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Europa - Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft

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ASM<br />

<strong>Aktionsgemeinschaft</strong> <strong>Soziale</strong> <strong>Marktwirtschaft</strong> e.V.<br />

Unterschiedliche Perspektiven<br />

auf <strong>Europa</strong><br />

Hannah Johannsen, Gilbert<br />

Schasse und Jan Starmans ........ 2<br />

„So stelle ich mir das kulturelle<br />

<strong>Europa</strong> vor“<br />

Dr. Indira Gurbaxani ................... 3<br />

Das Haus steht im Rohbau<br />

Schwäbisches Tagblatt<br />

24. Januar 2007 .......................... 5<br />

„Hören Sie weg!“<br />

Schwäbisches Tagblatt<br />

25. Januar 2007 .......................... 6<br />

Von der Zielscheibe zum<br />

bejubelten Redner<br />

Stuttgarter Nachrichten<br />

25. Januar 2007 .......................... 6<br />

BULLETIN<br />

<strong>Europa</strong> – woher und wohin?<br />

Die politische Zukunft <strong>Europa</strong>s beherrschte die<br />

erste Hälfte des Jahres 00 . Die deutsche Bundesregierung<br />

trug eine hohe Verantwortung; sie<br />

hatte den Ratsvorsitz in der Europäischen Union<br />

inne. Angela Merkel hat ihr Ziel erreicht: Sie hat<br />

dem nach der Ablehnung des Verfassungsver-<br />

Begleitend dazu hat die <strong>Aktionsgemeinschaft</strong> <strong>Soziale</strong><br />

<strong>Marktwirtschaft</strong> (ASM) eine Studium generale-Veranstaltung<br />

„Die Zukunft <strong>Europa</strong>s“ und ein Dialogseminar<br />

„<strong>Europa</strong> ohne Grenzen“ abgehalten, die eine überaus<br />

starke Resonanz hatten. Wir dokumentieren den allgemein<br />

als Höhepunkt betrachteten Auftritt des früheren<br />

Bundeskanzlers Helmut Kohl, ohne dabei die Bedeutung<br />

der anderen Beiträge weniger zu schätzen. Gefreut haben<br />

uns die frisch von der Leber weg geschriebenen<br />

studentischen Beiträge. Die ASM wird die Vorträge in<br />

ihrer Schriftenreihe „<strong>Marktwirtschaft</strong>liche Reformpolitik“<br />

publizieren.<br />

Besonders zur Lektüre empfohlen seien Ihnen auch die<br />

Kurzfassungen der im Arbeitskreis Kurpfalz gehaltenen<br />

INHALT<br />

<strong>Europa</strong>gefühl.<br />

Ich in <strong>Europa</strong>. Ich als Europäer.<br />

Simon Nehls und Lisa Schulze ... 7<br />

17. Dialog-Seminar<br />

„<strong>Europa</strong> ohne Grenzen?“<br />

Julian Siegl .................................. 8<br />

Zertifi kat für die Teilnehmer<br />

am Dialogseminar ....................... 9<br />

Gesundheitswesen auf dem<br />

Irrweg der Verstaatlichung?<br />

Udo Heiden ............................... 10<br />

Aufmarsch nach Armageddon?<br />

Historisch-politische und metaphysische<br />

Hintergründe des Nahostkonfl<br />

ikts<br />

Jörn Brauns ................................11<br />

Das Freiheitsverständnis von<br />

Ludwig Erhard<br />

Andreas Schirmer ..................... 12<br />

00 Nr. 1<br />

trags in Frankreich und den Niederlanden in<br />

eine Sackgasse geratenen europäischen Projekt<br />

zunächst wieder freie Fahrt verschafft. Freilich<br />

wird erst eine ausführliche Analyse der verabschiedeten<br />

Texte und Willenserklärungen zeigen,<br />

in welche Richtung die Reise gehen wird.<br />

Franz-Böhm-Vorträge, den Eduard Schmäing so überaus<br />

verdienstvoll leitet. Für Udo Heiden verabschiedet<br />

sich die Politik mit der „Gesundheitsreform“ von den<br />

Grundsätzen der Solidarität in Richtung „Verstaatlichung<br />

des Gesundheitssystems“; Jörn Brauns leuchtet in seltener<br />

Klarheit und Sachkenntnis die politischen und religiösen<br />

Hintergründe des Konfl ikts im Nahen Osten aus;<br />

Andreas Schirmer zeichnet das ordnungspolitische Profi l<br />

Ludwig Erhards nach, das uns in wenigen Strichen den<br />

ganzen Ludwig Erhard zeigt.<br />

Eine neue Aufklärung tut not, doch geht es nicht um<br />

Loslösung von der Kirche, sondern von dem uns bevormundenden<br />

Staat. Wir dokumentieren die Bemühungen<br />

der ASM.<br />

„Aufklärung ist der Ausgang des<br />

Menschen aus seiner selbstverschuldeten<br />

Unmündigkeit“<br />

Joachim Starbatty ..................... 14<br />

Die Wirtschaft erkunden<br />

(Auszüge aus der FAZ)<br />

Philip Plickert ............................. 15<br />

Spielen in der Rheingauer<br />

Volksbank .................................. 16<br />

Beilage<br />

Sozial muß es heißen!<br />

Die Geburt eines Mythos<br />

Claus Hecking ............................. 1<br />

Wie MACRO ankommt ................ 2<br />

Stellungnahmen<br />

und Kommentare ................... 3 - 8


EUROPA<br />

Unterschiedliche Perspektiven auf <strong>Europa</strong><br />

Helmut Kohl befindet sich auf dem<br />

Weg nach Tübingen, um über die<br />

Zukunft <strong>Europa</strong>s zu sprechen. Es<br />

hat angefangen zu schneien, das<br />

erste Mal in diesem Jahr, und nun<br />

ausgerechnet an diesem Abend,<br />

dem Höhepunkt der Ringvorlesung<br />

„Die Zukunft <strong>Europa</strong>s“. In regelmäßigen<br />

Abständen wird das Eintreffen<br />

nach hinten verschoben. Langsam<br />

legt sich ein weißer Schleier auf<br />

Straßen und Autos.<br />

Im Kupferbau der Universität<br />

Tübingen hat sich<br />

eine große Menschenmenge<br />

angesammelt.<br />

Wahrscheinlich ist das<br />

Hörsaalzentrum nur alle<br />

paar Jahre so frequentiert.<br />

Während der Vorlesungszeiten<br />

herrscht zwar reges<br />

Treiben, aber eine solche<br />

Ansammlung von Menschen<br />

im ganzen Gebäude<br />

ist selten zu beobachten.<br />

Die Hörsäle sind bis auf<br />

den letzten Platz besetzt<br />

- nebst Kameras, Fotoapparaten,<br />

Journalisten,<br />

Polizei, Personenschutz. Selbst auf<br />

den Treppenaufgängen sitzen Menschen.<br />

Es herrscht eine gespannte,<br />

erwartungsvolle Stimmung.<br />

Kohl scheint noch immer eine starke<br />

Beachtung zu genießen. Die Perspektive<br />

ist dabei unterschiedlich.<br />

Viele ältere Jahrgänge kennen Kohl<br />

aus dem politischen Alltag, während<br />

er für die jüngeren eher eine historische<br />

Figur ist – gewissermaßen<br />

„Generation <strong>Europa</strong> eins“ und „Generation<br />

<strong>Europa</strong> zwei“.<br />

Es ist 20.15 Uhr. Die Zeit verrinnt.<br />

Joachim Starbatty vertröstet uns:<br />

Kohl wird kommen, aber später.<br />

Ungewissheit und angespannte<br />

Stimmung lösen sich in dem wundersamen<br />

Moment, als Helmut Kohl den<br />

Hannah Johannsen, Gilbert Schasse und Jan Starmans<br />

Hörsaal schließlich betritt. Der Begrüßungsapplaus<br />

klingt erleichtert.<br />

Manch einer würde wohl auch eine<br />

gewisse Ehrfurcht hineininterpretieren<br />

wollen.<br />

Den Vortrag Kohls dominiert ein Motiv,<br />

welches er immer wieder zur Erklärung<br />

des Phänomens <strong>Europa</strong> heranziehen<br />

wird: die Geschichte, das<br />

„Woher?“. Seine persönlichen Erinnerungen<br />

aus den letzten Kriegsjah-<br />

ren und den ersten Nachkriegsjahren<br />

stehen in einem gewissen Kontrast<br />

zu dem Bild, welches wir von dieser<br />

Zeit haben. Nicht inhaltlicher Natur<br />

ist dieser Kontrast. Für uns ist diese<br />

Zeit nur sehr weit weg, während<br />

Helmut Kohl gerade einige Meter<br />

entfernt über seine persönlichen Erfahrungen<br />

berichtet. Hier zeigen sich<br />

die unterschiedlichen Perspektiven<br />

auf unsere Geschichte.<br />

Ich frage mich, warum über diese<br />

grundsätzliche Differenz kaum<br />

gesprochen wird. Sprechen diese<br />

beiden Generationen überhaupt<br />

über das gleiche <strong>Europa</strong>, denken<br />

sie das gleiche <strong>Europa</strong>? Ich frage<br />

mich als junger Europäer: Woher<br />

kommt meine Motivation für <strong>Europa</strong>?<br />

Auch wenn mich die europäische<br />

Geschichte und vor allem die des<br />

Zweiten Weltkrieges immer wieder<br />

bewegt, gerade in Situationen wie<br />

diesen, wenn Menschen von ihren<br />

persönlichen Erlebnissen sprechen,<br />

so weiß ich doch, dass meine Begeisterung<br />

für <strong>Europa</strong> nur mittelbar<br />

daraus entspringt. Unmittelbar kann<br />

es nur meine eigene Geschichte<br />

sein. Doch entspringt aus ihr genug<br />

Antrieb für die Aufgaben, die wir Europäer<br />

zu meistern haben? Einen<br />

Moment lang überfordern<br />

mich die Gedanken zu <strong>Europa</strong>.<br />

„Kleine Nationen werden<br />

so viel wie große gelten<br />

und durch ihren Beitrag<br />

für die gemeinsame Sache<br />

Ruhm erringen können“,<br />

zitiert Kohl aus Churchills<br />

Rede an die Jugend <strong>Europa</strong>s,<br />

und betont: „<strong>Europa</strong><br />

braucht kein Direktorium“.<br />

<strong>Europa</strong> also nicht als Staat,<br />

nicht als homogenes Gebilde<br />

auf der Landkarte.<br />

Stattdessen 496 Millionen<br />

Menschen aus 27 Nationen, die in<br />

verschiedenen Regionen und Städten<br />

ihre Heimat haben. Kann man<br />

das nachvollziehen? Die Tatsache,<br />

dass all diese Menschen zu <strong>Europa</strong><br />

gehören und es mitgestalten,<br />

lässt mich zumindest erahnen, wie<br />

unvorstellbar einzigartig dieses Projekt<br />

ist.<br />

Blick ins Auditorium<br />

Der Vortrag ist zu Ende. Als ich das<br />

Hörsaalgebäude verlasse, liegen<br />

zwanzig Zentimeter Neuschnee,<br />

und es fallen immer noch dicke weiße<br />

Flocken vom Himmel. So, hier<br />

bin ich mitten in <strong>Europa</strong>. Vieles aus<br />

Kohls Rede schwirrt mir durch den<br />

Kopf. Gerade im Moment weiß ich<br />

nicht, wo ich anfangen soll. Aber es<br />

ist ein gutes Gefühl hier zu sein, mitten<br />

in <strong>Europa</strong>.


