahlderArmennachamtlicherDefinitionaufetwa4Prozent,alsoaufjeden<br />
25.. 391 SozialhilfeundALGIIsichernbeinormalenWohnkosteneinEinkommen,dasbei<br />
etwa55ProzentdesmittlerenNettoeinkommensliegt.Deutschlandistfürihn–gemessen<br />
anderrelativenReduktionderArmutsgefährdung–einerdergroßzügigstenSozialstaaten<br />
EuropasundderganzenWelt. 392<br />
Der Soziologe Heinz Bude betont dagegen, dass die Bundesregierung mit der Armutsrisikoquote<br />
nur das Sein der Armut erfasse. Es bestimmt aber das Bewusstsein der<br />
Armen.MiteinersolchenErfassungwirdnichtdassubjektiveWohlbefindenoderdiesozialeAnerkennungbzw.dieAusgrenzungerfasst.„Armutisteinrelativer,mehrdimensio-<br />
386 vgl. http://www.tagessschau.de/inland/armut20.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
387 vgl. http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/<br />
Presse/pm/2009/11/PD09__457__634,templateId=renderPrint.psml<br />
388 vgl. Klundt 36<br />
389 vgl. Klundt 40 f<br />
390 vgl. www.wiwo.de/politik/armutsbericht-bedarfsgewichteterkaese-293842/print/,<br />
letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
391 http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/armutsberichtbedarfsgewichteter-kaese-293842/,<br />
letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
392 vgl. http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/armutsberichtbedarfsgewichteter-kaese-293842/,<br />
letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
63
3.7.1 Dialektik<strong>von</strong>ReichtumundArmut<br />
nalerunddynamischersozialerSachverhalt.“ 393 FürBudeistdieArmutsrisikoquotefürdie<br />
DarstellungdersozialenLagenichtaussagekräftiggenug.Darüberhinausließesiesichauch<br />
nurkomplizierterrechnen.Budeschlägtdeshalbvor,denBegriff„Armutsverläufe“alsKriteriumeinerErfassungeinzuführen.DankderArmutsverläufekönnedanngenauerermitteltwerden,fürwendieArmutvorübergehendist,wermitknappenMittelnzurechtkommt,werimmerwiederindieArmutrutschtundbeiwemsichdieserZustandderArmutdauerhaftverfestigthat.BudeunterscheidetzwischenWohlstand,Knappheit,PrekaritätundArmut.<br />
394 ErunterteiltdieGesellschaftinviersozialeZonen:40ProzentderMenschenleben<br />
ineinerZonederSicherheit,20ProzentlebenineinerZonedernichtsicheren,aberintegriertenKnappheit,25ProzentlebenininstabilerPrekaritätund10Prozentinverfestigter<br />
Armut.<br />
DarüberhinausstelltBudeeinenBereich<strong>von</strong>10ProzenteinerveränderbarenArmut<br />
zwischendenunterenBereichenfest.InnerhalbderBundesrepublikgibtesfürihneinenbemerkenswertenUnterschied.InWestdeutschlandbildetsichzunehmendeineGruppeaus,<br />
diesichzwischenprekäremWohlstandundmanifestierterArmutaufundabbewegt.In<br />
OstdeutschlandwirddieZonederPrekaritätzwarkleiner,dafürwächstaberdieZoneder<br />
Armut insgesamt. Aus diesen Entwicklungen leitet Bude ebenfalls das bekannte Bild der<br />
Zweidrittel-Gesellschaftab. 395<br />
IndenletztenJahrenundJahrzehntenhabensichnichtnurdiePhänomene<strong>von</strong>Arm<br />
undReichgeändert,auchdieScherezwischenArmundReichinnerhalbderGesellschaft<br />
hatsichständigvergrößert.DieseEntwicklungenlassensichanhanddesPrivatvermögens<br />
verdeutlichen.NacheinerStudiedesDeutschenInstitutsfürWirtschaftsforschung(DWI)<br />
besaß2007dasreichsteZehntelrund61ProzentdesgesamtenPrivatvermögensderBundesrepublik.ImJahr2002warenes58ProzentdesPrivatvermögens.Demgegenübersteht<br />
mehralseinViertelderDeutschen(27Prozent),dasgarkeinPrivatvermögenbesitztoder<br />
verschuldetist. 396 DieStudiedesDWIergabaußerdem,dasssichdieScherezwischenOst<br />
undWestimmerweiteröffnet.InWestdeutschlandstiegdasVermögenindenJahren2002-<br />
2007umgut11Prozent.IndenneuenBundesländernsankesdagegenumknapp10Prozent.EineBegründungistindervergleichsweisenhohenundverfestigtenArbeitslosigkeit,<br />
diesichimzweistelligenBereichbewegt,zufinden.<br />
NocheinandererTrendlässtsichanhand<strong>von</strong>belegtenZahlennachweisen.ImJahr<br />
2001gabes730.000Dollar-Millionäre(ohneImmobilienvermögen)inDeutschland.Nur<br />
einJahrspäterwarenesschon755.000Millionäre. 397 ImJahr2008sankzwardieZahlum<br />
2,7Prozentgegenüber2007auf809.700Millionäre–dasistrund1ProzentderGesamtbevölkerung.ImVergleichzumJahr2001warenesaberimmernochknapp80.000Millionäremehr.SelbstdurchdieWeltwirtschaftskrisebliebendieVermögendieserReichenweitestgehenderhalten.<br />
398<br />
393 Bude 37<br />
394 vgl. Bude 39<br />
395 vgl. Bude 40<br />
396 vgl. http://www.tagesschau.de/wirtschaft/armreich100.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
397 vgl. Klundt 40<br />
398 http://www.abendblatt.de/wirtschaft/article1069401/Weniger-Dollar-<br />
Millionaere-in-Deutschland.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
64
3.7.1 Dialektik<strong>von</strong>ReichtumundArmut<br />
Zusammenfassendkanngesagtwerden,dassdieAnhäufung<strong>von</strong>Reichtumaufder<br />
einen Seite auf verschiedenen Wegen Armut auf der anderen Seite erzeugt. Diese Ungerechtigkeit<br />
der Verteilung ist dem System des Kapitalismus immanent, denn der Kapitalismus<br />
produziere nach Karl Marx aus sich heraus Ungleichheit. Der Soziologe Michael<br />
Klundt beruft sich in seinem Text auf Werner Rügemer an. Rügemer kritisiert ebenfalls<br />
dievorherrschendeempirischeAnalyseüberUmfang,EntstehungundWirkung<strong>von</strong>Armut<br />
und Reichtum sowie deren Zusammenhänge als „unterbelichtet“. Für ihn bestimmt der<br />
ReichtumimmerdieArmutundinderenKerngeheesumdasdialektischeVerhältnis<strong>von</strong><br />
LohnarbeitundKapital. 399<br />
KlundtkritisiertauchdenUmgangmitdemThemaArmundReichinderÖffentlichkeit.SowirdvielfachdieBedürftigkeitundAbhängigkeit<strong>von</strong>staatlichenTransferleistungen<br />
mit dem individuellen Versagen des Betroffenen begründet. Dagegen sind Wohlstand<br />
und Reichtum eineBelohnung für erbrachte außerordentliche Leistungen. Vielfach<br />
werdedaseinfacheBildvermittelt,dassallediegleichenChancenhabenund„eskommt<br />
nurdaraufan,etwasdarauszumachen.“ 400 DiePolitikunddieMedienwürdendieSuperreichengegenderenDämonisierungundgegenNeiddiskussioneninSchutznehmen.AnderswirddagegenmitErwerbslosenundSozialhilfebeziehernumgegangen.SiewerdenzuSündenböckeneinerverfehltenArbeitsmarkt-undSozialpolitikgemacht.Darausließensichdie<br />
Kampagnengegen„Sozialschmarotzer“und„Faulenzer“erklären. 401 402<br />
399 Rügemer, in Klundt 41<br />
400 Klundt 36<br />
401 vgl. Klundt 48<br />
402 Der Begriff „hartzen“ ist im Dezember 2009 zum Jugendwort des Jahres gewählt worden. Das Werk<br />
wurde in der jugendlichen Sprache vom Begriff Hartz IV abgeleitet. Das Verb bedeute „arbeitslos sein“ oder<br />
„rumhängen“ wie der Langenscheidt Verlag in München mitteilte. Damit liegt selbst die Langenscheidt-Jury<br />
ganz auf der Linie der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit zu Hartz IV. Aber alle seriösen Studien und<br />
Untersuchungen und meine Gespräche im Arbeitsamt und den Hilfsorganisationen haben ergeben, dass nur ein<br />
ganz kleiner Teil Erwerbslosigkeit und „Rumhängen“ einer den Lebensunterhalt sichernden Arbeit vorzieht.<br />
65
3.7.2<br />
Quantitative Indikatoren der Kinderarmut<br />
3.7.2 QuantitativeIndikatorenderKinderarmut<br />
FürdieSozialwissenschaftlerChristophButterweggeundCarolinReißlandtisteines<br />
klar:„NichtsschadetFamilienmehralsderUm-bzw.AbbaudesSozialstaatesunddieVermarktung<br />
der zwischenmenschlichen Beziehungen, die mit Schlagworten wie ‚Globalisierung‘<br />
und ‚Standortsicherung‘ begründet werden. Die zunehmende Kinderarmut ist eine<br />
zwangsläufigeFolgederdarausabgeleitetenRegierungspolitik.“ 403<br />
WievieleKinderarmsind,istschwerzusagen.DieZahlenschwanken,jenachdem<br />
wie Armut definiert wird. In der Statistik als auch in den Medien wird zudem oft nicht<br />
unterschiedenzwischenarm,armutsgefährdetodersozialleistungsabhängig.Armutsollte<br />
nicht nur nach monetären Aspekten definiert werden. Auch Bildungschancen, GesundheitsversorgungunddieMöglichkeitamkulturellenundsportlichenLebenteilzunehmen,<br />
müssen bei einer Einordnung mit bedacht werden. Armut muss unbedingt mit dem AspektderTeilhabeamgesellschaftlichenLebeninVerbindunggebrachtwerden.Wiebereits<br />
im vorherigen Kapitel erwähnt, wird im Armuts- und Reichtumsbericht der BundesregierungdiematerielleSituationinderRegeldurchdieArmutsrisikosquotebeschrieben.DieserQuotezufolgewarenimJahre2006<strong>von</strong>deninsgesamt13,6MillionenKindern2,4Millionen(17,3Prozent)Armutgefährdet.UmgerechnetistdasjedessechsteKind.<br />
404 ImJahr<br />
2006wardieArmutsrisikoquotebeidenKindernzwargeringer,abersielagdennochschon<br />
bei16Prozent.<br />
DerArmutsforscherChristophButterwegemachtinseinemBuch„Armutineinem<br />
reichenLand–WiedasProblemverharmlostundverdrängtwird“nocheineandereRechnungauf.SeinAusgangspunktsinddieimMärz2007offiziellangegebenen1,929Millionen<br />
Kinder unter 15 Jahren in Hartz-IV-Haushalten. Man müsse aber noch diejenigen<br />
Kinderdazuzählen,dieinSozialhilfehaushalten,Flüchtlingsfamilienundbeisogenannten<br />
Illegalenleben.DazukämediesogenannteDunkelziffer.Dannlebten2,8MillionenJungen<br />
undMädchen,dasheißtmindestensjedesfünfteKinddiesesAlters,aufoderunterdemSozialhilfeniveau.<br />
405<br />
BesondersdiejungenMenscheninFamilien,dieALGIIbeziehen,sind<strong>von</strong>demArmutrisikobetroffen.DGB,derSozialwissenschaftlerundArmutsforscherChristophButterwegge,derSPD-PolitikerRudolfDreßlerundandereerklärendenAnstiegzugroßenTeilen<br />
alsFolge<strong>von</strong>HartzIV. 406 Studienhabenergeben,dassnachderEinführungderHartz-IV-<br />
ReformensichdieAnzahlderKinder,die<strong>von</strong>Sozialhilfeleben,auf2,5Millionenverdoppelthat.DieseTendenziststeigend.<br />
407<br />
DieRisikoquotefürArmutistindenneuenBundesländernnachwievorbesonders<br />
hoch.SvenjaStork–sieuntersuchtedenZusammenhang<strong>von</strong>KinderarmutundHartzIV–<br />
resümiert,dassdieRisikoquoteinWestdeutschland2006bei12,4Prozentlag,imOsten<br />
dagegenwardieRisikoquotemit23,7Prozentfastdoppeltsohoch. 408 DashöchsteRisiko<br />
403 http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/broschuere_<br />
sozialabbau.pdf, S.22, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
404 vgl. www.tagesschau.de/inland/kinderarmut50.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
405 vgl. Butterwegge 91<br />
406 http://www.welt.de/politik/article1109778/Kinderarmut_in_<br />
Deutschland_auf_Hoechststand.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
407 vgl. www.tagesschau.de/inland/kinderarmut50.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
408 vgl. Stork 15 ff<br />
66
3.7.2 QuantitativeIndikatorenderKinderarmut<br />
zur Armut haben die Kinder <strong>von</strong> Hartz-IV-Beziehern. Es liegt bei 65 Prozent. Auch die<br />
Kinder<strong>von</strong>Alleinerziehendensindbesondersgefährdet.HierliegtdieQuotebeifast40Prozent.DieGefahrkennenKinder,dessenElternbeideinVollzeitjobsstanden,kaum.Hierlag<br />
dieQuotebeinur4,1Prozent.Oderanders,nurjedem25.Kindkonnte–wennseinebeiden<br />
ElternteileeinerVollbeschäftigung nachgingen–einAbrutschindieArmutwiderfahren.<br />
InsgesamtgesehenhatdasArmutsrisikobeiKindernundJugendlichenindenJahren1996-<br />
2006um4,6Prozentpunktezugenommen. 409<br />
409 vgl. www.tagesschau.de/inland/kinderarmut50.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
67
3.7.3<br />
Qualitative Indikatoren der Kinderarmut<br />
3.7.3 QualitativeIndikatorenderKinderarmut<br />
WissenschaftlerundSozialverbändehabenfestgestellt,dassKinderausarmenoder<br />
armutsgefährdeten Familien häufiger als ihre Altersgenossen schlecht bzw. ungesund ernährtsind.ChronischeKrankheiten,ÜbergewichtundVerhaltensauffälligkeitenhättenbeibenachteiligtenKindernstarkzugenommen.VielfachkönntendieKindernichtanKlassenfahrtenteilnehmen,bekämenkeinTaschengeldundsindgezwungen,schlechte,nichtderWitterungangepasstebzw.gebrauchteKleidungzutragen.Kinder<strong>von</strong>Hartz-IV-Empfängernfühltensichsozialausgegrenzt.Sieseienoftlangearmundchronischkrank.<br />
Unicefverwies2007inseinem„BerichtzurLagederKinderinDeutschland“auch<br />
auf die verstärkte emotionale Armut. Viele Kinder <strong>von</strong> Hartz IV beziehenden Familien<br />
fühlensichalleingelassenundhabenkeineBezugsperson,umspäterdieHerausforderungen<br />
desLebensmeisternzukönnen.DieseKinderhättenauchschlechtereBildungschancenund<br />
damitweitausgeringereMöglichkeiten,späterderArmutentkommenzukönnen.Insgesamt<br />
unterschätzemaninDeutschland,dassdasWohlergehenderKindersehrwichtigfürdie<br />
ZukunftderNationsei.Internationalgesehen,seimanbeidenAufwendungendafürnur<br />
Mittelmaß. 410<br />
Unterdenfast1MillionBedürftigen,dieimJahr2007<strong>von</strong>derWohltätigkeitsorganisation<br />
„Die Tafel“ regelmäßig kostenlose Essen und Lebensmittel versorgt wurden, befandensich25ProzentKinder.DerArbeitslosenverbandMecklenburg-Vorpommernmacht<br />
daraufaufmerksam,dassderzeitrund71.000KinderimLandunterArmutsbedingungen<br />
lebenmüssen.ImJahr2007seienesnur59.500gewesen.DieKinderbzw.derenElternsind<br />
meistsoarm,dasssieihnennochnichteinmaleinwarmesSchulessenermöglichenkönnen.<br />
410 vgl. http://www.tagesschau.de/inland/kinderarmut36.html, letzter Zugriff: 17.12.2009<br />
68
3.8<br />
Zusammenfassung<br />
3.8 Zusammenfassung<br />
Abschließendlässtsichfeststellen,dassderEinkommens-undVermögensreichtum<br />
seitdenneunzigerJahrenstetigwächst.AberauchdasArmutsrisikobzw.dietatsächliche<br />
ArmuthatindenletztenzweiJahrzehntenzugenommen.Diesichimmerweitererhöhende<br />
ScherezwischenArmundReichpolarisiertgleichzeitigdieGesellschaft.DieAgenda2010<br />
unddieHartz-IV-GesetzgebunghabendieZuständebzw.dieEntwicklungennochweiter<br />
verschlimmert. Der <strong>von</strong> der Bundesregierung herausgegebene Armuts- und ReichtumsberichtbeschreibtumfangreichdieArmut,hältsichaberinBezugaufdenReichtum,seine<br />
EntstehungundseinendialektischenZusammenhangmitderArmutsehrzurück.Kritiker<br />
sehenindieserArtderBehandlungeinebewussteVorgehensweise.<br />
VonArmutsrisikobzw.<strong>von</strong>dertatsächlichen Armutsindbesonders Familienund<br />
derenMitgliederbetroffen,dieHartzIVbeziehen.BesondersdieschwächstenMitglieder–<br />
dieKinder–leidenunterdenAuswirkungen.DasBundesverfassungsgerichtüberprüftdeshalb–nachderEinreichung<strong>von</strong>dreiKlagen–obdieRegelsätzezumenschenwürdigem<br />
Daseinausreichen,undobsieaufeinerrechtmäßigenBasisermitteltwordensind.Mitdem<br />
Urteil des BVG verbindet sich für viele die Hoffnung, dass ein generelles Recht auf ein<br />
Existenzminimumfüralleformuliertwird.UmmassenhafteArmutbeziehungsweiseKinderarmut<br />
zu beseitigen, verlangen vor allem Soziologen einen ganzheitlichen Ansatz. Sie<br />
forderndieVerzahnung<strong>von</strong>Arbeitsmarkt-undBeschäftigungspolitikebensowiedieEinbeziehung<strong>von</strong>Bildungs-,Gesundheits-,WohnungsbauundStadtentwicklungs-Politikmitder<br />
Familien-undSozialpolitik. 421<br />
421 vgl. Butterwegge 281<br />
72
4.0<br />
Zukunft <strong>von</strong> Hartz IV<br />
4.1<br />
Politik der Regierungsparteien<br />
„Die beste Wohlfahrt ist ein Arbeitsplatz.“ 422<br />
4.0 Zukunft<strong>von</strong>HartzIV<br />
Am17.September2009wurdezum17.MalderDeutscheBundestaggewählt.Im<br />
VorfeldderWahlenäußertensichdieParteieninihrenWahlprogrammenauchzuderSozialreformHartzIV.<br />
Die amtierende Bundesvorsitzende der Union <strong>von</strong> CDU/CSU und wiedergewählte<br />
Bundeskanzlerin Angela Merkel schloss eine Kürzung der Hartz-IV-Leistungen (SGB II;<br />
ALGII)aus.DieSätzefürHartzIVsolltensichstattdessennachdemobjektivermittelten<br />
Bedarf richten und im Gleichklang mit den Renten erhöht werden. Dazu sollten die BerechnungsgrundlagenallevierJahreumfassendüberprüftwerden.DieParteienCDU/CSU<br />
verspracheninihrenWahlprogrammenaußerdemhöhereFreibeträgefürdassogenannte<br />
Schonvermögen–Vermögen,dasschonvorhandenistundnichtmitindieBezugsberechnungfürHartzIVeingerechnetwird.<br />
423<br />
DieliberaleParteiFDPkündigteinihremWahlprogrammdieAbschaffungdesALG<br />
IIan.StattdessensolleinBürgergeldinHöhe<strong>von</strong>662Euroeingeführtwerden,indembereitsdieKostenfürWohnungundHeizungeinberechnetsind.<br />
424 425<br />
Im Wahlprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) „Sozial<br />
unddemokratisch“werdendieAgenda2010undHartzIVnichtausdrücklichkritisiertund<br />
nichtausdrücklichinFragegestellt.DafürwilldieSPDaberdieArbeitslosenversicherung<br />
zurArbeitsversicherungweiterentwickeln.Arbeitsversicherungheißtdabei,dassjedemein<br />
stärkererSchutzvorArbeitslosigkeitgarantiertwerdensoll.DasschließtdasRechtaufeine<br />
Weiterbildungsberatung ein. Die SPD kündigt außerdem eine verfassungskonforme NachfolgeregelungfürdieArbeitsgemeinschaften(ARGEn)an,undwilldas„Deutschlanddie<br />
weltweit bester Arbeitsvermittlung hat.“ 426 Die Regelsätze des ALG II sollen regelmäßig<br />
überprüftundgegebenenfallsbedarfsgerechterhöhtwerden. 427 <br />
Kritischer zeigen und äußern sich die Grünen zu Hartz IV. „Auch wer ohne ErwerbsarbeitistodersichausanderenGründenineinerNotlagebefindet,musseinLeben<br />
inWürdeundSelbstbestimmungführenundsichaufeinearmutsfesteExistenzsicherung<br />
verlassenkönnen.Wirmüsseneingestehen:DiesemAnspruchsinddie<strong>von</strong>Rot-Grünmit<br />
verantwortetenArbeitsmarktreformenunddasArbeitslosengeldIInichtgerechtgeworden.<br />
Mitderzeit351EuroisteineTeilhabeamsozio-kulturellenLebennichtmöglich.“ 428 Sie<br />
422 Rolf Seutemann, Präsident Landesarbeitsamt Brandenburg, 2003, https://www.<br />
neues-deutschland.de/artikel/40495.html, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />
423 vgl. CDU/CSU: „Wir haben die Kraft.“ 30 ff<br />
424 vgl. FDP: „Die Mitte stärken.“ 9 ff<br />
425 Dieser Betrag würde unter dem bisherigen Betrag <strong>von</strong> ALG II liegen. Alle<br />
Empfänger hätten somit weniger finanzielle Mittel zur Verfügung als vorher.<br />
426 Sozial und demokratisch. 15<br />
427 vgl. SPD: Sozial und demokratisch. 14 ff<br />
428 Bündnis 90/Die Grünen: Der grüne neue Gesellschaftsvertrag 85 ff<br />
73
4.1 PolitikderRegierungsparteien<br />
schlageninihremWahlprogrammeine„GrüneGrundsicherung“fürdiesozialenRisiken<br />
desLebensvor.Siesollu.a.„einaufLebenszeitabrufbaresZeitkontointegrieren,überdas<br />
imBedarfsfalleigenverantwortlichverfügtwerdenkann.“ 429 DieGrünenversprecheneine<br />
AnhebungdesHartzIV-Satzesauf420Euro.DieseGrundsicherungsollohneSanktionen<br />
oder Bestrafungen bezahlt werden und somit wieder mehr Menschen motivieren, in Arbeitzukommen.DieseLeistungalssolchemussregelmäßigandietatsächlichenLebenshaltungskostenangepasstwerden.DieZumutbarkeitsregelndesALGIIsollenentschärftund<br />
inbesonderenNot-oderLebenslagenzusätzlichwiederindividuelleLeistungenermöglicht<br />
werden.AuchdieAnrechnungdesPartnereinkommenssollabgeschafftunddieRegelsätze<br />
fürdieKinderunddieKindergrundsicherungerhöhtwerden.WieauchdieCDUsprechen<br />
sichdieGrünenfüreineErhöhungdesSchonvermögensaus. 430<br />
AlseinzigeParteiwillDieLinkelangfristigHartzIVabschaffenundzukünftigdurch<br />
einebedarfs-undsanktionsfreieMindestsicherungersetzen.AktuellfordertDieLinkeaber<br />
u.a.dieAnhebungdesALGIIauf500Euro,diedannnachdenLebenshaltungskostengesteigertwerdensollen.IneinemSofortprogrammnachderWahlwirdu.a.gefordert:Das<br />
demALGIIvorausgehendeALGIsollfüralleAnspruchsberechtigtenauf24MonateBezug<br />
erhöhtwerden,damitdasALGIInichtmehrschonnach12Monatenbeantragtwerden<br />
muss.DieZahlungsdauerdesALGIsollabhängiggemachtwerden<strong>von</strong>derDauerderEinzahlung.JedesJahrderEinzahlung–beginnendmitdem3.Jahr–sollmiteinemMonatderAuszahlungdesALGIverrechnetwerden.DieFreigrenzefürdasSchonvermögensolldeutlicherhöhtunddieEntgeltederFerienjobs<strong>von</strong>KindernderHartz-IV-Beziehendennicht<br />
mehr mit angerechnet werden. Der Kinderregelsatz soll an den Kindesbedarf angepasst<br />
werden.DabeisollderBedarfeigenständigermitteltwerden.EinSanktionsmoratoriumsoll<br />
die Drangsalierung <strong>von</strong> Hartz-IV-Beziehern sofort stoppen und solche Sanktionsparagraphenwie§31SGBII–derHausbesuchebeiHartz-IV-EmpfängernzuderenKontrolleermöglicht–abgeschafftwerden.AufgehobenwerdensollauchdasKonstruktderBedarfsgemeinschaft.Ein-Euro-JobssolleninsozialversicherungspflichtigetariflichbezahlteJobs<br />
umgewandeltwerden.SonderbedarfesollennachderenNachweiszusätzlichübernommen<br />
werden. 431<br />
NachderWahl,beidernurein72,2ProzentderWahlberechtigtenihreStimmeabgaben,bildetesicheineschwarz-gelbeKoalitionausCDU/CSUundFDP.CDU-GeneralsekretärRonaldPofallaverkündete:„WirwerdenalsbürgerlicheKoalitionfundamentaleUngerechtigkeitendesHartz-IV-Systemsbeseitigen.“<br />
432<br />
In dem nach der Wahl beschlossenen Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und<br />
FDPwurdebeschlossen,dasseskeinenkomplettenUmbauderstaatlichenLeistungengeben<br />
wird.Eswurdeabervereinbart,dassdierigidenAnrechnungsregelungenfürVermögenund<br />
Hinzuverdienstentschärftwerdensollen.Konkretwurdefestgelegt,dasseskeinBürgergeld<br />
nachdenFDP-Vorstellungengebenwird.EssollaberdasKonzepteinesbedarfsorientierten<br />
Bürgergeldesüberprüftwerden.DasSchonvermögenwirdauf750EuroproLebensjahrverdreifacht.<br />
433 Bisherwurdenur250EurofürdieVorsorgeimAlternichtaufdasArbeitslosengeldIIangerechnet.DieStaatskassewirddadurchmitderrelativgeringenSumme<strong>von</strong><br />
300Mio.Eurobelastet–HartzIVkostet36Mrd.EuroproJahr. 434 AucheineErhöhungder<br />
ZuverdienstgrenzewirdimKoalitionsvertragfestgehalten. 435<br />
429 Bündnis 90/Die Grünen: Der grüne neue Gesellschaftsvertrag 87<br />
430 Bündnis 90/Die Grünen: Der grüne neue Gesellschaftsvertrag 95<br />
431 vgl. http://www.linksfraktion.de/positionspapier_der_fraktion.<br />
php?artikel=7707238940, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />
432 http://www.neues-deutschland.de/artikel/157901.schwarz-gelbesozialkosmetik.html,<br />
letzter Zugriff: 28.10.2009<br />
433 vgl. http://www.alkv-loeb-zit.de/docu/Folien-SGB-II-10-12-09.pdf, letzter Zugriff: 14.12.2009<br />
434 vgl. http://www.n-tv.de/politik/Berlin-ist-Hartz-IV-Stadt-article618031.html, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />
435 vgl. http://www.cdu.de/doc/pdfc/091024-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />
74
4.1 PolitikderRegierungsparteien<br />
Bisher durften Langzeitarbeitslose <strong>von</strong> ihrem Hinzuverdienst 100 Euro abzugsfrei<br />
behalten.VonjedemweiterenEurodurftensienurnoch20Centbehalten.UndbeiHinzuverdienstsummen<strong>von</strong>über800Eurowarenesnurnoch10CentproverdientemEuro,densiebehaltendurften.DasselbstgenutzteWohneigentumbzw.dieeigeneImmobiliewirdumfassendergeschütztundsomitvordemZugriffderBehördenentzogen.<br />
Nach diesen Vereinbarungen gab es Kritik. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin<br />
