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Der Archivar, Heft 4, Nov. 2002 - Archive in Nordrhein-Westfalen

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stände, Pert<strong>in</strong>enzen, zur Provenienz und ihren Funktionen.<br />

Archivische Wertung kann methodisch alle<strong>in</strong> nur auf<br />

der Basis der Provenienz und im Rahmen der Provenienz<br />

vollzogen werden. [...] Und historische Fragestellung ist<br />

e<strong>in</strong>em unaufhörlichen Wandel unterworfen. Deshalb ist<br />

die Provenienz die unaufhebbare Basis im Bewertungsprozess.<br />

Auch die Kompetenzanalyse ist schriftlich zu<br />

fixieren und später den F<strong>in</strong>dmitteln beizufügen, denn bei<br />

der Beratung e<strong>in</strong>es Benutzers besteht ja die Aufgabe des<br />

<strong>Archivar</strong>s dar<strong>in</strong>, dessen Sachfragen umzusetzen <strong>in</strong> Verwaltungskompetenzen,<br />

um die Provenienzen zu ermitteln,<br />

<strong>in</strong> denen das gewünschte Quellenmaterial steckt.“ 18<br />

Was Booms hier beschreibt, ist im Grunde nichts anderes<br />

als das oben angedeutete Vorgehen, das sich während<br />

der letzten Jahrzehnte <strong>in</strong> weiten Bereichen der Archivlandschaft<br />

durchgesetzt hat und etwa im Projekt „Horizontale<br />

und vertikale Bewertung“ der Staatlichen Archivverwaltung<br />

Baden-Württemberg 19 praktiziert wird. Vorgeschaltet<br />

ist lediglich – und zwar ausdrücklich als „erster<br />

Schritt <strong>in</strong> der Vorbereitung“ der archivischen Bewertung –<br />

die Erstellung der „Zeitchronik“. Die eigentliche Bewertung<br />

setzt somit nun auch bei Booms bei der Provenienz<br />

an, bei der Analyse von Zuständigkeiten, bei der Überlieferung<br />

selbst.<br />

Nun sollten fachlich kompetente <strong>Archivar</strong>e das, was<br />

Booms als Zeitchronik def<strong>in</strong>iert, mehr oder weniger im<br />

Kopf haben. Dennoch ist an dem Gedanken von Booms<br />

etwas dran. Denn sicher ist es notwendig, dass sich der<br />

bewertende <strong>Archivar</strong> weitestmöglich Themen und Fragestellungen<br />

der jüngsten Zeit zur Vorbereitung und im Rahmen<br />

se<strong>in</strong>er Arbeit auch gezielt (!) bewusst macht und <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>terkopf bewahrt. Nur dann wird er h<strong>in</strong>reichend<br />

sensibilisiert se<strong>in</strong>, potentielle Auswertungsmöglichkeiten<br />

<strong>in</strong> Unterlagen zu entdecken. Dies versteht sich<br />

im Grunde von selbst, muss aber angesichts von re<strong>in</strong> formalen<br />

Ansätzen der neueren Bewertungsdiskussion<br />

betont werden, bei denen die <strong>in</strong>haltliche Dimension<br />

negiert wurde. Solche Ansätze waren es ja auch, die <strong>in</strong> den<br />

neunziger Jahren den Rekurs auf die Überlegungen von<br />

Hans Booms provoziert haben – bemerkenswerterweise<br />

zu e<strong>in</strong>em Zeitpunkt, als Booms selbst se<strong>in</strong>em Dokumentationsplan<br />

bereits „abgeschworen“ hatte. Denn Booms<br />

hatte schon 1991 auf e<strong>in</strong>em Kolloquium an der Humboldt-<br />

Universität ausgeführt: „Man hat jüngst unterstellt, ich<br />

hätte mit dem von mir vorgeschlagenen ‚Dokumentationsplan‘,<br />

ebenso wie man es <strong>in</strong> der DDR versucht habe,<br />

die Explikation komplexer menschlicher Wertvorstellungen<br />

angestrebt. Dagegen möchte ich doch feststellen, dass<br />

me<strong>in</strong> Dokumentationsplan nichts anderes bewirken sollte,<br />

als reale Bezüge zum historisch gewordenen zeitgenössischen<br />

Geschehen der Aktenentstehungszeit herzustellen,<br />

und dass er nicht komplexe Wertvorstellungen konstruieren<br />

wollte, wie Ideologie und Philosopheme sie hervorzubr<strong>in</strong>gen<br />

sich bemühen. Wesentlicher <strong>in</strong> diesem Zusam-<br />

18 Ebenda S. 87.<br />

19 Robert Kretzschmar: Gespräche <strong>in</strong> der Behörde, Autopsie am Regal,<br />

Abstimmung <strong>in</strong> Gremien. Zur Bewertungspraxis der Staatsarchive <strong>in</strong><br />

Baden-Württemberg bei aktuellen Projekten. In: Black-Veldtrup (wie<br />

Anm. 14) S. 229–247. – Zu e<strong>in</strong>em sehr plausiblen Bewertungsprojekt mit<br />

e<strong>in</strong>em vergleichbaren Ansatz, das die staatlichen <strong>Archive</strong> <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-<br />

<strong>Westfalen</strong> soeben <strong>in</strong> erstaunlich kurzer Zeit erfolgreich abgeschlossen<br />

haben, vgl. nunmehr Ingeborg Schnell<strong>in</strong>g-Re<strong>in</strong>icke unter Mitarbeit<br />

von Annette Hennigs und Gisela Fleckenste<strong>in</strong>: Bewertungsmodell<br />

für das Schriftgut der nordrhe<strong>in</strong>-westfälischen Bezirksregierungen –<br />