Wintereinbruch. Stau auf der Autobahn.<br />

Kommt Helmut Kohl noch? Per<br />

Funk gibt es Entwarnung: Er kommt!<br />

Der Seiteneingang des HS 25 öffnet<br />

sich, und Helmut Kohl betritt unter<br />

lautem Klatschen und – wie es an<br />

der Universität üblich ist – Klopfen<br />

den Hörsaal.<br />

Der Wert der deutschen Einheit<br />

Joachim Starbatty begrüßte Helmut<br />

Kohl mit den Worten: „Ich spreche<br />

hier auch als Vorsitzender<br />

der <strong>Aktionsgemeinschaft</strong><br />

<strong>Soziale</strong><br />

<strong>Marktwirtschaft</strong>. Sie ist<br />

Ihnen bekannt, Herr<br />

Bundeskanzler: Ludwig<br />

Erhard breitete auf den<br />

Foren der <strong>Aktionsgemeinschaft</strong><br />

seine Ideen<br />

aus, hier konnte er auf<br />

Anregungen und Beistand<br />

für seine marktwirtschaftliche<br />

Politik<br />

rechnen, auch auf Trost,<br />

wenn er gerade wegen<br />

der Europäischen Integration<br />

mit Bundeskanzler<br />

Adenauer im<br />

Streit lag.“ Professor<br />

Starbatty wandte sich<br />

mit persönlichen Worten an Kanzler<br />

a.D. Kohl: „Ich möchte Ihnen danken<br />

für das Werk der Deutschen Einheit.<br />

Ich glaube, ich darf das jetzt und hier<br />

ansprechen, denn einer Ihrer Kernsätze<br />

lautet: „Die deutsche Einheit<br />

und die europäische Einigung sind<br />

zwei Seiten ein- und derselben Medaille.“<br />

Starbatty sprach von der friedlichen<br />

Revolution. Helmut Kohl habe gesagt,<br />

dass „blühende Landschaften<br />

in der ehemaligen DDR“ entstehen<br />

würden. Dies sei ihm oft vorgeworfen<br />

worden. Aber nicht nur Städte<br />

wie Leipzig, Weimar oder Dresden<br />

seien „aufgeblüht“, sondern auch<br />

„So stelle ich mir<br />

das kulturelle <strong>Europa</strong> vor“<br />

Dr. Indira Gurbaxani<br />

viele kleine, weniger bekannte Städte.<br />

Starbatty schloss mit den Worten:<br />

„Für mich ist die Wiedervereinigung<br />

ein Geschenk. Dass dies ohne weltpolitische<br />

Verwerfungen und Erschütterungen<br />

möglich geworden<br />

ist – haben wir maßgeblich Ihnen zu<br />

verdanken, der Sie zupackend und<br />

behutsam zugleich den Mantel der<br />

Geschichte ergriffen haben. Dafür<br />

bin ich, dafür sind wir alle Ihnen zu<br />

Dank verpflichtet.“<br />

Helmut Kohl und Joachim Starbatty<br />

Auch Prorektor Herbert Müther, der<br />

für das Rektorat Helmut Kohl an<br />

der Universität herzlich willkommen<br />

hieß, hob die Verdienste Helmut<br />

Kohls um die deutsche Wiedervereinigung<br />

hervor, ohne die es das<br />

<strong>Europa</strong> von heute, das „<strong>Europa</strong> der<br />

27“, nicht geben würde.<br />

Nach Worten des Dankes an die<br />

Universität wandte sich Helmut Kohl<br />

bewusst an die zahlreich anwesenden<br />

Studierenden. Während seiner<br />

Jugend, vor allem aber auf dem langen<br />

Weg seines politischen Werdegangs,<br />

habe er immer Unterstützung<br />

erfahren. Davon wolle er viel an die<br />

Jüngeren zurückgeben. Er berichte-<br />

EUROPA<br />

te, dass sein Vater Finanzbeamter<br />

in Ludwigshafen gewesen sei. Das<br />

höchste der Gefühle wäre für diesen<br />

gewesen, wenn aus ihm vielleicht der<br />

Leiter des Finanzamtes in Ludwigshafen<br />

geworden wäre. Diesen Gefallen<br />

habe er seinem Vater nicht tun<br />

können, bemerkte Kohl mit leichter<br />

Ironie. Mit 15 Jahren sei er als Flakhelfer<br />

noch in den Krieg gezogen,<br />

bevor er 1950 sein Abitur machte. Es<br />

folgte das Studium der Rechts-, Sozial-<br />

und Staatswissenschaften sowie<br />

der Geschichte an den<br />

Universitäten Frankfurt/<br />

Main und Heidelberg<br />

mit Promotion im Fach<br />

Geschichte 1958.<br />

Bewegende Momente<br />

Die Mitarbeit am „Bau<br />

des Hauses <strong>Europa</strong>“<br />

habe er oft mit Bundeskanzler<br />

Kurt Georg<br />

Kiesinger diskutiert.<br />

Die Wiedervereinigung<br />

Deutschlands sei so<br />

möglich geworden, und<br />

es gebe heute ein <strong>Europa</strong><br />

der 27. Als einen<br />

der bewegendsten Momente<br />

seines Lebens<br />

beschrieb er, dass er nach der Wiedervereinigung<br />

mit dem inzwischen<br />

verstorbenen Papst Johannes Paul<br />

II. unter dem Brandenburger Tor<br />

stand und dieser sich freute, dass<br />

Deutschland wiedervereinigt sei und<br />

seine Heimat Polen nun in einem<br />

freien <strong>Europa</strong> zu Hause sei. Auch<br />

werde er nie vergessen, was ihm<br />

Anfang der 90er Jahre die drei Regierungschefs<br />

der baltischen Staaten<br />

bei einer Begegnung im Bonner<br />

Bundeskanzleramt gesagt hätten:<br />

„Herr Bundeskanzler, wir melden uns<br />

zurück in <strong>Europa</strong>.“ Er habe geantwortet:<br />

„Und wir heißen Sie herzlich<br />

willkommen“. Töne wie: „Was wollen<br />

die denn schon hier“, könne er nicht


EUROPA<br />

verstehen. Das alles sei doch auch<br />

eine Frage der Solidarität! Deutschland,<br />

so Kohl, sei das Land <strong>Europa</strong>s<br />

mit den längsten Grenzen und den<br />

meisten unmittelbaren Nachbarn.<br />

„Wir haben eine moralische Verpflichtung,<br />

dass die Länder Mittel-,<br />

Ost- und Südosteuropas in <strong>Europa</strong><br />

eine Chance bekommen.“ Zwei<br />

schreckliche Kriege seien von deutschem<br />

Boden ausgegangen. Es sei<br />

in unserem eigenen Interesse, dass<br />

es zwischen unseren Nachbarn und<br />

uns kein Wohlstandsgefälle gäbe,<br />

führte Helmut Kohl aus.<br />

Kohl bekannte, dass für ihn damit<br />

eine Vision in Erfüllung gegangen sei,<br />

die er bereits mit 17 gespürt habe,<br />

als er – gemeinsam mit jungen Franzosen<br />

– Grenzpfähle herausgerissen<br />

habe. In seiner Rede an die akademische<br />

Jugend im September 1946<br />

in Zürich habe Winston Churchill<br />

davon gesprochen, das „Haus <strong>Europa</strong>s<br />

aufzubauen“. Deutschland und<br />

Frankreich müssten zueinander finden.<br />

Die Bedeutung solcher Persönlichkeiten<br />

wie Schuman, Adenauer,<br />

Churchill oder de Gasperi lasse sich<br />

erst im Nachhinein ermessen. Ohne<br />

sie hätte es die Römischen Verträge<br />

nicht gegeben. Und Kohl erklärte<br />

weiter, dass das Haus <strong>Europa</strong> viele<br />

Gründe habe. Wichtiger als alle<br />

ökonomischen Gründe seien Frieden<br />

und Freiheit. Das einzig sichere<br />

Mittel dafür sei ein geeintes <strong>Europa</strong>.<br />

Hätte vor 20 Jahren jemand prophezeit,<br />

dass im Jahr 2007 Länder wie<br />

Polen, Tschechien oder Ungarn Mitglieder<br />

der EU sein würden, so hätte<br />