schlussfolgerte, dass nur eine Minderheit der ALG-II-Bezieher nach diesen Beschlüssen<br />
besserdasteht.SowürdendieseVerbesserungenimJahr2009nur0,2ProzentderBetroffenen–dassind11000Leistungsbezieher–wirklichhelfen.„MitVerlaub:Wer<strong>von</strong>351EuroimMonatlebenmuss,derbrauchtkeinepsychologischeBotschaft,derbrauchteinfachmehrGeld.(…)DiewirklichArmenindieserGesellschaft,etwadiealleinerziehenden<br />
Mütter,werdenmitsolchenBeschlüssenverhöhnt.“ 436<br />
Die SPD erreichte bei den Bundestagswahlen mit 23,3 Prozent ihr bisher schlechtestes<br />
Ergebnis seitBestehender Bundesrepublik.Wurde vor der Wahl die Agenda 2010<br />
undHartzIVnichtausdrücklichkritisiert,sosetztenachdemWahldebakeleinUmdenken<br />
ein.AufdemimNovemberinDresdenstattgefundenenParteitagwurdeSigmarGabrielals<br />
neuer SPD Vorsitzender gewählt. Die SPD verabschiedete sich <strong>von</strong> ihrer alten Führungsriege<br />
und richtete sich in ihren Zielen auf die bürgerliche Mitte aus. Man beschloss die<br />
umstrittenenMaßnahmenderAgenda2010beidenArbeitsmarkt-undSozialreformenzu<br />
überprüfen.DieSPDbeschließtkonkret,dassdasSchonvermögenerhöhtwerdensollund<br />
dass es für die Kinder – deren Eltern ALG II beziehen – zukünftig einen eigenständigen<br />
undbedarfsgerechtenKinderregelsatzgebensoll.AlleVorschläge,dieeine„Kindergrundsicherung“betreffen,sollenbisEnde2010ausgearbeitetwerden.Darüberhinauswirdbeschlossen,dassdieRegelsätzefürALGIIregelmäßigüberprüftundgegebenenfallsbedarfsgerechterhöhtwerdensollen.<br />
437<br />
InteressantindiesemZusammenhangist,dassderWirtschaftswissenschaftlerPeter<br />
BofingerschonvorderWahleineunbürokratischeundnichtdiskriminierendeFormdersozialenAbsicherung<strong>von</strong>vollzeitbeschäftigtenAufstockernfürdieSPDentwickelthatte.Der„BonusfürArbeit“wurde<strong>von</strong>derehemaligenParteispitzeSteinmeierundMünteferingjedochadactagelegt.<br />
438 EinGrundfürdieseAblehnungistwohlauchdie<strong>von</strong>vielengeforderteUmwandlungallerMinijobsinJobs,diedervollenSozialversicherungspflichtunterliegenwürden.<br />
439 DerDGBunterstütztedenBonusvorschlag,mitdemdieAufstocker<strong>von</strong><br />
Sozialversicherungsbeiträgenentlastetwürden,umihreEinkommenExistenzsicherndzu<br />
machen. 440<br />
436 http://www.ad-hoc-news.de/fraktionschef-der-tagesspiegel-trittinschwarz-gelb--/de/Politik/20613506,<br />
letzter Zugriff: 07.12.09<br />
437 http://www.tagesschau.de/inland/spdbeschluss100.html, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />
438 vgl. Bofinger 130<br />
439 Das würde heißen, dass die Arbeitgeber Beiträge zu diesen Jobs leisten müssten.<br />
440 vgl. www.dgb.de/themen/themen_a_z/abisz_doks/b/bonus_arbeit.pdf, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />
75
4.2<br />
Alternative Vorstellungen<br />
4.2 AlternativeVorstellungen<br />
„Wenn die ökonomischen, sozialen und kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft<br />
nicht weiter erodieren sollen, dann brauchen wir in der Wirtschaftspolitik ein Neues<br />
Denken. Wir müssen der Internationalisierung der Wirtschaft eine neue politische<br />
Antwort entgegensetzen. Und diese neue politische Antwort heißt: Internationale<br />
Zusammenarbeit.“ 441<br />
Durch die teilweise rigiden Auswirkungen der Sozialreformen haben in der VergangenheitParteien,VerbändeundOrganisationenAlternativenentwickelt.DerDeutsche<br />
Gewerkschaftsbund DGB war Mitinitiator und Befürworter der Hartz-IV-Gesetzgebung.<br />
NachfünfJahrensetztesichaberinnerhalbdesDGBdieErkenntnisdurch,dassdurchdie<br />
Hartz-IV-ReformdiesozialeSicherungmehrum–undabgebautwurdealsjedeandereReformesvorherjemalsgetanhat.AnnelieBuntenbach–PolitikerinderGrünen,VorstandsmitgliedimDGBundMitgliedbeiattac–siehtinderHartz-IV-Gesetzgebungkeinemoderne,<br />
am Einzelfall ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik, sondern nach wie vor ein Gesetz<br />
dasfüreinhohesArmutsrisikosteht. 442 DeshalbsindernsthafteVerbesserungenunbedingt<br />
nötig.AlsomüsstederHartz-IV-Satzangehobenwerden.BuntenbachäußertdieHoffnung,<br />
dassdasNachfolgemodell–dasdurchdieNichtanerkennungderARGEnalsGmbHdurch<br />
das Bundesverfassungsgericht – bis Ende 2010 entwickelt werden muss, Verbesserungen<br />
bringt.MitderNeufassungderARGEnsolltenauchdie„unsinnigenundteuren1-Euro-<br />
JobsbishinzumRegelsatz“unddieverschärftenSanktionenabgeschafftwerden. 443 StattdessenmüsstenBeratung,VermittlungundBetreuungverbessertwerden,damitdieArbeitslosenwiederdauerhaftindenArbeitsmarktintegriertwerdenkönnten.DerDGBwillsichwiederaktivindieDiskussionenumdasALGIIeinschalten,dennseinerMeinungnachreichenpunktuelleVerbesserungennichtaus.ImInteressederBeschäftigtensowiederArbeitslosen<br />
fordert der Gewerkschaftsdachverband tarifvertraglich abgesicherte Löhne und ArbeitsbedingungensowieeinebessereAbsicherungundUnterstützungbeiArbeitslosigkeit.<br />
Der DGB regt keine bundesweiten gemeinsam organisierten Protestaktionen an. Er setzt<br />
vielmehraufdieAufklärungundkonkreteHilfefürdieBetroffenendurchbeispielsweiselokaleBeratungsstellenwiedeninderLandeshauptstadtansässigen„dau-wate.V.“.<br />
Der Sozialverband Deutschlands (SoVD) und die Volkssolidarität (VS) fordern gemeinsam,<br />
das Leistungsniveau <strong>von</strong> Hartz IV dringend zu verbessern. Der SoVD fordert,<br />
dass Ersparnisse zur Altersvorsorge grundsätzlich nicht mit dem Arbeitslosengeld II verrechnetwerdendürfen.<br />
AuchderParitätischeWohlfahrtsverbandtritt–sowieandereauch–dafürein,die<br />
ZuständigkeitfürdasSGBIIdenKommunenzuübertragen.DennnursokönnenSchnittstellenproblemeundReibungsverlustevermiedenwerden.AuchdasPrinzipder„HilfeauseinerHand“solltesichnachMeinungderVerbändedurchsetzen,damitdieArbeits-undSozialförderungdenörtlichenGegebenheitenbesserangepasstwerdenkann.Darüberhinaus<br />
istesnötig,dieRegelsätze<strong>von</strong>SGBIIundSGBXIIumgehendauf440Eurozuerhöhen,<br />
da mit dem aktuellen Regelsatz der tägliche Mindestbedarf des Menschen nicht gedeckt<br />
werdenkann.DiePrüfungaufeinebedarfsgerechteAnpassungderRegelsätzesollzukünftig<br />
eineunabhängigeKommissionübernehmen.DieErhöhungderRegelsätzesolltesichanden<br />
aktuellenLebenshaltungskostenundnichtanderRentenentwicklungorientieren.Dasgilt<br />
441 Oskar Lafontaine, 1997, http://www.spw.de/9702/lafontaine.html, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />
442 vgl. DGB: Hartz IV – Tipps und Hilfen des DGB 6<br />
443 ebd. 6<br />
76
4.2 AlternativeVorstellungen<br />
auchfürdenRegelsatzfürKinderundJugendliche.AuchermusssichamtatsächlichenBedarf<strong>von</strong>KindernundJugendlichenausrichtenundsollinseinerHöhedurcheineunabhängigeKommissionimmerwiederneuberechnetwerden.DieVerbändefordernweiterhindie<br />
AufnahmeeinerÖffnungsklauselindasSGBII,damitatypischeundeinmaligeBedürfnisse<br />
wiedieAnschaffung<strong>von</strong>notwendigemHausratundnichtverschreibungspflichtigenArzneimittelnbesserfinanziertwerdenkönnen.<br />
444<br />
EineAlternativezumBezug<strong>von</strong>HartzIVundseinemHintergrund„Fördernund<br />
Fordern“istdasKonzeptdessogenanntenExistenzgeldes.DasExistenzgeldsolleinebedarfsunabhängigeAbsicherungsein,beiderkeineBedürftigkeitzugrundeliegenmussundkeinZwangzurArbeitbesteht.DasExistenzgeldwirdanjedenBürgerausgezahltundersetztsoallebisherigensozialenSysteme.TomBingerforderteinExistenzgeldinHöhe<strong>von</strong><br />
mindestens800EuroplusdieÜbernahmeallerWohnkosten. 445<br />
Kritikkam<strong>von</strong>denArbeitslosenundSozialhilfebeziehernundderenOrganisationen,<br />
inderenReihendasKonzeptentstand.EinenichtrepräsentativeUmfrageunterihnenergab,<br />
dass17ProzentdieIdeekategorischablehnten. 446 Hauptargumentwardabei,dassdieArbeitslosenundSozialhilfeempfängerkeineAlmosenerhaltenwollen.SiewollenihrLeben<br />
stattdessenlieberdurchErwerbsarbeitbestreitenkönnen.SieforderneineArbeit,<strong>von</strong>der<br />
manlebenkann.ÄhnlicheAussagenundAuffassungenkonnteichauchinmeinerUmfrage<br />
undinmeinenInterviewsfeststellen.<br />
DerArbeitslosenverbandALVimBundundimLandsiehteinRechtderMenschen<br />
auf ein steuerfinanziertes Grundeinkommen. Er begründet ihn damit, dass der gesamte<br />
Reichtum der Gesellschaft – ob nun in Erwerbsarbeit, privater Erziehungs- und Sorgearbeit,<br />
im kulturellen, sozialen, ökologischen und politischen Engagement oder in der AneignungundWeitergabe<strong>von</strong>WissenundKompetenzen–<strong>von</strong>allenMenschengeschaffen<br />
wird.DarauserwächstderAnsprucheinesjedenaufeineangemesseneTeilhabeandiesem<br />
Reichtumundander<strong>Gestaltung</strong>derGesellschaft.DieserAnspruchseiabermitHartzIV,<br />
derSozialhilfeundderGrundsicherungimAlterundbeiErwerbsminderungnichtgewährleistet.DasgeforderteGrundeinkommenmüsseindividuellundbedürftigkeitsgeprüftsein.<br />
Es solle ohne eine Arbeitsverpflichtung oder einen Arbeitszwang ausgezahlt werden. Die<br />
HöhedesGrundeinkommenssolltesichdabeianderArmutsrisikogrenze–sieliegezurzeit<br />
inDeutschlandbeica.850Euro–orientieren,undsichdentatsächlichenLebenshaltungskostenanpassen.JedesKinderhältdieHälftedesfestgelegtenGrundeinkommens.SozialversicherungsbeiträgesindnichtimGrundeinkommenenthaltenundsollenstattdessengesellschaftlichabgesichertwerden.DerArbeitslosenverbandsprichtsichfüreineeuropaweite<br />
EinführungdesGrundeinkommensaus. 447<br />
Der Arbeitslosenverband Mecklenburg-Vorpommern ALV-MV sieht noch andere<br />
Lösungswege. Erschlägt vor,dass Langzeitarbeitslose u.a. bei der Existenzgründung als<br />
VereinoderGenossenschaftgefördertwerdensollten.DennochistauchfürdenALV-MV<br />
dieSchaffung<strong>von</strong>sozialversicherungspflichtigenArbeitsverhältnisseninBereichenwieUmwelt,Gesundheit,Kulturusw.dersichersteundlangfristigwirkungsvollsteSchrittgegenHartzIV,Armut,AltersarmutundAusgrenzungausdemgesellschaftlichenLeben.Erfordert,dassdieAufgabenderJobcenter,derARGEnundderKommunenineinerHandvereinigt<br />
werden müssen, denn 70 Prozent aller Arbeitslosen in Mecklenburg-Vorpommern<br />
fallenindenProblemkreis<strong>von</strong>SGBII. 448 Das„GarantierteGrundeinkommen“wirdneben<br />
denParteien„DieGrünen“und„DieLinke“<strong>von</strong>Sozialforen,Bürgerrechtsorganisationen<br />
wiedem„links-netz“unddemKomiteeGrundrechteundDemokratiefavorisiert.Siever-<br />
444 vgl. http://www.der-paritaetische.de/uploads/media/10-Punkte-Agenda.pdf, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />
445 vgl. Binger 175<br />
446 vgl. Wompel/Pandorf 82<br />
447 vgl. http://www.arbeitslosenverband.org/PDF/PositionProzent20zumProzent20Grundeinkommen.pdf<br />
448 vgl. ALV<br />
77
4.2 AlternativeVorstellungen<br />
langen, dass das garantierte Grundeinkommen alle Formen der bisherigen sozialen Absicherung<br />
– etwa Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Rente und Ausbildungsbeihilfen – bündeln<br />
soll.DamitwärederbisherigeKontroll-undVergabeapparatüberflüssig.Dasgarantierte<br />
GrundeinkommensolldabeiaberdeutlichhöherliegenalsdieSozialhilfeoderdasALG<br />
II.ZudemsolldiesozialeInfrastruktur,dieöffentlicheGüterfüralleMenschenbereitstellt,<br />
sogeöffnetwerden,dassauchLeistungsbezieherZugangbeispielsweisezuBildung,Kultur<br />
undSporthaben. 449 DiesesgarantierteGrundeinkommensolldurchSteuernaufalleEinkommensartenundwirtschaftlicheEinheiten–BetriebeundHaushalte–finanziertwerden.<br />
Darüber hinaus müssten Gewinn- und Körperschaftsteuern, Vermögens- und Erbschaftssteuern,MehrwertsteuernundökologischeVerbrauchs-undBelastungsabgabenmitzurFinanzierung<br />
herangezogen werden. Neben dem garantierten Grundeinkommen soll jedem<br />
Menschenermöglichtwerden,durchArbeitnochetwashinzuzuverdienen. 450<br />
AlseinenIrrwegbezeichnetderSoziologeButterweggeinseinemBuch„Armutin<br />
einemreichenLand“beziehungsweiseindem10-Punkte-ProgrammfürdenSozialverband<br />
Deutschland(SoVD)unddieVolkssolidarität(VS)dasKonzeptdesbedingungslosenGrundeinkommens–auchalsBürger-bzw.Existenzgeld,SozialdividendeodernegativeEinkommenssteuerbezeichnet.FürButterweggesehendiesebereitsbestehendenundinderrealen<br />
Politik diskutierten Modelle nicht vor, die Sozialversicherungen mit einzubinden. Damit<br />
wärendieMenschenimFallesozialerExistenzrisiken–etwaimFalle<strong>von</strong>(schwerer)Krankheit<br />
oder/und Erwerbsunfähigkeit – noch schlechter gestellt, da ihnen diese Absicherung<br />
fehlen würde. Darüber hinaus würden für Butterwegge die Grundeinkommen als „Kombilohn<br />
für alle“ wirken. Den Unternehmen stünden damit noch mehr preiswerte Arbeitnehmer<br />
zur Verfügung, denn das Existenzminimum wäre ja schon durch das Grundeinkommengesichert.DieGewinnederUnternehmenwürdendamitnochstärkersteigenund<br />
dieRegierungwerdenichtmehrunterdemselbenZugzwangstehen,dieArbeitslosigkeitzu<br />
bekämpfen.DiegrößteGefahrsiehtButterweggeaberinderdannzuTagetretendenÜberflüssigkeitderanderenSozialversicherungssysteme.Dennsiewürdendannwegfallen,wenn<br />
(fast)alleTransferleistungenimGrundeinkommenaufgehenwürden.Butterweggeplädiert<br />
daherfüreine„Bürgerversicherung“,indernebendemGrundeinkommenauchdieKrankenversicherungundPflegeversicherunggesetzlichverankertsind.DiegesetzlicheRentenversicherungmüssezurErwerbstätigenversicherungweiterentwickeltwerden.<br />
451 Erplädiert<br />
alsofürdenEinbau<strong>von</strong>ElementenderGrundsicherungindiebestehendenSozialsysteme. 452<br />
ErwähntseinochderPhilosophPeterSloterdijk,derineinemEssayinderFAZvom<br />
10.06.2009mitdemTitel„DieRevolutiondergebendenHand“eineandereUtopieentwirft<br />
unddamiteinebreiteDiskussionumdenSteuerstaatentfachthat.Mitihmsetztsichder<br />
JournalistMartinHatziusauseinander.NachSloterdijksMeinungsolltenallesteuerfinanziertensozialenAusgabendurchSpendenderWohlhabendenersetztwerden.Wohlhabende<br />
sind für ihn die so genannten Leistungsträger – etwa Unternehmer, Manager, Politiker<br />
usw.–,alsoalledie,diediemeistenSteuernzahlen.SloterdijksEssayzeigtdenUmgangder<br />
GesellschaftmitihrenschwächstenGliedern.DerVorschlag<strong>von</strong>Sloterdijkfördertweiter<br />
dieohnehinschonbestehendeZweiteilungderGesellschaftin„FlüssigeundÜberflüssige“<br />
undzeigtdenWunschnachdemvölligenRückzugdesStaatesausseinersozialenVerantwortung.AnstellederSolidaritätmitgesellschaftlichenRandgruppenunddieAnerkennung<br />
sozialerNormen–etwadieGarantiederMenschenwürde–würdeeinunterstellterStolz<br />
desSpendersdieFolgesein.DerBeschenkteverdankeseinÜberlebenderGnadedesSchenkenden.KritikerhaltendiesemKonzeptentgegen,dassdiekapitalistischeÖkonomienur<br />
449 vgl. Binger 174 ff<br />
450 vgl. Binger 179 f<br />
451 vgl. http://www.sovd.de/fileadmin/downloads/sozialabbau/<br />
broschuere_sozialabbau.pdf, S.25 ff, letzter Zugriff: 07.12.2009<br />
452 Butterwegge 271 ff<br />
78
4.2 AlternativeVorstellungen<br />
ZinsdruckundProfitzwangkennt.AberkeineMoral,soHatzius.FürdieBedürftigenmuss<br />
vielmehreinstarker,demokratischlegitimierterStaatplanendeingreifenunddieGemeinschaftunddasIndividuumschützen.DerStaatmussdasRegulativderGesellschaftsein,<br />
nichtderMarkt. 453<br />
AllebishergenanntenProjekteundKonzeptionenbewegensichimnationalenund<br />
europäischenRahmen.DiemedizinischeHilfsorganisation„medicointernational“hatjedochdieVisioneinesglobalenProjektssozialerGerechtigkeitentwickelt.AusgangspunktderÜberlegungenistdiegegenläufigeDynamikderGlobalisierungunddieungerechteVerteilungdesReichtums.SostehederSchaffungeinesunvorstellbarenmateriellenundsymbolischenReichtumsdieungeheureVerarmung,EntrechtungundAusgrenzung<strong>von</strong>MilliardenMenschengegenüber.AllerReichtummüssedeshalbweltgesellschaftlichangeeignetwerden.„medicointernational“fordertalsVoraussetzungfürdiesenProzesseineWeltbürgerschaftmitderStaatsbürgerschaftzuverknüpfen.DieserforderedenBeginneinerGlobalisierung<strong>von</strong>unten.LetztendlichsorgtaberdiekapitalistischeWeltökonomieselbstdafür,dassneueFormendersolidarischenundmoralischenÖkonomie(FormendesfairenWelthandels,d.V.)entstehen.<br />
454<br />
Zusammenfassend lassen sich die Forderungen der Kritiker, die über die Zugeständnissederaktuellenschwarz-gelbenKoalitionhinausgehen,wiefolgtbeschreiben.Die<br />
Hartz-IV-RegelsätzeunddieRegelsätzefürKindermüssenerhöhtwerden.DieAnpassung<br />
derRegelsätzedarfnichtnachderRentenentwicklunggeschehen,sondernmusssichnach<br />
dentatsächlichenLebenshaltungskostenorientieren.DieZumutbarkeitsregelnbeimALGII<br />
müssenentschärftbzw.abgeschafftwerden.InbesonderenNotlagenmussdieMöglichkeit<br />
geschaffenwerden,zusätzlicheindividuelleLeistungenzuerhalten.Gefordert(außer<strong>von</strong><br />
derSPD)wirddieEinführungeinerGrundsicherungbzw.einesGrundeinkommens.Überwiegendwirdsichdabeidafürstarkgemacht,dassdieGrundsicherungbzw.dasGrundeinkommennichtmiteinerArbeitsverpflichtungbzw.einemZwangverbundenseindarfund<br />
dieanderensozialenSicherungssystemeeinschließt.<br />
453 vgl. Hatzius, Martin: Ein Mensch ohne Mehrwert ist nichts mehr wert – Die <strong>von</strong> Peter<br />
Sloterdijk angestoßene Debatte über den Steuerstaat rührt an das Selbstverständnis unserer<br />
Gesellschaft, in: Neues Deutschland, Berlin, Nr. 64/277, 28./29. November 2009, S.21<br />
454 vgl. Binger 185 ff<br />
79
4.3<br />
Widerstand und Protest<br />
4.3 WiderstandundProtest<br />
„Der soziale Frieden in Deutschland ist extrem gefährdet, da bundesweit rund drei<br />
Millionen Menschen keine finanzielle Unterstützung erhalten.“ 455<br />
Der Wirtschaftswissenschaftler Peter Bofinger schreibt in seinem 2009 erschienen<br />
Buch„IstderMarktnochzuretten?“,dass75ProzentderBürgerderMeinungsind,die<br />
wirtschaftlichen Verhältnisse sind nicht gerecht. Nur 13 Prozent halten sie für gerecht.<br />
EineUmfrageunterdergleichen Fragestellung imJahr2000ergab, dass nur 47Prozent<br />
derBefragtendiewirtschaftlichenVerhältnissealsungerechtansahen.33Prozenthielten<br />
damalsdiewirtschaftlichenVerhältnissefürgerecht.2008hattenrund50Prozentderin<br />
Ostdeutschland befragten Bürger keine gute Meinung mehr vom bundesdeutschen Wirtschaftssystem.Nur20Prozent<strong>von</strong>ihnenbefürwortetendieMarktwirtschaft.<br />
456<br />
DerMeinungsumschwungistauchinderDurchsetzungderAgenda2010undden<br />
Hartz-IV-Gesetzenbegründet.DieserWandelverwundertinsofernwenig,dadieArbeitslosigkeitsteigtundimOstensogarzweistelligist.ZweiDrittelallerALG-II-Anträgewerden<br />
im Osten gestellt. Ende 2008 bekamen bundesweit 6,6 Mio. Menschen Hartz-IV-Leistungen.Jeder10.Menschunter65Jahrenwaralso<strong>von</strong>HartzIVbetroffen.<br />
457<br />
Umsoverwunderlicheristesdeshalb,dasseskeine(bundesweiten)Massenproteste<br />
mitzehntausendenMenschen–wievorderEinführung<strong>von</strong>HartzIV–gibt.Vereinzelte<br />
AktionenfindennachderEinführung<strong>von</strong>HartzIVoftnurnochörtlichstatt.Umwirkliche<br />
Veränderungen gegen Hartz IV herbeiführen zu können, bedarf es jedoch einer gemeinsamenGegenwehr<strong>von</strong>lokalenBündnissenundorganisiertenVerbänden.Solchesozialen<br />
BündnissebenötigeneinepolitischebundesweiteBündelung,Koordinierung,Orientierung<br />
und Führung. Nur ein gefestigter Verband aus sozialen Bündnissen kann einen ernst zu<br />
nehmendenpolitischenWiderstandleisten.NachMeinungderPolitökonominAnneAllex<br />
isteinebundesweiteGegenwehrfaktischnichtmöglich,dadasFührungspersonal<strong>von</strong>Gewerkschaften,diezusehrandieRegierung<strong>von</strong>SPD/Grünengebundenseien,diediesnicht<br />
zulassen würden. 458 Selbst der DGB – als Mitinitiator <strong>von</strong> Agenda 2010 und Hartz IV –<br />
beschränktsichaufKritikundHilfefürdieBetroffenenvorOrt(sodurchdiegewerkschaftlicheArbeitslosenberatung„dauwate.V.“).<br />
Ein weiterer Grund für die relative Tatenlosigkeit der Gewerkschaften ist die verminderteEinflussnahmeindenBetrieben.DennnurnochinKernbelegschaften<strong>von</strong>gutorganisiertenBetriebenhättendieGewerkschaftennocheinenernstzunehmendenEinfluss.IndenmeistenUnternehmenagierendieGewerkschaftenalsCo-Manager,diedieArbeitsplätzeerhaltenwollen,unddafüreinenLohnabbauinKaufnehmen.DiesesDenkenfindet<br />
sichauchbeidenAngestelltenundBeschäftigten.WiegroßdieAngstvordemAbstiegin<br />
HartzIVistundwiesehrHartzIValsDrohungwahrgenommenwird,zeigteineUmfrage<br />
desInstitutsfürDemoskopieinAllensbach.ImHerbst2003,alsonochvorderEinführung<br />
<strong>von</strong>ALGII,waren71ProzentderBefragtenbereit,längerohneLohnausgleichzuarbeiten,<br />
wennihrArbeitsplatzgefährdetseinsollte.DieserTrenddürftesichnachderEinführung<br />
<strong>von</strong>HartzIVundderOffensichtlichkeitderFolgennochverstärkthaben. 459<br />
455 Gemeinsames Positionspapier <strong>von</strong> Beschäftigten aus Sozialämtern und Bundesagentur für Arbeit, 2004,<br />
http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/hilfe/verdinrw.pdf, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />
456 vgl. Bofinger 92<br />
457 vgl. Hartz IV, Tipps und Hilfen des DGB, 6 f<br />
458 vgl. Allex 32 ff<br />
459 Gillen 83<br />
80
4.3 WiderstandundProtest<br />
DiePolitikwissenschaftlerinGabrieleGillensiehtdarinauchdieBegründung,dass<br />
essoschwerist,eineSolidaritätzwischendenArbeitendenundArbeitslosenherzustellen.<br />
ÄhnlicheVersuche,siegemeinsamzuorganisieren,sindfürGillenschoninderVergangenheitgescheitert.<br />
460<br />
UmeinenmöglichstwirkungsvollenProtestzuorganisieren,müssensichdienochin<br />
festenArbeitsverhältnissenstehendenBeschäftigtenmitdenAusgegrenzten,denErwerbslosenunddenHartz-IV-Empfängernsolidarisierenundgemeinsamaktivwerden.Wichtig<br />
dabeiistdieEinsicht,dassbeide–sowohldieErwerbstätigenalsauchdieErwerbslosen–<br />
betroffensind,dennwerheutenochArbeithat,kannschonmorgenarbeitslosundübermorgen<strong>von</strong>HartzIVabhängigsein.DerPolitikwissenschaftlerMichaelKlundtistauchderAnsicht,dassdieseSolidarisierungkaumvorhandenist.<br />
461 SelbstdieBetroffenensindkaumzugrößerenAktionenzu<br />
motivieren.Denn,werwiesieimtäglichenÜberlebenskampfstehe,kämpfeschongenug.<br />
DieEntstehungeinerSolidarisierungwerdezusätzlichdadurchgeschwächt,dasssichviele<br />
Empfänger <strong>von</strong> Hartz IV mit der Situation abfinden oder sich darin wohl fühlen. Viele<br />
hättendenProtestaufgegebenbzw.seiendemoralisiert.<br />
ErnstzunehmendeAlternativendesProtesteswärenjedoch„bürgerschaftliche“Organisationsformen,<br />
in die alle Betroffenen mit einbezogen werden müssten. Anne Allex<br />
nenntbeispielsweiseden2004gesetzten„FrankfurterAppellgegenSozial-undLohnraub“.<br />
462 DieseOrganisationsformenkönnenaufdiePolitik<strong>von</strong>ParteienundGewerkschaftenvor<br />
OrtEinflussnehmenund<strong>von</strong>untenDruckaufdiepolitischenEbenenderLänderunddes<br />
Bundes machen. Erschwert wird die Arbeit dieser Organisationen durch die fehlende öffentliche<br />
Unterstützung. Alternativen wie „1 Million Arbeitsplätze durch öffentliche Daseinsvorsorge,Zukunftsinvestitionen,ArbeitszeitverkürzungundUmverteilung“oderdas<br />