Abschlussbericht der Arbeitsgruppe. In: <strong>Der</strong> <strong>Archivar</strong> 55 (<strong>2002</strong>) S. 19–24.<br />

menhang ist für mich aber, dass ich heute, fast 20 Jahre später,<br />

an dem damals entworfenen fest umrissenen Dokumentationsplan<br />

nicht länger festhalten kann und mag. Er<br />

war halt auch e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d der Planungseuphorie jener Jahre,<br />

die den E<strong>in</strong>tritt der Menschheit <strong>in</strong> das Informationszeitalter<br />

verkündete, und <strong>in</strong> der die Kybernetiker nicht nur den<br />

<strong>Archivar</strong>en den Aufprall e<strong>in</strong>er Spr<strong>in</strong>gflut von Informationen<br />

prophezeiten.“ 20<br />

Reduziert man den Zweck des von Booms vorgeschlagenen<br />

Dokumentationsplans – so wie er es hier selbst<br />

rückblickend getan hat – auf die Notwendigkeit, sich<br />

gezielt und formalisiert die jüngste Vergangenheit und die<br />

unmittelbare Gegenwart zu vergegenwärtigen, um als<br />

<strong>Archivar</strong> den Anforderungen der Bewertung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Zuständigkeitsbereich gewachsen zu se<strong>in</strong>, ist dagegen<br />

überhaupt nichts mehr e<strong>in</strong>zuwenden. <strong>Der</strong> Dokumentationsplan<br />

wäre dann e<strong>in</strong> Hilfsmittel, das der Sensibilisierung<br />

dient, und nicht mehr – was eben aus den oben<br />

genannten Gründen völlig verfehlt wäre – der Ansatzund<br />

Ausgangspunkt e<strong>in</strong>er jeden Bewertung. Nicht mehr<br />

die l<strong>in</strong>eare Zuordnung von Dokumentationsziel und<br />

Überlieferung, auf deren grundsätzliche Problematik<br />

angesichts der Mehrdimensionalität von Archivgut auch<br />

Weber h<strong>in</strong>gewiesen hat, 21 wäre dann se<strong>in</strong> Zweck, sondern<br />

die Vergegenwärtigung historisch e<strong>in</strong>schneidender Ereignisse<br />

sowie zeittypischer Entwicklungen, Phänomene und<br />

Probleme im jeweiligen Zuständigkeitsbereich. Ob man<br />

e<strong>in</strong> solches Hilfsmittel wie Weber als „Dokumentationsplan“<br />

bezeichnet, als „Problemkatalog“, wie se<strong>in</strong>erzeit<br />

Haase vorschlug, 22 <strong>in</strong> Anlehnung an Booms als „Zeitchronik“,<br />

als (was dem Verfasser am besten gefallen würde)<br />

„Katalog zeittypischer Phänomene und Probleme“ oder<br />

was auch immer, das ist dann letztendlich e<strong>in</strong>erlei. Entscheidend<br />

ist, dass e<strong>in</strong> jeder, der mit e<strong>in</strong>em solchen Katalog<br />

arbeitet, sich dessen bewusst ist, dass er <strong>in</strong> Analogie<br />

zur Offenheit des Überrests Archivgut offen se<strong>in</strong> muss<br />

und per se der kont<strong>in</strong>uierlichen Reflexion bedarf. Bewertung<br />

ist e<strong>in</strong> dynamischer Prozess.<br />

Von Nutzen könnten solche Kataloge für e<strong>in</strong>en jeden<br />

se<strong>in</strong>, der bewertet – <strong>in</strong> welcher Zuständigkeit auch immer.<br />

Vorgeschaltet oder parallel zum eigentlichen Bewertungsvorgang<br />

könnten sie der Sensibilisierung und Gegenkontrolle<br />

des Bewertenden dienen. Worauf soll er <strong>in</strong> bestimmten<br />

Zeitstellungen unter Berücksichtigung se<strong>in</strong>er archivischen<br />

Zuständigkeit besonders achten? Welche Bereiche<br />

hat er im Zuge se<strong>in</strong>er Überlieferungbildung bereits abgedeckt?<br />

Wo s<strong>in</strong>d Lücken? Wie könnten diese Lücken<br />

geschlossen werden? Durch Ergänzungsdokumentation?<br />

Durch Überlieferungen im Zuständigkeitsbereich e<strong>in</strong>es<br />

anderen Archivs oder e<strong>in</strong>er weiteren Institution, die Überreste<br />

sichert? Ohne dies hier zu vertiefen: hier könnte der<br />

20<br />

Archivmitteilungen 41 (1991) S. 129 f. Es handelt sich hierbei um den<br />

Abdruck e<strong>in</strong>es Diskussionsbeitrags zu e<strong>in</strong>em Vortrag von Angelika<br />

Menne-Haritz.<br />

21<br />

Weber, Dokumentationsziele (wie Anm. 3) S. 211.<br />

22<br />

Carl Haase: Studien zum Kassationsproblem. In: <strong>Der</strong> <strong>Archivar</strong> 29 (1976)<br />

Sp. 189–191.<br />

304 <strong>Der</strong> <strong>Archivar</strong>, Jg. 55, <strong>2002</strong>, H. 4

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