man ihn ausgelacht. Aber es sei<br />

sogar noch mehr geschehen: Man<br />

habe eine gemeinsame Währung<br />

geschaffen, den Euro. Dies betonte<br />

Kohl schmunzelnd – mit einem Seitenblick<br />

auf Joachim Starbatty, der<br />

einer der Kläger gegen den Euro im<br />

Jahr 1998 war. Und er prophezeite,<br />

dass in 10 bis 15 Jahren selbst die<br />

Briten mit dem Euro zahlen würden.<br />

Bereits heute seien es 2/3 der EU-<br />

Bevölkerung, die den Euro als Zahlungsmittel<br />

nutzten.<br />

Eines jedoch stellte Helmut Kohl<br />

klar: Die Türkei gehöre nicht in die<br />

EU. Die Kopenhagener Beschlüsse<br />

machten den Bewerbern klare Vorgaben:<br />

Die Menschen- und Bürgerrechte<br />

müßten eingehalten werden,<br />

und es müsse eine demokratische<br />

Verfassung gelten. Die Türkei sei<br />

noch nicht so weit. Er persönlich sei<br />

ein großer Freund der Türkei.<br />

<strong>Europa</strong> der Kulturen<br />

Das „Haus <strong>Europa</strong>“ steht zwar noch<br />

im Rohbau, aber es entwickele sich<br />

immer schneller. Es sei gewachsen<br />

aus den Quellen der Aufklärung und<br />

des Christentums. Die Zusammenarbeit<br />

zwischen den heute 27 Mitgliedern<br />

müsse, so Kohl, erst geregelt<br />

werden, bevor weitere Mitglieder<br />

aufgenommen werden könnten. Und<br />

dann, an die Studierenden gerichtet:<br />

„Von Adenauer habe ich eines gelernt,<br />

das Ihr Euch merken solltet:<br />

Unseren kleinsten Nachbar, Luxemburg,<br />

müssen wir gut behandeln.<br />

Wenn die Luxemburger gut über uns<br />

reden, reden alle gut über uns. Wenn<br />

sie schlecht von uns reden, dann<br />

sprechen alle schlecht von uns.“<br />

Die ASM dankt der<br />

Heinz Nixdorf Stiftung<br />

und ihrem Vorstand<br />

für die maßgebliche<br />

Unterstützung der<br />

Studium generale - Reihe<br />

„Die Zukunft <strong>Europa</strong>s“.<br />

Helmut Kohl erinnerte, dass Länder<br />

wie Indien oder China in einer<br />

multipolaren Welt immer wichtiger<br />

würden. Aber gerade die Deutschen<br />

dürften auch ihre amerikanischen<br />

Freunde nicht vergessen, denen<br />

man sehr viel zu verdanken habe.<br />

Immer wieder kam Helmut Kohl auf<br />

die Rede von Churchill zu sprechen,<br />

der damals gefordert habe, die „Vereinigten<br />

Staaten von <strong>Europa</strong>“ zu errichten.<br />

Dem wolle er insofern widersprechen,<br />

als aus den europäischen<br />

Staaten keine „Vereinigten Staa-<br />

ten“ wie die USA werden könnten,<br />

sondern Länder mit einer eigenen<br />

Identität blieben, die sich zusammengetan<br />

hätten, um gemeinsame<br />

Ziele zu verwirklichen. Und keiner<br />

habe das Recht, auf den anderen<br />

mit Herablassung zu reagieren,<br />

betonte Kohl. <strong>Europa</strong> brauche kein<br />

„Direktorium“. Es gelte das Prinzip<br />

der Subsidiarität. Zugleich betonte<br />

er, dass <strong>Europa</strong> vor allem ein <strong>Europa</strong><br />

der Kulturen und ein <strong>Europa</strong> der<br />

Jugend sei. Ein lebendiges Zeugnis<br />

dafür sei für ihn eine Begebenheit<br />

auf der Karlsbrücke in Prag. Dort träfen<br />

sich viele junge Leute aus <strong>Europa</strong>.<br />

„Und im Hintergrund hörte man<br />

das Murmeln des Flusses, die Moldau<br />

von Smetana. So stelle ich mir<br />

das kulturelle <strong>Europa</strong> vor.“ Bei allen<br />

Rückschlägen mache das Hoffnung.<br />

Was die Zukunft angehe, so sei das<br />

aber nicht mehr seine Sache: „Sie<br />

sind zwischen 20 und 25 Jahre alt.<br />

Das 21. Jahrhundert ist das Ihre. Die<br />

meisten von Ihnen werden das Jahr<br />

2050 erleben.“ Und so forderte Helmut<br />

Kohl die Studierenden auf, an<br />

einer friedvollen Entwicklung <strong>Europa</strong>s<br />

mitzuarbeiten. Die Zuhörer verabschiedeten<br />

Helmut Kohl mit einer<br />

stehenden Ovation.<br />

Beeindruckt von den Studierenden<br />

Nach der Veranstaltung erzählte<br />

Helmut Kohl bei einem Glas Tübinger<br />

Rotwein von seinen Begegnungen<br />

mit Regierungschefs und Staatsoberhäuptern<br />

aus aller Welt. Er berichtete<br />

von den gemeinsamen Spaziergängen<br />

mit Kurt Georg Kiesinger<br />

im Schönbuch. Von den Studierenden<br />

zeigte er sich beeindruckt. Bei<br />

solchen Studierenden brauche man<br />

sich um die Zukunft <strong>Europa</strong>s keine<br />

Sorgen zu machen, so die einhellige<br />

Meinung der Runde. Helmut Kohl<br />

plauderte bis kurz vor Mitternacht<br />

über seine Erlebnisse an deutschen<br />

Universitäten während seiner Kanzlerzeit.<br />

Voll seien die Hörsäle immer<br />

gewesen: „Aber so freundlich begrüßt<br />

und verabschiedet wurde ich<br />

damals nicht. Irgendetwas flog immer<br />

auf das Podium“, so dass seine<br />

Frau ihn gebeten habe: „Zieh bitte<br />

einen alten Anzug an.“


Schwäbisches Tagblatt, 24. Januar 2007<br />

EUROPA


EUROPA<br />

Reutlinger General Anzeiger, 25. Januar 2007<br />

Stuttgarter Nachrichten, 25. Januar 2007<br />

Von der Zielscheibe zum bejubelten Redner<br />

Beim Vortrag von Altkanzler Kohl in Tübingen reißen sich Studenten um die Plätze<br />

(...) Jetzt, da der „Rohbau“ abgeschlossen<br />

sei, müsse es an den<br />

„Innenausbau“ gehen. Danach ans<br />

„Generalreinemachen“. Dazu gehöre<br />

die sinnvolle Verteilung von<br />

Zuständigkeiten. „Wir brauchen<br />

ein Subsidiaritätsprinzip und keine<br />

Verfassung.“ Es könne nicht<br />

sein, dass alles in Brüssel entschieden<br />

werde. So werde <strong>Europa</strong><br />

„auf den Kopf gestellt“. Gerade<br />

durch die Osterweiterung böte sich<br />

die Chance für eine Neuordnung.<br />

Denn nur wenn wieder mehr auf regionaler<br />

Ebene entschieden werde,<br />

„kommt <strong>Europa</strong> auch in den Herzen<br />

an“. Dazu gehöre auch das „Festzurren<br />

der Grenzen“. Für die Türkei<br />

sieht er keinen festen Platz. Er plädiert<br />

für eine „Abmachung knapp unter<br />

der Schwelle des Beitritts“. Auch<br />

da sieht er die EU auf einem guten<br />

Weg. Seine Nachfolgerin und Ziehtochter<br />

werde das „nötige Verhand-<br />

lungsgeschick“ haben, ist er sicher.<br />

Am Schluss seiner Rede erntet Kohl<br />

lange Applaus. Es folgen höfliche<br />

Fragen („Herr Bundeskanzler“), ehe<br />

er staatsmännisch und unter standing<br />

ovations die Bühne verlässt.<br />

Auch die Rasta-Träger klatschen.<br />

Eier fliegen keine. Es scheint, als<br />

hätten sie Frieden geschlossen mit<br />

dem ersten Mann der Bonner Republik,<br />

der so lange Zielscheibe jugendlichen<br />

Protests war.