„Memorandum2004“würdenauchmehrWirkungerzielenkönnen,hättensieeinegrößere<br />
öffentlicheundmedialeUnterstützung.DieseAlternativenbeinhaltetenverschiedeneAufrufe<strong>von</strong>Wissenschaftlern,denSozialstaatzureformieren,stattihnStückfürStückabzubauenunddieArbeitslosigkeitzubekämpfen,stattdieArbeitslosenzubestrafen.<br />
463<br />
Abzuwarten bleibt, inwieweit sich die neue Opposition im Bundestag aus SPD,<br />
Grünen und Linken mit Gewerkschaften, Sozialverbänden und Betroffenen zu gemeinsamenparlamentarischenbzw.öffentlichenAktionenzusammenfindenwerden.Einigkeit<br />
herrschtaberschonjetztdarüber,dasstarifvertraglichabgesicherteLöhneundeinebessere<br />
AbsicherungundUnterstützungbeiArbeitslosigkeitdurchgesetztwerdenmüssen.<br />
Momentan bleibt den Betroffenen <strong>von</strong> Hartz IV oft nur die Hilfe zur Selbsthilfe<br />
durchdieErwerbslosen-undSozialhilfeorganisationenundderindividuelleProtestgegen<br />
dierigidenFestlegungendurchWiderspruchundKlagenvorGericht.ImJahr2005gabes<br />
knapp57000VerfahrenbeidenSozialgerichteninderBundesrepublik,diesichmitHartz-<br />
IV-Widersprüchenbeschäftigenmussten.ImJahr2008warenesbereits175000.DiesesteigendeTendenzwurdemirauchaufRückfragebeimHanse-JobcenterRostockbestätigt.<br />
460 vgl. Gillen 117<br />
461 vgl. Klundt 51<br />
462 Allex 33<br />
463 Klundt 51 f<br />
81
4.4<br />
Zusammenfassung<br />
4.4 Zusammenfassung<br />
Die neue Bundesregierung verzichtet vorerst auf weitere radikale Änderungen bei<br />
denHartz-Gesetzen.DereingeschlageneWegwirdstattdesseninkleinenSchrittenfortgesetzt.Schwarz-GelbgibtsichsogaralsWohltäter.SieerhöhtdasSchonvermögenaufdas<br />
Dreifache, erlaubt die Nutzung der eigenen Immobilie ohne Anrechnung und erhöht die<br />
GrenzedesmöglichenZuverdienstesohneAnrechnung.Dennochdarfmannichtvergessen,<br />
dass<strong>von</strong>diesenVerbesserungen2009nurwenigeundvorallemerstdiezukünftigenBezieher<strong>von</strong>HartzIVbetroffensind.DieAusrichtungderVerbesserunglässtsichaberdeutlicherkennen.DurchdasZugeständniszuhöherenZuverdienstmöglichkeitenderHartz-IV-<br />
BezieherprofitierendieUnternehmen.Siekönnennunnochmehrstaatlichsubventionierte<br />
ArbeitsplätzeeinrichtenoderdiebisherigeninihrerArbeitszeitverlängern,ohneselbstfür<br />
die zusätzlichen Arbeitszeiten und Arbeitsstellen finanziell aufkommen zu müssen. Die<br />
schwarz-gelbeKoalitionkommtdenForderungenvielerKritiker<strong>von</strong>HartzIVunddenBetroffenennach.MöglichenProtestaktionenwirdsomitdieSpitzegenommenundgrößeresozialeSpannungenwerdenvermieden.BundeskanzlerinMerkelgreiftder2010zuerwartendenArbeitslosigkeitvor.AufgrundderkrisenhaftenEntwicklungistnämlichda<strong>von</strong>auszugehen,dassdannvielegutbezahlteFacharbeiterundAngestelltearbeitsloswerden,die<br />
überVermögenundImmobilienverfügen.VieleanderewichtigeProblemewerdenaber<strong>von</strong><br />
derneuenBundesregierungnichtangepackt.Bestehenbleibenweiterhindievielzuniedrigen<br />
Regelsätze,dasKonstruktderBedarfsgemeinschaft,dienichtsozialversicherungspflichtigen<br />
Ein-Euro-JobsunddieEntkoppelungderBezugsdauerdesALGI<strong>von</strong>derZahlderArbeitsjahre.SolltesichinZukunftnichtwirksamerProtesterheben,sowerdendieseProbleme<br />
vermutlichinverschärfterFormineinerAgenda2015oder2020angegangenwerden.<br />
AuchimfünftenJahrnachderEinführungderHartz-Gesetzesindsieeineeinzige<br />
großeBaustelle.SomoniertedasBundesverfassungsgericht(BVG)dienichtverfassungsgemäßeKonstruktionderARGEnalsGmbHundverlangt<strong>von</strong>derBundesregierungbisEnde<br />
2010 dieses Konstrukt aus Bundes- und kommunaler Einrichtung in eine verfassungsgemäßeFormzuverändern.SeitdemHerbst2009hatdasselbeGerichtauchüberdieRechtmäßigkeitundHöhedesKinderregelsatzeszuentscheiden.MitderÜberprüfungdesRegelsatzesfürKinderwirdauchderRegelsatzfürdieErwachsenenüberprüft.<br />
82
5.0<br />
Formulargestaltung<br />
5.1<br />
Definition und Funktion <strong>von</strong> <strong>Formularen</strong><br />
5.0 Formulargestaltung<br />
„Es mag einfacher sein, ein Land zu regieren, als eine Stromrechnung zu lesen.“ 464<br />
DieAusführungenaufdennächstenSeitenbeziehensichausschließlichaufdasFormular<br />
als papiernen Vordruck. Auch wenn für die digitalen Ausgaben ähnliche GesetzmäßigkeitenundForderungengelten,sobedürfensieeinergesondertenBetrachtung.DieUnterschiedezwischenbeidenMediensindvielfältigeralsnurdieFeststellung,dassPapiervordruckeohneweitereHilfsmittelgelesen,verbreitetundarchiviertwerdenkönnen.DigitaleFormularebesitzenaufgrundihrerProgrammierbarkeitVorteilewieGeschwindigkeit,<br />
Aktualität,ÜberprüfungaufRichtigkeitderAngabenundValidierungderEingaben,aber<br />
auchNachteileinBezugaufFlüchtigkeit,HandlichkeitundSicherheit.<br />
DaaufdenfolgendenSeitenausschließlichpapierneFormulareerörtertundbesprochenwerden,setzeichdieBegriffeFormularundVordruckgleich.Ichkönntediesnichttun,<br />
wennichinmeineAbhandlungauchdigitaleFormularemiteinbezogenhätte.<br />
FormulareoderauchVordruckeoderFormblättersindalleArtenschriftlicherMitteilungen,dieeinenwiederkehrendenundeinenvariablenBestandteilhaben.Siesindeine<br />
Darstellungsform für schriftliche Mitteilungen, um „eine oder mehrere Teilmengen aus<br />
einervorgegebenenGesamtheit<strong>von</strong>Informationensichtbarzumachen.Esistinsofernein<br />
ZeichensystemunddamiteinersemiotischenSystematisierungzugänglich.“ 465 DieGesamtheitderFormularinformationenistdurchWorte,Texte,ZahlenundgrafischeElementedefiniert.DasFormularnutztdiezweiDimensionenderFlächedesPapiersundist„einräumlichesundinseinemlinearensprachlichenAufbauaucheinzeitabhängigesZeichensystem.“<br />
466 <br />
FormularesindeineinJahrhundertenentwickelteFormschriftlicherMitteilungen,dieaufgrundihrervorgedrucktenBestandteileunddurchderen<strong>Gestaltung</strong>undWiederholungdokumentarischenCharakterbesitztundbeimEmpfängerSicherheitundVertrauenauslöst.<br />
467<br />
IhreStrukturundihre<strong>Gestaltung</strong>sollendafürsorgen,dassSchreib-,Lese-undBearbeitungszeiten<br />
und Bearbeitungsfehler verringert werden. Durch die Festlegung der Informationen<br />
und Informationswege sollen Arbeitsabläufe gestaltet und gesteuert werden<br />
können.SiedienensowohlderInformationsgewinnungalsauchderInformationsübermittlung.DiewiederkehrendenBestandteile,diemeisttypografischgestaltet,zweckmäßigangeordnetundvorgedrucktsind,richtensichanalleEmpfängerdieserMitteilungsart,wohingegen<br />
sich die variablen Bestandteile an den Einzelnen richten. Die wiederkehrenden<br />
BestandteiledesFormularssindVoraussetzungdafür,dassdasFormularüberhaupterstals<br />
Mustergestaltetwerdenkann. 468 DervariableBestandteilwirdmeistdurchdiehandschriftlichenEintragungendesAusfüllendenerzeugt.<br />
464 Helmut Schmidt, Bundeskanzler a.D., http://www.windpferd.de/shop/pix/a/<br />
media/978-3-89385-587-2/Leseprobe_978-3-89385-587-2.pdf, letzter Zugriff: 28.01.2010<br />
465 Toebe-Albrecht 70<br />
466 ebd. 70<br />
467 vgl. Toebe-Albrecht 173<br />
468 vgl. Albrecht 17 ff<br />
83
5.1 DefinitionundFunktion<strong>von</strong><strong>Formularen</strong><br />
Ohne Formulare würden die Angaben für eine Bearbeitung unvollständig, ungeordnetundfüreineschnelleBearbeitungungeeignetsein.<br />
469 ZusätzlicherAufwandundVerzögerungendurchRückfragen,ÜberlegungenundSortierarbeitenwärendieFolge.<br />
Neben ihrer Funktion als Informationsmittel sind Formulare also auch Organisations-undArbeitsmittel.DasFormularkanninseinerFunktionalsArbeits-undInformationsmittelzeitlichund/oderräumlichgetrennteBearbeitungsschrittezueinemzusammengehörigenVerwaltungsprozessausPrüfung,EntscheidungundVollzugverbinden.FormularesindBestandteileinesstrukturiertenArbeitsablaufesausErfassung<strong>von</strong>Informationen,Ansicht,AufbereitungundVerknüpfung.Gefolgt<strong>von</strong>Auswertung,AusgabeundSpeicherung.<br />
Siebeschreiben,steuernundgestaltenorganisatorischeundkommunikativeVorgänge<strong>von</strong><br />
privatenwiestaatlichenInstitutionen,VerwaltungenundOrganisationen.<br />
Formulareermöglicheneineeindeutige,gleichmäßiggeordneteInformation,sieersparenSchreib-undDenkarbeit,siesteuerndenArbeitsablauf.<br />
470 SiehaltendasErgebnis<br />
einzelner Arbeitsschritte (Aktenmäßigkeit) fest und sorgen somit für eine Überprüfbarkeit<br />
der Verwaltungsprozesse. 471 Das Formular ist das Mittel der Mitteilung der Verwaltungen.EsvereinheitlichtVerwaltungsakteundorganisatorischeVorgängeundbegründet<br />
eine„HaltungderZweckmäßigkeitundRationalität.“ 472 DasMißtrauengegendieWillkür<br />
derVerwaltungkonntegemindertwerden,denn„Wasfürallebestimmtwar,konnteauch<br />
dereinzelnefürsichakzeptieren.“ 473<br />
AlsVervielfältigungenversuchensiemillionenfachdurchstandardisierteFragenaus<br />
IndividualitäteineübersichtlicheOrdnungzuschaffen.SiesindeinZeichen<strong>von</strong>Seriosität,<br />
weisenaufeinenstrukturiertenArbeitsablaufsowieNormenundRegelnhin.Seine–dem<br />
Formulareigenen–Elemente,wurdenvorherdefiniertundebenfallsRegeln,Normenund<br />
Bestimmungenunterworfen.EinFormularistkeineinmaliger,künstlerischerEntwurf,es<br />
isteinkonzipiertesWerk.<br />
Waserzähltwerdensollbzw.erzähltwerdenmuss,gibtdasFormularvor.Wasder<br />
Sender(derFragende,derFormulierende,derHerausgeber)mitHilfeseinesFormularsfragt,<br />
beantwortetderEmpfänger(derKlient,derAdressat)durchseinAusfüllen.WiederHerausgebermithilfeseinesFormularsfragt,kannderKlientnichtbeeinflussen.DerHerausgeber<br />
glaubtdieAntwortenzukennen,undsiehtdafürFreiräumevor.Kurzundknappwirdeine<br />
Fragegestellt,kurzundknappmussgeantwortetwerden.BeidenAntwortenistmanum<br />
Präzisionbemüht,aufeinekonkreteFragemusskonkretgeantwortetwerden.RaumfürInterpretationengibtesnicht,derRaumfürAntwortenistbewussteingeschränkt.DennjeengerderSpielraumfürdieAntworten,destoklarersinddieGrundlagenfüreineAuswertung.DieAntwortensinddasaufdasNotwendigstereduzierteSubstratindividuellerLebensentwicklungen.<br />
DasFormularfordertaufzuantworten.EsistdasGrundgerüsteinesDialogesdurch<br />
Mitteilungen.DerAblauf,dieReihenfolge,derInhaltunddieVollständigkeitdesDialoges<br />
sindvorgegeben.DerdurchdenHerausgebervorgegebenenFormderKommunikationkann<br />
sichnuruntergeordnetoderverweigertwerden.Schweigeich,sowirddennochetwasausgesagt.EinFormularsetztdieBereitschaftzurBeantwortungeinerFragevoraus–esverlangt<strong>von</strong>mirdieFragerichtigzuerfassenundmeineAngabenzutreffendundvollständig<br />
zumachen.DennerstwenndieweißenFreiräumegefülltwordensind,ergibtsicheinefür<br />
denweiterenVorgangsinnvolleundvorallemdienlicheMitteilung.KonnteeineMitteilung<br />
entstehen,konnteaucheinDialogentstehen.DasFreilasseneinesfürdieBeantwortungvorgesehenenFeldesgibtaberauchschonInformationen–esteiltetwasmit.<br />
469 vgl. Helbig 44<br />
470 vgl. Helbig 44<br />
471 vgl. Brinckmann 171<br />
472 Toebe-Albrecht 65<br />
473 ebd. 65<br />
84
5.1 DefinitionundFunktion<strong>von</strong><strong>Formularen</strong><br />
Die entstandene Dialogsituation ist allerdings eine asymmetrische, da der HerausgebermitdemKlienteneinaufeingenaufixiertesZielausgerichtetesformalisiertesInterview<br />
führt und sich damit die Einwirkungschancen ungleich verteilen. 474 Dabei wurden<br />
dieFragensoweitaufbereitet,dasssiedienötigenInformationenbewirken.Indessbleibt<br />
der Spielraum, der dem Befragten eingeräumt wird, möglichst eingeschränkt. Die Konsequenzen,diesichausderBeantwortungderFragenundderanschließendenAuswertungergeben,habennurFolgenfürdenAntwortenden,nichtaberfürdenFragenden.DerFragendeundderAntwortendekenneneinandernicht,siebefindensichaufunterschiedlichenEbenenundPositionen,vorallemimInformations-undZuständigkeitshorizont.DieAsymmetriedesDialogsmanifestiertsichnochineinemanderenPunkt.DerAdressatstehtden<br />
FragendesFormularszunächstalleingegenüber,meistohneKenntnisdarüberzuhaben,<br />
aus welchem Kontext (Gesetze, Erlässe) die Fragen formuliert worden sind. Für ihn bestehtnichtdieMöglichkeit,wieineinempersönlichenGespräch,beiUnklarheitenoderVerständnisfragendurchweiteresFragenKlarheitzuerlangen.DieeinseitigeBefragungerlaubtnurAntworten,Gegenfragenkönnennichtdirektundunmittelbargestelltwerden.AbweichungendesInhaltswerdennichtsowiebeieinemGesprächalsBereicherungerfahren,sondernalsfehlerhafteEingabe,diedenArbeitsablaufbelasten.<br />
475<br />
Die Funktion bestimmt die Form des Formulars – kein schmückendes Element –<br />
nichts ist ohne Grund vorhanden. Standardisierte Ordnung und Knappheit sind die bestimmenden<br />
Elemente – das Formular ist ein Ort der Klarheit, Orientierung und Sicherheit.DieserOrtenthält,typografischunterscheidbar,diebereitsvorgedruckten,konstanten,wiederkehrendenBestandteile.Insiesollendieunterschiedlichsten,aberniebeliebigeInformationeneingetragenwerden–jededieservariablenInformationenhatihrenihrzugewiesenenOrt.DiekonstantenInformationenversuchenmitHilfe<strong>von</strong>Normen,dieDifferenziertheitdervariablenInformationenzubändigen.DiejeweilsindividuellenAntwortenkönnen<br />
miteinanderdurchdiegenormtenFormulierungendesGesprächesverglichenwerden.Den<br />
konstanten wiederkehrenden Bestandteilen kommt noch eine weitere Bedeutung zu. Sie<br />
strukturierendievariablenBestandteileso,dassderüblichenKodierung<strong>von</strong>Informationen<br />
durchZeichennocheineweiterezurSeitegestelltwird–dieKodierungdurchdieAnordnungaufdemMedium.„DerTextwirdzumBild.“<br />
476<br />
DieZielstellungistklar.DieAnzahlderfürdieKommunikationnötigenInformationensollaufdasNötigstereduziert,standardisiert,vereinfachtundbeschleunigtwerden.<br />
NursokönnenalleProzesseundVorgängeinschriftlicherFormökonomischundeffizient<br />
festgehalten werden. Will man wirtschaftliche und organisatorische Prozesse optimieren<br />
und Lese-, Bearbeitungs- und Verwaltungsvorgänge vereinfachen, so muss man die an<br />
einemProzessBeteiligtenundderenHandelnzeitlichundräumlichtrennenkönnen,aber<br />
dennoch die einzelnen Schritte nachvollziehbar halten. 477 Für die Vereinheitlichung der<br />
VorgängeundInformationennachbestimmtenNormenbeiimmerwiederkehrendenVorgängenisteineStandardisierungdurcheinFormularnurlogisch.GeradeinderVerwaltung,woderGegenstandderKommunikationvielfachähnlichoderdergleicheist,kommenFormularezumEinsatz.<br />
478<br />
474 vgl. Brinckmann 133<br />
475 vgl. Grosse 13 ff<br />
476 Schwesinger 34<br />
477 vgl. Menne-Haritz 86<br />
478 vgl. Fotheringham 27<br />
85
5.2<br />
Geschichte der Formulare<br />
5.2 GeschichtederFormulare<br />
„Sie sind eine in Jahrhunderten entwickelte Form schriftlicher Mitteilung, die aufgrund<br />
ihrer vorgedruckten Bestandteile und durch deren <strong>Gestaltung</strong> und Wiederholung<br />
dokumentarischen Charakter besitzt und beim Empfänger Sicherheit und Vertrauen<br />
auslöst.“ 479<br />
Formulare sind in unserer Gesellschaft eines der häufigsten und seit Bestehen des<br />
BuchdrucksaucheinesderältestenInformationsmittel.Mangehtda<strong>von</strong>aus,dassinMesopotamienschonvorrund5000JahrenTontäfelchenbekritzeltwurden.DurchdieseMethodewolltemandasVerteilen<strong>von</strong>Tierenfesthalten–am„Anfangwaralsonichtnurdas<br />
Wort,sondernauchdasFormular.“ 480<br />
DerUrsprungdesBegriffsformularekommtausdemLateinischenundheißtFormel.<br />
ImRömischenReichbezeichnetemanbestimmteGerichtsprozesseals„litigareperformulars“.<br />
Diese Prozesse wurden anhand <strong>von</strong> so genannten Formeln geführt. Inhalt der FormelnwarenInstruktionenundAnweisungen,nachdenenderRichterimgegebenenFallzuentscheidenhatte.Siewareine<strong>von</strong>derObrigkeitvorformulierteund<strong>von</strong>denParteienangenommene<br />
Schriftformel, die die Streitsache auf einen kurzen normgebenden Ausdruck<br />
brachte. 481 ImMittelalterwurdenindensogenannten„formularien“TextefürUrkunden<br />
gesammelt, die einleitende und schließende Floskeln sowie immer wiederkehrende festgelegte<br />
Wortfolgen für Rechtsverhandlungen enthielten. Sie ermöglichten es, Reinschriften<br />
anzufertigen, ohne dass im Vorfeld immer wieder neue Urkundentexte erdacht werden<br />
mussten.IndenKlösternschriebendieMöncheBlanko-Urkundenvor,dieauchschonAnfangs-undSchlussfloskelnenthielten.Diese„Blankette“musstendannnurnochbeiBedarf<br />
indenKanzleienvervollständigtwerden. 482 DieArbeitwurdedadurchbedeutenderleichtert<br />
undauchdieQuotederRechtsfehlersank.Imfrühen13.Jahrhundertgingmanda<strong>von</strong>aus,<br />
dassBeamtewissen,wiemanrichtigschreibt,undbeschränktesichaufdie„Arsnotariae“,<br />
LehrbücherdesSchreibensundDiktierens. 483 InihnenwurdendiebeiderAbfassung<strong>von</strong><br />
UrkundenundBriefenzubeachtendenRegelnausführlichtheoretischdargestellt.Alldiesen<br />
Prozessenwareinsgemein–erstmaligeräumlicheundörtlicheProzesstrennung.Mehrere<br />
PersonenkonntendankderVorgabenzuverschiedenenZeitenundanverschiedenenOrten<br />
aneinemProzessarbeiten.<br />
Gutenbergs Erfindung des Buchdruckes mit beweglichen Metall-Lettern revolutionierteauchdasFormular.DasältesteerhalteneFormularisteinAblassbriefausdemJahre1454.Diesererste,durchdenkurzvorhererfundenenBuchdruckgedruckteVordruck,ersparte<br />
durch seine vorgedruckten (wiederkehrenden) und auszufüllenden (variablen) Bestandteile,<br />
95 Prozent der früheren Schreibarbeit. In die gedruckte Vorlage mussten nur<br />
nochwenigeDaten,wiederNamedesKäufers,dieBuße,dasDatumunddieUnterschrift<br />
eingesetztwerden,damitderAblassbriefseinesündenbefreiendeAufgabeerfüllenkonnte.<br />
479 Toebe-Albrecht 173<br />
480 http://www.welt.de/welt_print/article2465793/Von-der-Wiegebis-zur-Bahre.html,<br />
letzter Zugriff: 19.11.2009<br />
481 vgl. Fotheringham 26<br />
482 vgl. Schwesinger 56<br />
483 vgl. Fotheringham 26<br />
86
5.2 GeschichtederFormulare<br />
DieAuflagederAblassbriefelagzwischen2000und6000Stück. 484 Weilsichdurchdiese<br />
TechnikvielZeitundAufwandersparenließ,wurdenschonbaldweitereVerwaltungsvorgänge<br />
vorgedruckt: z.B. Einladungen zu gerichtlichen Verhandlungen oder, weit erfreulicher,zuFesten.DieEinflussmöglichkeitenderZentralverwaltungaufdieuntergeordnetenStrukturenerhöhtesichdurchdieerleichterteVervielfältigungderschriftlichenKommunikation.<br />
485<br />
Esdauerteaberweitere300Jahre,bissichnachdemerstengedrucktenAblassbrief<br />
dieFormulareauchtypografischweiterentwickelten.Mangingmehrundmehrdazuüber,<br />
dieTextbausteineauchaufdergedrucktenSeiteräumlichanzuordnen.SomusstendieVordruckenichtmehr<strong>von</strong>AnfangbisEndegelesenwerden.BeigeschultemBlickkonntenso<br />
dieInformationensehrvielschnelleraufgenommenwerden. 486 UnddurchdieStellungund<br />
PositionaufderSeiteerhieltdieInformationnocheinenBedeutungscharakter.DieDarstellungundWahrnehmungderInformationenändertesichalso<strong>von</strong>dereindimensionalen,linearenTextdarstellungzurzweidimensionalen,flächigenAnordnung.<br />
487<br />
SteuerbeamtebrachteneineweitereNeuerung.Bisins14.JahrhundertwurdenPosten<br />
undBeiträgeeinfachlinearhintereinanderweggeschrieben.Im15.Jahrhundertgingman<br />
dazuüber,dieAufgabeninSpaltenaufzuteilen.DienötigenLinienmusstenaufdemFormularallerdingsnoch<strong>von</strong>Handgezogenwerden.<br />
488 EineSoll-undeineHaben-SpalteergabeneineTabelle,inderselbsteineNichteintragungeineInformationwar.SäumigeZahlerkonntendankderStrukturierungleichterausgemachtwerden.DieArbeitmitTabellenbeschleunigtedieArbeit.DieFormularekonntenbalddaraufnochbessergegliedertwerden,alsmaninderLagewar,Linien,Klammern,arabischeZiffernundSchrifteninverschiedenenGradenundSchnittenvorzudrucken.DieTabelleistauchheutenocheinesderwichtigstenElementeeinesFormulars.<br />
Am Ende des 16. Jahrhunderts wurden verstärkt in Handel und Gewerbe Quittungen,ErfassungsblättersteuerpflichtigerGüterundGenehmigungenvorgedruckt.Im18.JahrhunderterscheinendieerstenBriefköpfe.FreilassungsurkundenfürBauernoderBestallungsbriefefürBeamtewerdenangefertigt.DankderEffizienzderTabellenbegannman<br />
auchdieBevölkerungzuzählenoderLandzuvermessen.DieskamdemrationellenDenken<br />
derAufklärungzugute.„DasWissenumdiewahrenVerhältnissestandfüreinerationalistische<br />
Geisteshaltung zugunsten der Aufklärung und Bürgerlichkeit.“ 489 Der 1796 entwickelteLithografiedruckermöglichteeserstmalig,vielfarbigeIllustrationenzuvervielfältigen.SpezielleSpaltennurfürdieEintragungenderBeamtenunddieFarbenprächtigkeit<br />
erhöhtendieWichtigkeitderSchriftstücke.<br />
DiezunehmendeBürokratisierungverlangtnacheinerimmerschnellerenErfassung<br />
undBearbeitungderInformationenüberdieBürger.RationalitätistdasbestimmendeElementim18.Jahrhundert,auchinderVerwaltung.ImmermehrAufgaben,wiez.B.Bildung<br />
und die öffentliche Sicherheit, wurden vom Staat übernommen, und das verlangte nach<br />
immermehr<strong>Formularen</strong>.„AndieStellederAristokratietratdieBürokratieundersetzte<br />
dasHerrschenderOberschichtendurchdieZirkulationderAkten.“ 490 Folglichwirddas<br />
einzelneIndividuumimmerstärkerindasbürokratischeSystemeingeordnet,esbeginntdie<br />
KategorisierungdesEinzelnen.<br />
484 vgl. Fuchs, Boris: „Der Formulardruck aus historischer Sicht – Die Jahrestagung<br />
2003 des IADM im Hamburger Museum der Arbeit“, 2003, http://www.vdd-net.de/<br />
Publikationen/Fuchs/Boris-Fuchs-18-11-2003.html, letzter Zugriff: 17.11.2009<br />
485 vgl. Wunder 29<br />
486 vgl. Menne-Haritz 86<br />
487 vgl. Schwesinger 58<br />
488 ebd. 58<br />
489 Schwesinger 58<br />
490 Schwesinger 60<br />
87
5.2 GeschichtederFormulare<br />
DochnichtnurinderVerwaltungsteigtderBedarfan<strong>Formularen</strong>. 491 AuchdieIndustrieundderHandel,unterdemEinflussderIndustrialisierungstehend,benötigenimmer<br />
mehr Formulare zur Bewältigung der Prozesse. Rechnungen und Schecks mussten ausgestelltundLöhneabgerechnetwerden.InderIndustriewieauchinderVerwaltungherrschtedasBestrebennacheinereffizienterenOrganisation.EinenerneutenSchubanEffizienzerhält<br />
die Verwaltung durch die Erfindung der Schreibmaschine (erfunden 1714, verkaufsreifeModelleerstab1865).DiegleichmäßigenAbständederZeichenundZeilenabständesorgtenfüreinebessereLesbarkeitundÜbersichtlichkeit,KohlepapierermöglichteeineSofort-Kopie.<br />
Dieindustrielle Revolutionsorgtdarüber hinausdafür,dassAnfang des20.JahrhundertsästhetischeKonzeptenichtmehrnurdurchdenGeschmack–alsodurcheinSinnenurteil–sondernauchdurcheinenvomLebensausdruckbestimmtenProblemhorizont<br />
beurteilt werden. Wie Gegenstände hergestellt und genutzt werden können, rückt in das<br />
Zentrum der Betrachtungen. Die Herrschaft des Dekorativen und der Verkunstung wird<br />
zunehmendkritisiert.HermannMuthesiusForderungnachmaterial-,zweck-undwerkgerechtemGestaltenführtzurGründungdesanderIndustrieorientiertenDeutschenWerkbundes.DasfunktionelleGestaltenwird<strong>von</strong>derArchitekturaufmobileObjektederSerienproduktionübertragen.<br />
