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Der Archivar, Heft 4, Nov. 2002 - Archive in Nordrhein-Westfalen

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Willen des Regimes zu unternehmen. Be<strong>in</strong> musste also<br />

e<strong>in</strong>en Weg f<strong>in</strong>den, um vorsichtig, schrittweise erst e<strong>in</strong>e<br />

Verlagerung der Akten nach Westberl<strong>in</strong> und später nach<br />

Jerusalem zu erreichen.<br />

Im <strong>Nov</strong>ember 1957 berichtete Be<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kurzen<br />

Notiz, dass sich e<strong>in</strong>e Lösung für die Verlagerung der<br />

Akten aus der Ostberl<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> den Westen<br />

anbahne. 34 De facto gelangte im Januar 1958 e<strong>in</strong>e Sendung<br />

von 95 Kisten mit <strong>in</strong>sgesamt rund 750 Akten aus dem ehemaligen<br />

Gesamtarchiv <strong>in</strong>s JHGA nach Israel. Diese Sendung<br />

<strong>in</strong> den Westen geschah noch vor der Verlagerung der<br />

an der Oranienburger Straße verbliebenen Akten <strong>in</strong>s Zentrale<br />

Staatsarchiv Potsdam.<br />

Das Geme<strong>in</strong>dearchiv der ehemaligen Geme<strong>in</strong>den Hamburg-Altona-Wandsbek<br />

Das Material der ehemaligen jüdischen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong><br />

Hamburg-Altona umfasst Akten aus über 300 Jahren jüdischen<br />

Lebens von mehreren separaten Geme<strong>in</strong>den:<br />

Deutsch-israelitische (aschkenasische) Geme<strong>in</strong>de Hamburg,<br />

portugiesische (sefardische) Geme<strong>in</strong>de Hamburg,<br />

die Geme<strong>in</strong>den Altona, Wandsbek und Harburg sowie die<br />

Akten des jüdischen Gerichts und Rabb<strong>in</strong>ats <strong>in</strong> Altona und<br />

der „Talmud-Tora Schule“ <strong>in</strong> Hamburg.<br />

Nach der Kristallnacht im <strong>Nov</strong>ember 1938 gelang es<br />

dank der Anstrengungen des Notars Hans Hertz 35 , das<br />

Archiv der Geme<strong>in</strong>den Hamburg-Altona vor der Gestapo<br />

zu retten, <strong>in</strong>dem die Geme<strong>in</strong>de das Archiv im Verlauf der<br />

Jahre 1938 bis 1941 sukzessive im Hamburger Staatsarchiv<br />

deponierte. Angesichts dieser sozusagen „freiwilligen“<br />

Deponierung der Akten im Staatsarchiv betrachtete letzteres<br />

das jüdische Archivgut als se<strong>in</strong> Eigentum. E<strong>in</strong> weiteres<br />

Argument für den Besitzanspruch des Staatsarchivs auf<br />

die Hamburger Geme<strong>in</strong>deakten war, dass se<strong>in</strong>er Ansicht<br />

nach die jüdische Geme<strong>in</strong>de Hamburg-Altona mehr als<br />

die meisten anderen jüdischen Geme<strong>in</strong>schaften Europas<br />

mit dem Leben und der Entwicklung der Stadt verbunden<br />

war und die Geme<strong>in</strong>deakten deshalb als Teil der lokalen<br />

historischen Dokumentation am Ort bleiben sollten.<br />

1951 nahm Alex Be<strong>in</strong> <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit der<br />

„Jewish Trust Corporation“ (JTC), der Nachfolgeorganisation<br />

<strong>in</strong> der englischen und französischen Besatzungszone<br />

Deutschlands, erstmals Kontakte mit dem damaligen<br />

Direktor des Staatsarchivs auf. 36 Bei se<strong>in</strong>em Besuch <strong>in</strong><br />

Hamburg konnte er das Material auch selbst besichtigen.<br />

Später zweifelte die JTC daran, ob sie die legitime Nachfolgeorganisation<br />

der ehemaligen Hamburger Geme<strong>in</strong>de<br />

sei, und übertrug die Aufgabe der Rückforderung der neu<br />

gebildeten jüdischen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Hamburg. Nach lang-<br />

34 Siehe Anm. 12. Die Details über die Wege zur Verlagerung der Akten <strong>in</strong><br />

den Westen wurden aber nirgends schriftlich festgehalten, sondern nur<br />

mündlich zwischen den wenigen E<strong>in</strong>geweihten vermittelt.<br />

35 Er war e<strong>in</strong> Nachkomme des bekannten jüdischen Physikers He<strong>in</strong>rich<br />

Hertz, betrachtete sich selbst aber nicht als Jude. Hans Hertz hatte<br />

auch das umfangreiche Projekt, sämtliche Grabste<strong>in</strong>e auf dem Hamburger<br />

Friedhof zu fotografieren, angeregt. Es ist unklar, aus welchen Gründen<br />

Hertz sich so sehr für die Rettung des jüdischen Archivguts e<strong>in</strong>setzte.<br />

36 Sämtliche Angaben über die Verhandlungen zur Überführung des Hamburger<br />

Materials nach Jerusalem s<strong>in</strong>d den Berichten von Alex Be<strong>in</strong> und<br />