Um die Präsenz von „<strong>Europa</strong>“ im<br />

studentischen Denkhorizont aussagekräftig<br />

zu quantifizieren - wozu<br />

der Wirtschaftswissenschaftler ja<br />

immer tendiert - eignet sich die in<br />

letzter Zeit populär gewordene Internetplattform<br />

studivz.net: Studenten<br />

kommen virtuell zusammen, um sich<br />

über Themen, die sie verbinden, in<br />

Gruppen auszutauschen. Lassen<br />

sich viele Gruppen zu einem Thema<br />

finden, spricht das für eine große<br />

Relevanz.<br />

Möge das Spiel beginnen. Starten<br />

wir die Suchfunktion auf der Homepage<br />

und beginnen mit “Bundesregierung“:<br />

ein Treffer, also eine<br />

Gruppe zu diesem Thema. Unsere<br />

Kommilitonen interessieren sich<br />

wohl nur bedingt für Frau Merkel<br />

und ihre Kollegen. Okay, zweiter<br />

Versuch mit dem Schlagwort „Bier“,<br />

und siehe da: „Mehr als 300 Treffer“.<br />

Wir lernen: Studenten mögen<br />

Bier - welch’ eine Erkenntnis! Dritter<br />

Versuch: „<strong>Europa</strong>“. In dunkellila Lettern<br />

auf signalrotem Grund erscheint<br />

das Ergebnis „Mehr als 300 Treffer“!<br />

Gruppen zum Thema <strong>Europa</strong>,<br />

so weit das Auge reicht. Deren Titel<br />

erstrecken sich von „Helmut Kohl -<br />

Danke für die Einheit und <strong>Europa</strong>!“,<br />

den „<strong>Europa</strong>-Enthusiasten“, „Wir<br />

sind <strong>Europa</strong>“, „Baustelle <strong>Europa</strong>“,<br />

„Mein <strong>Europa</strong> 2015 - Tübinger Thesen“<br />

bis „Interrail - mit einem Ticket<br />

& auf zwei Schienen durch <strong>Europa</strong>!“,<br />

um nur einige zu nennen.<br />

Dieser Versuch erklärt jedoch nicht<br />

die Art der studentischen Faszination<br />

für <strong>Europa</strong> und die EU. Was ich<br />

beschreiben kann, ist mein eigenes<br />

Gefühl beim Stichwort „<strong>Europa</strong>“: So<br />

zum Beispiel die Reisefreiheit, für<br />

uns heute eine Alltäglichkeit, über<br />

die man sich eben noch Gedanken<br />

macht, wenn man gerade vor dem<br />

Grenzübergang Weil am Rhein in<br />

EUROPA<br />

<strong>Europa</strong>gefühl.<br />

Ich in <strong>Europa</strong>. Ich als Europäer.<br />

Simon Nehls und Lisa Schulze<br />

Richtung Schweiz im Stau steht.<br />

Das Gefühl der (fast) grenzenlosen<br />

Freiheit - zumindest soweit der Geldbeutel<br />

es hergibt - hat auch viel mit<br />

Bequemlichkeit zu tun. Insoweit ist<br />

<strong>Europa</strong>, man muss es so vielleicht<br />

so hart sagen, vor allem bequem für<br />

seine Bürger: Niemand muss mehr<br />

umrechnen von Lire oder Franc in<br />

DM, sondern kann ganz entspannt<br />

Preise vergleichen. Wahrscheinlich<br />

hat der Euro an der französischen<br />

Atlantikküste oder überall da, wo sich<br />

im Juli/August die Touristen stauen,<br />

deshalb zu einem Umsatzrückgang<br />

bei den Souvenirläden geführt. Man<br />

kann nicht nur vergleichen, man<br />

muss - und das bringt gerade im<br />

kostspieligen Frankreichurlaub heilsame<br />

Konsequenzen mit sich.<br />

In meiner Generation und in meinem<br />

Freundeskreis ist das Thema „<strong>Europa</strong>“<br />

oft Tischgespräch. Meist geht<br />

es dabei doch thesenartig zu: Demokratiedefizite,<br />

fehlende Bürgerbeteiligung<br />

und selbstverständlich<br />

der Dauerbrenner, die Verfassung.<br />

Auffällig ist jedoch bei diesen Gesprächen<br />

das Fehlen einer ganz<br />

bestimmten Sichtweise. Es fehlt der<br />

Ansatz, dass die nationalen Interessen<br />

der einzelnen Mitgliedstaaten im<br />

derzeitigen EU-Konstrukt wenig Beachtung<br />

finden. Dass viele ein Umdenken<br />

oder Reformbereitschaft fordern,<br />

war mir vorher nicht bewusst.<br />

Mit dieser Sichtweise wurde ich erst<br />

während der letzten Monaten in der<br />

Vorlesungsreihe des Studium Generale<br />

konfrontiert. So vertrat auch<br />

Helmut Kohl die Meinung, dass die<br />

nationalstaatlichen Interessen auf<br />

keinen Fall im europäischen Einheitsbrei<br />

aufgehen dürften.<br />

Viele Studenten scheint das hingegen<br />

eher weniger zu berühren.<br />

Warum sind gerade Studenten,<br />

mich eingeschlossen, so offen eu-<br />

ropabegeistert? Gewagte These<br />

meinerseits: Da Patriotismus unter<br />

Studenten allgemein eher unbeliebt<br />

ist, projizieren viele diese Gefühle<br />

auf <strong>Europa</strong>. Außerdem bedeutet,<br />

von <strong>Europa</strong> zu schwärmen, einen<br />

viel höheren Hipnessfaktor als die<br />

Betonung einer nationalen Identität.<br />

Ist zu hoffen, dass <strong>Europa</strong> auch<br />

für die nächsten Jahre ein studentisches<br />

„must“ bleibt. Im Gegensatz<br />

zu den Älteren glauben Studenten<br />

vielleicht daran, eines Tages aktiv<br />

an der Gestaltung der EU mitzuarbeiten.<br />

Sie haben noch lange nicht<br />

resigniert; schließlich liegt in unserer<br />

Generation das Potential, aktiv eigene<br />

Vorstellungen eines vereinten<br />

<strong>Europa</strong>s einzubringen und in die Realität<br />

umzusetzen.<br />

Aber bisher sehe ich in Deutschland<br />

und auch auf europäischer Ebene<br />

kaum eine politische Gruppierung,<br />

sei es Partei oder NGO, die dieses<br />

Potenzial für sich nutzt. Vielleicht<br />

liegt es an der stiefmütterlichen Behandlung<br />

der <strong>Europa</strong>wahlen, die von<br />

den etablierten Parteien mehr als<br />

lästige Pflicht gesehen wird. Doch<br />

gäbe es genau hier die Möglichkeit<br />

die Jugend „abzuholen“. Beispielsweise<br />

verstehen sich die „Newropeans“<br />

als die erste transeuropäische<br />

Bewegung und haben sich mit<br />

dem Ziel der Demokratisierung der<br />

EU 2004 gegründet. Leider sind Initiativen<br />

wie diese bisher nicht in den<br />

Fokus der Öffentlichkeit gerückt, und<br />

so wird sich zeigen, ob eine Partei,<br />

die sich ausschließlich europäischen<br />

Interessen verschreibt, 2009 Erfolg<br />

haben kann.<br />

Am Ende sind die Zukunft <strong>Europa</strong>s<br />

und die eigenen Perspektiven nämlich<br />

sehr eng miteinander verknüpft,<br />

und genau das macht einen Großteil<br />

unserer Motivation und Begeisterung<br />

aus.


EUROPA<br />

Grenzenloses <strong>Europa</strong>? Diese Frage<br />

bildete den Rahmen des 17. Dialogseminars<br />

im Januar 2007 in Blaubeuren.<br />

Dank der Förderung durch die<br />

Hanns Martin Schleyer-Stiftung und<br />

die STIHL Holding AG & Co. KG – in<br />

Verbindung mit der <strong>Aktionsgemeinschaft</strong><br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Marktwirtschaft</strong><br />

– diskutierten<br />

interessierte Studierende<br />

mit Experten<br />

über den Stand und<br />

die Perspektiven des<br />

europäischen Integrationsprozesses.<br />

Das<br />

Seminar war Professor<br />

Norbert Kloten<br />

(†) gewidmet, der die<br />

Veranstaltungsreihe<br />

mitbegründete und<br />

sich mit großem Engagement<br />

beteiligte.<br />

Die verantwortlichen<br />

Professoren Bernhard<br />

Herz (Universität<br />

Bayreuth), Gunther<br />

Schnabl (Universität<br />

Leipzig) und Joachim Starbatty<br />

(Universität Tübingen) hatten namhafte<br />

Referenten aus den Bereichen<br />

Politik, Administration und Wirtschaft<br />

eingeladen. Die Schwerpunkte lagen<br />

auf den Grenzen der Vertiefung in<br />

der „Verfassungskrise“, den geographischen<br />

Grenzen der erweiterten<br />

Europäischen Union (EU) sowie<br />

den Entwicklungsmöglichkeiten und<br />

-grenzen einzelner Politikfelder.<br />

Die Auswahl an Vorträgen aus verschiedenen<br />

Fachrichtungen erwies<br />

sich als gewinnbringend. Nach der<br />

Ansicht von Thomas Oppermann<br />

(Rechtswissenschaft, Universität<br />

Tübingen) steht die EU nach der<br />

Verfassungskrise an einem Scheideweg:<br />

Nach Jahrzehnten einer „Erfolgsgeschichte“<br />

drohe die Gefahr<br />

einer Rückentwicklung zum nationalstaatlichen<br />

Handeln in einer geho-<br />

1 . Dialog-Seminar<br />

„<strong>Europa</strong> ohne Grenzen?“<br />

Julian Siegl<br />

benen Freihandelszone. Wolfgang<br />

Wessels (Politikwissenschaft, Universität<br />

Köln) hingegen betrachtet<br />

die gegenwärtige Auseinandersetzung<br />

um Form und Inhalt der Europäischen<br />

Integration als immer wiederkehrendes<br />

Element eines ergebnisoffenen<br />

Einigungsprozesses. Die<br />

bestehende Krise erlaube vielmehr<br />

eine Vielzahl möglicher Entwicklungsszenarien.<br />

Für Ingo Friedrich,<br />

stellvertretender CSU-Parteivorsitzender<br />

und Präsidiumsmitglied des<br />

Europäischen Parlaments, offenbart<br />

sich die angesprochene Krise in der<br />

Praxis als Häufung von Einzelproblemen.<br />

Dabei müssten Defizite bezüglich<br />

der Finalität, der Akzeptanz<br />

sowie der demokratischen Legitimierung<br />

<strong>Europa</strong>s einzeln angegangen<br />

und in einem langfristigen Entwicklungsprozess<br />

behoben werden.<br />

Weitgehende Einigkeit besteht hingegen<br />

bei der Einschätzung, eine<br />

fortschreitende Erweiterung verlange<br />

zwingend vorhergehende Reformen.<br />

Diese vorausgesetzt sieht<br />

Cem Özdemir, <strong>Europa</strong>abgeordneter<br />

von Bündnis 90/Die Grünen, einen<br />

EU-Beitritt der Türkei mit politischen<br />

und wirtschaftlichen Gewinnen für<br />

beide Seiten verbunden. Für Martin<br />

Seidel (Rechtswissenschaft, Universität<br />

Bonn), reichten jedoch institutionelle<br />

Reformen allein als Voraussetzung<br />

für die Erweiterung der EU<br />

nicht aus. Die sinkende Zustimmung<br />

zum gesamten Einigungsprojekt<br />

erfordere generell eine<br />

bessere Vermittlung der<br />

historischen Bedeutung<br />

bisheriger Integrationserfolge.<br />

Bei der Frage nach<br />

den Entwicklungsmöglichkeiten<br />

im Bereich<br />

der Wirtschaftspolitik<br />

begrüßt Werner Mussler,<br />

Korrespondent der<br />

Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung in Brüssel,<br />

den Wettbewerb in den<br />

Politikfeldern Steuern,<br />

Energie, Industrie und<br />

<strong>Soziale</strong>s als Möglichkeit<br />

der Qualitätssteigerung,<br />

während die negativen<br />

Folgen fehlenden Wettbewerbs im<br />

Bereich der Agrarpolitik offensichtlich<br />

seien. Hans Tietmeyer, Präsident<br />

der Deutschen Bundesbank<br />

a.D., bezeichnet die Wirtschafts-<br />

und Währungsunion (WWU) zwar<br />

insgesamt als währungspolitischen<br />

Erfolg, der längerfristige Bewährungstest<br />

hingegen stehe noch<br />

aus. Wegen offener Fragen der<br />

wirtschafts- und fiskalpolitischen<br />

Zuständigkeiten müsse einer Erweiterung<br />

der WWU mit Vorsicht<br />

begegnet werden.<br />

Hans Tietmeyer<br />

Somit präsentiert sich die EU gegenwärtig<br />

keineswegs als Gemeinschaft<br />

ohne Grenzen. Der reformbedürftige<br />

Zustand der Union scheint ihrer Erweiterung<br />

deutliche Grenzen zu setzen.<br />

Begrenzt entwicklungsfähiges<br />

statt grenzenloses <strong>Europa</strong> könnte<br />

demnach ein Fazit lauten.