Der Funktionalismus findet mit seinen Vorstellungen – dass sich die <strong>Gestaltung</strong>sweiseausdemZweckdeszugestaltendenGegenstandesableitenmuss–beiderFormulargestaltungeinidealesSpielfeld.DieFrage,wofüretwasgestaltetwerdensoll,istwichtigerals<br />
dieFrage,wieetwasgestaltetwerdensoll–dieFunktionwirdalsZielbestimmt.Dabeiwird<br />
derAdressatbzw.derNutzerindenVordergrundgestelltundnichtderAbsenderbzw.der<br />
Erschaffer.JedesWerkhatzweiSeiten.DerobjektivenSeitederFormdesObjektes–System,<br />
Struktur, Form und Formales – steht die subjektive Seite des Autors – Autonomie, Freiheit,Ungebundenheit–gegenüber.<br />
492 DasschmückendeBeiwerkbisherigerFormulareverschwindet.StrengeLinienstattZierleisten,GroteskstattHandschriften,funktionaleund<br />
sachlicheÜbersichtlichkeitdurchhorizontaleundvertikaleOrdnungstattwilderOpulenz.<br />
„DieDrucksachen,dieunsstündlichbegegnen,sindnurselteninangenehmenLetternund<br />
übersichtlichgedruckt.HäufigsindsielärmendeOrgienwildgewordenerBuchstabenund<br />
selbstbewusstauftretenderWurstigkeit.“ 493 VondenbisherigenGepflogenheitenwirdsich<br />
radikalabgegrenzt.Manwilleinerseitstypografischexperimentieren,aberandererseitsstandardisieren,vereinfachenundpraktischervorgehen.IndenzwanzigerJahrennimmtdieForderungnachhöherenOrganisations-undStandardisierungsgradensowielängererLebensdauerbeigleichzeitigerfinanziellerBeschränkungbeiderProduktionzu.DieGegenstände<br />
sollen funktionieren, dem Zweck dienen, ihre Funktion erfüllen, dabei aber gleichzeitig<br />
haltbarer,billiger,schönerundzeitlosersein.Die„FunktionaleTypografie“(„Elementare<br />
Typografie“) zeigtihrenEinflussbei den<strong>Formularen</strong> – Kurt Schwitters gestaltet z.B. für<br />
seineHeimatstadtHannoverFormulareneu.Ab1955bautdieSchweizerTypografieauf<br />
derElementarenTypografieauf.BezeichnendbleibtderVerzichtaufschmückendeElemente,<br />
die strenge Darstellung und die überwiegende Verwendung <strong>von</strong> Groteskschriften in wenigenSchriftgraden.DieserEinflusshältbisheutean.<br />
InhaltlicheNominierungenundStandardisierungenentscheidenindenJahren<strong>von</strong><br />
1933-45überLebenoderVernichtung.ÜbermenschlichesLebenwurdemitabstraktformulierten<br />
Vordrucken entschieden. Ein Ausbürgerungsschein mit der Notiz „Alterstransport“<br />
hieß nichts anderes als die Deportation in ein NS-Vernichtungslager. Formulare<br />
hattenwohlniewiedereinesolchlebensbedrohendeFunktionalszudieserZeit.Hattensie<br />
vorherdieFunktion,dassozialeLebenzuunterstützen,indemesdassozialeGefügever-<br />
491 vgl. Reindl 122<br />
492 vgl. Hirdina 588<br />
493 Tschichold 7<br />
88
5.2 GeschichtederFormulare<br />
suchtezuordnenundzuverwalten,sodienteesjetztdazu,TeiledessozialenGefügeszuvernichtenundeineneueOrdnungzuschaffen.<br />
494<br />
EineneueEffizienzmarke wirdindensiebziger Jahrengesetzt. Dieverstärkte VerbreitungderEDV-TechniksowiedieVerbesserungenimDruckundSatzermöglicheneinenochschnellereErstellungundBearbeitungderFormulare.DieZeitersparnisbeimschriftlichenErfassen,alseinederwichtigstenAufgabenderbisherigenFormulare,verliertanBedeutung.DieTechnikermöglichtes,dassdieFormulareschnellergeschriebenalsgelesen<br />
undbearbeitetwerdenkönnen.Deshalbwirdesauchimmerwichtiger,dasssichdieLese-<br />
und Bearbeitungszeit verringert. 495 Bearbeitungszeiten und Bearbeitungsfehler lassen eine<br />
Einschätzungzu,wieschnellundsichereinVordruckdieInformationenübermittelt.<br />
DieVorteiledigitalgespeicherterDatenwurdendamalszusehendsklarer.Siekonnten<br />
beliebigoftbearbeitet,weitergegeben,verknüpft,abgeglichen,abgerufenundwiederbearbeitetwerden.DerersteSchrittindieseRichtungwardiecomputergerechteVorstrukturierungderFormulare.Gänzlich<strong>von</strong>manuellerArbeitwarmanabernochnichtbefreit,die<br />
ausgefülltenFormularemusstennochimmermanuellerfasstwerden.Dasändertesicherst<br />
mitderEinführung<strong>von</strong>Belegelesern.SiemachtendiemanuelleÜbertragungüberflüssig,da<br />
sie die zwischen Kästchen und Kämme gezwungenen handschriftlichen Eintragungen erkennenkonnten.Sohattemaneszwargeschafft,dieArbeitsprozesseerneutzubeschleunigen,aberaufdenpapierenenZwischenschrittübereinFormular–daszwischenMensch<br />
undMaschinestand–konntedennochnichtverzichtetwerden.<br />
EinenVersuch,dasPapieralsZwischenschrittauszuschalten,unternimmtmanmit<br />
demsogenannten„e-government“.Kommunikative-undverwaltungstechnischeProzesse<br />
zwischen einer staatlichen/kommunalen Behörde und deren Bürgerinnen und Bürgern<br />
sollendurchdigitaleTechnikenvereinfacht,beschleunigtundgünstigerwerden.DerAustausch<br />
der Informationen soll vorwiegend über das Internet geschehen. Dieser Kern der<br />
Neuerung bringt auch gleichzeitig das Hauptproblem mit sich – es fehlt an der entsprechendenAkzeptanz.DieGründedafürsindverschieden.DasUnsicherheitsdenkenderAnwender,<br />
der fehlende Beweis der Rechtsfähigkeit, die fehlende Beweissicherung, der fehlendeUrkundscharakter,diefehlendenMöglichkeitenderAuthentifikation,Aktenführung<br />
undZeichnungsrechte–allesansichschonerheblicheProbleme.Nochschwerwiegenderist<br />
aberdieBehinderungdurchdieunterschiedlichenTechnikstandards(Medienbruch)innerhalbderBevölkerung.FastallejetzigenStufendes„e-government“habenabernochimmereinepapiereneStufe,meistumdenBereichderRechtsfähigkeitklarzustellen.EingutesBeispiel,sowohlfürdieBestrebungdese-governmentalsauchfürdieProblematikdesMedienbruches,findetsichunterdemFormularservicedesLandesThüringen.<br />
496 DerServicebietet<br />
einumfassendesAngebotanbehördlichen<strong>Formularen</strong>,wirklichnutzenkönnendenService<br />
abernurdieBenutzerdesWindowsInternetExplorers.<br />
Anders sieht es da schon beim „e-commerce“ aus. Schon jetzt laufen ganze Verkaufstransaktionendigitalab.Kauf,Bestätigung,Versand,Sendungsverfolgung,Rechnung,<br />
BewertungundRücksendeauftrag–allesdigitalvorbereitetundabrufbar.<br />
SeineDringlichkeitundAktualitätbrauchtdieIdeedes„e-government“nichtmehr<br />
zuerbringen.BeiderfortschreitendenBevölkerungswanderungundZentrierunginurbanen<br />
Lebensräumen muss die Verwaltung handlungsfähig bleiben. Anders als in den immer<br />
dünnerbesiedeltenGebieten.DorthatsieaufgrundderPersonalsituationdamitzukämpfen,<br />
überhaupthandlungsfähigunderreichbarzusein. 497<br />
494 vgl. Schwesinger 66 f<br />
495 vgl. Toebe-Albrecht 18 ff<br />
496 vgl. http://www.formularservice.thueringen.de/, letzter Zugriff: 20.11.2009<br />
497 vgl. Schwesinger 70<br />
89
5.3<br />
Typen <strong>von</strong> <strong>Formularen</strong><br />
5.3 Typen<strong>von</strong><strong>Formularen</strong><br />
„Die Vielfalt der sich im Umlauf befindenden Formulare scheint unüberschaubar. Für fast<br />
alles, das irgendwie mit Bürokratie zu tun hat, gibt es ein Formular.“ 498<br />
Nach der Sender-Empfänger-Beziehung werden zwei Arten <strong>von</strong> <strong>Formularen</strong> unterschieden.<br />
499 GrundsätzlichkannmannachMitteilungs-oderDialogformularen,bestimmt<br />
durch die Richtung des Informationsflusses, unterscheiden. Diese Unterscheidung kann<br />
nochmalspezifiziertwerden,indemmanzwischen<strong>Formularen</strong>fürdeninternenoderexternenGebrauchunterscheidet.<br />
Bei den Mitteilungsformularen geht die Information nur in eine Richtung, vom<br />
Sender/Herausgeber zum Empfänger/Klienten. Rechnungen, Quittungen, Auftragsbestätigungen,Darlehens-oderLebensversicherungsverträgesindsolcheFormulare.DerSender<br />
fülltdasFormularmitInformationen,informiertdamitdenEmpfängerunderwarteteine<br />
bestimmteReaktion.DerEmpfängerwiederumnimmtdieseInformationenzurKenntnis<br />
undhandelteventuelldanach.DasFormularverbleibtbeimEmpfänger.DasFormularhat<br />
mitderInformationsübermittlungseineAufgabegetan.<br />
Anderssiehtesbeiden<strong>Formularen</strong>fürdieInformationsgewinnungaus.Beidiesen<br />
<strong>Formularen</strong>gehtderInformationsflussinzweiRichtungen.DerSendererfragtmitHilfedes<br />
FormularsInformationenvomEmpfänger.DabeigibtderSender(Herausgeber)dieauszufüllendenAbschnittevorundüberstelltsieandenEmpfänger(Klienten).Diesersolldann<br />
dieAbschnittemitseinenInformationenfüllen.DieFormularekehrenvomEmpfänger–er<br />
wirdjetztzumSender–ausgefülltzumSender–erwirdzumEmpfänger–zurück.Durch<br />
denWechselbeimSender-Empfänger-Prinzip (Herausgeber undKlientwerdenjeweils zu<br />
SenderundauchzuEmpfänger)kann<strong>von</strong>einemDialoggesprochenwerden–Herausgeber<br />
undKlientinteragierenmiteinander.Mansprichthierauch<strong>von</strong>Dialogformularen.<br />
Eine besondere Bedeutung unter den informationsgewinnenden Dialogformularen<br />
hatdasAntragsformular.BeibehördlichenAntragsformularenbeziehtsichderAnspruch<br />
desKlientenmeistaufgesetzlichverbriefteRechte.DieUniformitätesAntragsblattesverfolgtmehrereZiele.SiebetontdieGleichheitdesBürgersvordemGesetz,siesammeltundgarantiertdiefürdieBearbeitungundEntscheidungerforderlicheDatenmenge,undsieermöglichteinerelativrascheundgutvergleichbareAuswertung.<br />
500 DeshalbmüssenAntragsformulareauchimmerbegründetwerden,unddieDarstellungderBerechtigungaufeine<br />
bestimmteLeistunghatimmeraufeinebestimmtefestgeschriebeneFormzuerfolgen.Der<br />
WegderAntragstellungistähnlichvorgeschrieben.DerAntragstellerhatseinenAnspruch<br />
meistimVorfeldschondemHerausgebermitgeteilt.DieserüberstelltdaraufhindemKlienteneinAntragsformular,umdiefürseineEntscheidungnötigenInformationenzusammeln.DerAntragsteller(Klient)istnun–nachderMitteilungdesAnspruchsaufeineLeistung<br />
– erneut gefragt und muss handeln. Er füllt an die vorgesehenen(wiederkehrenden,<br />
konstanten)seineindividuellen(variablen)Informationeneinundüberstelltdasausgefüllte<br />
FormularwiederzurückandenEmpfänger.DenAntragsformularensindmeistnochErklärungsformularezugeordnet.CharakteristischfürErklärungsformularesinddievorformuliertenErklärungen,diemeistdiefinanziellenLebensumständeerfragen.<br />
498 Schwesinger 74<br />
499 vgl. Toebe-Albrecht 22 ff, 173 ff<br />
500 vgl. Grosse 16<br />
90
5.3 Typen<strong>von</strong><strong>Formularen</strong><br />
WeitereTypen<strong>von</strong><strong>Formularen</strong>sind:<br />
-Anmeldeformulare:sieübermittelndenWunschnachTeilnahmebzw.<br />
bestätigendieschonbestehendeTeilnahme<br />
-Auftrags-undVertragsformulare:dassindmeiststandardisierteVerträge,die<br />
denAnspruchaufeineLeistungodereinProduktfestschreiben<br />
-RechnungundQuittung:siedienenderAufforderungbeziehungsweise<br />
Dokumentation<strong>von</strong>ZahlungsvorgängenoderÜberstellungen<br />
-Bescheide:sindvorformulierteMitteilungüberdenAusgangeinerEntscheidung<br />
-Hinweisformular:siebezeichnenvorformulierteMitteilungüberEreignisseund<br />
Prozesse<br />
-Fragebögen:siedienenderErhebungvergleichbarerInformationnach<br />
standardisiertenVorgaben<br />
-Urkunden:bezeichnenautorisierteBekundungbzw.BeweiseinesEreignisses<br />
-Wertpapiere:sindeineUnterkategoriederUrkunde,mitihnensindRechte<br />
verknüpft,dieohnediesewedergeltendnochübertragenwerdenkönnen<br />
-Berichts-Protokollformular:siedienenderErfassungundSpeicherung<strong>von</strong><br />
InformationenüberVorgänge,Prozesse,ZuständezurNachvollziehbarkeit,<br />
Rechtfertigung,Archivierung<br />
EineweitereUnterscheidungsmöglichkeit,unabhängig<strong>von</strong>derRichtungdesInformationsflusses,bietetdieUnterscheidungnachdemGradderNähezumRechtstext.Unterschiedenwirddabei,obdieAngabenzueinembestimmtenVorgangeinerjuristischnicht<br />
gesteuertenBeschreibungoderehereiner„juristischgesteuertenBeschreibungunterfreier<br />
VerwendungodergebundenerVerwendung<strong>von</strong>BegriffenoderunterVerwendunggerade<br />
derundnurderBegriffedesGesetzes“zuzuordnensind. 501 Einfacher:Formularemitnicht<br />
juristischgesteuerterBeschreibungsindFormularewiez.B.„BeschreibungderverlorengegangenenGegenstände“.ImGegensatzdazuorientierensichjuristischgesteuerteFormulareenganden„imGesetz,derVerordnung,denVerwaltungsvorschriftenvorgegebenenGliederungendesTatbestandesineinzelneMerkmaleundfragendieseab.“<br />
502<br />
Für die weiteren Erörterungen scheint mir aber letztere Unterscheidung nicht <strong>von</strong><br />
Vorteilzusein.<br />
501 Brinckmann 215<br />
502 Brinckmann 216<br />
91
5.4.3<br />
Schlussfolgerungen<br />
5.4.3 Schlussfolgerungen<br />
Verstehen heißt, die Menge der Einzeldaten durch Ordnung, Darstellung <strong>von</strong> Zusammenhängen,VisualisierungderOrdnungsbeziehungenunddurchVerwendung<strong>von</strong>Gestaltmustern<br />
zu verringern. „Das, was der Empfänger aufgrund bekannter ZusammenhängeundOrdnungsmustererwarten,erratenodersonstwieineineNachricht<br />
einsetzen<br />
kann, stellt für ihn keine zusätzliche Information dar. Den Begriff ‚Verstehen‘ auf diese<br />
Weisezudefinieren,hängtmitderArbeitsweisedesmenschlichenGehirnszusammen.“ 520 <br />
WennInformationenschnellundsichervomSenderzumEmpfängerundzurückübertragen<br />
werdensollen,somüssenfürschriftlicheInformationsmitteldiemenschlicheInformationsaufnahmeund-verarbeitung,dieArbeitsweisedesAuges,desGedächtnissesunddieLernstrategiendesMenschenbeachtetwerden.<br />
DiemenschlicheVerarbeitung<strong>von</strong>Informationengeschiehtdaten-undkonzeptuell<br />
gesteuert.DeshalbmüssendieineinemFormulareingesetztenMitteldieMustererkennung<br />
beimEmpfängerermöglichen.WillsicheinSenderverständlichmachen,mussersichmöglichstbekannterMusterbedienenodersiesogestalten,dasssieerlernbarsind.DerSender<br />
mussversuchen,gezieltInformationenfürdenEmpfängerzuverringern.Möglichwirddies,<br />
indem er inhaltliche Ordnungsbeziehungen herstellt und visualisiert. Den Lese- und Bearbeitungsverlauf<br />
kann er beschleunigen, indem er die langsame sequenzielle InformationsverarbeitungdesLesensverkürzt.DarüberhinauskanndieAnzahlunddieDauerderFixationspunkteunddamitderRückläufereduziertwerden.WichtigeDatenkönnenauffälliggestaltetwerden,wennsiedemEmpfänger–unterstütztdurchdiekonzeptuelleInformationsverarbeitung<br />
– eine schnelle Identifikation <strong>von</strong> Sender und Vorgang und einer<br />
EinordnunginZusammenhängeermöglichen.AlswichtigeInformationensolltenauchnur<br />
diejenigenangesehenwerden,diedieReaktiondesEmpfängersimSinnedesSendersbeeinflussen.Eineauffällige<strong>Gestaltung</strong>darfabernichtzuLastenderInformationgehen–alleInformationenmüssenlesbarbleiben.<br />
Gerade das Formular ist durch seine wiederkehrenden Bestandteile prädestiniert,<br />
Musterzugestalten.DemEmpfängerwirddurchdieWiederholungderMusterdasErlernen<br />
unddamitdasschnellereErkennenderMusterermöglicht–diekonzeptuelleVerarbeitung<br />
wird angesprochen. Der Empfänger erkennt das Muster „es ist redundant und hat keine<br />
odernureinegeringeInformationfürihn.“ 521 DerEmpfängerkannaufgrundseinesWissensundseinerErwartungendieMitteilungschnellerundsicherereinordnen.DieFehlerquoteunddamitauchdieLese-undBearbeitungszeitwirddurchdie<strong>Gestaltung</strong>verringert.VerständlicheFormularemüssendeshalbdieInformationenfürdenEmpfängerverringern,ihnbeiderBearbeitungführen,eineschnelleIdentifikationermöglichenundfür<br />
ihnlesbarsein.DieskannnichtohnedieAuswahlundGliederungderVordruckdatenim<br />
Sinne der Informationsverringerung und Benutzerführung geschehen. Wiederkehrende<br />
Daten müssen <strong>von</strong> den variablen Daten eindeutig unterscheidbar und in ihrer WiederholungfürdenEmpfängererlernbarsein.DenwiederkehrendenDatenobliegtdieVisualisierungderinhaltlichenBeziehungen.VariableDatenmüssenalssolcheklarerkennbarundimSinnedesBenutzungsablaufsundderLeserichtungangeordnetsein.FüralleDaten–sowohlfürdievariablenalsauchfürdiewiederkehrendengilt,dasssielesbarseinmüssen;<br />
„eineForderung,diefüralleschriftlichenInformationsmittelgilt.“ 522<br />
520 Toebe-Albrecht 171<br />
521 Toebe-Albrecht 46<br />
522 Toebe-Albrecht 48<br />
97
5.5 DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde<br />
5.5<br />
Das Formular in der Beziehung Bürger – Behörde<br />
„Es dürfte kaum noch eine andere Textsorte geben, die vom Autor mit einem solchen Maß<br />
an Widerwillen produziert wird. Die fehlende Motivation zum Schreiben und zugleich der<br />
Zwang, es doch tun zu müssen, charakterisieren die im Vordruck enthaltenen Mitteilungen<br />
des Bürgers als Texte sui generis“ 523<br />
FormularesollenKommunikationzwischendemHerausgeberunddemAusfüllenden<br />
schaffen.DazusollendienötigenInformationengesammelt,gespeichertundausgewertet<br />
werdenkönnen.Weilvorhersehbarist,welcheInformationenfüreineVerwaltungsentscheidungnötigsind,kannmitVordrucken(die„vorgedruckte“Informationenenthalten)gearbeitetwerden.DerUmfangunddieVariationdereinzutragenden,variablenInformationen<br />
wirddurchInhalte,Reihenfolge,Darstellungsarten-,undumfangvorhergesehenunddamit<br />
vorgegeben. 524 Damitein„korrektes“Formularentsteht,müssenzudenwiederkehrenden<br />
InformationennurnochdievariablenInformationeneingetragenwerden.Undebendiese<br />
TeilungderschriftlichenInformationeninwiederkehrendeundvariableInformationen,machendasFormulargegenüberanderenschriftlichenMitteilungensobesonders.DiewiederkehrendenInformationensindfüralleEmpfängergültigeDatenundVoraussetzung<br />
dafür, dass das Formular als Muster gestaltet werden kann. Sie dienen der<br />
schnellen Identifikation des Senders und des Vorganges. Die wiederkehrenden Informationenerlaubenes,dassdieselbenBegriffeverwandtunddieselbenerlernbarenGestaltmuster<br />
visualisiertwerdenkönnen. 525 DemEmpfängerwirddieMöglichkeitgegeben,dasMuster<br />
zuerlernenundsofortzuerkennen.„ErkannaufdieseWeiseseinWissenundseineErwartungennutzen.“<br />
526 DiewiederkehrendenDatensindderkonzeptuellgesteuerteTeilder<br />
Informationsverarbeitung. DerEmpfängererkenntdurchdieWiederholungdenVorgang,<br />
durchdasredundanteMuster,daseinegeringereodergarkeineInformationfürihnhat.<br />
DieArtderAnordnungundVisualisierungderDatenverringerndieInformationen.<br />
DerBenutzerwirdschnellundsichergeführt,erkanndiewichtigenInformationenselektieren.Durchdie<strong>Gestaltung</strong>desFormularswirddemBenutzerermöglicht,Einzeldaten,DatenblöckeunddieGesamtinformationzusehen,seineLese-undBearbeitungswegewerden<br />
gelenkt.DasFormularermöglichtes,diebenötigtenInformationengezieltauszuwählen,es<br />
mussnichtdergesamteInhaltgelesenwerden,dielangsamesequenzielleInformationsverarbeitungdesLesenswirdverkürzt.EsmachtaufdieseWeiseInformationenverständlicher<br />
undkannsoschnellundsichervomSenderzumEmpfängerübertragenwerden.Weilder<br />
EmpfängernurnochdiefürihnbestimmtenvariablenDatenzulesenundzuinterpretieren<br />
braucht,verringertdasFormulardiezuverarbeitendeDatenmenge.<br />
TrotzodergeradewegendieserVorteilehabenFormularemitgroßenAkzeptanzproblemenzukämpfen.DaskönnenexterneProblemesein.SieberuhenmeistaufVoreingenommenheitenundErfahrungen.UndessindhausgemachteProbleme–durchForm,<strong>Gestaltung</strong><br />
undFormulierung.DieFormularewerdenoftalsnotwendigesÜbel,dasZeit,Nervenund<br />
Privatsphäreraubt,empfunden.MeistsinddieProblemedarinzusuchen,dasseinzigdie<br />
BedürfnissedesHerausgebersimVordergrundstehen.VielzuoftsinddieFormularenach<br />
derArbeitsorganisationstrukturiertundgeordnet.SostehensichdieInformationserhebung<br />
unddieInformationsübermittlungdesHerausgebersmitdenWünschendesInformations-<br />
523 Siegfried Grosse, ehem. Präsident des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim, 1979, Grosse 13<br />
524 vgl. Brinckmann 16<br />
525 vgl. Toebe-Albrecht 175<br />
526 Toebe-Albrecht 46<br />
98
5.5 DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde<br />
geberskonträrgegenüber.ZuwenigsinddieFormularelementeandieBelangeundWünschederBefragten,derKlienten,derKunden,derAusfüllendenangelehnt.Zuseltenwirdgefragt,wiedietechnischenVerfahrenandiemenschlichenLese-undSchreibmethodenangepasstwerdenkönnen.ZuoftwerdendieBedürfnissedesBürgersdentechnischenMachbarkeitenuntergeordnet.<br />
527<br />
EinejuristischeBesonderheitgibtesnochbeidenAntragsformularen.EinAntragsformulardarfnichtmiteinemAntraggleichgesetztwerden.FürVerwaltungensindAntragsformularelediglicheineArbeitshilfe.ImjuristischenSinneisteinAntrageineeinseitigeWillenserklärung.DiesemussnichtzwangsläufigmitHilfeeinesAntragsformularsgeschehen.<br />
FürdenAntragstellerwürdeauchschoneineschriftlicheÄußerung–beispielsweisedurch<br />
einenBrief–ausreichen. 528<br />
SchwierigeristdieArbeitandenexternenAkzeptanzproblemen.DerProzessderInformationsgewinnung,<br />
weniger der der Informationsübermittlung, wird erschwert, wenn<br />
derInformationsgebendenegativeAssoziationenmitdemFormularverbindet.GeradebehördlicheDialogformularehabenmitdiesemProblemzukämpfen.BehördlicheFormulare<br />
stehenvorderZuspracheoderAblehnungeinerimGesetzverbrieftenLeistungundwerden<br />
deshalbalszusätzlicheHürdeundBlockadeempfunden.DasfürdieKontrollederProzesse<br />
geschaffeneFormularwirdindieserSituationvomAusfüllendenoftalspersönlichesKontrollinstrumenterfahren.DieGründe,weshalbbehördlicheFormularebesondersmitAkzeptanzproblemenzukämpfenhaben,sindabernochvielumfangreicher.InVerwaltungsprozessenwerdenInformationenverarbeitet.DerTeilderInformationen,dervariablenbzw.individuellenInhaltsist,wirdextern,also<strong>von</strong>demAntragsteller<br />
oder einem informationspflichtigen Bürger über ein Formular (über einen formalisierten<br />
Weg)derVerwaltungüberstellt.DasFormularträgtdabeizweiBotschafteninzweiRichtungen:EsinstruiertdenKlientendarüber,welchesdiegewünschtenInformationensind,undwiesiezuübermittelnsind.UnddanntransportiertesdieseInformationenfürdieKlärungdesSachverhaltszurückandieVerwaltung.EssorgtfürdenTransportundgibtdarüberhinausInstruktionen.EsistmehralsnureinTransportmittel–esbesitzteineInteraktionsfunktion.Unddeshalbistessowichtigzuermitteln,obundwiedieInformationen<strong>von</strong><br />
beiden Kommunikationspartnern verstanden werden. Für beide am KommunikationsaustauschbeteiligtenSeitenmussein„zweckrationalesundanreziprokenInteraktionsnormen<br />
orientiertesHandeln“ermöglichtwerden. 529 DieVerwaltunggibtdabeiallerdingseinseitig<br />
dieNormenfürdie„reziprokeInteraktion“vor.<br />
DerEinsatz<strong>von</strong><strong>Formularen</strong>inVerwaltungsprozessenkenntsomitzweiSeiten.Auf<br />
dereinenSeitestehtdasFormularalsArbeits-undInformationsmittel.Esermöglichteine<br />
rationaleundeffizienteAufgabenerfüllung.Essorgtdafür,dassdieSpielräumederInteraktionbegrenztunddieInformationenunddasHandelnkalkulierbarundkontrollierbar<br />
werden.<br />
AufderanderenSeitesorgensie,dieFormulare,gleichzeitigfüreineSchaffung<strong>von</strong><br />
„HerrschaftspositionenundderenAbsicherung“. 530 Dennaufdie<strong>Gestaltung</strong>derStrukturen<br />
undNormenfürdieKommunikationhabendieKlienteninderRegelkeinenEinfluss.So<br />
kann das Formular in seiner Funktion als Arbeits- und Informationsmittel konträr den<br />
HerrschaftsansprüchenderVerwaltunggegenüberstehen.AnandererStelle(Kapitel:DefinitionundFunktion<strong>von</strong><strong>Formularen</strong>)habeichbereits<strong>von</strong>einerasymmetrischenDialogsituationgesprochen.WillmandieAsymmetrieinderInteraktionentschärfen,somussdafür<br />