Daniel Cohen über ihre Reisen nach Deutschland entnommen, welche<br />

zur Dienstregistratur des CAHJP gehören.<br />

jährigen Verhandlungen unterzeichneten im Jahre 1955<br />

die damaligen Geme<strong>in</strong>devorsitzenden der neuen<br />

Geme<strong>in</strong>de Hamburg e<strong>in</strong> Abkommen mit dem Staatsarchiv,<br />

<strong>in</strong> dem sie ihrer Forderung nach Transferierung des<br />

Materials nach Israel Ausdruck verliehen. Aus dem<br />

zusammenfassenden Bericht von Alex Be<strong>in</strong> über die Verhandlungen<br />

mit Hamburg geht hervor, dass sich die<br />

Geme<strong>in</strong>devertreter zu rasch auf e<strong>in</strong>e unklar def<strong>in</strong>ierte<br />

Kompromisslösung e<strong>in</strong>gelassen hatten, die den Interessen<br />

des JHGA ke<strong>in</strong>eswegs entsprach. Parallel reisten auch<br />

Alex Be<strong>in</strong> und der damalige Direktor des JHGA, Daniel<br />

Cohen, wiederholt nach Hamburg und führten sehr harte<br />

Verhandlungen, um die Überführung der Dokumente –<br />

oder zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>es Teils davon – nach Israel zu erreichen.<br />

Die parallele Verhandlungsführung seitens der Vertreter<br />

des JHGA mit den Hamburger Behörden war notwendig,<br />

weil <strong>in</strong>sbesondere der bereits erwähnte Notar<br />

Hans Hertz e<strong>in</strong> persönliches Interesse am Verbleib der<br />

Akten <strong>in</strong> Hamburg hatte. Hertz beanspruchte e<strong>in</strong> besonderes<br />

Anrecht, über das Schicksal der Akten zu bestimmen,<br />

nachdem er sich vor dem Krieg für ihre Rettung e<strong>in</strong>gesetzt<br />

hatte.<br />

Das 1955 unterzeichnete provisorische Abkommen bildete<br />

lediglich die Grundlage zu jahrelangen gerichtlichen<br />

Verhandlungen zwischen den Behörden <strong>in</strong> Hamburg und<br />

den Interessenvertretern der jüdischen Seite. Auf der<br />

Hamburger Seite war sogar der Bürgermeister, e<strong>in</strong> Freund<br />

von Hans Hertz, <strong>in</strong> die Verhandlungen <strong>in</strong>volviert. Die Vertreter<br />

aus Israel wollten sich ke<strong>in</strong>esfalls auf die Vorsitzenden<br />

der neuen jüdischen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Hamburg verlassen,<br />

weil, ihrer Ansicht nach, verschiedenen e<strong>in</strong>flussreichen<br />

jüdischen Persönlichkeiten <strong>in</strong> Hamburg ihre persönlichen<br />

Beziehungen mit den Behörden wichtiger waren als<br />

das Erlangen des Geme<strong>in</strong>dearchivs. 37 Die Verhandlungsführer<br />

auf der jüdischen Seite machten auch deutlich, dass<br />

es sich <strong>in</strong> der Angelegenheit nicht lediglich um e<strong>in</strong>e Streitfrage<br />

jüdischen Besitzes handele, sondern um e<strong>in</strong>e m<strong>in</strong>imale<br />

Ehrung der jüdischen Naziopfer aus Hamburg. Die<br />

Vertreter des Hamburger Staatsarchivs und der Stadt<br />

Hamburg beharrten weitgehend auf dem Standpunkt,<br />

dass das Geme<strong>in</strong>dearchiv 1938 freiwillig von den Juden im<br />

Staatsarchiv deponiert worden sei, missachteten dabei<br />

aber die Umstände, welche zu dieser Handlung geführt<br />

hatten. Be<strong>in</strong> gelang es schließlich, die Hamburger Behörden<br />

zu erweichen und beispielsweise die hebräischen und<br />

deutschen Protokollbücher für Jerusalem zu gew<strong>in</strong>nen.<br />

Nachdem die Akten zu Beg<strong>in</strong>n des Jahres 1958 im Hamburger<br />

Staatsarchiv neu verzeichnet worden waren, konnten<br />

die beiden Parteien sich über die Aufteilung der Akten<br />

e<strong>in</strong>igen. Die Grundidee war, dass jede Seite die für sie<br />

bedeutendsten Akten als Orig<strong>in</strong>ale erhielt und Mikrofilmkopien<br />

der Akten, die bei der anderen Partei deponiert<br />

wurden. Im Verlauf des Jahres 1959 gelangten über 1500<br />

Orig<strong>in</strong>alakten aus der Zeitspanne 1641–1944 <strong>in</strong>s JHGA<br />

sowie die Mikrofilme derjenigen Akten, die im Hamburger<br />

Staatsarchiv verblieben waren.<br />

37 Viele waren zur Erlangung ihrer Wiedergutmachung auf die Hilfe der<br />

lokalen Behörde angewiesen.<br />

322 <strong>Der</strong> <strong>Archivar</strong>, Jg. 55, <strong>2002</strong>, H. 4

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