EUROPA


FRANZ-BÖHM-VORTRAG<br />

Gesundheitswesen auf dem Irrweg der<br />

Verstaatlichung?<br />

Der in der Gesundheitsreform 2006<br />

(Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs<br />

in den gesetzlichen Krankenversicherungen)<br />

geplante Gesundheitsfonds<br />

sieht eine staatliche bundeseinheitliche<br />

Beitragsfestsetzung<br />

per Rechtsverordnung vor. Ferner<br />

sollen die Mittel aus dem Fonds den<br />

GKV (gesetzlichen Krankenversicherungen)<br />

staatlich zugewiesen<br />

werden. Somit würde einer demokratisch<br />

legitimierten Selbstverwaltung<br />

die Finanzautonomie entzogen.<br />

Diese Änderung birgt hohe Risiken<br />

in sich. Die für die Versorgung zur<br />

Verfügung stehenden Finanzmittel<br />

würden dauerhaft Gegenstand der<br />

politischen Diskussion und wären<br />

ferner von der öffentlichen Haushaltslage<br />

abhängig. Das Geld der<br />

Versicherten drohe zur politischen<br />

Verfügungsmasse zu werden. Ferner<br />

würde sich die Höhe des staatlich<br />

festgelegten Beitrages für den<br />

Fonds weniger an wirtschaftlichen<br />

als an politischen Vorgaben orientieren.<br />

Bei einer Tendenz zur Unterfinanzierung<br />

bestünde das Risiko der<br />

Abkopplung der Versicherten vom<br />

medizinisch-technischen Fortschritt.<br />

Als Resultat würden Krankenkassen<br />

von selbständigen Sozialversicherungen<br />

zu nachgeordneten ausführenden<br />

Behörden degradiert.<br />

Das Gesetz stärkt nicht, wie sein<br />

Name vorgibt, den Wettbewerb zwischen<br />

Krankenkassen; denn mehr<br />

als 70% des Ausgabenvolumens soll<br />

einheitlich für alle Krankenkassen<br />

von einem neuen zentralen Dachverband<br />

durch entsprechende Verträge<br />

verantwortet werden. Regionale<br />

Besonderheiten könnten damit nicht<br />

mehr berücksichtigt werden, Pluralität<br />

und Versorgungsvielfalt werden<br />

aufgehoben. Vertragsfreiheit gibt es<br />

nur noch für zusätzliche Leistungen,<br />

die über Kollektivverträge hinausgehen.<br />

Damit entscheidet die Zusatz-<br />

10<br />

Udo Heiden<br />

prämie und nicht die Leistung über<br />

den Erfolg einzelner Krankenkassen.<br />

Der Wettbewerb wird sich über<br />

den Zusatzbeitrag auf die gesunden<br />

und einkommensstarken Versicherten<br />

konzentrieren.<br />

Udo Heiden<br />

Die strukturellen Änderungen betreffen<br />

den Gemeinsamen Bundesausschuss,<br />

der von einem Selbstverwaltungsgremium<br />

zu einer dem<br />

Bundesministerium für Gesundheit<br />

(BMG) nachgeordneten Behörde<br />

umgebaut werden soll. Das BMG<br />

würde damit seinen Einfluss auf<br />

den Gemeinsamen Bundesausschuss<br />

vergrößern, womit sich die<br />

Regierung direkten Einfluss auf den<br />

Leistungskatalog der GKV sichern<br />

möchte. Problematisch ist dabei,<br />

dass fiskalische und politische Erwägungen<br />

über den Leistungskatalog<br />

bestimmen und die Sachnähe der<br />

Entscheidungsprozesse zum Versorgungsgeschehen<br />

verloren geht.<br />

Der neue Dachverband soll die Entscheidungs-<br />

und Handlungsfähigkeit<br />

der Krankenkassen und Krankenkassenverbände<br />

bei gemeinsam<br />

und einheitlich zu erledigenden<br />

Aufgaben stärken. Derzeit wird bei<br />

Interessengegensätzen noch im<br />

Rahmen eines internen Meinungsbildungsprozesses<br />

der Verbände<br />

vermittelt, was Beschlüsse der GKV<br />

erleichtert.<br />

In Zukunft werden diese unterschiedlichen<br />

Interessen in einem<br />

Dachverband ausgetragen. Hierbei<br />

sind allerdings weder schnellere,<br />

transparentere Entscheidungen<br />

noch Verbesserungen in der Qualität<br />

und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung<br />

zu erwarten.<br />

Vorteile sieht die Regierung in der<br />

Umgestaltung der Durchgriffsrechte<br />

auf die Entscheidungen des Dachverbandes.<br />

Für das Ministerium gibt<br />

es damit nur noch einen Verhandlungspartner,<br />

der besser steuer- und<br />

lenkbar ist als die heutigen selbstverwalteten<br />

Verbände.<br />

Diese geplanten Reformen des<br />

Gesundheitssystems bedeuten die<br />

Festsetzung eines bundeseinheitlichen<br />

allgemeinen Beitragssatzes,<br />

die Ausgestaltung des Leistungskatalogs<br />

durch eine dem BMG nachgelagerte<br />

Behörde und die Steuerung<br />

der wichtigsten Preise und Vergütungssysteme<br />

durch einen der Bundesregierung<br />

nahe stehenden Spitzenverband<br />

der Krankenkassen auf<br />

Bundesebene. Dies wiederum hat<br />

Verstaatlichung und Zentralisierung<br />

des deutschen Gesundheitssystems<br />

zur Folge.<br />

Daher werden die Ankündigungen<br />

des Koalitionsvertrages, eine nachhaltige<br />

und gerechte Finanzierung<br />

der GKV zu sichern und ein leistungsfähiges<br />

solidarisches und demographiefestes<br />

Gesundheitswesen<br />

zu schaffen, nicht eingehalten.<br />

Fazit: Mit der Gesundheitsreform<br />

2006 verabschiedet sich die Politik<br />

von den Grundsätzen der Solidarität<br />

hin zu einer Verstaatlichung des<br />

Gesundheitssystems.