gesorgtwerden,dasdieInteraktiondurchreziprokeInteraktionsnormenbestimmtwird.<br />
Alle per Gesetz garantierten Ansprüche sind „passiv institutionalisiert“, d.h. sie<br />
527 vgl. Grosse 12<br />
528 vgl. http://hartzkritik.bplaced.net/GoldeneRegeln.htm, letzter Zugriff: 04.01.2010<br />
529 Brinckmann 131<br />
530 Brinckmann 26<br />
99
5.5 DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde<br />
werden<strong>von</strong>einergesellschaftlichanerkanntenInstitutionverwaltet. 531 DieseAufgabewird<br />
<strong>von</strong>„organisatorischen Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung“, denBehörden,übernommen.BehördensindderRegierungnachgeordnetundführendieGesetzeausundüberwachenderenBefolgung.<br />
532 DieBundesrepublikDeutschlandistlautArtikel20Absatz1<br />
GrundgesetzundArtikel28Absatz1GrundgesetzeindemokratischerundsozialerRechtsstaat.DieVerwaltungmusssichbemühen,dassdieserVerfassungsauftragerfülltwerden<br />
kann,d.h.siesollhelfen„denSozialstaatinhaltlichauszugestalten“.Hauptaufgabensind<br />
dabei die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Daseinsvorsorge,<br />
dieOrganisationderBildungu.a.. 533<br />
DamitderBürgerseineihmzugesprocheneRechtsgleichheit,alsodieGleichheitvor<br />
demGesetzwahrnehmenundseinInteresseeinbringenunddurchsetzenkann,musserKontaktzuröffentlichenVerwaltungaufnehmen.<br />
534 DieVerwaltungistfürihndaswesentliche<br />
MittelzurRechtsdurchsetzung.DerKontaktmitöffentlichenVerwaltungenvollziehtsich<br />
überwiegendüberFormulare–mögensieauchasymmetrischzuUngunstenderBürgersein.<br />
„DerBürgerhatsichVerwaltungenüberAntragsformularezunähern,erhatInformationen<br />
undErklärungenandieVerwaltungeninFormularezuschreiben,unddieVerwaltunggibt<br />
ihmAuskunftodererteiltihmBescheidwiederummittels<strong>Formularen</strong>.“ 535 DerBürgerbegibtsichdamitineineArtAbhängigkeit<strong>von</strong>derBehörde,denndieBearbeitungderAnträge<br />
setztdasMitwirkenderAntragstellervoraus.„DieGewährungöffentlicherLeistungen(ist)<br />
inderRegel<strong>von</strong>derInitiativedesAnspruchsberechtigtenodereinesDrittenabhängig,so<br />
daßdieVerteilungstaatlicherLeistungeninerheblichemMaß<strong>von</strong>denHandlungschancen<br />
derBetroffenengegenüberderVerwaltungabhängt.“ 536 DerBürgerordnetsichebenfalls<br />
derGeschäftsordnungderBehördeunter,inderauchfestgeschriebensteht,dasseineEntscheidungsfindungaufschriftlicherKooperationzwischenBürgerundBehördebasiert.<br />
537 <br />
MitseinerUnterschriftbestätigternichtnurdieRichtigkeitundWahrheitseinerAngaben<br />
undschaffteinamtlichesDokument,sondernerakzeptiertauchdieGeschäftsordnungen<br />
und vorgegebenen Verfahrensregeln. Decken sich seine Angaben zum Lebenssachverhalt<br />
mitdengesetzlichenTatbestandsmerkmalen,ergibtsichausdemangewandtenGesetzeine<br />
RechtsfolgeandessenEndedieentsprechendeEntscheidungsteht.<br />
Damit die Behörde oder die öffentliche Verwaltung ihre gesetzlich geregelten Aufgabenerfüllenkann,versuchtsiedurchFragenundErläuterungeninFormulargestalt,die<br />
fürdieBearbeitungnotwendigenInformationenzuermitteln. 538 DieVerwaltunggehtdabei<br />
da<strong>von</strong>aus,dassderAntragstellerdieschriftlichenFragenverstehtundklarbeantworten<br />
kann. Die Gliederung des Formulars strukturiert gleichzeitig die Informationspflicht des<br />
Bürgers.„FormularestrukturierendieArtundWeisederBearbeitungdurchdieUmsetzung<br />
normativer und/oder technisch-organisatorischer Regeln im Sinne <strong>von</strong> Interviewleitfäden,<br />
Checklisten u.ä.“ 539 Die Gesetze enthalten, <strong>von</strong> einzelnen spezialgesetzlichen Regelungen<br />
wieetwademMeldegesetzabgesehen,keineAussagezurVerwendung<strong>von</strong><strong>Formularen</strong>und<br />
ihrerAusgestaltung.DieZweckmäßigkeiteinesFormularswirddortbefürwortet,woFormularealleerheblichenTatsachenenthaltenkönnen,welchedieVerwaltungsentscheidung<br />
fördern,aberderBürgerinderWahrnehmungseinerRechteundPflichtennichtunzumutbar<br />
531 vgl. Leibfried, in Albrecht 81<br />
532 vgl. Federwisch 10<br />
533 vgl. Federwisch 31<br />
534 vgl. Albrecht 82<br />
535 Brinckmann 9<br />
536 Kaufmann/Grunow/Hegner, in Federwisch 58<br />
537 vgl. Menne-Haritz 86<br />
538 vgl. Brinckmann 11<br />
539 Brinckmann 163<br />
100
5.5 DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde<br />
belastetwird. 540 DieVerwaltungerwartetvomBürger,dasserseineAntwortenebenfallsin<br />
dertypischensprachlichenForm,inderdesFormulars,ansierichtet.DasFormularkönnte<br />
demnacheinVordrucksein,deretwasindie„richtigesprachlicheForm“bringt–es„formuliert“.DiesesEtwaskönnenpersönlicheAngaben,AusschnitteausderLebenswelt,GesetzestexteoderVerwaltungsentscheidungensein.Dieseneue„sprachlicheForm“machtdie<br />
Inhalteinneuer,besondererWeisefürdenBearbeitungsprozessverwendbar–siesinddurch<br />
SelektionundFormalisierungsystematischbearbeitungsfähiggeworden.<br />
DaderüberwiegendeTeilderKommunikationüberFormularebewältigtwird,istdie<br />
Verwaltungalsogezwungen–oderzwingtsichselber–einimmensesAufkommenan<strong>Formularen</strong>zubearbeiten.DabeiistmanstetsumEffizienzbemüht.Daswirdmöglich,wenndieLese-undBearbeitungszeitsogeringwiemöglichgehaltenwird.EineeffizienteVerwaltung<br />
kann also nicht ohne effiziente Formulare entstehen. Denn dadurch kann die KomplexitätderInformations-undKommunikationsbeziehungenzwischenBürgerundVerwaltung,<br />
aber auch verwaltungsintern, reduziert und strukturiert werden. Dazu ist es nötig,<br />
durchStandardisierung,FormalisierungundProgrammierung(i.S.v.einenAblauffestlegen)<br />
denAblaufdesVerwaltungsprozesseszusteuern.Zielistes,relevanteInformationen<strong>von</strong><br />
nichtrelevantenInformationenzutrennen.Dabeidarfabernichtvergessenwerden,dasszur<br />
AuswertungundBearbeitungderFormulareBearbeitereingesetztwerden.Dasheißt,dass<br />
dieVorgabendesFormularsdurchausauchunterschiedlichinterpretiertwerdenkönnen,da<br />
eine„unpersönliche“BearbeitungaufgrundderVoraussetzungenundQualifikationendes<br />
Bearbeitersfastnichtmöglichist.<br />
GehenwirnäheraufdieVerwaltungsprozesseein.<br />
DieVerwaltungensindangesetzlicheWeisungengebunden.SiekönnennurmitHilfe<br />
<strong>von</strong> <strong>Formularen</strong> feststellen, ob und inwieweit Aspekte für eine Handlung oder eine EntscheidungnachdemGesetzgegebensind.Umdaszuerreichen,bildetdieVerwaltungdie<br />
gesetzlichen„Tatbestandsmerkmale“indenFragenundErklärungendesFormularsab.Die<br />
Verwaltung„veranlasstdenVerwaltungsklienten,solcheundnursolcheInformationenin<br />
dasFormulareinzutragen,dienachAuffassungderVerwaltungzurEntscheidungübereine<br />
LeistungsverpflichtungodereinenLeistungsansprucherforderlichsind.“ 541<br />
Gesetzestexte, die auf den <strong>Formularen</strong> wiedergegeben werden, sind „Texte der fachexternenKommunikation,diederBürgerlesen,verstehenundbearbeitenmuß,damiter<br />
seine Rechte wahren, seine existenziellen Bedürfnisse artikulieren und seine Pflichten erfüllenkann“.<br />
542 DieGesetzessprachewirdallerdingsalsetwasKünstlichesundFremdes,der<br />
„natürlichen“SpracheEntgegengesetztesvomBürgerwahrgenommen.Sieunterscheidetsich<br />
<strong>von</strong>derAlltagssprachedurchdierechtlichenundverwaltungsorientiertenBestimmungen.<br />
AberderBürgerhatjagarkeineandereWahl,alsdieWeltderRechts-undVerwaltungssprachezubetreten,dajaalleperGesetzgarantiertenAnsprüche„passivinstitutionalisiert“<br />
wordensind.<br />
DurchdiezunehmendeKomplexitätderGesetzeundderenWiedergabeaufdenVordrucken<br />
werden die Texte immer umfangreicher, denen der Antwortende, anders als in<br />
einemGespräch,alleinegegenübersteht.Eskannweder,wieineinemGespräch,beiUnklarheiten<br />
noch einmal nachgehakt werden, noch können die Besonderheiten des Einzelfallsberücksichtigtwerden.DieVerständlichkeitbleibtaufderStrecke,weilnichtklarist,auswelchemKontextdieFragenformuliertwordensind.„DerBürgerwirdalsFormularbenutzerandiesemgeneralisiertenSubsumtionsvorgangaktivbeteiligt,ohneallerdingsdie<br />
TragweiteunddieFolgenseinesHandelnsimmervollständigüberschauenzukönnen;denn<br />
erhatdabeieinedoppelteÜbersetzungsaufgabezubewältigen:ÜbersetzungenderFragen<br />
undErklärungendesFormularsindieUmgangsspracheundÜbersetzungseinesindividu-<br />
540 vgl. Brinckmann 24, 223<br />
541 Brinckmann 12<br />
542 Mentrup 112<br />
101
5.5 DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde<br />
ellenLebensweltausschnittesindieFachsprachedesFormulars.“ 543 Diesführtzumeinenzu<br />
häufigeremKontaktmitderVerwaltung.DieserhäufigereKontaktumProblemezuklären,<br />
führtabernichtzueinerpositivenVeränderungdesVerhältnisses,sonderneherzuUnverständnisundAblehnung.<br />
544 VielentscheidenderistallerdingsdieTatsache,dassderBürger<br />
handelt,ohnesichderTragweiteundderFolgenseinesHandelnsimmerimKlarenzusein.<br />
VorProblemenstehtaberauchdieBehörde.SiemussdafürSorgetragen,daseingegebenerText,z.B.einGesetzestext,sotransformiertwird,dasskeineinhaltlicheVeränderungauftritt.DenndaskönnteunterUmständendienstlicheBelangewiedieRechtssicherheitdesFormulars<br />
gefährden.EsgibtzweiMöglichkeiten.BildetmandeneineAufgabe<br />
definierendenGesetzestextmöglichstvollständigab,behindertdasdieInteraktionunddie<br />
VerständlichkeitdesFormulars.BildetmanandererseitsdiekomplexenGesetzestexteund<br />
Rechtstatbeständevereinfachtab,wirktsichdassicherpositivaufdieVerständlichkeitund<br />
dieInteraktionaus,aberauchgenausosicher,negativaufdieRechtssicherheit.Einweiteres<br />
Problemkommtnochhinzu.WirdallzuvereinfachtnachdenUmständenkomplexerRechtstatbeständegefragt,kannaufdiffizileindividuelleSachverhaltenichteingegangenwerden.Esentstehtder„CharaktereinergeneralisiertenSubsumtion“,alsoeineallzurigideUnterordnung<br />
unter gesetzliche Vorgaben. 545 Es kann sich also zwischen rechtlicher Präzision,<br />
aberUnverständlichkeitoderzwischenVerständlichkeit,abermangelnderrechtlicherPräzision,entschiedenwerden.DiegleichenEntscheidungsmöglichkeitenkannmanbeidenarbeitsorganisatorischenAnsprüchenundderkommunikativenInteraktivitätaufmachen.<br />
DieAufgabedesFormulars–dasSammeln,Selektieren,StrukturierenundOrdnen<br />
aller Informationen über Person und Sachverhalt, die für eine Verwaltungsentscheidung<br />
nötigsind–istalsoschwieriger,alsesaufdenerstenBlickscheinenmag.Soschwierigwird<br />
es, weil dem Formular diese Aufgabe <strong>von</strong> mehreren unterschiedlichen Seiten übertragen<br />
wird.DasFormularmussdieseAufgabefürdieInteraktionzwischenBehördeundBürger,<br />
fürdiearbeitsteiligeSachbearbeitung–damitbeispielsweiseunterschiedlicheVerwaltungsstellen<br />
arbeitsteilig an dem selben Verwaltungsprozess mitwirken können, sich also eine<br />
Entscheidungs-undHandlungseinheitbildenkann–undfürdieUnterordnungdesSachverhaltesuntereineRechtsnorm(Subsumtion)leisten.UnddannmüssennochalleentscheidungserheblichenDatengesammelt,selektiert,strukturiertundgeordnetwerden.DieRationalisierungdurchNormen,diespezifischeFormulierungenkomplexerVorschriftenaufSeitendesHerausgebers,dieKoordination<strong>von</strong>ArbeitsschrittenunddieindividuellenUmständedesKlientenerschwerendieKommunikationunddieangenehmeWahrnehmungdesFormulars.„DieabweichendenBezugssystemederKommunikationspartner‚Bürger–Behörde‘,dieunterschiedlicheSprachederVerwaltungunddesAlltags,dieAsymmetrie<br />
der Kommunikationssituation, allgemein: das Auseinanderklaffen <strong>von</strong> Alltagswelt<br />
und Verwaltungswelt sowie die durch die Formulare gegebene Überführung eines konkretenVorgangsineinendemgesetzlichenAuftraggemäßenFallalsRealitätdesBürgers<br />
<strong>von</strong>Amtswegen–alldiesführtzueinerinderFremdheitderVerwaltungssichtbegründeten<br />
negativenEinstellungderBürgergegenüberderVerwaltungüberhauptunddenVordrucken<br />
speziell.“ 546 Deshalbistfürdie<strong>Formularen</strong>twicklungund-gestaltungdieEinsichtwichtig,<br />
dassessichinersterLinieumeineOrganisationsarbeithandelt.DatenundInformationen<br />
müssensoaufgearbeitet,strukturiertundgeordnetwerden,dassbeidenSeiten,Herausgeber<br />
wieKlient,einfürseineAnsprücheoptimalesArbeitsmittelzurVerfügungsteht.„DieKoordinationverschiedenerArbeitsschritteeineskomplexenBearbeitungsvorgangesdurcheinFormularkannzuwidersprüchlichen<strong>Gestaltung</strong>sanforderungenführen,beiAntragsformularenentstehensolcheProblemehinsichtlichdesnachaußengerichtetenProzessesderInfor-<br />
543 Brinckmann 13<br />
544 vgl. Grosse 12<br />
545 Brinckmann 136<br />
546 Mentrup 121<br />
102
5.5 DasFormularinderBeziehungBürger–Behörde<br />
mationssammlungundderinternenSachbearbeitung.“ 547 DieVorteileeinesoptimalarbeitendenFormularsliegendabeiklaraufderHand:ProblemeundMissverständnissekönnen<br />
verringert,ZeitundNervengeschontwerden.<br />
Auf die inhaltlichen, systemimmanenten Probleme kann der KommunikationsdesigneroftmalskeinenEinflussnehmen.InhaltlicheProblemlösungenkanneinzigderHerausgeberzufriedenstellendbieten.Eristesauch,dersichüberdieWahrnehmung,dieWichtigkeitunddasLeseinteresseimKlarenseinsollte.EsbestehtkeinHandlungsbedarf<br />
für<br />
denHerausgeber,wenneinVordruckalswichtigundverständlichempfundenwird,weil<br />
dannauchdasLeseinteressehochist.BefürchtetderHerausgeber,dassderVordruckfür<br />
unwichtiggehaltenwird,somussdieWichtigkeithervorgehobenundleichterkennbargemachtwerden.BefürchtetderHerausgeber,dassderVordruckzwarfürwichtig,aberals<br />
schwerverständlichwahrgenommenwird,somussdieVerständlichkeitgesteigertwerden.<br />
Helfenkanndarüberhinaus,wennderHerausgeberdemEmpfängerklarmacht,allesfür<br />
dieVerständlichkeitgetanzuhaben,indemerzumBeispielkurzeVorbemerkungenüber<br />
denZweckdesAntrages,derAusführungen,dernötigenAngabenvoranstellt. 548<br />
DasFormularistebeneinvielschichtigesMediumderInteraktion.Esvereinteinen<br />
kommunikativenDialogundsozialesHandeln–einsinnhaftesHandelndesEinen,dasauf<br />
dasVerhaltendesAnderenausgerichtetistoder„einesinnhafteOrientierungdeseigenen<br />
andemfremdenHandeln.“ 549 NachdieserAusrichtungwirdderHandlungsablaufgestaltet.<br />
WirdwährendeinesProzessesodereinerMaßnahmesozialgehandelt,kannalsErfolgskriteriumfürdasErreichtenurdasdurchgesetzteInteressedesBürgersgelten.Wederdierasche<br />
Anwendung einer Maßnahme, noch die Mitteleinsparung am Bürger durch die BehördedürfenfürdieBeurteilungeinesErfolgesherangezogenwerden.DieProblemeeines<br />
sovielschichtigenMediumslassensichauchnurdurchvielschichtigeHilfenlösen.Bessere<br />
ErgebnisselassensichnurdurchdieZusammenarbeit<strong>von</strong>Sprachwissenschaftlern,Verhaltenspsychologen,Didaktikern,DesignernundProduzentenerzielen.<br />
550 DenneinFormular<br />
sprichtalldieseDimensionenderWissenschaftundForschungan.Esist„sowohleinverwaltungsrechtliches<br />
und verwaltungswissenschaftliches als auch ein organisationssoziologisches,sozialpsychologischesundsprachsoziologischesThema.“<br />
551 Deshalbreichtesauch<br />
nichtaus,nurRegelnfüreineKommunikationzwischenBehördenpersonalundBürgeraufzustellen.Esgehtvielmehrauchdarum,dieBehörden-undFormularsprachealsFormeines<br />
handelndenVerhältnisseszwischenBürgerundBehördezubegreifenundRegelnfürdieses<br />
Verhältniszuschaffen 552 Esreichtnicht,nurdenTonzuändern.WillsicheineVerwaltung<br />
oderBehördeals„bürgernah“bezeichnen, somusssiebeispielsweise aucheineVerbesserungderräumlichenundörtlichenErreichbarkeitoderdieBeistandsanerkennungwährend<br />
einesGesprächsvornehmen.OhnedieAusweitungderfinanziellen,rechtlichen,politischen<br />
VorgabenundMachbarkeitenlässtsichdasabernichtumsetzen.<br />
547 Brinckmann 166<br />
548 vgl. Diederich 106<br />
549 Weber, in Albrecht 77<br />
550 vgl. Grosse 20<br />
551 Brinckmann 23<br />
552 vgl. Albrecht 77<br />
103
5.8<br />
Ordnungsbeziehungen in einem Formular<br />
„Formulare sind Informationsträger.“ 579<br />
5.8 OrdnungsbeziehungenineinemFormular<br />
FormularezurInformationsgewinnungmüssensowohldemEmpfängeralsauchdem<br />
SendersofortvisuelleAntwortendarübergeben,werderSenderist,welcherVorgangbearbeitetwird,welcheFrageninwelchemZusammenhangwoundwiebeantwortetwerden<br />
müssenundwelcheAntwortinwelchemZusammenhangwoundwiezubearbeitensind.<br />
EinedermenschlichenInformationsaufnahmeund-verarbeitungmöglichstadäquateAuswahl,Gliederung,Aufbauund<strong>Gestaltung</strong>derDatenermöglichteineschnelleundfehlerfreie<br />
Informationsaufnahme und -verarbeitung. Da sich die Visualisierung <strong>von</strong> Informationennicht<strong>von</strong>derenInhalttrennenlässt–geradedasFormularvisualisiertinhaltliche<br />
Beziehungen–müssenvorderVisualisierungdieInformationeninhaltlichgeordnetwerden.<br />
Ordnung verringert insofern die Information, als dass der Empfänger zunächst das Ordnungsprinzip<br />
lernt – die übergreifenden Zusammenhänge – in die er die einzelnen Informationen<br />
einordnen kann. Der Empfänger kann, wie bereits erwähnt, schneller den Zusammenhang<br />
lernen als die Einzelinformationen, die ihn verwirren und keine Ordnung<br />
erkennenlassen.Verstehenheißtimmer„dieVielfaltelementarerInformationenzuverringernunddiekonzeptuellgesteuerteVerarbeitungzunutzen.“<br />
580<br />
InBezugaufdieDatenreduzierunghatdasFormularbesondereEigenschaften.Zum<br />
einenerlaubendiewiederkehrendenDaten,dasswiederholtdieselbenBegriffeverwendet<br />
unddieselbenerlernbaren<strong>Gestaltung</strong>smustervisualisiertwerdenkönnen.Zumanderenist<br />
dasFormularmuster–alsodieVordruckform–unabhängig<strong>von</strong>derZahlderEinzelinformationen.DasFormularkanneinegroßeAnzahl<strong>von</strong>Einzeldatenenthalten,durchdiederBenutzerdurchdieAnordnungundVisualisierungderDatenundderenInformationsverringerungschnellundsichergeführtwerdensoll.DieVisualisierungderBeziehungenistnur<br />
dadurchbegrenzt,dassdiefür„TeilmengengewähltenZeichenundMusterunterscheidbar<br />
seinmüssen.“ 581 DerBenutzerkanninnerhalbderGesamtheitallerInformationenGruppen<br />
oderTeilmengenausmachen,miteinandervergleichen,ÄhnlichkeitenundUnterschiedeerkennenundbekannteMusteroderOrdnungsstrukturenentdecken.DerBenutzerwirdauf<br />
dieseArtundWeisegelenkt,undeswirdihmermöglicht,wichtigeInformationensoselbst<br />
zuselektieren.<br />
FürdieBestimmungderinhaltlichenOrdnungsbeziehungenimFormular,alsoauch<br />
fürdieAuswahlunddieGliederungderFormulardaten,könnendiegleichenKriterienzu<br />
Grundegelegtwerden,wiesiefürdieschnelleundsichereInformationsaufnahmeund-verarbeitunggelten.DassinddieInformationsverringerung,dieBenutzerführung,dieIdentifikation<strong>von</strong>SenderundVorgangunddieLesbarkeit.<br />
Die wichtigste Strategie zur Informationsverminderung der Vordruckdaten ist die<br />
fürdenEmpfängersichtbareTrennungderwiederkehrenden<strong>von</strong>denvariablenDaten.Die<br />
wiederkehrendenDatensindfüralleEmpfängerbestimmt.DievariablenDatensindnurfür<br />
deneinzelnenEmpfängervorgesehen.BeiihrerTrennungmussdurchdie<strong>Gestaltung</strong>ein<br />
fürdenEmpfängersichtbaresundwiedererkennbaresMustergeschaffenwerden,damitdas<br />
Formularfürihnsoinformationsarmwiemöglich,erbeimLesenundBearbeitenschnell<br />
undsichergeführtwird,undfürihndieOrdnungsbeziehungenklarwerdenkönnen.<br />
DieVordruckdatenkönnensowohlnachformalenalsauchnachinhaltlichenZusam-<br />
579 Toebe-Albrecht 66<br />
580 Toebe-Albrecht 54<br />
581 Toebe-Albrecht 72<br />
111
5.8 OrdnungsbeziehungenineinemFormular<br />
menhängen geordert werden. Formale Zusammenhänge sind beispielsweise eine Zusammenstellung<strong>von</strong>ZahlenineinerTabelle,inhaltlicheZusammenhängesindGliederungennachFunktioneninBezugzumorganisatorischenVorgangoderzudenGesetzen.DieOrdnung<br />
der Daten sollte immer in einem für den Empfänger erkennbaren Zusammenhang<br />
stehen.Wasinhaltlichund/oderformalzusammengehört,sollteauchzusammenstehen.<br />
InnerhalbdieserOrdnungenkönnensichdieeinzelnenFunktions-undFrageblöcke<br />
überschneiden, so dass eventuell die gleichen Daten für mehrere Funktionen gebraucht<br />
werden.Wichtigist,dassZusammenhängefürdenEmpfängereinsichtigsind,underdie<br />
benötigtenInformationenschnellerfindenundabrufenkann.Eingutes<strong>Gestaltung</strong>smittel,<br />
falls die einzelnen Funktionen und Frageblöcke nicht grafisch eindeutig <strong>von</strong>einander getrennt<br />
werden können, ist die Zwischenüberschrift. Zwischenüberschriften müssen aber<br />
in jedem Fall die Zusammenhänge anzeigen. Gibt es keine bekannten Zusammenhänge,<br />
müssensievomSendergeschaffenwerden–ineinerfürdenEmpfängererkennbarenLogik.<br />
HierbeikönnenAnleitungenundErläuterungeneinnützlichesHilfsmittelsein.<br />
BeiderFestlegungderOrdnungderFunktions-undFrageblöckeistzubeachten,dass<br />
möglicherweiseeinzelneBlöckeeinenbesondersgroßenDatenumfanghaben.DerBlockmit<br />
dergrößtenInformationsmengeerfordertsomitdenmeistenPlatzundistbesondersdominant.AuchdieGewohnheitenspieleneineentscheidendeRolle.FunktionsblöckezurIdentifikationsollten–denallgemeinenLesegewohnheitenentsprechend–anobererStellestehen.<br />
InnerhalbdereinzelnenFrage-undFunktionsblöckesinddieDatensozugliedern,<br />
dasssiedenBenutzungsablauf,denLesegewohnheitenundderLeselogikentsprechen.In<br />
BezugaufdieLeserichtung<strong>von</strong>linksnachrechts,<strong>von</strong>obennachunten,kanndasübersetzt<br />
„indiezeitlicheDimensionheißenlinksundobenfrüher,rechtsunduntenspäter.“ 582<br />
Eine Gliederung eines Formulars beinhaltet also die Gliederung nach ZusammenhängeninFunktion-undFrageblöcken,nachwiederkehrendenundvariablenDaten,nach<br />
Benutzungsabläufen(Leselogik,Datenumfang)undnachderWichtigkeitderDaten.Fürdie<br />
schnelleundsichereÜbertragungderInformationenvomSenderzumEmpfängersindfolgendeMitteldiewichtigsten:diezweiDimensionenderFlächedesPapiers,Typographie<br />
und Schrift mit ihren Schriftarten, -größen und -stärken, Farben, Linien, Rasterflächen,<br />
Symbole,Absendermarkierungen, TabellensowieSchreibfelder. DiesevisuellenVariablen<br />
habenimGesamtsystemordnende,trennendeundselektiveFunktionen,diemitderinhaltlichenOrdnungverbundensind.DiesevisuellenVariablen–diefürdasFormularsodefiniertseinmüssen,dasssieimmerdiegleichenBedeutungenhaben–ermöglicheneine„InformationsverringerungdurchTrennungderwiederkehrenden<strong>von</strong>denvariablenDatenunddurchZusammenfassungzuFunktions-undDatenblöcken,BenutzerführungdurchFestlegungderReihenfolgeundBestimmungderwichtigenDatenundIdentifikation<strong>von</strong>Sender<br />
undVorgang“. 583 DiegroßeVielfaltderFormulareergibtsichdadurch,dassdiezuvermittelnden<br />
Informationen durch verschiedene Kombinationen der visuellen Variablen immer<br />
wiederreduziert,geordnet,gegliedertundselektiertwerdenmüssen.JedevisuelleKomponentemussdabeieineBedeutunghaben,dennohneBedeutungwürdedieLesbarkeitundBearbeitunggestörtwerden.JedeStörungdurchbedeutungsloseundundifferenzierteVisualisierungensolltevermiedenwerden.<br />
582 Toebe-Albrecht 62<br />
583 Toebe-Albrecht 73<br />
112
5.11<br />
Einschätzung Hartz IV Hauptantrag<br />
„Wer nicht zurecht kommt, soll mich anrufen!“ 624<br />
5.11 EinschätzungHartzIVHauptantrag<br />
UmVerbesserungenherbeiführenzukönnen,musssichmitdemvorhandenenFormularauseinandergesetztwerden.Diessollimfolgendengeschehen.<br />
BeiderEinschätzungnachgrafisch-visuellenAspektensollenalldieGegebenheiten<br />
betrachtetwerden,diezurÜberwindungdesäußerenLesewiderstandes–alsodieBereitschaftsichaufdasFormulareinzulassen–<strong>von</strong>Bedeutungsind.Näherbetrachtetwerden<br />
dabeiu.a.Formate,Satzspiegel,Typografie,grafischeElemente,Anordnungen,Abstände,<br />
Hervorhebungen, Farbgebungen und visuelle Gliederungen. Das Befragen des Formulars<br />
nachdiesenAspektensolldabeihelfen,erklärenzukönnen,auswelchenGründendasFormular<br />
besonders unstrukturiert, unübersichtlich, uneinheitlich und unhandlich ist oder<br />
auchnicht.<br />
Anschließend soll versucht werden, das Formular semantisch-syntaktisch einzuschätzen.<br />
Die Befragung der sprachlichen Einfachheit und Prägnanz des Formulartextes<br />
sowiedieGliederungundinhaltlicheZuordnungsollenhelfen,denGradderVerständlichkeitbestimmenzukönnen.BeidersprachlichenEinfachheitundPrägnanzmussderFormulartextaufSatzbauundWortwahlüberprüftwerden.Komplizierte,missverständlicheoder<br />
garunverständlicheSatz-undWortschöpfungenkönnendabeiherausgestelltwerden.Ob<br />
dasFormularinhaltlichüberschaubarist,kanndurchdieÜberprüfungderGliederungund<br />
Ordnungbestimmtwerden.Damitistabernichtdiegrafisch-visuelleOrdnunggemeint.Es<br />
gehtvielmehrdarum,dieSinnhaftigkeitderGliederungundZuordnungzubestimmen.Semantisch-syntaktischeFeststellungenwerdensichaberwohlauchmitdenpragmatischen<br />
Auffälligkeitenüberschneiden.<br />
BeiderBefragungnachderpragmatischenVerständlichkeitistesZielzuermitteln,<br />
inwieferndasFormulardenKundenbzw.denBürgerhandlungsfähiginderWahrnehmung<br />
undDurchsetzungseinerRechtsansprücheimVerwaltungsverfahrenmacht.Diesgeschieht<br />
dann,wenndemKlientendasnötigeKontextwissen,WissenüberAlternativenundKonsequenzenundHinweiseüberGrundundAbsichtderAbfragungenvermitteltwerden.DaskanndurchgegebeneNebeninformationenüberalternativeoderparallelbetroffeneVerfahrenswegeoderInformationenüberdenVerfahrensgangermöglichtwerden.<br />
624 Wolfgang Clement, Wirtschaftsminister, 20. Juli 2004, http://www.spiegel.<br />
de/wirtschaft/0,1518,309529,00.html, letzter Zugriff: 18.11.2009<br />
137
5.11.1<br />
Grafisch-visuelle Einschätzung<br />
5.11.1 Grafisch-visuelleEinschätzung<br />
DerHauptantrag(Stand04.2009)bestehtauseinemDINA3Bogen,derbeidseitig<br />
bedruckt,inderMittegefaltetundvorgelochtwurde.SomitergebensichvierSeiten.Das<br />
FlächengewichtdesBogensbeträgt80Gramm.EswurdeeingräulichgefärbtesRecyclingpapierverwendet.DieeinzelnenSeitensindschwarzbedruckt,lediglichdieersteSeiteweist<br />
einengrün-farbenenStreifeninderHöheauf.AufRegisterhaltigkeitwurdeverzichtet,die<br />
Rückseitenscheinenallerdingsauchnurschwachdurch.BeimerstenDurchblätterndesFormularswirktesunübersichtlich,unstrukturiert,kompliziertundüberladen.DieSeitenbestehenauseinerVielzahl<strong>von</strong>Schreibfeldernund<strong>Gestaltung</strong>selementenwiez.B.Linien.<br />
DieRandzonensindnichtbesondersgroßzügigeingerichtetworden.DerKopfsteg<br />
hateineHöhe<strong>von</strong>8,5mm,derFußstegschwanktinseinerHöhezwischen18mmund<br />
34mm.DerBundsteghateineBreite<strong>von</strong>17mmundderAußenstegist9mmbreit.Vom<br />
9mmbreitenAußenstegkannnocheinmaldergrüneStreifen,miteinerBreite<strong>von</strong>6mm,<br />
abgezogenwerden.UnterhalbdesletztenAbschnittes–aufdenFußsteg–werdendieweiterenHinweiseunddiePaginagesetzt.Siebefindensichnur7mmvomunterenBlattrandentfernt.OberhalbderPaginawirddurcheinenSterngekennzeichnet,dassnähereErläuterungenindenAusfüllhinweisenzufindensind.DieBlätterwirkendurchdiegeringenRandzoneninsgesamtsehrvoll.<br />
Innerhalb des Formulars lassen sich vier Schriftgrößen unterscheiden. Die HauptüberschrifthateineGröße<strong>von</strong>14pt.DerihruntergeordneteTexthateineSchriftgröße<br />
<strong>von</strong>11pt,derTextfürdieauszufüllendenStellenhateineGröße<strong>von</strong>9ptundderTextzur<br />
KennzeichnungderAnlagenhateineGröße<strong>von</strong>8,5pt.AlsSchriftfamiliewurdedieArial<br />
gewählt.SiewirdindenSchnittenBoldundRegularverwendet.AuszeichnungenundHervorhebungenwerdenmithilfedesBold-Schnittesgestaltet.FürdierestlichenTextewirdder<br />
Regular-Schnittverwendet.EslässtsichallerdingsaucheineAuszeichnungfeststellen,die<br />
eineUnterstreichungalsHervorhebungbenutzt.DieUnterstreichungscheintindiesemFall<br />
aberfüreineguteErkennbarkeitzugeringzusein.<br />
DieSchriftgrößefürdenFließtextscheintangemessenzusein.Sowirdauchälteren<br />
MenschendasEntziffernderSchriftbildererleichtert.AuchdieSchriftgrößefürdieHauptüberschriftscheintausreichendzusein.DieHauptüberschriftistallerdingszulang,undzu<br />
wenigdifferenziert.Sielautet:„AntragaufLeistungenzurSicherungdesLebensunterhalts<br />
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) – Arbeitslosengeld II / Sozialgeld“. 625 <br />
AuchderihrzugeordneteErläuterungstextistinseinerLängeundDarstellungzuundifferenziert.Erlautet:„FüllenSiebittedenAntragsvordruck(ohnediegrauunterlegtenFelder)inDruckbuchstabenaus.BeachtenSiebitteauchdiebeigefügtenAusfüllhinweise.DieAntragsformularefindenSieauchimInternetunterwww.arbeitsagentur.deunterderRubrik<br />
„Formulare>FormularefürBürgerinnen&Bürger>ArbeitslosengeldII“. 626 Besondersauf<br />
derSeite4wirdklar,dassdergewählteZeilenabstandzugeringist.GeradebeiTextenmit<br />
vielenZeichenwurdeeinderartkleinerZeilenabstandgewählt,dassespassierenkann,dass<br />
das Schriftbild bei längerem Hinsehen vor den Augen zu verschwimmen droht, und die<br />
einzelnenZeilennichtmehr<strong>von</strong>einanderzutrennensind.Eswirdsehrschwierig,sichinnerhalbderzuengstehendenZeilenzuorientieren.WirdeinezusammenhängendeZeile,<br />
aufgrundihrerLänge,aufeinezweiteZeileumbrochen,sobesitztdieseeinengeringeren<br />
625 vgl. Hauptantrag, S.1<br />
626 vgl. Hauptantrag, S.1<br />
138
5.11.1 Grafisch-visuelleEinschätzung<br />
Zeilenabstandalsüblich(harterundweicherUmbruch).GeradeSeite4wirkthoffnungslos<br />
überfrachtet.<br />
DieeinzelnenTextelementesindmeistbündigzumlinkenRandgesetztworden.Auf<br />
derSeite4sinddieFormulierungen,diefürdieVersicherung,dassalleAngabenzutreffend<br />
sind(Ort,Datum,Unterschriftdes…),imMittelachsensatzgesetzt.Beilängeren,durchgehendenTextabschnittenwurdederlinksbündigeFlattersatzverwendet.ZeilenindiesenAbschnittenerstreckensichmeistüberdiegesamteSatzspiegelbreite.Sieenthaltenbiszu123<br />
Zeichen pro Zeile. Die für einen optimalen Lesefluss geeignete Zeichenanzahl liegt zwischen60und70ZeichenproZeile.DieZeilen,indenenEintragungengemachtwerdensollen,sindbündigmitdenKästchenzumAnkreuzengesetzt.DaaberscheinbarkeineSilbentrennungenzugelassenwurden–esgibtallerdingsauchimmerwiederAusnahmenauf<br />
denSeiten–,scheinenZeilennacheinemnichterkennbarenMusterzuenden.Beikurzen<br />
Zeilenwurdeversucht,dieLinienfürdieEintragungenimmerwiederandergleichenPositionbeginnenzulassen.Sieliegt82mmentferntvomBundsteg.DieLinienhabeneine<br />
Länge <strong>von</strong> 90 mm. Bei Eintragungen, die auf einer Linie innerhalb <strong>von</strong> Zeilen gemacht<br />
werdensollen,stehtdieLinienichtmehrineinemerkennbarenRaster.<br />
Die Anordnung der auszufüllenden Felder muss als unübersichtlich bezeichnet<br />
werden.MancheZeilenwerdendurchdieZeichenunddiedazugehörigeLinie,aufderdie<br />
Eintragungen vorgenommen werden sollen, auf die ganze Satzspiegelbreite getrieben. So<br />
kannespassieren,dassfürdenFamiliennamenoderdenWohnort135mmLiniezurVerfügungstehen.DieLiniefürdieEintragungenbefindetsichstets1mmunterhalbderSchriftlinie.DiesscheintunnötigundderZuordnunghinderlich.EbenfallsproblematischistdiefehlendeFestlegungdesAbstandeszwischenletztemZeichenderErläuterungunddemBeginnderLinie.BeiderFragenachderKundennummerderAntragstellerin/desAntragstellersbeginntdieLinie1,5mmhinterdemletztenZeichen.InderdarunterliegendenZeile,<br />
indernachderNummerfürdieBedarfsgemeinschaftgefragtwird,beginntdieLinie32<br />
mmhinterdemletztenZeichen.SostehenzwardieLiniengleicherLängebündiguntereinander,dieZuordnungzudereigentlichenFormulierungistabererschwert,dasichzwischen<br />
ihnen32mmAbstandbefinden.Diesscheintmirvölligunnötigzusein.Allzuleichtkann<br />
espassieren,dassmaninderZeileverrutscht.EsergibtsichderEindruck,dassversucht<br />
wurde,Ordnungzuerzwingen,indemmandieLinienuntereinanderstellt.Dadurchpassiert<br />
esauch,dassdieunterschiedlichenZeilenlängenderFormulierungenteilweiseriesigeAbständezwischenLinieundletztemZeichenreißen.Dasistnichtnurausgrafisch-visuellerSichtbedenklich,sondernauchaussemantisch-syntaktischerSicht.DurchdiefehlendeFestlegung<strong>von</strong>immergleichenEinzügenbzw.Abständen,sowohlhorizontalalsauchvertikal,<br />
wirddieBenutzerführungimmenserschwert.<br />
BeimehrerenuntereinanderliegendenLinien,diefürEintragungengenutztwerden<br />
sollen,erscheintderAbstandzugering.Gehtman<strong>von</strong>unterschiedlichenHandschriftenaus,<br />
soistdenkbar,dasseinzelneEintragungendurchausgeprägteOber-undUnterlängenmit<br />
inandereZeilenübergehenkönnen.UnübersichtlichkeitdurchdievorgenommenenEintragungenwäredieFolge.<br />
Ebenfalls problematisch ist der Abstand zwischen der letzten Eintragungslinie im<br />
AbschnittundderUmrandung.Siebeträgt1mm.WerdennunEintragungenvorgenommen,<br />
dieeineUnterlängebesitzen,sowürdensieüberdieAbschnittsbegrenzunghinausgehen.<br />
DadieAbschnitteuntereinanderauchnureinenAbstand<strong>von</strong>1mmaufweisen,istda<strong>von</strong><br />
auszugehen,dasssolcheEintragungensogarnochindennächstenAbschnitthineinragen<br />
würden.EsscheintkeinadäquatesvertikalesRasterzugeben,dassvieleProblemelösen<br />
könnte.<br />
InnerhalbdesFormularskommenzweiLinienstärkenzurAnwendung.Diestärkere<br />
Linie<strong>von</strong>1ptgrenztdieeinzelnenAbschnitte<strong>von</strong>einanderab.InnerhalbdereinzelnenAbschnittesollendieEintragungenauf0,5ptstarkenLinienvorgenommenwerden.Tabellenwerdenebenfallsmitder1ptstarkenLinieineinhorizontalesundvertikalesRasterunterteilt.DabeiwirddieTabelleimAbschnitt2linksundrechts<strong>von</strong>denendenAbschnittum-<br />
139
5.11.1 Grafisch-visuelleEinschätzung<br />
gebendenLinienbegrenzt.DieTabelleunterteiltsodenAbschnittnochmalsunnötiginsich<br />
selbst.DieTabelleimAbschnitt7scheintdagegenzu„schwimmen“.Sieistkürzerundhat<br />
nurvierSpalten.IhreletzteSpalteendet29mmvorderrechtenAbschnittslinie.Aufgrund<br />
der gleichen Linienstärken lässt sich keine Differenzierung ausmachen. Insgesamt ist die<br />
DifferenzierungderbeidenLinienstärkenfastausreichend.EskönnteabernocheinengrößerenUnterschiedgeben.DerAbstandzwischendeneinzelnenAbschnitten,diedurchLinien<strong>von</strong>einandergetrenntwerden,istzugering.DieentstehendeWeißflächereichtnicht<br />
aus.DieLinienverliereninihrerhorizontalenAusrichtunganFunktion.Innerhalbdesfür<br />
dieSachbearbeitungvorgesehenenFeldes,dasgrauhinterlegtist,wechselnsichschwarze<br />
undweißeLinienab.DieweißenLiniensindinderHorizontalendabeischmaler,alsdie<br />
derVertikalen.InnerhalbderweißenhorizontalenLinienlassensichaberauchStrichstärkenunterschiedefeststellen.SiescheinenaufgrundmangelnderDurcharbeitungentstanden<br />
zusein.DasFeldfürdieSachbearbeitungweistinseinerUmrandung–wienochimAntrag<br />
Stand04.2008–keineStrichstärkenunterschiedemehrauf.DieLinienfürdieEintragung<br />
derSachbearbeitungsindimUnterschiedzudenweiterenAbschnittenineinerLinienstärke<br />
<strong>von</strong>0,375ptangelegt.DieseVielgestaltigkeitanLinienscheintunnötig.<br />
DerAbschnitt8–derimUnterschiedzumAntrag<strong>von</strong>04.2008–umdenPunkt8e<br />
erweitertwurde,erstrecktsichüberdieSeiten3und4.AufderSeite3wirdderAbschnitt<br />
vollständigumrandetundzeigtsichsomitwieeinabgeschlossenerAbschnitt.AufderSeite<br />
4–aufdemsichderAbschnitt8mitdemPunkt8efortsetzt–isterebenfallsvollständig<br />
umrandet.ZusammengehörigePunkteeinesAbschnitteswurdenalsowiezweigetrennte<br />
Abschnittebehandelt.<br />
UnterschiedegibtesauchbeidenAnkreuzkästchen.DieKästchenimFeldfürdie<br />
SachbearbeitungweisenalsUmrandungsehrdünneHaarlinienauf.Siehebensichschwer<br />
<strong>von</strong>demgraugerastertenFondab.DieKästchenindeneinzelnenAbschnittensimulieren<br />
durch zwei unterschiedlich graue Flächen und eine hellgraue Umrandung eine optische<br />
Räumlichkeit. Die Kästchen in den Abschnitten befinden sich alle bündig untereinander<br />
und ermöglichen so eine schnelle Kontrolle der gemachten Kreuze. Zwischen dem KästchenunddendazugehörigenErläuterungenwurdestetsdergleicheAbstandverwandt.DaserleichtertdieZuordnung.BeimehrerenhintereinanderliegendenKästchenundderenErläuterungenpassiertesallerdings,dassderAbstanduntereinanderzugeringist.IstdiesergeringeralsderAbstandzwischeneinemKästchenundseinerErläuterung,wirdeineZuordnungerschwert.OderderAbstandist,wieaufSeite4beiderFragenacheinemBetreuer<br />
sogroß,dasseineZuordnungbeinaheunmöglichwird.<br />
DieeinzelnenAbschnittesindfortlaufendnummeriert.InnerhalbeinesAbschnittes<br />
wirdderZahleinBuchstabezugeordnet,beispielsweise2a,2b,2cusw.Manhataufdie<br />
WeiterführungderNummerierungenmitbeispielsweise2.1,2.2,2.3verzichtet.Diessorgt<br />
nichtnurfüreineoptischeUnruhe,daderZahleineGemeinezugeordnetwurde.Esistdarüberhinausauchlogischinkonsequent.FürUnruhesorgenauchmikrotypografischeUnzulänglichkeiten.SowirdbeispielsweisebeiZeichenfolgenwie§§67a,b,ceinstandardmäßigesLeerzeichenstatteinesflexiblenLeerzeichensverwendet.<br />
627 FürweitereRuhewürde<br />
auchdieAnpassungderGrößenwirkungderZahlenandieZeichenbringen.Dieserreicht<br />
man,indemmandieZahleninderSchriftgrößeleichtverkleinert.<br />
Der Abstand der Nummerierung und des dazugehörigen Textes ist überall gleich.<br />
SomitlässtsichfürdieeinzelnenFormulierungeneinegedachteLinieziehen,anderalle<br />
Formulierungenbeginnen.DiesevertikaleLiniewirdaberdurchTabellenundZusatzinformationendurchbrochen.SomithebtsichauchdergeordneteEindruckwiederaufundkehrt<br />
sichinsGegenteilum.DennplötzlichbekommendieZeilen,diekeinenEinzugbesitzen,<br />
besondere Gewichtung. Unterhalb der auf die gesamte Satzbreite ausgetriebenen Tabelle,<br />
lassensichdieZeilen,dieebenfallsohneEinzugüberdiegesamteSatzspiegelbreitegehen,<br />
627 vgl. Hauptantrag S.1, Fußsteg<br />
140
5.11.1 Grafisch-visuelleEinschätzung<br />
leichtübersehen. 628 Teilweiseerkennenlässtsich,dassversuchtwurde,HierarchienuntereinanderdurchEinzügezudefinieren.Dieswurdeabernichtkonsequentgenugfortgeführt<br />
undgehtsomitinderGesamtgestaltungunter.<br />
Das Formular hinterlässt nach dem ersten Eindruck bzw. einem ersten flüchtigen<br />
BlickdenEindruck<strong>von</strong>unruhigerÜberfüllungundUnübersichtlichkeit.Beider<strong>Gestaltung</strong><br />
desFormularswurdeaufdieordnendeHilfeeinesRastersverzichtet.EsfehlteindurchgängigesstrukturierendesPrinzip,dassdieTextteileundderenElementeanordnet.Manhat<br />
sichzusehraufdieeinfachengrafischenMittel,wieAbschnittsumrandung,Einzügeund<br />
linksbündigerFlattersatzbeschränkt.EinemöglicheHierarchiedurchdieVerwendung<strong>von</strong><br />
EinzügenwurdedurchInkonsequenzzerstört.SelbstinnerhalbderAbschnittelassensich<br />
Unzulänglichkeitenausmachen.MalwerdenZeilendurchSilbentrennungumbrochen,mal<br />
nicht.DieLinienstärkenunterscheidensichauchinnerhalbihrerAufgaben.SowerdenLinienunterschiedlicherStärkefürdieUmrandungeingesetzt.MikrotypografischeAspekte<br />
wurdenscheinbargänzlichaußerAchtgelassen.DurchgängigegrafischeRichtlinien(gleich<br />
bleibendeBündigkeiten,AchsenundLinien)lassensichseltenaufeinanderfolgendausmachen.DieFolgeistUnübersichtlichkeit,ChaosundfehlendeBenutzerführung.DerKundekannkeinenrotenFadenerkennen,derihndurchdasFormulargeleitet.DasvisuellunharmonischeFormularkannindieser<strong>Gestaltung</strong>keineneffektivenBeitragzurÜberwindung<br />
desäußerenLesewiderstandesleisten.<br />
628 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 2f<br />
141
5.11.2<br />
Semantisch-syntaktische Einschätzung<br />
5.11.2 Semantisch-syntaktischeEinschätzung<br />
Im folgenden wird das Formular auf semantisch-syntaktische Aspekte hin untersucht.<br />
Die Verständlichkeit des Formulartextes leidet in erster Linie an mangelnder GliederungundOrdnungundwenigeranMängelnindenFormulierungen.Esbestehtaus13<br />
AbschnittenfürdenKlientenundeinemAbschnittfürdieSachbearbeitung.Dieeinzelnen<br />
Abschnittelauten:<br />
1.PersönlicheDatenderAntragstellerin/desAntragstellers<br />
2.PersönlicheAngabenzurLeistungsgewährung<br />
3.AngabenfürdiePrüfungeinesMehrbedarfes<br />
4.AngabenzudenEinkommensverhältnissen<br />
5.AngabenzudenVermögensverhältnissen<br />
6.AngabenfürdiePrüfungeinesbefristetenZuschlags<br />
7.WeitereAngaben,diefürdieLeistungsgewährung<strong>von</strong>Bedeutungseinkönnen<br />
8.AngabenzurSozialversicherung<br />
9.sonstigeAnsprüchegegenüberDritten(z.B.Unterhaltsansprücheoder<br />
Schadensersatzansprüche)<br />
10.AngabenzudenKostenderUnterkunftundHeizung<br />
11.AnlagenübersichtundVersicherung,dassdieAngabenzutreffendsind<br />
Wieesscheint,wurdeversucht,dieMehrzahlderFormulierungmöglichsteinfach<br />
undprägnantzuhalten.Diesgelingtabernichtimmer.EinBeispiel:„EinePersoninder<br />
Haushaltsgemeinschaft hat einen Elternteil außerhalb der Bedarfsgemeinschaft und ist<br />
unter18Jahrenoderzwischen18und24JahrenundinSchul-oderBerufsausbildungoder<br />
willeinesolcheinKürzebeginnen.FüllenSiebitteAnlageUHAbschnitt4fürjedePerson<br />
undAbschnitt3fürjedenElternteilaußerhalbdesHaushaltesaus.“ 629 DieseFormulierung<br />
lässtsicheinfachergestalten.EineMöglichkeitwäre,sichüberFilterfragenzunähern.Dazu<br />
kanndieFormulierungaufgeteiltundpersönlichergestaltetwerden.DieersteFragewürde<br />
lauten:„LebtinderBedarfsgemeinschafteinKindodereinJugendlichergetrennt<strong>von</strong>einem<br />
seiner Elternteile?“ Würde die Frage mit Ja beantwortet werden, so könnten die darauf<br />
folgenden Fragen heißen: „Ist diese Person unter 18 Jahre?“ und „Ist diese Person zwischen18und24Jahre?“WeiterfilternwürdemannachderBeantwortungmitJadurchdie<br />
Frage:„HatdiesePersoneineSchul-oderBerufsausbildungbegonnenodermöchtesiediese<br />
inKürzebeginnen?“NachdererneutenBeantwortungmitJawürdederHinweisstehen,<br />
dassdieAnlageUHfürjedebetroffenePersonundjedengetrenntlebendenElternteilauszufüllensei.Dieskönnteinetwasoformuliertwerden:„IhreEintragungenbedingeneinenäherePrüfungaufUnterhaltsansprüche.BittefüllenSiedeshalbdieAbschnitte3und4der<br />
AnlageUnterhalt(UH)aus.DerAbschnitt3betrifftdengetrenntlebendenElternteil.Der<br />
Abschnitt4betrifftdasKindbzw.denJugendlichen.“ImUnterschiedzurursprünglichen<br />
Formulierung,werdenindererstenFragedieWörterKindundJugendlicherverwendet.DadurchwirddasVerstehenderFrageerleichtert.DennwürdedieFragelauten:„Lebtinder<br />
BedarfsgemeinschafteinePersongetrennt<strong>von</strong>einemElternteil?“,musserstnochfürden<br />
Leserdefiniertwerden,wasmitPersongemeintist.UmihmdieÜberlegungabzunehmen,an<br />
dessenEndesowiesodieErklärungderPersonalsKindoderJugendlichersteht,solltegleich<br />
<strong>von</strong>AnfanganKindoderJugendlicherverwendetwerden.Deshalbkannindendarauffol-<br />
629 vgl. Hauptantrag S.4, Abschnitt 9a<br />
142
5.11.2 Semantisch-syntaktischeEinschätzung<br />
gendenFragenauch„Person“verwendetwerden.Dennesistjaschongeklärtworden,dass<br />
essichbeiderPersonnurumdasKindbzw.denJugendlichenhandelnkann.<br />
DieEinfachheitundPrägnanzderFormulierungkannaberauchdazuführen,dass<br />
gewolltoderungewollteinunpersönlicherEindruckentstehenkann.Beidemvorliegenden<br />
Antrag wird dies durch die häufige Verwendung <strong>von</strong> Höflichkeitsformulierungen wieder<br />
aufgefangen.Sowird,wennesnötigist,immerumdenBeweisdurchentsprechendeNachweisegebeten.„Wennja,legenSiebitteentsprechendeNachweisevor.“<br />
630<br />
DaseinleitendeBeispieldesAbschnittesüberdenUnterhaltmachtabernocheinanderesProblemderFormulierungendeutlich.DasProblemderAbkürzungen.DenKlienten<br />
wirddasVerständnisderFormulierungenerleichtert,wennbeispielsweisedieAnlagennicht<br />
nurmitUHoderHGbetiteltwerden. 631 AuchwennderPlatzbedarfdadurchgrößerwerden<br />
würde,sosolltendieAnlageninihremvollständigenNamenaufgeführtwerden.SolltedennocheineAbkürzung<strong>von</strong>nötensein,sosolltesieinKlammerndahintergesetztwerden.SowirdausderAnlageHG,dieAnlageHaushaltsgemeinschaft(HG).DamitwirddemKlientenauchsofortklar,welcheAngabenindieserAnlageabgefragtwerdenundwofürdie<br />
Abkürzung steht. Will man die zur Zeit verwendeten Abkürzungen dekodieren, so muss<br />
mandieAusfüllhilfebemühen.AufdererstenSeitenunbefindetsicheineÜbersichtüberdie<br />
Vordrucke,derenBezeichnungunddieBeschreibungdesInhalts.<br />
Auf Formulierungen des allgemeinen Sprachgebrauchs wurde weitestgehend verzichtet.EinigewenigeAbkürzungen,wiebeispielsweisedieAbkürzungfürgegebenenfalls<br />
(ggf.) lassen sich finden. 632 Häufiger werden gesetzliche Festlegungen verkürzt formuliert.<br />
DasSozialgesetzbuchwirdbeispielsweisemitSGBabgekürzt.<br />
BessergelöstscheintmirdasProblemderAnsprache.Eswurdeweitestgehendvermieden,inunpersönlichenFormulierungennachpersönlichenAngabenzufragen.Ähnlich<br />
wieineinempersönlichenGespräch,wirdeineVielzahlderFrageninInterviewartgestellt.<br />
„SindSie–IhrerEinschätzungnach–gesundheitlichinderLage,eineTätigkeit<strong>von</strong>mindestensdreiStundentäglichauszuüben?“<br />
633 InsgesamtkönntenabervielederFormulierungen<br />
leicht–wieobengezeigt–nochpersönlichergestaltetwerden.EinewenigeBeispielefürpersönlichereFormulierungenfindensichaberschonjetztaufdemAntrag.Siesindaberauch<br />
nicht<strong>von</strong>Problemenfrei.InAbschnitt8findetsichdieFormulierung„ichbinzurzeitprivat<br />
krankenversichert.FüllenSiebitteAnlageSVAbschnitt2aus.“ 634 Innerhalbdiesereinen<br />
ZeilewechseltdieSprachperspektive.Siewechselt<strong>von</strong>derpersönlichenich-FormzurunpersönlichenAnrededurchdenHerausgeber.EineDifferenzierung,beispielsweisedurchgrafischvisuelleMittel,sollteangestrebtwerden.AnsonstenscheintdieserVersuchnurgewollt,<br />
abernichtgekonntzusein.DieseSchwierigkeitenimWechselderAnsprachenlassensich<br />
verteiltüberdasgesamteFormularweiternachweisen.<br />
Prinzipiell ist über eine persönlichere Umformulierung der Fragen nachzudenken.<br />
Die Sprachperspektive könnte dafür durchgehend in die persönliche ich-Form gewandelt<br />
werden.SowürdeausderunpersönlichenFormulierung„Familienname/ggf.Geburtsname“<br />
„MeinGeburtsname/meinFamiliennameist“werden.<br />
UngelöstistauchdieProblematikdermännlichenundweiblichenAnrede,getrennt<br />