Aufmarsch nach Armageddon?<br />

Historisch-politische und metaphysische<br />

Hintergründe des Nahost-Konflikts<br />

Der Begriff Armageddon wird im säkularen<br />

<strong>Europa</strong> überwiegend für die<br />

Kennzeichnung einer globalen endzeitlichen<br />

Auseinandersetzung unter<br />

Einsatz nuklearer Waffensysteme<br />

gebraucht. Ursprünglich stammt er<br />

aus der Bibel und ist dort der Name<br />

des Schauplatzes der letzten Entscheidungsschlacht<br />

der Könige der<br />

Erde gegen Gott. In der Tat könnten<br />

die Kriege im Nahen und Mittleren<br />

Osten globales Ausmaß erreichen.<br />

Vorgeschichte<br />

Die Wurzeln des momentanen Konflikts<br />

zwischen dem Nahen Osten<br />

und der westlichen Welt gehen bereits<br />

auf die Zeit des Ersten Weltkrieges<br />

zurück, als Großbritannien<br />

und Frankreich 1916 ein Geheimabkommen<br />

geschlossen hatten,<br />

in dem die Aufteilung des Nahen<br />

Ostens festgelegt wurde und 1917<br />

der britische Außenminister Balfour<br />

den Juden die „Schaffung einer nationalen<br />

Heimatstätte“ in Palästina<br />

zugesichert hatte. Zu diesem Betrug<br />

an den Arabern kommen noch<br />

die Golfkriege hinzu, die zu einem<br />

ständig wachsenden antiwestlichen<br />

Zivilisationsbewusstsein unter den<br />

Muslimen geführt haben. Sie sind<br />

von der gesamten islamischen Gemeinschaft<br />

als „Kreuzzüge des Westens“<br />

gegen den Islam empfunden<br />

worden.<br />

Eine schiitische Schiene<br />

Bei dem Irak-Krieg ging es um Demokratie<br />

als Allheilmittel und die<br />

Neuordnung des Nahen Ostens,<br />

verbunden mit knallharten Wirtschaftsinteressen,<br />

gestützt von einer<br />

starken Lobby im Hintergrund,<br />

die damit die Bedrohung Israels verhindern<br />

will. Doch es war ein großer<br />

Fehler, das seit Jahrhunderten bestehende<br />

Ordnungssystem mit der<br />

Vorrangstellung der Sunniten zu zer-<br />

Jörn Brauns<br />

stören, die bestehenden Streit- und<br />

Polizeikräfte aufzulösen und den<br />

Staatsapparat zu de-baathisieren.<br />

Mit der Demokratisierung erhalten<br />

nun die Schiiten per Wahlurne die<br />

Macht, da sie die Mehrheit der Bevölkerung<br />

im Irak stellen. Ein zweiter<br />

schiitischer Gottesstaat droht zu entstehen.<br />

Damit wird eine schiitische<br />

Schiene vom künftigen Atomstaat<br />

Iran über den Irak über Syrien bis hin<br />

zum Libanon mit seinem wachsenden<br />

schiitischen Bevölkerungsteil mit<br />

der Stoßrichtung Israel gebaut. Der<br />

in Teheran geträumte Traum eines<br />

islamischen Großreiches könnte<br />

Realität werden, wenn der amerikanische<br />

Demokratisierungsversuch<br />

den Irak auseinanderbrechen läßt.<br />

Die westliche Debatte um Menschenrechte<br />

hat in islamischen<br />

Ländern keine geistesgeschichtliche<br />

Tradition. Allah und nicht der<br />

Mensch ist der Mittelpunkt der Welt.<br />

Die Menschen sind mehr an einer eigenen,<br />

ordnungstiftenden Regierung<br />

interessiert als an Selbstbestimmung.<br />

Die US-Streitkräfte sind mit<br />

der asymmetrischen Kriegsführung<br />

gänzlich überfordert. Die arabischen<br />

Nachbarstaaten hatten sich gegen<br />

einen amerikanischen Militärschlag<br />

ausgesprochen: Sie fürchteten zu<br />

Recht Staatszerfall und Anarchie<br />

im Irak. Darüber hinaus sehen sie<br />

in den Amerikanern keine Befreier,<br />

sondern „christliche Kreuzzügler“,<br />

die die islamische Welt erobern und<br />

ihr Öl erbeuten wollen. Und der Iran<br />

lernt daraus, dass atomar bewaffnete<br />

Staaten sicherer sind vor imperialen<br />

Gelüsten und demokratischen<br />

Missionsgedanken.<br />

Islamische Atommacht Iran<br />

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert<br />

lebt der Iran in der schiitischen<br />

Gottesstaatsorientierung. Er ist al-<br />

FRANZ-BÖHM-VORTRAG<br />

lerdings keine absolute Diktatur,<br />

sondern eine Theokratie mit verschiedenen<br />

Machtzentren, in denen<br />

viele Fragen durchaus kontrovers<br />

diskutiert werden. Aufgrund seiner<br />

enormen Gas- und Ölvorkommen ist<br />

der Iran wirtschaftlich in einer guten<br />

Ausgangslage. Nach dem Irak-Krieg<br />

unternimmt er große Anstrengungen,<br />

Atommacht zu werden, da er sich<br />

von vielen Seiten bedroht fühlt. Ein<br />

nuklearer Iran ist eine reale Option,<br />

die die strategische Lage in Nahost<br />

und für <strong>Europa</strong> von Grund auf verändern<br />

wird. Israel wird das als neue<br />

Bedrohung sehen und nicht hinnehmen<br />

können. Bisher bekämpfen die<br />

Iraner Israel durch Unterstützung<br />

von Terrorgruppen Israel bekämpfen,<br />

dann aber könnte nukleare<br />

Schlagkraft Israel auf Knopfdruck<br />

auslöschen.<br />

Eine Atommacht Iran wäre ohne<br />

Zweifel auch für <strong>Europa</strong> äußerst<br />

bedrohlich und würde es erpressbar<br />

machen, Deutschland besonders,<br />

da es noch nicht einmal in der<br />

Lage wäre, Vergeltungsschläge anzudrohen.<br />

Militärschläge von Israel<br />

und den USA sind daher denkbar,<br />

würden aber wiederum das gesamte<br />

iranische Volk und die islamische<br />

Welt auf allen Kontinenten solidarisieren<br />

und zu Terroranschlägen<br />

sowie bürgerkriegsähnlichen Unruhen<br />

führen. <strong>Europa</strong> und die USA<br />

sind ferner aufgrund des Öls in einer<br />

Abhängigkeitsrolle. Eine Geschlossenheit<br />

der Großmächte ist nicht zu<br />

erwarten, weil China und Russland<br />

ihre eigenen nationalen Interessen<br />

verfolgen.<br />

Die metaphysische Dimension<br />

Das Verhältnis von Judentum und Islam<br />

ist in seiner metaphysischen Dimension<br />

von Anfang an belastet. Es<br />

ist falsch zu glauben, dass mit der<br />

11


FRANZ-BÖHM-VORTRAG<br />

Errichtung eines Palästinenserstaates<br />

der Nahostkonflikt beendet wäre<br />

und Israel in Frieden und Sicherheit<br />

existieren könnte. Jedes Land, das<br />

einmal im Besitz der Muslime war,<br />

ist für immer muslimisch. Ein Friede<br />

mit Ungläubigen ist niemals möglich,<br />

jedoch ein Waffenstillstand, solange<br />

bis man überlegen ist. Dabei<br />

wird bei Übermacht des Feindes der<br />

Friede bzw. der Waffenstillstand aus<br />

taktischen Gründen und zeitlich begrenzt<br />

benutzt. Vorbild ist Mohammed,<br />

der diese Taktik nutzte, um 630<br />

die Qurais zu überlisten und nach<br />

Mekka einzumarschieren.<br />

Die Juden waren zwar einst Empfänger<br />

einer göttlichen Offenbarung und<br />

zu Beginn seiner Verkündigung hatte<br />

Mohammed erwartet, sie würden<br />

sich seiner Botschaft anschließen.<br />

Die Juden konnten jedoch Mohammed<br />

nicht als Propheten anerkennen,<br />

denn ein Prophet strebt nicht<br />

nach politischer Macht. Als sich herausstellte,<br />

dass sie aufgrund ihrer<br />

Schriftkenntnisse Mohammeds Anspruch<br />

in Frage stellten, wandelte<br />

sich das Verhältnis. Der Islam veränderte<br />

sich, und es kam zu Vertreibungen<br />

und Massenmorden an den<br />

Juden.<br />

Israel ist der ärgste Feind der Moslems,<br />

weil der Nahe Osten das Kernland<br />

des Islam ist. In seiner gesamten<br />

Geschichte war der Islam nie mit<br />

einem jüdischen Staat konfrontiert<br />

worden. Die Wiedererstehung eines<br />

jüdischen Staates im Jahre 1948 ist<br />

nun völlig konträr zur islamischen<br />

Lehre, da Allah mit dem jüdischen<br />

Volk abgeschlossen hatte.<br />

Der Konflikt hat eine metaphysische<br />

Dimension, die von <strong>Europa</strong>s und<br />

Amerikas Eliten aufgrund ihrer mangelnden<br />

geschichtlichen und religiösen<br />

Bildung nicht erfasst wird und<br />

dem mit militärischen Mitteln allein<br />

nicht beizukommen ist. Ein demokratisches<br />

Palästina ist eine Illusion<br />

der westlichen Mächte. Einen Feind<br />

zu lieben ist für Muslime, aber auch<br />

für Israelis, ein ganz abwegiger Gedanke,<br />

erst recht die Entfeindungslehre<br />

des Juden Jesus.<br />

1<br />

Das Freiheitsverständnis<br />

von Ludwig Erhard<br />

Ludwig Erhard hat <strong>Soziale</strong> <strong>Marktwirtschaft</strong><br />