durcheinenSchrägstrich.EsfindensichnachwievorFormulierungenwie„LebenSiezusammenmit…Ihrer/IhremnichtdauerndgetrenntlebendenEhegattin/Ehegatten,“.<br />
635 Eine<br />
bessere,unddamitauchpersönlichereFormulierungwäre:„Ichlebezusammenmit:“.Danach<br />
würde die Auswahl folgen, die aus zwei getrennten Formulierungen besteht. Zum<br />
630 vgl. Hauptantrag S.1, Abschnitt 2b<br />
631 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 2g, S.4, Abschnitt 9<br />
632 vgl. Hauptantrag S.3, Abschnitt 8c<br />
633 vgl. Hauptantrag S.1, Abschnitt 2c<br />
634 vgl. Hauptantrag S.3, Abschnitt 8a<br />
635 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 2f<br />
143
5.11.2 Semantisch-syntaktischeEinschätzung<br />
einen:„meinernichtdauerndgetrenntlebendenEhegattin“und„meinemnichtdauerndgetrenntlebendenEhegatten.“EineweiterepositiveVerbesserungwürdedieUmformulierung<strong>von</strong>„dauerndgetrennt“bringen.DieseFormulierungistabernichtnurindiesemVerwaltungsprozessmaßgeblich,sondernauchinanderen,wiezumBeispielinVerwaltungsprozessendesFinanzamtes.EineÄnderungwürdesomitweiterreichendeÄnderungennachsich<br />
ziehen.<br />
EinweiteresProblemergibtsichnichtwiesonstausderVerkürzung<strong>von</strong>Formulierungen,sondernausderErweiterung<strong>von</strong>Formulierungen.DieslässtsichamHinweisaufnähereErläuterungenzeigen.DieHinweiseaufnähereErläuterungenwerdenmit*)markiert.<br />
636 ImnormalenSchriftgebrauchimAlltagwirdeinZusatzdurchdieMarkierungmit<br />
einem * gekennzeichnet. Die Zuordnung der schließenden Klammer scheint aber keinen<br />
weiterenZweckzuerfüllen.VoralleminhaltlichistdieseVerwendungproblematisch.Denn<br />
derschließendenKlammeramEndeeinerZeilekannkeineeröffnendeKlammerzugeordnet<br />
werden.DerLeseflussdesRezipientenwirddurchRückläufegestört.EinbesondersproblematischerFallergibtsichausdieserKombinationaufderSeite4.Dortheißtes:„Wenneine<br />
odermehrereAussagenzutreffen,füllenSiebittedenentsprechendenAbschnittderAnlage<br />
UHaus(Mehrfachnennungenmöglich):*) 637 AusderKombinationderletztendreiZeichen<br />
lässtsichdas–ausdemSchreiben<strong>von</strong>SMS–bekannteZeichenfür„Betrunken“ableiten.<br />
EinsemantischerSuper-GAU.<br />
Ein eklatanter Fehler bei Gliederung und Ordnung findet sich im Abschnitt 1. In<br />
ihmgehtesumdiepersönlichenDatenderAntragstellerin/desAntragstellers.BeiderFrage<br />
nach dem Familienstand werden sieben Antwortmöglichkeiten vorgegeben. Die Antwortmöglichkeit„dauerndgetrenntlebend“und„geschieden“erfordernzusätzlicheineDatumsangabe,<br />
mit „Seit“ beginnend. Diese steht aber nicht den Formulierungen „dauernd getrenntlebend“und„geschieden“hintenangestellt.Sondernsiestehtdavor!HatderKlientseinKreuzineinemderKästchengemacht,wirdihmdieauszufüllendeFlächederDatumsangabeauffallen.ErkannaberkeinedirekteBeziehungzwischenderDatumsangabeundderFormulierung,aufdiesiesichbezieht,herstellen.DenndieStellungenderbeidenzueinanderistwidersprüchlichzuseinenbishergemachtenErfahrungen.ErkenntausseinerErfahrung<br />
aber, dass nähere Erläuterungen zu seinen Markierungen hinter diesen gemacht<br />
werdenmüssen.<br />
WieschonimvorangegangenenKapitelerwähnt,erweistsichdiestarreFestlegung<br />
der Linien für Eintragungen untereinander als problematisch. Ist die Zeile der Formulierungen,diederLinievorangeht,zukurz,entstehenLücken<strong>von</strong>biszu31mm.DerKlientmuss–wennauchunbewusst–zusätzlicheAufmerksamkeitaufbringen,umdenZeilenanschlussnichtzuverlieren.DiesesichergebendeProblematikausAbstand<strong>von</strong>letztemZeichenundLinielässtsichaufdemgesamtenAntragfeststellen.<br />
DerAbschnitt8,dersichüberzweiSeitenerstrecktunddessenzusammengehörige<br />
PunktewiezweigetrennteAbschnittedargestelltwerden,enthältkeinenHinweisdarauf,<br />
dassderAbschnittsichaufderfolgendenSeitefortsetzt.<br />
EindeutlichesZeichenfürdenarbeitsorganisatorischenAnspruchandasFormular,<br />
istdergrauhinterlegteAbschnittfürdieSachbearbeitung.ErbefindetsichaufderSeite1<br />
imoberenDrittel.DiesesFeldistüberalleMaßenauffällig.EsistabernichtfürdenKunden<br />
vorgesehen. Das an den Kunden gerichtete Formular zeigt gleich die Ansprüche der VerwaltunginallerDeutlichkeit.DiesmagvordemarbeitsorganisatorischenHintergrundsicherlichnachvollziehbarsein,zeigtaberauchdiefehlendeWahrnehmungdesBürgersals<br />
Kunden.„Seinem“Formular,dasihmdieWahrnehmungeinesgesetzlichverbrieftenRechts<br />
ermöglichensoll,werdengleichzuBeginnAngabenderSachbearbeitungvorgeschaltet.Der<br />
KundekannsichaufgrundderHervorhebungdemFeldnichtentziehen.Undnachdemer<br />
636 vgl. Hauptantrag S.1, Abschnitt 1<br />
637 vgl. Hauptantrag S.4, Abschnitt 9a<br />
144
5.11.2 Semantisch-syntaktischeEinschätzung<br />
esdanndurchgelesenhat,musserfeststellen,dassesgarnichtfürihnbestimmtist.Also<br />
nochbevorerseineAngabenmachenkann,wirdihmverboten,Eintragungenvorzunehmen.<br />
EinembürgernahenFormularstündedieAnordnungdiesesFeldesamRandeoderamEnde<br />
desDokumentsbesserzuGesicht.<br />
Ebenfallsbürgerfern,weilinseinerFunktionunklar,istderAbschnitt,dersichunterhalbdesAbschnittesfürdieSachbearbeitungbefindet.IndiesemumrandetenAbschnitt<br />
befinden sich zwei Zeilen. Es sind die schon erläuterten Zeilen, in denen die Bündigkeit<br />
derEintragungsliniendieLücke<strong>von</strong>31mmerzeugen.AberdieserAbschnittistnochaus<br />
einemanderenGrundproblematisch.DenndieErfahrungdesKlienten,dasAbschnittefür<br />
die Sachbearbeitung grau hinterlegt sind, wird hier scheinbar wieder revidiert. Die FormulierungenderzweiZeilen,„KundennummerderAntragstellerin/desAntragstellers“und„NummerderBedarfsgemeinschaft“,weiseneindeutigaufverwaltungsorganisatorischeGegebenheitenderSachbearbeitunghin.AberesfehltanderKennzeichnungdurchdiegraueHinterlegung.Reinvisuell-grafischentsprichtderAbschnittdenen,wiesiefürKlienteneintragungenvorgesehensind.Erbesitzteineeinfache<br />
UmrandungsowieLinien,aufdenen<br />
Eintragungenvorgenommenwerdenkönnenundistnichtgrauhinterlegt.DerKlientkann<br />
somitdenAbschnittwedersich,nochderVerwaltungeindeutigzuordnen.DieBedeutung<br />
desAbschnittesistalsounklar.VerwirrungundUnklarheitistdasErgebnis.Damitwird<br />
die Kommunikationssituation gleich zu Beginn das zweite Mal gestört. Diese Störungen<br />
wirkensichnachhaltigaufdieweitereBearbeitungdesFormularsaus. 638<br />
Viele der Probleme in semantisch-syntaktischer Hinsicht lassen sich aller WahrscheinlichkeitnachnichtohneeineErweiterungdesSeitenumfangsbewerkstelligen.VerbesserungeninderGliederungundAufbaudesTextes,diesowohldiesemantisch-syntaktische<br />
alsauchdiepragmatischeDimensionbetreffen,erfordernmehrPlatzundStruktur.<br />
638 Auf Nachfrage bei der Behörde bestätigte man mir die unklare Zuordnung, wies aber darauf hin, dass<br />
auch der Kunde seine Kundennummer und die Nummer der Bedarfsgemeinschaft eintragen könne, so er<br />
diese Nummer wisse. Dies scheint mir aber gerade bei einem Erstantrag unlogisch und nicht praktikabel. Eine<br />
eindeutige Zuordnung des Feldes und desjenigen, der dieses Feld auszufüllen hat, scheint mir unbedingt nötig.<br />
145
5.11.3<br />
Pragmatische Einschätzung<br />
5.11.3 PragmatischeEinschätzung<br />
Alsnächstessollermitteltwerden,obdasFormulardieHandlungsfähigkeitdesKlientenverbessert.Mankannauchdanachfragen,welcheHinweiseundHandlungsvorgaben<br />
derKlientfürdieDurchsetzungseinesAnliegens<strong>von</strong>derVerwaltungbekommt.<br />
Bei der Aushändigung des Antrages wird jedem Klienten eine Ausfüllhilfe mitgegeben.SieenthälterklärendeInformationenzudeneinzelnenAbschnittenundmachtaufBesonderheitenaufmerksam.DieAusfüllhilfeistdaswichtigsteHilfsmittelbeiderAntragstellung.LeiderfindensichkeineweiterenHinweisedarauf,woderKlientweitergehendere<br />
Auskunfts-undBeratungsangebotefindenkann.SowirdwedereineTelefonnummereines<br />
Ansprechpartners noch ein Hinweis auf ein Online-Hilfsangebot gegeben. Es wird lediglichderHinweisaufgeführt,dassdieAntragsformulareauchunterdemInternetauftrittder<br />
BundesagenturfürArbeitzufindensind.<br />
PragmatischeUnzulänglichkeiteninnerhalbdesAntragswerdendurchdieAusfüllhinweiseteilweisewiederaufgefangen.AufdemAntragselbstwerdenkeinenäherenErläuterungenüberdieGründefürdieAbfragengegeben.AufdemAntragselbsterhältderKlient<br />
größtenteils keine Hinweise, warum er bestimmte Fragen beantworten soll. Stattdessen<br />
wird beispielsweise gesondert mit der Zeichenkombinationen *) auf die Ausfüllhinweise<br />
hingewiesen.DerHinweisaufdienäherenErläuterungenderAusfüllhilfeistallerdingsmit<br />
Unzulänglichkeitenverbunden.ImAbschnitt1desAntragesfindetsicheineEintragungslücke,indernachderTelefonnummergefragtwird.DasWortTelefonnummerwirddurch<br />
die Zeichenkombinationen *) ergänzt. Am unteren Blattrand wird diese Zahlenkombination<br />
erneut aufgegriffen, und es wird erklärt, dass nähere Erläuterungen den Ausfüllhinweisenzuentnehmensind.IndenAusfüllhinweisenfindetsichunterdennäherenErläuterungenzuAbschnitt1dannerstdieErklärung,dassdieAngabenzurTelefonnummerundE-Mail-Adressefreiwilligsind.DerKlientmusstealsodreiStufendurchlaufen,umzuerfahren,dassdieAngabenfreiwilligsind.DieserWegistnichtnurunpraktikabel,sondern<br />
hinterlässt auch den Beigeschmack der Kontrolle. Denn freiwillige Angaben sollten auch<br />
eindeutiggekennzeichnetwerden.InihrervorliegendenArtundWeisevermittelnsieden<br />
EindruckeinerzwingendenAngabe.EsgibtaberkeinenZwangzurAngabeundschongar<br />
keinegesetzlicheGrundlagezurAngabe.BeidemKlientenkannderEindruckentstehen,<br />
dasserjederzeiterreichbarunddamitauchkontrollierbarseinmuss,unddassgesetzliche<br />
Freiräumeverschleiertwerdensollen.NebenderTelefonnummerundderE-mailAdresse<br />
sindauchdieAngaben überdieMitglieder imHaushaltfreiwillig. LautGesetzdarfnur<br />
nachMitgliedernderBedarfsgemeinschaft–Vater,Mutter,minderjährigeKinder–gefragt<br />
werden.DatenschützerempfehlendeshalbeineBeratungschonvordemAusfüllen. 639 <br />
PragmatischschwierigsindauchdieVerweiseaufParagrapheninnerhalb<strong>von</strong>Gesetzesgebungen.SolässtsichzumBeispielimAbschnitt7dieFormulierungfinden:„RuhtIhr<br />
AnspruchaufArbeitslosengeldwegendesEintrittseinerSperrzeitgemäߧ144SGBIII?“ 640 <br />
DieProblematik,diehinterdieserFormulierungsteht,istoffensichtlich.DieFormulierung<br />
beziehtsichaufeineneindeutigineinemGesetzvorgegebenenAbschnitt.Dennochistweder<br />
da<strong>von</strong>auszugehen,dassderKlientsichderFormulierungenderParagraphenimKlarenist,<br />
nochdasserHilfsmittelzurVerfügunghat,dieseParagraphennachzulesen.FürdenKlienten<br />
ist das lediglich ein Verweis auf einen Paragraphen, dessen Inhalt ihm absolut un-<br />
639 vgl. Gieselmann 28<br />
640 vgl. Hauptantrag, S.3, Abschnitt 7b<br />
146
5.11.3 PragmatischeEinschätzung<br />
bekanntseindürfte.ErkannsichüberdieKonsequenzenseinesHandelnsnichtbewusst<br />
werden. Erst durch die Zuhilfenahme der Ausfüllhilfe wird das Unwissen teilweise abgebaut,indemerkanntwerdenkann,dassessichumdievorherigenBezug<strong>von</strong>Arbeitslosengeldhandelnmuss.DieAbkürzungSGBIII(Arbeitslosengeld)undeinevereinfachteErläuterungdesParagraphen114findetsichdennochnicht.DieReihederBeispielelässtsichnochbeliebigfortsetzen.SiebeginnenbeiFormulierungenwie:„LeistungenzurTeilhabeamArbeitslebennach§33NeuntesBuchSozialgesetzbuch(SGBIX)“undgipfelninFormulierungenwie„Eingliederungshilfennach§54Abs.1Satz1bis3ZwölftesBuchSozialgesetzbuch(SGBXII)“.<br />
641 DieAufgabeandasFormular,gesetzlicheGrundlagenzuvermitteln,<br />
steht hier leider über der Benutzerfreundlichkeit. Eine sinngemäße oder wörtliche AbbildungdesGesetzestexteskönntedemKlientenhelfen,dieVerweisenachzuvollziehen.<br />
InihrerpragmatischenVerständlichkeitbedenklichsindauchWörterwie„zurzeit“,<br />
„demnächst“ 642 oder„inKürze“. 643 FürdenKlientenistnichtklar,welcheZeiträume„zurzeit“,„demnächst“oder„inKürze“genaubezeichnen.SiesindinihrerFormulierungzu<br />
sehr individuell auslegbar. Auch in der Ausfüllhilfe lassen sich keine genaueren Bestimmungenfinden.EinegenauereBezeichnungderZeiträumewürdezumAbbau<strong>von</strong>Unklarheitenführen.<br />
EinweitererbesondersbedenklicherHinweisdarauf,dassderKlientsichüberdie<br />
FolgenseinesHandelnsdurchdasFormularnichtbewusstwerdenkann,findetsichimAbschnitt2c.DortstehtdieFrage:„SindSie–IhrerEinschätzungnach–gesundheitlichinder<br />
Lage,eineTätigkeit<strong>von</strong>mindestensdreiStundentäglichauszuüben?“ 644 AuchdieserFormulierungistdieZeichenkombinationen*)nachgestellt.WederindenAusfüllhinweisennoch<br />
aufdemAntragselbst,findetsicheinHinweisdarauf,dassmitVerneinungdieserFrageder<br />
AnspruchaufArbeitslosengeldIIhinfälligist.WirddieFragemitNeinbeantwortet,sogeht<br />
derKlientautomatischausdemBezug<strong>von</strong>HartzIVrausundrutschtindenBezugdesSGB<br />
XII.DieGesetzedesSGBXIIsindunterdemNamen“GrundsicherungimAlterundbeiErwerbsminderung”bekannt.SieistvergleichbarmitderklassischenSozialhilfe.LeistungsberechtigtnachSGBXIIsindhilfebedürftigeBürgerinnenundBürgerüber65Jahresowie<br />
aus medizinischen Gründen dauerhaft voll erwerbsgeminderte Personen ab 18 Jahre. Sie<br />
müssendafüraberihrengewöhnlichenAufenthaltinderBundesrepublikDeutschlandhaben.<br />
645 MitdemBezugnachSGBXIIwerdenauchalleMöglichkeitgenommenMini-oder<br />
Midijobs angeboten zu bekommen. Eine Frage die grundsätzlich über Bezug bzw. Nicht-<br />
BezugderexistenzsicherndenSozialleistung<strong>von</strong>HartzIVentscheidet,wirdohnebesondere<br />
HervorhebungoderAlleinstellungunterweitereFragenüberdenStatusalsSpätaussiedler<br />
oder als Asylbewerber gemischt. Die sich ergebenden Konsequenzen werden nicht aufgeführt.NichteinmalindenAusfüllhinweisenfindetsicheineEintragung,dieüberdieKonsequenzeneinerVerneinungAuskunftgibt.<br />
UnklarheitkannbeidemKlientenauchdarüberentstehen,welcheNachweiseerfür<br />
dieBearbeitungdesAntragesbeizubringenhat.WirdzumBeispielimAbschnitt2bdanach<br />
gefragt, ob die Person ein Berechtigter oder eine Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetzist,sosollenentsprechendeNachweisevorgelegtwerden.ImUnklarenbleibtderKlientdarüber,welcheArt<strong>von</strong>Nachweisenervorzulegenhat.EinegenauereNamensangabedesNachweiseswäreförderlich.<br />
Eine Vielzahl der Abschnitte beziehen entweder direkt oder durch eine BeantwortungderFragemitJa,dieAufforderungeineentsprechendeAnlageauszufüllen,nachsich.<br />
641 vgl. Hauptantrag, S.2, Abschnitt 3c<br />
642 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 2e<br />
643 vgl. Hauptantrag S.4, Abschnitt 9a<br />
644 Hauptantrag S.1, Abschnitt 2c<br />
645 vgl. http://www.bmas.de/portal/10676/grundsicherung__im__alter__<br />
und__bei__erwerbsminderung.html, letzter Zugriff: 18.11.2009<br />
147
5.11.3 PragmatischeEinschätzung<br />
DerAbschnitt4ziehtbeispielsweisedasAusfüllenderAnlageEKdirektnachsich,indem<br />
esheißt:„AngabenzudenEinkommensverhältnissen*);FüllenSiebittefürsichundggf.<br />
für jede weitere Person der Bedarfsgemeinschaft jeweils Anlage EK aus.“ 646 In den Anlagen<br />
werden bestimmte Informationen, die zur Antragsbearbeitung und Antragsbewilligungnötigsind,eingehenderhinterfragt.DieseAnlagenbeginnenmitdemverkürztenAnlagentitelundmiteinerkurzennachgestelltenErläuterung.DiesekurzeErläuterungkönnte<br />
durchausetwasausführlichergestaltetwerden,damitdemKlientenderZwecknochmehr<br />
verdeutlichtwerdenkann.NochnähererklärtwerdensollteauchdieNotwendigkeitdieser<br />
Anlage.EinBeispiel:VoralleminderAnlageEK(Einkommensverhältnisse)sehenDatenschützerpragmatischeProblemeinBezugaufArtderFragenundAuskünfte.SoseibesondersdasZusatzblatt2mitderEinkommenserklärungnichtmitdemSozialgeheimnisvereinbar.DenndurchdenVordruckerlangederArbeitgebereinesAngehörigenEinblickin<br />
geschützteDatendesMitarbeitersunddesAntragstellers.DieseDatensindabernichtfür<br />
ihnbestimmt.DeshalbwirdsogardieEmpfehlunggegeben,sichdenVerdienstanderweitig,<br />
beispielsweiseübereinenneutralenGehaltsnachweis,bescheinigenzulassen.DenneinegesetzlicheVerwendungspflichtfürdasFormulargibtesnicht.DieBehördemüsstealso,will<br />
siediesepragmatischeProblematikmindernunddemBürgerdasRechtaufinformationelle<br />
Selbstbestimmunggewähren,denHinweisaufneutraleGehaltsnachweisegebenoderdie<br />
AnlageEKüberarbeiten. 647 <br />
AlspositivherauszustellensinddieHinweiseaufdenAnspruch,beispielsweiseauf<br />
denAnspruchaufMehrbedarf.„SchwangerehabeneinenAnspruchaufMehrbedarf.“ 648 So<br />
wirddemKlientenbewusstgemacht,dassunterschiedlicheLebenssituationenunterschiedlicheAnsprüchenachsichziehenkönnen.DieseHinweisekönntenallerdingsnochetwas<br />
deutlicher herausgestellt werden. In diesem Abschnitt lässt sich noch eine andere Auffälligkeitfeststellen.UnterdergenauenBezeichnungdesAbschnittesfindetsichderHinweis,<br />
dassdieAngabenfreiwilligundnurerforderlichsind,wenneinMehrbedarfbeansprucht<br />
wird.DiesenäherenErläuterungenwürdeninhäufigererVerwendungzueinererheblichen<br />
AufwertungderHandlungsfähigkeitdesKlientenführen.<br />
EinweiterspositivesBeispielfüreineFormulierung,mitdersichderBürgerüberdie<br />
Konsequenzen seines Handelns bewusst werden kann, findet sich im Abschnitt 8c. Dort<br />
heißtes:„NachfolgendeAngabensinderforderlich,wennSiegetrenntlebendsind,daSie<br />
ggf.familienversichertwerdenkönnen.*)“HintergrundistsicherdasAnliegen,denJugendlichenüberdieElternundnichtzuLastendesHartz-IV-Budgetszuversichern.DennochisteseingutesBeispiel,wieFormulierungengestaltetwerdenkönnen,wennsiedieAufforderungzumHandelnunddieKonsequenzdesHandelnsineinemvereinen.<br />
DerAntragweistsomiteineVielzahl<strong>von</strong>pragmatischenUnzulänglichkeitenauf.In<br />
ihrerGewichtungsindsiedennochnichtsostarkwiediegrafisch-visuellenoderdiesyntaktisch-semantischenMängel.DenneinGroßteilderpragmatischenMängelkanndurch<br />
diebeigelegteAusfüllhilfeabgefedertwerden.Esmussabernochweiterdarangearbeitet<br />
werden,dassderKlienterfahrenkann,warumbestimmteInformationenerfragtwerden,<br />
worindieInformationenbestehen,woersiegegebenenfallsbeziehenkann.WennderKlient<br />
sich über Abfragen und deren anspruchsbegründende Bedeutung im Klaren sein kann,<br />
dannwirdesihmauchleichterfallen,dienötigenSachverhaltebeizusteuern.Esistalsozu<br />
überlegen,obnichtdieleistungsentscheidendenPassagenmitZusatzinformationversehen<br />
werdensollten.LetztendlichkommtdasdannauchderVerwaltungzuGute.<br />
GeradeabersolcheAbfragen,dieüberdenLeistungsbezugentscheiden,müssendeutlicherherausgestelltwerden.DerKlientkannsichnochinzuvielenSituationennichtdar-<br />
646 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 4<br />
647 vgl. http://www.bfdi.bund.de/DE/Oeffentlichkeitsarbeit/Pressemitteilungen/Archiv/28-<br />
04Alg_II_AntragsformulareTeilweiseUnzulaessig.html?nn=409394, letzter Zugriff: 19.11.2009<br />
648 vgl. Hauptantrag S.2, Abschnitt 3a<br />
148
5.11.3 PragmatischeEinschätzung<br />
überimKlarenwerden,welcheKonsequenzenseineEintragungenbzw.seinHandelnnach<br />
sichziehen.EineeindeutigeKennzeichnungfreiwilligerAngaben,nähereErläuterung,zu<br />
welchemZweckdieFragengestelltwerden,diesinngemäßeoderwortwörtlicheAbbildung<br />
<strong>von</strong> Gesetzestexten, auf die verwiesen wird, und die eindeutige Bezeichnung <strong>von</strong> zu erbringendenNachweisen,sindsehreinfacheMittel,pragmatischeMängelausdemWegzuräumen.AbergeradedasProblemderKennzeichnungderfreiwilligenAngabenmussunbedingtgelöstwerden.ObAngabenfreiwilligzumachensind,musssoforterkennbarsein!DerKlienthateinRechtaufgesetzlichabgesichertenSchutz<strong>von</strong>PrivatsphäreundDatenschutz!<br />
149
5.11.4<br />
Fazit<br />
5.11.4 Fazit<br />
Das Antragsformular muss, wenn es die asymmetrische Dialogsituation vermindernunddiereziprokeInteraktionfördernwill,inmehrerenPunktendringendüberarbeitet<br />
werden. In erster Linie sind grafisch-visuelle und syntaktisch-semantische Mängel abzubauen.DerAntragwirktinsgesamtvielzuüberladen.DieGliederungundStrukturdesAntragesinsichundauchdieStrukturundGliederungderAbschnitteinsich,weisenerheblicheMängelauf.EinklarerkennbaresordnendesRasteristebensowenigvorhanden,wie<br />
einestringenteFestlegungderMittel–sowohlderinhaltlichenalsauchdergrafischenMittel.<br />
GrundsätzlicheGesetzmäßigkeiten,diebeispielsweisedenLeseflussunddieInformationsaufnahmefördern,werdenmissachtet.DasVornehmenderEintragungenwirddurchdieUnordnung,denPlatzmangelunddiefehlendeStrukturerschwert.MikrotypografischeGesetzmäßigkeiten<br />
wurden ignoriert, genauso wie die Möglichkeiten, optische Ruhe in das<br />
Formular zu bringen. Fehler finden sich auch bei der falschen Interpunktion <strong>von</strong> Abkürzungen.DasFormularkannnichthelfen,denäußerenLesewiderstandabzubauen.<br />
Ebenso wie der optische Eindruck leidet auch die Verständlichkeit des FormulartextesdurchmangelndeGliederungundOrdnung.EintragungsfelderfürZeitraumangaben<br />
müssenimmerdiegleicheAnordnungzuihrerdazugehörigenFormulierunghaben.Beider<br />
Anordnung der Linien sollte in erster Linie die Benutzerführung entscheidend sein. Und<br />
nichteinerzwungenesRaster.DieMöglichkeitendesBenutzersunddessenoptimaleFührungmüssendieArtundWeisedereingesetztenMittelbestimmen.AuchwenninderüberwiegendenZahlderFormulierungenversuchtwurde,EinfachheitundPrägnanzzufördern,solassensichimmernochfürdieVerständlichkeitschwierige<br />
Formulierungenfinden.DieTeilung<strong>von</strong>kompliziertenundkomplexenFrageninmehrere<br />
kleineTeilfragenkönntehelfen,dieVerständlichkeitzuerhöhen.EingroßesProblem,sowohlinsemantisch-syntaktischerHinsichtalsauchinpragmatischerHinsicht,sinddieAbkürzungen.VorallemdieAbkürzungenderFormularnamenundderGesetzgebungensind<br />
sehrproblematisch.DerbloßeHinweisaufeinGesetzdurchdessenAbkürzung,reichtnicht<br />
ausbzw.wirktverwirrend.DeshalbsollteübereinenVerzichtodereinegenauereAusformulierungnachgedachtwerden.Genauerbezeichnetundgekennzeichnetmüsseninjedem<br />
FalldiezuerbringendenNachweiseundAnträgewerden.SprüngeinderAnsprachekönnen<br />
genausoleichtgelöstwerden,wieProblemeindermännlichenundweiblichenAnrede.Den<br />
sichauseinemsemantisch-syntaktischenKontextergebendenBedeutungen<strong>von</strong>bestimmten<br />
ZeichenfolgenmussunbedingteAufmerksamkeitgeschenktwerden.<br />
UnbedingtgelöstwerdenmussdasProblemderKennzeichnungderfreiwilligenAngabenunddasProblemderVerletzungdesSozialgeheimnissesdurchbestimmteAntragsanlagen.ObAngabenfreiwilligzumachensind,musssoforterkennbarsein!Informationen,<br />
diefüreinePrüfungaufgesetzlicherBasisunnötigsind,dürfennichtgenausobehandelt<br />
werdenwiedie,diezurPrüfungnotwendigsind.DerKlienthateinRechtaufPrivatsphäre<br />
undDatenschutz!DieFormulareundAnlagensowiedieVerwaltungsprozessemüssenso<br />
strukturiert werden, dass zu jedem Zeitpunkt kein einziges Persönlichkeitsrecht verletzt<br />
wird.Esdarfnichtpassieren,dassdatenschutzrechtlicheFragenbeiderpraktischenUmsetzungderSozialreformeninVergessenheitgeraten.<br />
649 GenausodarfauchnichtderEindruck<br />
entstehen,dassdasFormularinersterLinieeineverwaltungsorganisatorischenZwecker-<br />