anders definiert, als es heute<br />

üblich ist. Ihm ging es um „die völlige<br />

Freiheit des Handelns und der<br />

Entscheidungen“, und zwar für alle<br />

wirtschaftenden Menschen, wo immer<br />

sie auch tätig sind.<br />

Erhard hat bis 1945 wissenschaftlich<br />

geforscht und gearbeitet (Institut für<br />

Wirtschaftsbeobachtung; ab 1942<br />

Institut für Industrieforschung) und<br />

dabei auch frühere Wirtschaftsordnungen<br />

untersucht und sie als „unternehmerische<br />

Planwirtschaften“<br />

erkannt, die Pfründen und Renten,<br />

ständestaatliche Verhältnisse,<br />

Machtpositionen und -missbrauch<br />

sowie Korruption förderten. Wirtschaftliche<br />

Fortschritte, die im<br />

Leistungswettbewerb an die Verbraucher<br />

weitergegeben werden<br />

und dadurch „Wohlstand für alle“<br />

bewirken konnten, blieben aus.<br />

In diesen „unternehmerischen Planwirtschaften“<br />

habe der Staat mehr<br />

und mehr Einfluss gewonnen. Dem<br />

Einzelnen wurde im Gegenzug Verantwortung<br />

abgenommen. Damit<br />

habe sich das <strong>Soziale</strong> gewandelt,<br />

denn: „Es war nur eine Selbstverständlichkeit,<br />

dass sich der Einzelne<br />

sagt: Wenn ich mich schon nicht<br />

frei entfalten kann, wenn ich schon<br />

nicht das tun und lassen kann, was<br />

ich für richtig halte und was ich für<br />

mein persönliches Wohlergehen<br />

für notwendig erachte, dann, lieber<br />

Staat, trage du auch bitte die Verantwortung<br />

für mein ökonomisches<br />

Schicksal“.<br />

Das Zitierte stammt aus dem Jahr<br />

1954, und Erhard hat damit die Zeit<br />

vor 1945 beschrieben. Seine Ausführungen<br />

klingen aber recht aktuell,<br />

denn entgegen Erhards Absicht<br />

ist im einstigen „Wirtschaftswunderland“<br />

der Staat inzwischen<br />

wieder fast allgegenwärtig.<br />

Andreas Schirmer<br />

Für Erhard stand außer Zweifel,<br />

dass sich der Staat aus dem Wirtschaftsalltag<br />

heraus hält. Der Staat<br />

setzt Rahmenbedingungen für wirtschaftliches<br />

Handeln, damit jeder<br />

aus eigener Kraft für sich sorgen<br />

kann und nicht auf Kosten anderer<br />

leben muss. Aus der Perspektive<br />

des <strong>Soziale</strong>n in einer <strong>Marktwirtschaft</strong><br />

ist vorrangig, soziale Sicherheit für<br />

alle zu schaffen: für Eigentümer<br />

durch Schutz des Eigentums vor<br />

dem willkürlichen Zugriff des Staates<br />

und privater Dritter; für die, die ausschließlich<br />

vom Ertrag ihrer Arbeitskraft<br />

leben müssen, durch Sicherung<br />

des Zugangs zum Markt.<br />

Für Erhard bedeutete „sozial“ eben<br />

nicht, <strong>Marktwirtschaft</strong> mit möglichst<br />

viel Sozialpolitik zu verbinden. In<br />

seiner Vorstellung muss die Wirtschaftsverfassung<br />

zugleich eine soziale<br />

Funktion erfüllen: Die direkte<br />

Teilhabe aller an wirtschaftlichen<br />

Fortschritten und Zuwächsen, ohne<br />

Umwege über den Staat oder über<br />

quasi-staatliche Kassen der sozialen<br />

Hilfe – „Wohlstand für alle“ eben.<br />

Erhards <strong>Soziale</strong> <strong>Marktwirtschaft</strong> geht<br />

über das Ökonomische hinaus. Die<br />

Wirtschaft, zentraler Lebensbereich,<br />

muß angemessen geordnet sein, damit<br />

sich gesellschaftliche und soziale<br />

Verhältnisse zufriedenstellend entwickeln:<br />

„Wenn es viele Menschen in<br />

einem Staat gibt, die von der Sorge<br />

gequält sind, was morgen ihr Schicksal<br />

sein wird, so kann man nicht von<br />

Freiheit sprechen. Frei, wahrhaft frei<br />

als Persönlichkeit und wahrhaft frei<br />

gegenüber dem Staat und seinen<br />

Einrichtungen ist nur derjenige, der<br />

gewiss sein kann, kraft eigener Leistung<br />

und eigener Arbeit bestehen<br />

zu können, ohne Schutz, aber auch<br />

ohne Behinderung durch den Staat“<br />

(1954). Freiheit im Erhardschen Sinn<br />

braucht ebenfalls Grenzen, aber diese<br />

Grenzen dürfen aus seiner Sicht


nicht von Dritten gesetzt werden.<br />

Das kann nur jeder Einzelne selbst,<br />

und zwar freiwillig. In einer funktionierenden<br />

Gesellschaft werde jeder<br />

Einzelne – was immer er tue – nicht<br />

nur an sich denken; jeder habe auch<br />

das Wohl des anderen vor Augen.<br />

Erst durch die Fürsorglichkeit des<br />

Staates werde diese Orientierung<br />

gestört und, schlimmstenfalls, sogar<br />

zerstört.<br />

Erhard bezog die Begründungen<br />

seines Freiheits- und damit zugleich<br />

auch seines Sozialverständnisses<br />

aus den Werken der Ethik und der<br />

Sozialphilosophie. Für ihn war vor<br />

allem die „Theorie der ethischen<br />

Gefühle“ von Adam Smith grundlegend.<br />

Der Grundgedanke: Menschliches<br />

Handeln ist sozialer Kontrolle<br />

unterworfen, weil jeder Mensch für<br />

sein Tun die Anerkennung anderer<br />

sucht, weil er als nützliches Glied<br />

der Gesellschaft anerkannt werden<br />

will. Jeder möchte „sympathisch“ erscheinen:<br />

als Mensch, der „richtig“,<br />

der „ehrenhaft“ handelt. Deshalb zügelt<br />

jeder seinen Egoismus. In Erhards<br />

Worten: „Aus der Verdichtung<br />

dieser Beziehungen erwachsen jene<br />

kategorischen Imperative, die, nur<br />

zum geringsten Teil in Gesetzesform<br />

gekleidet, aus Gesinnung und Gesittung<br />

als gemeinverbindliche Verhaltensweisen<br />

anerkannt werden.“<br />

Eine der Freiheit verpfl ichtete Ordnungspolitik<br />

muß die grundsätzlich<br />

im Menschen wurzelnde soziale Orientierung<br />

aufrecht erhalten und alles<br />

vermeiden, was sie schwächt. Die soziale<br />

Orientierung sei eine natürliche<br />

Erscheinung, aber auch ein zartes<br />

Pfl änzchen, das ohne Pfl ege welke<br />

und eingehe. Menschen richten ihr<br />

Verhalten zwar am Nächsten aus,<br />

neigen aber ebenso dazu, aus der<br />

Verantwortung für sich und andere zu<br />

fl iehen, wenn die Umstände das zuließen.<br />

Freiheitliche Politik muss sich<br />

demnach darauf konzentrieren, die<br />

im Menschen vorhandene Orientierung<br />

zu erhalten und die Menschen in<br />

ihrer sozialen Haltung zu bestärken.<br />

Ohne diese Grundhaltung werde keine<br />

Gesellschaft überdauern, die sich<br />

als humane Gesellschaft verstehe.<br />

Das mit Erhards <strong>Soziale</strong>r <strong>Marktwirtschaft</strong><br />

verbundene ethische Fundament<br />

von Freiheit und die mit ihr untrennbar<br />

verbundene Verantwortung<br />

mündet in eine Politik, die Freiheit<br />

sichert, indem sie zugleich darauf<br />

achtet, dass sich keiner der Verantwortung<br />

für sich (und andere) entzieht.<br />

Daher müssen die Prinzipien<br />

der Selbstverantwortung und der<br />

Subsidiarität betont werden.<br />

Andreas Schirmer<br />

Dass <strong>Soziale</strong> <strong>Marktwirtschaft</strong> heutzutage<br />

etwas anderes ist als die<br />

Konzeption von Erhard, liegt darin,<br />

dass im heutigen Verständnis<br />

von <strong>Soziale</strong>r <strong>Marktwirtschaft</strong> pseudofreiheitliches<br />