649 vgl. http://www.bfdi.bund.de/DE/Oeffentlichkeitsarbeit/Pressemitteilungen/Archiv/28-<br />
04Alg_II_AntragsformulareTeilweiseUnzulaessig.html?nn=409394, letzter Zugriff: 19.11.2009<br />
150
5.11.4 Fazit<br />
füllt.DasFormularmussvielmehralsdasMittelzurRechtsdurchsetzungfürdenBürger<br />
angesehenwerden.DerBürgererhebtAnspruchaufseinegesetzlichverbriefteLeistung.Er<br />
gibt der Behörde den Auftrag, seine Ansprüche zu überprüfen und gegebenenfalls zu gewähren.EristderKunde.EsdarfbeiihmnichtderEindruckentstehen,dasserdieLeistung<br />
erbettelnmuss.IhmmussdieMöglichkeitgegebenwerden,injedemeinzelnenTeil„Herr<br />
derLage“zusein.DerVorgangmussfürihnüberschaubarundnachvollziehbargemacht<br />
werden.Erläuterungen,wozudieDatengebrauchtwerden,findensichnochzuwenige.EntscheidendevorzunehmendeAngabenmüsseninihrerKonsequenzerklärtwerden.InTeilendesAntragessindBestrebungenzuerkennen,denKlientendurcheinereziprokeInteraktionhandlungsfähigerzumachen.DennochistdieAnzahldererkennbarenBestrebungenzugeringunddieFortführunginnerhalbdesAntragesnichtkonsequentgenug.EineguteHilfebeiderAntragstellungistdiebeigelegteAusfüllhilfe.SieerhöhtzwardenArbeitsaufwanddurchdieparalleleBenutzung,abervieledererfragtenInformationenwerden<br />
klarer.SieisteinegroßeHilfe,wennesumdieNachvollziehbarkeitunddieNotwendigkeit<br />
derAngabengeht.DennochkönnenHinweise,dieerstinderAusfüllhilfegegebenwerden,<br />
schonaufdemAntragselbererscheinen.<br />
WeitereHilfestellungbekommtderKlientbeiderAbgabedesAntrages.DieMitarbeiterinderBehördesindangehalten,zusammenmitdemKlientendenausgefülltenAntragnocheinmaldurchzugehen.SosolleneventuelleUnklarheitenoderVersäumnisseherausgestelltwerdenkönnen.AuchdieseMaßnahmeförderteinereziprokeInteraktionundletztlichauchdenhandlungsfähigenBürger.<br />
151
5.13<br />
Die Rolle des Formulargestalters<br />
„Wer es mit Kommunikation zu tun hat, muss auf Kunst verzichten.“ 654<br />
5.13 DieRolledesFormulargestalters<br />
In seiner Rolle als Formulargestalter muss sich der Kommunikationsdesigner darüberimklarensein,dassesinersterLinieumdie<strong>Gestaltung</strong><strong>von</strong>Kommunikationgeht.<br />
Und diese <strong>Gestaltung</strong> der Kommunikation visualisiert sich in der <strong>Gestaltung</strong> des Formulars.DerGestaltermusssichalsoinseinerArbeitentscheiden,welcherFunktionerdurch<br />
seine<strong>Gestaltung</strong>enentsprechenwill.Undermussüberlegen,wieerdieseFunktiongestalten<br />
kann.<br />
Der<strong>Gestaltung</strong>desFormularsgehenabernochinhaltlicheundorganisatorischeEntscheidungenvoraus.EntscheidendistnämlichdieZielstellung–alsodieDinge,dieerreicht<br />
werdensollen–unddieFrage,obeinFormulardafürdasrichtigeMediumist.Erstdanach<br />
kannmandieÜberlegungenanstellen,wiedasFormularaussehensoll.<br />
DerInformationsträgerstehtinseinerFunktionenalsNachrichtenübermittlerzwischendemSenderunddemEmpfänger.DerGestalteristfürdieKonzeptionundPlanung<br />
sowie die <strong>Gestaltung</strong> der visuellen Informationen und Informationszusammenhänge verantwortlich.Erreichtwerdensoll,dassdiezuübermittelndenInformationendurchdie<strong>Gestaltung</strong>(Komposition),dieVerarbeitungunddieVerbreitungaufdieBedürfnisseeinerbestimmtenZielgruppeeingestelltwerden.<br />
655<br />
BeimFormulargibtderSenderseinerseitseineAuswahlderzuübermittelndenund<br />
derzuerfragendennotwendigenundnützlichenDatenvor.DieGliederungwirddurchinhaltliche<br />
Ordnungsbeziehungen und Zusammenhänge bestimmt. Dem Sender gegenüber<br />
stehtderEmpfänger.IhmsolldasSehenundErfassen<strong>von</strong>Zusammenhängenermöglicht<br />
werden. Er soll im Aufbau der wiederkehrenden, alle Empfänger betreffenden Formulardaten,Mustererkennenkönnen,dieihmdieInformationsaufnahmeund-verarbeitungerleichtern.DennnursokanndieschnelleundsichereWahrnehmung,VerarbeitungoderErmittlungdervariablenDatengesichertwerden.<br />
DemFormularinderMitte–zwischendemEmpfängerunddemSender–kommt<br />
dieAufgabezu,dieinhaltlichenOrdnungsbeziehungenmitHilfeeinesFormularzeichensystemsundbekanntenMusternzuvisualisieren.Essollu.a.füreinedeutlicheundgutlesbare<br />
BeschriftungdervariablenDatensorgen.Vonihmhängtesab,wieschnellundsicherder<br />
SenderseineInformationenzumEmpfängerübertragenkann.FürdenEmpfängerüberflüssige,aberfürdenSenderzweckmäßigeInformationenmüssendurchdenFormulargestalter<br />
so gestaltet werden, dass sie wenigstens für den Empfänger informationsarm dargestellt<br />
werden.DennderEmpfängerempfindetallefürdenorganisatorischenVorgangnötigenInformationenalsstörendundüberflüssig.DerEmpfängermussdieSicherheitunddasVertrauenhaben,dassdiewiederkehrendenDatenüberprüft,richtigundfürdieindividuellen<br />
AngabendasadäquateMittelsind.<br />
DerFormulargestaltermussdietypografischenMittelgezieltzurIdentifikation,Informationsverringerung,<br />
Benutzerführung und Lesbarkeit einsetzen. Alle Störungen und<br />
Verzögerungen in der Informationsübermittlung müssen durch die richtige Auswahl und<br />
Gliederung der Vordruckdaten, der entsprechenden Formulartypografie und der zweckdienlichenBeschriftungdervariablenDatenverhindertwerden.DasWissenumInformationsverringerung,Datenhervorhebungund<strong>Gestaltung</strong><strong>von</strong>Auffälligkeitenmussdabeivorhandensein.DerFormulargestalter„istnichtnurGestalterästhetischschönerFormulare,<br />
654 Otl Aicher, http://public.beuth-hochschule.de/~loopy/otl/, letzter Zugriff: 19.11.2009<br />
655 vgl. Voss 148 f<br />
160
5.13 DieRolledesFormulargestalters<br />
KünstleroderHandwerker,sondernvorallemNachrichtenübermittler.“ 656 Der<strong>Gestaltung</strong><br />
einesFormularswirddieAufgabeübertragen,dieinhaltlichenOrdnungsbeziehungenzuvisualisierenunddasErkennen<strong>von</strong>Gestaltmusternzuermöglichen.<br />
Für eine <strong>Gestaltung</strong> eines verständlichen Formulars müssen Kenntnisse über den<br />
Vorgang, den Organisationsablauf, die Informationswege, die Empfängergruppe, die AbsendergruppeunddieBearbeitungsartvorhandensein.DerFormulargestaltermussneben<br />
seinentypographischenWerkzeugenauchetwas<strong>von</strong>menschlicherInformationsaufnahme<br />
und-verarbeitungsowiedemmenschlichenLeseverhaltenverstehen.ErmussdieihmbekanntenMittelgezieltzurIdentifikation,Informationsverringerung,Benutzerführung,Hervorhebung,AuszeichnungundLesbarkeitfürdenEmpfängereinsetzen.<br />
657 MitHilfeeines<br />
fundiertenWissenskannderFormulargestalterdieDatenmengeentwederselbstreduzieren,<br />
odererkannsolcheDatenauswählen,diedemEmpfängerbekanntsind.DassinddieInformationen,diekeinebzw.einegeringeInformationfürdenEmpfängerbedeutenundsomit<br />
keineStörungdurchUnverständlichkeithervorrufen.<br />
Idealerweiseistdie<strong>Gestaltung</strong>einesFormularseineTeamarbeitzwischendenFach-<br />
undOrganisationsabteilungen,derEDVunddemFormulargestalter.DieZusammenarbeit<br />
aller genannten Gruppen sollte in einem möglichst frühen Stadium beginnen. Denn auf<br />
allenStufenderFormulargestaltung–derDatenauswahl,derGliederung,derAnordnung<br />
undBeschriftung–werdennunbesondereAnforderungenundTechnikenfürdieschnelle<br />
undsichereNachrichtenübermittlungbenötigt.<strong>Gestaltung</strong>bzw.Designistdas„Entwerfen<br />
eines integrierten Zusammenhangs <strong>von</strong> Funktion, Struktur und Gestalt eines Produkts<br />
und dessen Beziehung zu seinem Kontext“. 658 Gerade der Zusammenhang <strong>von</strong> Funktion,<br />
Struktur und Gestalt ist bei der Formulargestaltung besonders wichtig. Denn gerade bei<br />
einemFormularwirddieinhaltlicheOrdnungsbeziehungvisualisiert.EslässtsichdieVisualisierungderInformationaufkeinenFall<strong>von</strong>derenInhalttrennen.<br />
656 Toebe-Albrecht 50<br />
657 vgl. Toebe-Albrecht 50<br />
658 Suckow 81<br />
161
5.14 ZusammenfassungundmöglicherLösungsansatz<br />
5.14<br />
Zusammenfassung und möglicher Lösungsansatz<br />
„Kunden nicht ein Formular mehr, sondern ein Problem weniger verschaffen.“ 659<br />
EinenhauptsächlichenGrundfürdenproblematischenEinsatzdesFormularsinder<br />
BeziehungBürger–Behördezubenennenistunmöglich.DieGründesindzuverschieden.<br />
DemFormularwerdenzuvieleundzuunterschiedlicheAufgaben„aufgebürdet“–dasist<br />
auchdasDilemma.DenndiespezifischenAnforderungenbringenjedefürsichundinihrer<br />
GesamtheitverschiedeneProblememitsich.DasFormularalsVerwaltungsvorschriftsoll,<br />
indemesbeispielsweisediefüreinVerwaltungsverfahrengesetzlichfixiertenTatbestände<br />
vermittelt, das Verwaltungsverfahren und das Entscheidungsverhalten strukturieren. Es<br />
sollalsArbeits-undOrganisationsmitteldenEntscheidungsprozessderVerwaltungorganisieren,indemesz.B.diefüreineVerwaltungsentscheidungbenötigtenInformationensammelt.<br />
Es soll das Verwaltungsverfahren ökonomisch rationalisieren, indem es die spezifischenAnforderungenverwaltungsinternerArbeitsorganisationenbedient.Undessollden<br />
Verwaltungsklienteninformieren,nachMöglichkeitineinerreziprokenInteraktion.Doch<br />
alleindieVermittlungdergesetzlichfixiertenTatbeständeist,wiebereitsvorhererörtert,<br />
problematisch.DiebessereVerständlichkeitdurchwenigerFach-oderFremdsprachenführt<br />
zueinerhöherenRechtsunsicherheitundgeringererGesetzestreueundumgekehrt.Dassind<br />
abernichtdieeinzigenHürden.WillmanbeimBürgerdieSchwierigkeitenimUmgangmit<br />
demFormularabbauen,indemmanbeispielsweisedafürsorgt,dassernacheigenenKriteriengliedern,beschreibenundauswählendürfte,ziehtdaseventuellwiederProblemeim<br />
Persönlichkeitsschutznachsich.DennnurmiteinerengenOrientierunganrechtlicheund<br />
gesetzlicheMerkmaleistgewährleistet,dassnurdiefürdieEntscheidungnotwendigenInformationen<br />
und entscheidungserheblichen Sachverhalte erhoben werden. Der Bürger ist<br />
auchnichtinderLage,einenrealenSachverhaltjuristischqualifiziertzubetrachtenund<br />
einemgesetzlichenTatbestandunterzuordnen.DasobliegtderVerwaltung.Siemussalso<br />
allerelevantenInformationenfüreineSubsumtionsammeln.DieVerwaltunghataberkeine<br />
Möglichkeit,dieRichtigkeitderAngabeninderRealitätzuüberprüfen.Ihrbleibtalsonur,<br />
dieRichtigkeitüberZusatzinformationenzuermittelnundaufihrePlausibilitätzuuntersuchen.<br />
660 AllenAnforderungen,dieausderInteraktion<strong>von</strong>VerwaltungundBürger,derinternen<br />
Arbeitsorganisation und der Subsumtion unter gesetzlich fixierte Tatbestände entstehen,kanndasFormularnichtgleichermaßengerechtwerden.<br />
Wasmussgetanwerden,umdiesedemFormularimmanentenSchwierigkeitenund<br />
Problemezumindern?<br />
Will man also die Interaktion zwischen Bürger und Behörde verbessern, insbesondereüberdenWegderFormulare,mussderBürgerhandlungsfähiggemachtwerden.HandlungsfähigwirdderBürgerschondurchdieentsprechendevisuelleundsprachliche<strong>Gestaltung</strong>.Esmussdafürgesorgtwerden,dassdasFormularauchwirklichalsAntragaufein<br />
gesetzlichverbrieftesRechtwahrgenommenwird.DennderBürgererhebt„nur“Anspruch<br />
aufseinegesetzlichverbriefteLeistung.ErsollnichtdasGefühlvermitteltbekommen,die<br />
Leistungen„erbetteln“zumüssen.DerBürgerstecktmeistineinermisslichenLage.Verschuldetoderunverschuldet.DasFormularmussseinerpersönlichenSituationadäquatsein.<br />
ErmussdasFormularsowahrnehmenkönnen,wieessichfüreinenKundengehört.Fürihn<br />
darfeskeinenUnterschiedgeben,oberseinGeldbeispielsweiseinBundesschatzbriefenanlegtodervomStaatLeistungenfordert.ErdarfdasFormularnichtalsverwaltungsorgani-<br />
659 Schwesinger 29<br />
660 vgl. Brinckmann 257<br />
162
5.14 ZusammenfassungundmöglicherLösungsansatz<br />
satorischesMittelwahrnehmen.ZusätzlicheHandlungsfähigkeitbekommtderBürgermit<br />
demWissenumdieVoraussetzungen,diealternativenWegeunddieFolgenseinesHandelns.<br />
Mögendieseauchungewolltsein.EsmussfürdenBürgerklarsein,waserinGangsetzt,<br />
wennerdasFormularausgefülltderVerwaltungzukommenlässt.DieAsymmetrieinder<br />
DialogsituationzwischenBürgerundBehörde,mussinRichtungeinerwechselseitigenInteraktionaufgleicherAugenhöheverändertwerden.<br />
WieschonindenKapiteln„Verständlichkeit<strong>von</strong>Informationen“und„Verarbeitung<br />
<strong>von</strong>Informationen“angedeutet,solltedeshalbdasjeweiligeFormularinBezugaufdiegrafischvisuelle<strong>Gestaltung</strong>,dieVerständlichkeitinsyntaktisch-semantischerHinsichtundaufdieVerständlichkeitinpragmatischerHinsichtbefragtwerden.FormularesindInformationsträger–siemüssenverständlichformuliertsein,siemüssenklareZusammenhängeherstellenundvisualisierenkönnen,siemüssenErläuterungenundHilfestellungengeben.VerständlichkeitverlangtnachderReduktionaufdieelementarenInformationen.DieskanndurchdieHerstellung<strong>von</strong>ZusammenhängenunddurchdieGliederungderfürdenEmpfängerbestimmtenInformationengeschehen.DabeikannderSenderdemEmpfängerdie<br />
Verständlichkeit„nichteinfachverordnen.“ 661 WieverständlicheinFormularist,kannnur<br />
der Empfänger beurteilen, denn Verständlichkeit ist „immer eine Leistung des Empfängers.“<br />
662 <br />
InersterLiniesindesdieäußerenoptischenunddieinhaltlichen<strong>Gestaltung</strong>en,die<br />
einereziprokeInteraktionbestimmen.Soistbeidergrafischvisuellen<strong>Gestaltung</strong>danach<br />
zufragen,wasgetanwerdenmuss,damitderBürgerseinenLese-undBearbeitungswiderstandablegtundsichbereiterklärt,dasFormularalsAntragaufseinverbrieftesLeistungsrechtanzusehen.InHinsichtaufdiesyntaktisch-semantischeVerständlichkeitmussnach<br />
dersprachlichenEinfachheit,derPrägnanzdesFormulartextesundnachderGliederung<br />
undinhaltlichenZuordnungderEinzelteile(inhaltlicheÜberschaubarkeit)gefragtwerden.<br />
WennmandieVerständlichkeitnachpragmatischenAspektenermittelnwill,somussman<br />
fragen,wiewirksamdieempfangenenInformationendasVerhaltendesEmpfängersinder<br />
gewünschtenWeisebeeinflussen.Alsoistzufragen,obundwiegutdasFormularbzw.der<br />
FormulartextdenKlientenhandlungsfähigmacht.KannderBürgerseineRechtsansprüche<br />
wahrenunddurchsetzen?ErhälterdasnötigeKontext-undAlternativwissen?Kannersich<br />
überdieFolgenseinesHandelnsbewusstwerden?<br />
DerKommunikationsdesignerkannleichtaufdieäußere<strong>Gestaltung</strong>undteilweise<br />
auchaufdiesyntaktisch-semantischeVerständlichkeitEinflussnehmenundsieverbessern.<br />
Fehlende Attraktivität, mangelnde Aufmerksamkeit durch informelle Überfrachtung, unübersichtliche<br />
Strukturen, nicht ersichtliche Konzeption, fehlende Benutzerführung, unklareZuordnungderElemente(Linien,Kästchenusw.),erschwerteLesebedingungendurch<br />
fehlendeRücksichtnahmeaufeventuelleSchwächenusw.,lassensichdurchdachtbeheben.<br />
ZusätzlicherRaumfürdie<strong>von</strong>denvorformuliertenFragenabweichendenindividuellenAngabenlässtsichmöglicherweiseauchleichtbereitstellen.GenausowiederGestalterauch<br />
versuchen kann, die negative Wahrnehmung der Fragen und des Inhalts, bedingt durch<br />
schlechteErfahrungenmitdenbetreffenden<strong>Formularen</strong>oderInstitutionen,unddiealsnegativempfundeneKategorisierungdesEinzelnen,wenigstenszumindernunddenäußeren<br />
Lesewiderstandzubrechen.<br />
Fast nicht lösbar ist die Aufgabe der Pragmatik für ihn. Denn viele der pragmatischen<br />
Aspekte sind systemimmanent. Restriktionen entstehen durch die Rechtsförmigkeit<br />
<strong>von</strong> Verwaltungsverfahren oder durch arbeitsorganisatorische Erfordernisse der Verwaltung.<br />
Auf den Einsatz <strong>von</strong> widersprüchlichen, missverständlichen, abstrakten, nicht<br />
nachvollziehbarenFormulierungenundaufdiefehlendeTransformationderIdiomatikder<br />
Rechts-undVerwaltungsspracheineineAlltagssprache,kannerkeinenEinflusshaben.Das<br />
661 Toebe-Albrecht 181<br />
662 ebd. 181<br />
163
5.14 ZusammenfassungundmöglicherLösungsansatz<br />
gleichegiltfürdenEinsatzdesNominalstils,dieteilweisebevormundendeAnsprache,die<br />
schlechteNachvollziehbarkeitderNotwendigkeitunddenUmfangderzumachendenAngaben.Nichtausschließensolltemandeshalb,dassdieUnternehmens-bzw.Verwaltungsstrukturzubefragenundzuverändernist,willmansichdurchdasFormularunddessen<br />
Struktur und Systematik weiter den Kundenwünschen nähern oder bürgernäher werden.<br />
DieUntersuchungeinesFormularsaufEffizienzundErgonomieimVorfelddesEinsatzes<br />
istdazunötig.DasBefragenundVerändernderStrukturenundVoraussetzungensowieein<br />
entsprechendes Formular können, meiner Einschätzung nach, entscheidend zu einer VerbesserungderBeziehungBehörde–Bürgerbeitragen.DiereziprokeInteraktion,diebürgernaheKommunikationunddiebessereHandlungsfähigkeitdesBürgersmussdasformulierteZielsein.DasFormularmussversuchen,alleAspektederVerständlichkeit(Semantik,Syntaktik,Pragmatik)positivzuverändernoderzubeeinflussen.<br />
Dieses„Rezept“deseinenFormularsdarfaberdannnichteinfachaufalleanderen<br />
Formulareübertragenbzw.angewendetwerden.„JedesFormularistabhängig<strong>von</strong>demzugrundeliegendenOrganisationsvorgang,<strong>von</strong>derMengederDaten,derSender-Empfänger-<br />
Beziehung, vom Wissensstand der Empfänger, bevölkerungstypischen Verhaltensweisen,<br />
demInformationsträgerunddenMöglichkeitenderBeschriftung.“ 663 Klarist,dassdieFormulargestaltung<br />
deshalb <strong>von</strong> Formular zu Formular bzw. <strong>von</strong> Verwaltungsverfahren zu<br />
Verwaltungsverfahrenvariiertundangepasstwerdenmuss.Mitderzukünftigsteigenden<br />
Informationsmenge wird es immer wichtiger, dass der Empfänger die Informationen sogleichentsprechendihrerBedeutungerkennenkann.SolltesichderSendernichtdesFormularzeichensystemsbedienen,soläufterGefahr,dassderEmpfängerdiesewichtigenInformationen<br />
nicht erkennt oder nicht richtig zuordnet. Dies wiederum bringt die Gefahr<br />
mitsich,dassdieimmerkritischerwerdendenEmpfängergruppensichaufgrundunzureichenderoderunverständlicherInformationenverweigern.<br />
664<br />
DasFormularistTransportmittel<strong>von</strong>InformationmiteinereindeutigenInteraktionsfunktion.EineoptimaleInteraktionkannnurgeleistetwerden,wenndieInformationen<strong>von</strong>beidenKommunikationspartnernverstandenwerdenkönnen.ErstdannkanneineInteraktionundKommunikationauf„gleicherAugenhöhe“erreichtwerden.Beider<strong>Gestaltung</strong>müssenalsosowohldieBedürfnissederVerwaltungbzw.derBehördenalsauchdiederBürgerundBürgerinnenberücksichtigtwerden.UnddasaufdemGrundsatzderVerhältnismäßigkeitderMittelunddesZwecks.AmEndekanndanneinFormularentstehen,dassowohlförderlichimVerwaltungsprozessist,alsauchimUmgangmitdenBürgerndennötigen„Anstand“mitsichbringt.„DadieBehördenfürdieBürgerundnichtdieBürgerfürdieBehördendasind,mußnebenderfachlichenRichtigkeitdieBürgernähevorderRationalisierungeinzentralerGesichtspunktsein.“<br />
665 <br />
Deshalb müssen alle Aspekte der Verständlichkeit und der Interaktionsförderung<br />
neu befragt und bewertet werden. Dass diese Forderung nicht einfach umzusetzen sein<br />
wird,istverständlichundlässtsichnurdurchgemeinsameAnstrengungenbewältigen.Nur<br />
durch die Bereitschaft der Verwaltung zu Veränderung und die Zusammenarbeit mit anderenFachrichtungenundWissenschaften,kanndieMotivationaufbeidenSeitengesteigert<br />
werden.BeimHerausgeberundbeimKlienten.FormularundVerwaltungsprozessemüssen<br />
unabhängig<strong>von</strong>persönlichenArbeits-undLebensumständenbzw.Situationen–gemeint<br />
sindinersterLinieZeitdruckundexistenziellerDruck–fürbeideSeiten,fürdenHerausgeberunddenKlienten,alsChancegesehenwerden.<br />
ZumFormularwirdesaufgrunddergesellschaftlichenEntwicklung–dieZunahme<br />
derdifferenzierendenGesetzesvorgabenundAnspruchserhebungenwirdzueinerZunahme<br />
663 Toebe-Albrecht 51<br />
664 vgl. Toebe-Albrecht 126<br />
665 Mentrup 122<br />
164
5.14 ZusammenfassungundmöglicherLösungsansatz<br />
derzuerfragendenbzw.zuermittelndenDatenführen–keineechteAlternativegeben.Bei<br />
jeder dieser Vorgaben muss mit Hilfe der Erhebung der Personendaten dem Bürger und<br />
seiner Lebenssituation und dem Verwaltungsprozess entsprochen werden. Deshalb führt<br />
auchweiterhinkeinWeganEffizienzundRationalisierungvorbei.Unddamitmachtsich<br />
dasFormularauchweiterhinunentbehrlich.EineAlternativescheintauchinsofernunnötig,<br />
wennmanzukünftigbeider<strong>Gestaltung</strong>–sowohlinhaltlichalsauchvisuell–da<strong>von</strong>abgehenwürde,dasFormularausschließlichalseinArbeits-undOrganisationsmittelaufzufassen.DasFormularkönntesoinseinerpositivenWahrnehmunggestärktundgeradeauch<br />
inden<strong>Gestaltung</strong>sdisziplinenalsinteressantesWirkungsfeldwahrgenommenwerden.Das<br />
FormularhatseineVorteilealsArbeits-undOrganisationsmittellängstbewiesen–soargumentiertderKuratorderAusstellung„AmAnfangwar…DASFORMULAR“desMuseumsfürKommunikationinFrankfurtamMain:„WeramFormularherumkrittelt,zweifeltamSinnderBürokratie.“<br />
666 Ichmeine,wasjetztbewiesenwerdenmuss,ist,dassdas<br />
Formularauchbenutzerfreundlichundästhetischseinkann. 667<br />
666 vgl. http://www.welt.de/welt_print/article2465793/Von-der-<br />
Wiege-bis-zur-Bahre.html, letzter Zugriff: 09.12.2009<br />
667 Praktikabilität und Ästhetik dürfen und können sich m.E. nach einander nicht ausschließen.<br />
Der Linguist Jan Mukarovský bezieht seine Analysen zwar auf das literarische Werk, sie sollten m.M.<br />
bei der gestellten <strong>Gestaltung</strong>saufgabe beachtet werden. Mukarovský bezeichnet das literarische Werk<br />
als komplexes Werk-Zeichen und unterscheidet vier Grundfunktionen der Sprache: die darstellende,<br />
expressive, appellative und (insbesondere, d.V.) die „ästhetische“ Funktion. Er beschreibt die ästhetische<br />
Funktion als einen integralen Bestandteil menschlichen Handelns. Die Kunst sei zwar der Bereich, in dem<br />
die ästhetische Funktion dominiert – indem sie rein vorkommt – aber alle Gegenstände können ästhetische<br />
Funktionen haben oder nicht, sie erhalten oder verlieren.(vgl. Burg 20) „Auch die Breite und Intensität der<br />
Wirkung der ästh. F. erweist sich als historisch variabel.“ (Burg 20) Für Mukarovský hat Ästhetik mit dem<br />
existenziellen Leben zu tun und nicht nur mit dem künstlerischen – Ästhetik ist für ihn nicht gleich Kunst.<br />
(vgl. Burg 21) Die ästhetische Funktion ist merkmalslos, transparent, leer und verfolgt keinen äußeren<br />
Zweck – sie ist weder eine reale Eigenschaft der Dinge, noch eindeutig an bestimmte Eigenschaften der<br />
Dinge gebunden. (vgl. Burg 23, Mukarovský 29) Sie ist potentiell, universell und nicht an Handlungen,<br />
Objekte usw. geknüpft. (vgl. Burg 28) Die ästhetische Funktion hat keinen definierten Zweck, Schema und<br />
Ziel – „Diese Leere und Transparenz ist der Grund, weshalb sie sich jeder anderen Funktion zugesellen kann<br />
und diese verstärken kann, ohne deren Ziel und Zweck zu verändern.“ (Burg 28) „Bei der Grenzziehung<br />
zwischen dem ästhetischen und dem außerästhetischen Sektor muß man sich immer vergegenwärtigen,<br />
daß es sich nicht um streng getrennte <strong>von</strong>einander unabhängige Bereiche handelt.“ (Mukarovský 15)<br />
165