Denken vorherrscht:<br />

Es geht um eine vom Staat, von der<br />

Obrigkeit gewährte, um eine kon<br />

trollierte und regulierte Freiheit, um<br />

„Bewegungsspielräume“, die der<br />

Staat zuweist. Er schränkt einerseits<br />

mit seinen Regulierungen die<br />

Leistungsbereitschaft und das Lei<br />

stungsvermögen der Bürger ein, auf<br />

der anderen Seite beansprucht er<br />

immer mehr fi nanzielle Mittel. Er wird<br />

mächtiger und schwächer zugleich,<br />

während die Bürger verarmen: „So<br />

reiht sich schließlich ein Glied an<br />

das andere, bis sich das Individuum<br />

in den Ketten der Unfreiheit gefangen<br />

sieht und am Ende die Funktionäre<br />

über unsere Lebensordnung<br />

beschließen“ (1968). Der Bürger ist<br />

zum „sozialen Untertan“ geworden.<br />

Auch die wirtschaftspolitischen Maßnahmen,<br />

die in den vergangenen<br />

Jahrzehnten unter dem Motto „Zurück<br />

zur <strong>Soziale</strong>n <strong>Marktwirtschaft</strong>“<br />

FRANZ-BÖHM-VORTRAG<br />

standen, widersprechen seinen<br />

Grundgedanken.<br />

Viele der bisher durchgeführten<br />

Reformen mit Berufung auf die <strong>Soziale</strong><br />

<strong>Marktwirtschaft</strong> waren bestenfalls<br />

das Basteln an Symptomen.<br />

Oder, abschließend nochmal mit<br />

den Worten Erhards: „Was sind<br />

das für Reformen, die uns Wände<br />

voller neuer Gesetze, Novellen und<br />

Durchführungsbestimmungen bringen?<br />

Liberale Reformen sind es jedenfalls<br />

nicht! Es sind Reformen, die<br />

in immer ausgeklügelterer Form die<br />

Bürger in neue Abhängigkeiten von<br />

staatlichen Organen bringen, wenn<br />

nicht sogar zwingen“ (1974).<br />

Quellen<br />

(1954) Ludwig Erhard: „Die Prinzipien der<br />

deutschen Wirtschaftspolitik“. Vortrag vor der<br />

Deutsch-Belgisch-Luxemburgischen Handelskammer<br />

am 31. Mai 1954 in Antwerpen.<br />

(1968) Ludwig Erhard: „Freiheit und Dissens“.<br />

Vortrag vor der Mont Pelèrin Society am 1.<br />

Sept. 1968 in Aviemore (Schottland)<br />

(1970) Ludwig Erhard: „Freiheit in der Massengesellschaft“.<br />

Vortrag vor der Internationalen<br />

Akademie für wirtschaftliche Freiheit am<br />

12. Mai 1970 in Bonn.<br />

(1974) Ludwig Erhard: „Lebensordnung im<br />

Geiste der europäischen Freiheit“. Ansprache<br />

anlässlich der Verleihung des Freiherrvom-Stein-Preises<br />

1974 am 6. Nov. 1974 in<br />

Wahlscheid..<br />

Impressum<br />

Verantwortlich:<br />

Prof. Dr. Dr. h.c. Joachim Starbatty<br />

Anschrift der Redaktion:<br />

Mohlstr. 26<br />

72074 Tübingen<br />

Telefon 07071 - 550600<br />

Telefax 07071 - 550601<br />

E-Mail: mail@asm-ev.de<br />

Homepage: www.asm-ev.de<br />

Konto: 344 520 300<br />

BLZ: 640 800 14<br />

Dresdner Bank Tübingen<br />

1


FRANZ BÖHM VORTRAG<br />

„Aufklärung ist der Ausgang des<br />

Menschen aus seiner selbstverschuldeten<br />

Unmündigkeit“<br />

Was Immanuel Kant vor gut zweihundert<br />

Jahren über die Aufklärung<br />

und die Furcht der Menschen, sich<br />

selbst in die geistige Unabhängigkeit<br />

zu entlassen, geschrieben hat,<br />

gilt auch heute noch. Doch geht es<br />

inzwischen nicht um die Loslösung<br />

aus dem Schoß der Kirche, sondern<br />

um die Lösung aus der Obhut des<br />

uns umarmenden, erdrückenden<br />

und unwissend haltenden Staates.<br />

Das geschieht nicht aus bösem Willen,<br />

sondern in der guten Absicht,<br />

uns Bürger umfassend gegen die<br />

Fährnisse der Welt zu schützen.<br />

Und damit geraten wir in die soziale<br />

Abhängigkeit.<br />

Entmündigung des Bürgers<br />

Die Abhängigkeit ist inzwischen<br />

dermaßen gewachsen und die<br />

steuerlichen und sozialen Abgaben<br />

je Beschäftigten dermaßen<br />

gestiegen, dass ein Erwerbstätiger<br />

drei Stunden arbeiten muss, um ein<br />

Produkt zu kaufen, für das er selbst<br />

bloß eine Arbeitsstunde gebraucht<br />

hat. Das hat uns der unvergessene<br />

Tyll Necker, Träger der Alexander-<br />

Rüstow-Plakette der ASM, vor rund<br />

einem dutzend Jahren vorgerechnet.<br />

Und es ist seither nicht besser<br />

geworden. Die deutsche Bundesbank<br />

hat ausgerechnet, dass die<br />

jungen Leistungsträger, nicht die<br />

Vielverdiener, von 100 zusätzlich<br />

verdienten Euro 72 an Steuer- und<br />

Sozialabgaben zu entrichten haben,<br />

also eine Grenzprogression von 72<br />

% auf das Einkommen einschließlich<br />

Arbeitgeberanteile. Damit die<br />

Belastung am Arbeitsplatz und damit<br />

auch in der Lohntüte weniger<br />

spürbar wird, hat die große Koalition<br />

die Mehrwertsteuer um 3 %-<br />

Punkte erhöht (ohne Lebensmittel).<br />

So zahlt der Einzelne Sozialabgaben<br />

auch an der Ladenkasse. Ein<br />

1<br />

Joachim Starbatty<br />

Teil der Abgaben wird in Form von<br />

Sachleistungen – insbesondere in<br />

der ärztlichen Versorgung – an die<br />

Versicherten zurückgegeben. Der<br />

einzelne Bürger erfährt dann gar<br />

nicht mehr, wie das System funktioniert<br />

und wie teuer es in Wirklichkeit<br />

ist.<br />

Kant im Original (1784)<br />

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen<br />

aus seiner selbst verschuldeten<br />

Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das<br />

Unvermögen, sich seines Verstandes<br />

ohne Leitung eines anderen zu bedienen.<br />

Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit,<br />

wenn die Ursache derselben<br />

nicht am Mangel des Verstandes,<br />

sondern der Entschließung und des<br />

Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung<br />

eines anderen zu bedienen.(...)<br />

Dass der bei weitem größte Teil der<br />

Menschen, darunter das ganz schöne<br />

Geschlecht (das gilt heute wohl nicht<br />

mehr ) den Schritt zur Mündigkeit,<br />

außer dem dass er beschwerlich<br />

ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür<br />

sorgen schon jene Vormünder, die die<br />

Oberaufsicht über sie gütigst auf sich<br />

genommen haben. Nachdem sie ihr<br />

Hausvieh zuerst dumm gemacht haben,<br />

und sorgfältig verhüteten, dass<br />

diese ruhigen Geschöpfe ja keinen<br />

Schritt außer dem Gängelwagen, darin<br />

sie sie einsperreten, wagen durften: so<br />

zeigen sie ihnen nachher die Gefahr,<br />

die ihnen drohet, wenn sie es wagen.<br />

Staatliches Deputatsystem<br />

Vor zweihundert Jahren war in der<br />

gewerblichen Wirtschaft das Deputatsystem<br />

üblich: Ein Teil des Lohns<br />

wurde als Sachleistungen ausbezahlt<br />

– u.a. deswegen, damit am<br />

Wochenende nicht der ganze Lohn<br />

„verjubelt“ werden konnte. Dieses<br />

System wurde abgeschafft, weil es<br />

nicht in eine Gesellschaft mündiger<br />

Staatsbürger paßte. Dass aber<br />

heute die Staatsbürger prozentual<br />

über weit weniger verfügen können<br />

als seinerzeit, gilt dagegen offensichtlich<br />

nicht als anstößig, weil es<br />

heute der Staat macht. Aber Unmündigkeit<br />

bleibt Unmündigkeit,<br />

egal wer dafür verantwortlich ist.<br />

Die Aufklärung über gesamtwirtschaftliche<br />

Zusammenhänge hat<br />

letztlich das Ziel, die Bürger zu<br />

selbständigem Denken auch in<br />

sozialen Verhältnissen zu befähigen<br />

und ihnen Mut zu machen,<br />

den Weg in die Freiheit zu wagen<br />

und die „komfortable Stallfütterung“<br />

(Wilhelm Röpke) zurückzuweisen.<br />

Aufklärung über gesamtwirtschaftliche<br />

Zusammenhänge leistet die<br />

ASM mit wachsendem Erfolg an<br />

weiterführenden Schulen. Wir wollen<br />

das ausbauen und einen Arbeitskreis<br />

aus Gymnasiallehrern,<br />

Hochschullehrern, Ministerialbeamten<br />

und versierten Medienleuten<br />

zusammenrufen, mit Hilfe dessen<br />

wir den Unterricht im Fach „Wirtschaft“<br />

ankurbeln und verbessern<br />

wollen. Das ist noch nicht genug,<br />

aber es ist ein Anfang.<br />

Ausweis sämtlicher Lohnbestandteile<br />

Ein weiterer Schritt in Richtung „Aufklärung“<br />

wäre, dass Unternehmen<br />

alle Lohnbestandteile einschließlich<br />

der Arbeitgeberanteile – die ja bloß<br />

so heißen, damit die Erwerbstätigen<br />

nicht merken, dass sie selbst<br />

diese Beiträge aufbringen – auf<br />

der Lohnabrechnung ausweisen<br />

und auch zeigen würden, wofür sie<br />

verwendet werden. Wenn die Bürger<br />

wissen, wie kostspielig unser<br />

derzeitiges System ist, dann beginnen<br />

sie auch, über Alternativen<br />

nachzudenken.


MACRO-PLANSPIEL<br />

Auszüge aus der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Mai 2007, C4<br />

Wirtschaft ist spannend, macht aber<br />

auch viel Arbeit, hätte Karl Valentin<br />

vielleicht gesagt. Die Zusammenhänge<br />

der Ökonomie erscheinen<br />

äußerst komplex. Obwohl das Auf<br />

und Ab der Märkte jeden Einzelnen<br />

- direkt oder indirekt - betrifft, ist das<br />

Verständnis mangelhaft. Es fehlt<br />

gerade bei jungen Leuten am Basiswissen:<br />

Was etwa<br />

besagt das Prinzip von<br />

Angebot und Nachfrage?<br />

Eine repräsentative<br />

Umfrage im Auftrag<br />

des Bundesverbandes<br />

der deutschen Banken<br />

(BdB) ergab, dass gerade<br />

einmal 35 Prozent<br />

der 14- bis 24-Jährigen<br />

das simple Grundprinzip<br />

der <strong>Marktwirtschaft</strong><br />

korrekt erklären konnten.<br />

65 Prozent wussten<br />

bei „Angebot und<br />

Nachfrage“ nicht Bescheid.<br />

Wie sich Preise bilden,<br />

was Lohnhöhe, Zinssatz<br />

oder Inflationsrate aussagen,<br />

„das hätte man eigentlich in der<br />

Schule lernen müssen, wie es in<br />

den angelsächsischen Ländern geschieht“,<br />

sagt Ifo-Präsident Hans-<br />

Werner Sinn. „Weil wir Ökonomen<br />

stets das Einmaleins unseres<br />

Faches neu erläutern müssen, um<br />

verstanden zu werden, kommen wir<br />

in der öffentlichen Diskussion nicht<br />

allzu weit. Dass selbst Akademiker<br />

meistens dieses Einmaleins nicht<br />

beherrschen, ist ein Armutszeugnis<br />

unseres Ausbildungssystems.“<br />

Auch der Wirtschaftspädagoge<br />

Hans Kaminski beklagt, deutsche<br />

Die Wirtschaft erkunden<br />

Philip Plickert<br />

Deutschlands Jugend versteht zu wenig von Wirtschaft,<br />

klagen Wissenschaftler und Unternehmen. Private Initiativen<br />

versuchen, mit Online-Bildung und Planspielen Abhilfe<br />

zu schaffen. Aber dauerhaft kann nur ein eigenes Schulfach<br />

„Wirtschaft“ das allgemeine Wissensniveau heben.<br />

Schüler erhielten Wissen über Wirtschaftsprozesse<br />

„nur in homöopathischen<br />

Dosen“ verabreicht.<br />

So gibt es bislang in keinem Bundesland<br />

ein eigenes Fach Wirtschaft.<br />

„Oft wird ökonomisches<br />

Wissen in Kombinationsfächer<br />

gepackt, aber das sind Kompro-<br />

Nicht nur etwas für Schüler: das MACRO-Planspiel<br />

misslösungen“, kritisiert die löB-<br />

Geschäftsführerin Kathrin Eggert.<br />

An bayerischen Gymnasien gibt es<br />

das Fach „Wirtschaft und Recht“, in<br />

Sachsen-Anhalt ein Wahlpflichtfach<br />

„Wirtschaftslehre“, in Niedersachsen<br />

heißt die vormalige politische<br />

Bildung jetzt „Politik-Wirtschaft“.<br />

Trotz der reflexartigen Ablehnung<br />

durch die Gewerkschaft Erziehung<br />

und Wissenschaft (GEW) habe sich<br />

das neue Fach so weit bewährt,<br />

sagt Eggert. Weitere Bundesländer<br />

planen, wirtschaftliche Themen in<br />

den Lehrplänen aller Schularten<br />

stärker zu verankern.<br />

Ein Gefühl für die Dynamik volkswirtschaftlicher<br />

Prozesse vermittelt das<br />

Planspiel „MACRO“, das die <strong>Aktionsgemeinschaft</strong><br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Marktwirtschaft</strong><br />

(www.asm-ev.de) an Schulen<br />

und Fachhochschulen veranstaltet.<br />

Die Klassen werden in zwei Gruppen<br />

eingeteilt, die miteinander konkurrierende<br />

Länder darstellen. Zunächst<br />

sind es geschlossene Volkswirtschaften,<br />

in einer fortgeschrittenen<br />

Version werden auch die Bewegungen<br />

internationaler Güter-, Kapital-<br />

und Devisenmärkte simuliert.<br />

In jeder Nation gibt es Untergruppen:<br />

die Haushalte,<br />

die Unternehmen, die<br />

Regierung und die Notenbank.<br />

Sie treffen<br />

eigenständig Entscheidungen,<br />

der Computer<br />

berechnet dann die<br />

volkswirtschaftlichen<br />

Konsequenzen. Gewinner<br />

ist, wer seinen<br />

Wohlstand am meisten<br />

steigern kann. „Anfangs<br />

erscheint das<br />

MACRO-Planspiel sehr<br />

komplex“, sagt der<br />

ASM-Vorsitzende Joachim<br />

Starbatty von der<br />

Universität Tübingen.<br />

„Aber nach einem Tag<br />

sind die Schüler voll in<br />

der Materie drin.“ Inzwischen haben<br />

rund 200 Klassen mit dem vom baden-württembergischenKultusministerium<br />

geförderten MACRO-Spiel<br />

die logischen Zusammenhänge der<br />

Volkswirtschaftswelt erkundet.<br />

So löblich die privaten Initiativen<br />

sind: Sie allein werden kaum dem<br />

allgemeinen ökonomischen Bildungsnotstand<br />

abhelfen. Dazu bedürfte<br />

es eines eigenen Schulfachs,<br />

beharrt Wirtschaftspädagoge Kaminski.<br />

Ungebildete Bürger seien<br />

anfällig für Scheinargumente und<br />

Manipulation.<br />

1


MACRO-PLANSPIEL<br />

Rheingauer Bote<br />

1

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